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Psychische Erkrankungen müssen kein Hindernis im Berufsleben sein – wenn die richtige Unterstützung da ist. Dieses Buch zeigt praxisnah, wie Jobcoaches Menschen erfolgreich im Arbeitsalltag begleiten, mit erkrankungsbedingten Herausforderungen umgehen und Unternehmen beraten können. Die überarbeitete Neuauflage enthält neue Inhalte zu Coachingmethoden, Umgang mit Wut, aggressivem Verhalten sowie Konflikten und bezieht aktuelle Themen wie die »Arbeitswelt 4.0« und »KI« mit ein. Zahlreiche Fallbeispiele bieten konkrete Impulse für die Beratung. Ein unverzichtbarer Leitfaden für alle, die Menschen in der Arbeitswelt und der Jobsuche professionell unterstützen!
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bettina Bärtsch,Psychologin lic. phil., eidg. dipl. Berufsberaterin, MAS Supervision und Coaching in Organisationen (BSO), Weiterbildungen in Führung und hypnosystemischer Beratung, mehrjährige Tätigkeit als IV-Berufsberaterin, hat die Abteilung Supported Employment der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich mit elf Jobcoaches aufgebaut und 15 Jahre lang geleitet. Sie arbeitet heute in eigener Praxis als Coach, Jobcoach und Supervisorin.
Micheline Huber, Psychologin lic. phil., MAS systemisch-lösungsorientierte Beratung und Coaching, ist seit 2009 als Jobcoach und Beraterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen tätig. Zudem unterstützt sie Arbeitgebende dabei, die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu stärken. Nebenberuflich ist sie Lehrbeauftragte an der Hochschule Luzern.
Für dieses Buch bekamen wir von vielen Seiten großzügige Unterstützung. Wir bedanken uns herzlich bei Daniela Buser, Cristina Fritz, Silvia Grois, Albrecht Konrad, Stefan Kull, Claude Ney, Simona Ryser, Christian Sieber, Eveline Suter, Prof. Wulf Rössler, den Jobcoaches der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und ganz besonders auch bei allen Klient*innen, die hier nicht namentlich erwähnt werden möchten, uns aber inhaltlich sehr unterstützt haben, indem sie Texte geschrieben und ihre persönlichen Geschichten zur Verfügung gestellt haben. Damit haben sie dieses Buch ungemein bereichert.
PraxisWissen
Bettina Bärtsch und Micheline Huber
Jobcoaching für Menschen mit psychischer Erkrankung
Inhalt
Unterstützung individuell gestalten – Vorwort 8
Inklusion durch Arbeit 10
Die Bedeutung der Erwerbsarbeit 10
Wandel der Arbeitswelt 11
Arbeitswelt 4.0 12
Künstliche Intelligenz (KI) 16
Theoretische Grundlagen 19
Supported-Employment-Konzept und IPS-Modell 19
Grundhaltung und Coachingmethoden 22
Inhalte des Jobcoachings 26
Beziehungsaufbau 26
Erster Kontakt 28
Erstgespräch 29
Auftragsklärung und Ziele 31
Notfälle 34
Arbeitsbezogene Notfälle 35
Psychiatrische Notfälle 36
Stellensuche 39
Bewerbungsunterlagen 42
Vorstellungsgespräche 44
Umgang mit Absagen 45
Arbeitsplatzerhalt 46
Start an einer neuen Stelle 46
Rückkehr an den Arbeitsplatz 49
Schwierigkeiten am bestehenden Arbeitsplatz 52
Abschluss des Jobcoachings 54
Zentrale Themen der Klient*innen 57
Angst 57
Autoritätsproblematik 58
Belastbarkeit 61
Burn-out 64
Druck 67
Freizeitgestaltung 68
Kommunikation der Erkrankung 70
Konflikte am Arbeitsplatz 74
Leistungsfähigkeit 81
Manische Symptome 83
Mobbing und Bossing 84
Motivation 87
Pausen und Firmenanlässe 88
Psychotisches Erleben 90
Selbstwertgefühl 91
Suizidalität 95
Umgang mit Kritik 96
Herausforderungen als Jobcoaches 98
Aggressives Verhalten 98
Wut 100
Passiv-aggressives Verhalten 102
Chronische Schmerzen 104
Dramadreieck 106
Fordernde Personen 109
Hochqualifizierte Personen 112
Kränkung 114
Misserfolge 115
Rollen als Jobcoach*in 117
Substanzabhängigkeit 120
Zielorientierung 122
Netzwerkarbeit 127
Roundtable 127
Arbeitgebende 131
Psychische Erkrankungen im Arbeitskontext 133
Roundtable als Verlaufsgespräch 136
Roundtable bei Arbeitsplatzkonflikten 138
Arbeitsplatzakquise 142
Behandelnde 146
Soziales Umfeld 152
Versicherungen 153
Beratungsstellen 155
Nachwort 157
Ausgewählte Literatur 159
Als wir 2003 das erste Forschungsprojekt zum Thema »Supported Employment« in Angriff nahmen, war in der Schweiz die Idee, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in ihrem Wunsch nach Integration im ersten Arbeitsmarkt unterstützt werden sollten, kaum bekannt. Es war schwer, überhaupt Personen mit einer psychischen Erkrankung zu finden, die sich bei der Stellensuche unterstützen lassen wollten, obwohl es für sie im Rahmen des Projektes kostenlos war. Sie trauten es sich nicht zu oder wurden von ihren Behandelnden und Angehörigen davor gewarnt, wieder zu arbeiten. Arbeit belastet, macht krank oder eben noch kränker – so war die Devise. Diese Haltung zeigte sich auch bei Arbeitgebern, die wir um geeignete Stellen anfragten. Auch bei ihnen stießen wir auf Unverständnis. Sie waren der Meinung, dass es für kranke Menschen geschützte Arbeitsstellen gebe und dass kein Platz für kranke Menschen im Arbeitsmarkt sei.
Heute ist die Arbeit als Jobcoach*in etabliert und wird rege genutzt. Es zeigt sich, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten wollen und können. Die berufliche Tätigkeit unterstützt ihre gesundheitliche Stabilität – solange die Arbeit der Gesundheit angepasst ist.
Für Jobcoachings gibt es keine fixen Abläufe oder einfachen Rezepte. Die Beratung passen wir individuell der gesundheitlichen, beruflichen und persönlichen Situation der Klienten und Klientinnen an. Zudem beraten wir Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen und arbeiten mit weiteren involvierten Personen und Stellen zusammen, damit eine nachhaltige Integration gelingen kann. Wir geben in diesem Buch Einblick in die vielfältigen und spannenden Aufgaben von Jobcoaches und illustrieren dies mit Beispielen.
Die Arbeit als Jobcoach*in hat sich zunehmend professionalisiert, in Deutschland unter anderem durch JobcoachingAP. In der Schweiz gibt es mittlerweile verschiedene Lehrgänge und eine Berufsprüfung. Das Interesse am Beruf ist groß. Wir haben uns gefreut, dass wir zu unserem Buch von 2019 viele Anmerkungen und positive Rückmeldungen bekommen haben und wir Sie jetzt zur zweiten Auflage begrüßen dürfen. Auch in den letzten sechs Jahren hat sich viel getan. Wir haben das Buch deshalb komplett überarbeitet. Die überarbeitete Neuauflage enthält neue Inhalte zu Coachingmethoden, Umgang mit Wut, aggressivem Verhalten sowie Konflikten und bezieht die aktuellen Themen Arbeitswelt 4.0 und künstliche Intelligenz (KI) mit ein. Die zentralen Themen der Klient*innen und die Herausforderungen als Jobcoaches haben wir alphabetisch geordnet, damit das Buch auch zum raschen Nachschlagen dienen kann.
Wir hoffen, Sie nutzen das Buch weiterhin so rege, und freuen uns auf Ihre Rückmeldungen!
Weshalb räumen unsere Klient*innen und wir der Erwerbsarbeit einen so hohen Stellenwert ein? Arbeit ist in unserer Kultur ein wesentlicher Bestandteil der Identität und des Selbstwertgefühls. Sie fördert die soziale Teilhabe, das persönliche Wachstum und die psychische Stabilität. Durch Arbeit erfahren wir Anerkennung, Zugehörigkeit und die Möglichkeit, Fähigkeiten und Interessen einzubringen – oder eben das Gegenteil.
Sind Menschen dauerhaft mit den Anforderungen ihrer Arbeitsstelle überfordert, kann dies zu einer psychischen Erkrankung führen. Umgekehrt beeinflussen psychische Erkrankungen oft die Leistungsfähigkeit. Im Jobcoaching begegnen wir Menschen, die schon lange psychisch krank sind, aber auch solchen, die zum ersten Mal aufgrund gesundheitlicher Probleme ihre Arbeitsstelle verloren haben. Betroffene kämpfen nicht nur mit den Erkrankungssymptomen, sondern auch mit den sozialen Folgen wie Stigmatisierung und Isolation. Die Motivation zur Rückkehr ins Arbeitsleben ist in den Beratungsgesprächen spürbar – genauso wie die Angst vor erneutem Scheitern. Je länger die Arbeitsunfähigkeit dauert, desto mehr verstärken sich Versagensängste, was eine Erkrankung aufrechterhalten kann.
Eine erfolgreiche Rückkehr ins Arbeitsleben kann eine entscheidende Wende im Genesungsprozess sein. Arbeit strukturiert den Alltag, ermöglicht Kontakte und gibt das Gefühl, etwas Sinnvolles zu leisten – eine wichtige Grundlage für psychische Stabilität.
Personen mit einer psychischen Erkrankung sind im Vergleich zu Menschen mit anderen gesundheitlichen Einschränkungen stärker vom ersten Arbeitsmarkt ausgegrenzt (Dehn 2025). Sie begegnen Vorurteilen wie: »Nach einem Burn-out kann man keine Führungsfunktion mehr einnehmen«, »Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik macht alles nur noch schlimmer« oder gar »Menschen mit Schizophrenie sind gefährlich«. Solche Meinungen sind in der Gesellschaft weit verbreitet und beeinflussen auch das Umfeld. Klient*innen übernehmen solche Überzeugungen manchmal (Selbststigmatisierung), was sich negativ auf die Integration auswirkt (Rüsch u. a. 2020). Das Jobcoaching ermöglicht allen Beteiligten, sowohl Berührungsängste als auch Vorurteile abzubauen, und stärkt die Unabhängigkeit der Klient*innen (Drake & Wallach 2020).
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) drastisch verändert. Arbeitsverhältnisse sind unsicherer geworden und zeichnen sich durch ein dynamisches Umfeld sowie einen globalisierten Arbeitsmarkt aus. Doch nicht nur die Arbeitswelt, auch die Gesellschaft insgesamt hat sich verändert. Aufgrund unbegrenzt erscheinender Möglichkeiten herrscht hoher Erwartungsdruck an ein glückliches, erfolgreiches Leben. Viele Menschen sehen es als ihre Aufgabe an, Arbeit, Freizeit, Familie und sich selbst permanent zu »optimieren«.
Oft begegnen Jobcoaches Klient*innen, deren Selbstoptimierung zur Selbstausbeutung geworden ist und die ungesunde Grundannahmen verinnerlicht haben: »So, wie ich bin, bin ich nicht genug« oder »Ich muss mehr leisten, um den Ansprüchen zu genügen«. Diese Überzeugungen nähren die hohen Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit und treiben Klient*innen weiter an. Für die Arbeit als Jobcoaches steht die Frage im Zentrum, wie Menschen mit einer erhöhten Vulnerabilität einen Umgang mit diesen Herausforderungen finden, um nachhaltig und erfolgreich am Arbeitsleben teilzuhaben.
Der Begriff »Arbeitswelt 4.0« bezeichnet die Anpassung der Arbeitsformen und -bedingungen an die digitale, vernetze Arbeitswelt. Dieser Anpassungsprozess betrifft alle Branchen, wenn auch in ungleichem Ausmaß und Tempo (Majkovic u. a. 2021). Die Arbeitswelt 4.0 bringt für Mitarbeitende wie auch Vorgesetzte zentrale Veränderungen mit sich:
Flexibilisierung der Arbeit: Mitarbeitende haben Gestaltungsfreiraum betreffend Arbeitszeit, -inhalt und -ort. »Remote« Arbeit ermöglicht Mitarbeitenden, ihre Tätigkeit von einem beliebigen Ort aus zu erledigen.
Automatisierung, Digitalisierung, Vernetzung: Automatisierte Prozesse und digitale Technologien machen Arbeitsabläufe effizienter, erleichtern den Zugriff auf Informationen und ermöglichen eine ortsunabhängige, vernetzte Arbeitsweise.
Veränderung der Führungskultur: Bisherige hierarchische Unternehmensstrukturen werden hinterfragt und neue Führungsmodelle etabliert. Vorgesetzte fördern vermehrt das Selbstmanagement ihrer Mitarbeitenden und unterstützen sie dabei, Unternehmensziele und individuelle Ziele zu erreichen.
Lebenslanges Lernen: In einer sich ständig verändernden Arbeitswelt verändern sich auch Kompetenzanforderungen kontinuierlich. Dieser Prozess erfordert seitens der Mitarbeitenden Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft zur Neuorientierung. Vorgesetzte wiederum sind gefordert, Veränderungen frühzeitig zu erkennen und lebenslanges Lernen innerhalb des Unternehmens zu stärken.
Schlüsselkompetenzen: Zusätzlich zu sich verändernden Fachkompetenzen sind Soft Skills wie Flexibilität, Kooperationsfähigkeit und Teamorientierung sowie Offenheit gegenüber Veränderungen als Schlüsselkompetenzen gefragt.
Herausforderungen Welche Herausforderungen bringen diese Veränderungen für die berufliche Integration von Menschen mit psychischer Erkrankung mit sich? Wie kann im Jobcoaching damit umgegangen werden?
Unsicherheit durch ständigen Wandel: Menschen in psychischen Krisen sind meist verunsichert. Oft bauen sie ihr Selbstvertrauen dadurch auf, beim Wiedereinstieg auf Bekanntes zu stoßen und dadurch zu merken, was sie können. Der ständige schnelle Wandel, mit dem Unternehmen in der Arbeitswelt 4.0 konfrontiert sind, kann Menschen mit psychischen Erkrankungen zusätzlich verunsichern. Durch die Erfahrung, den Anforderungen der Arbeitswelt nicht mehr gewachsen gewesen zu sein, fehlt gegebenenfalls die Zuversicht, mit Herausforderungen adäquat umgehen zu können, was die Unsicherheit verstärkt. Das Gespräch über diese Ängste entlastet Klient*innen. Bei der Planung der Integration wird mit Arbeitgebenden zusammen festgelegt, wo zu Beginn die Schwerpunkte liegen und welche Informationen und Verantwortlichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt folgen können. In der Arbeitswelt 4.0 muss diese Planung je nach Ausgangslage der Klient*innen noch sorgfältiger erfolgen.
Flexibilisierung: Die Flexibilisierung fördert die Anpassung der Arbeitstätigkeit an die individuellen Bedürfnisse. Entlastend sind die Gestaltungsmöglichkeiten, wenn Klient*innen sich durch eine psychische Erkrankung mit ihren Bedürfnissen und Belastungsgrenzen so auseinandergesetzt haben, dass sie diese kennen und benennen können. Jobcoaches unterstützen dabei, die Arbeit gesundheitsförderlich zu gestalten, und achten darauf, dass Bedürfnisse nicht (erneut) ignoriert werden.
Die fehlende Struktur am Arbeitsplatz kann belastend sein, wenn Klient*innen ihre Grenzen nicht kennen und/oder unzureichend durchsetzen können. Hier sind die Jobcoaches gefragt, mit ihnen zusammen belastende Arbeitsweisen zu identifizieren und sie beim Erarbeiten gesunder Strategien zu unterstützen. In jedem Jobcoaching lohnt es sich, die Selbstorganisation der Klient*innen zu stärken. Für den beruflichen Erfolg in der Arbeitswelt 4.0 ist diese Kompetenz besonders wichtig.
Remote Work: Zu Beginn der Eingliederung ist die Belastbarkeit vieler Klient*innen reduziert. Je nach Tätigkeitsbereich ermöglicht das Arbeiten im Homeoffice, die Energie gezielt einzusetzen, selbstbestimmt Pausen einzulegen und Arbeitsunterbrechungen zu verringern. Zudem entfällt der Arbeitsweg, was eine weitere Erleichterung darstellen kann. Gleichzeitig ist es im Jobcoaching erforderlich, wachsam zu sein, damit durch die Tätigkeit im Homeoffice kein Vermeidungsverhalten (Arbeitsweg, soziale Interaktion etc.) begünstigt wird.
Veränderte Formen der Zusammenarbeit im Team: Für ihre berufliche Integration sind Klient*innen auf zwischenmenschliche Kontakte und auf unmittelbares Feedback angewiesen. So erlangen sie Sicherheit und erfahren soziale Unterstützung. Jobcoaches besprechen mit Klient*innen daher deren Zusammenarbeit im Team, die in der Arbeitswelt 4.0 vermehrt in hybriden oder virtuellen Teams erfolgt. Für die berufliche Integration ist es hilfreich, Personen zu identifizieren, die den Einstieg erleichtern können. Arbeiten Klient*innen sowie deren Kolleg*innen nicht täglich am gleichen Ort, kann es schwierig sein, solche Personen am Arbeitsplatz zu finden. Die Tätigkeit im Homeoffice kann dazu führen, dass Klient*innen sich isoliert fühlen. Trauen sich Klient*innen aufgrund unterschiedlicher Arbeitsorte nicht, Kolleg*innen bei Bedarf um Unterstützung zu bitten, erschwert dies den Integrationsprozess. Zusätzlich fällt vielen Klient*innen die Trennung zwischen Homeoffice und Privatleben schwer, da diese Grenze nicht mehr klar vorgegeben ist.
Für das Jobcoaching besonders anspruchsvoll ist es, wenn Klient*innen in selbstorganisierten Teams arbeiten, die ohne Vorgesetztenfunktion auskommen. Hier muss zu Beginn des Jobcoachings geklärt werden, wer im Betrieb die zuständige Ansprechperson ist. Es ist auch eine Lösung, statt der formal zuständigen Führungsperson Personalverantwortliche, die fachliche Leitung oder ein Teammitglied eng ins Jobcoaching miteinzubeziehen.
Führen auf Distanz: Werden Teams auf Distanz geführt, kann es für Vorgesetzte schwierig sein, Verhaltensänderungen wie sozialen Rückzug, Leistungseinbußen oder andere Frühwarnzeichen einer Verschlechterung des psychischen Zustandes rechtzeitig festzustellen. Jobcoaches klären Vorgesetzte daher umso genauer über mögliche Veränderungen auf. Es kann erforderlich sein, öfter um deren Einschätzung zu bitten, da sie gegebenenfalls nicht täglich mit den Klient*innen in Kontakt stehen. Durch häufigeres Nachfragen kann die Aufmerksamkeit von Vorgesetzten auf diese Aspekte gelenkt werden.
Fehlt Klient*innen durch die Arbeit im Homeoffice das regelmäßige Feedback durch Vorgesetzte und Kolleg*innen, sind die Jobcoaches noch stärker gefordert, die Situation am Arbeitsplatz und auch Arbeitsweisen der Klient*innen differenziert zu betrachten sowie die Auswirkungen auf die Gesundheit mit ihnen zu thematisieren. Statt eines wöchentlichen Gesprächs zwischen Klient*in und vorgesetzter Person kann es beim Führen auf Distanz zielführender sein, zwischen den beiden täglich ein kurzes Check-in zu etablieren. Der Austausch zwischen beiden sollte zudem intensiviert werden, wenn Sprachbarrieren vorhanden sind, zum Beispiel da die vorgesetzte Person im Ausland arbeitet.
Zusammenarbeit mit Arbeitgebenden: Wie in jedem Jobcoaching sensibilisieren Jobcoaches Vorgesetzte in Rücksprache mit Klient*innen über deren Bedürfnisse und vermitteln Wissen, wie der Integrationsprozess unterstützt wird. Stehen spezifische Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 im Zentrum wie Selbstorganisation, Kommunikationsschwierigkeiten in agilen Projektteams oder generelle digitale Kompetenzen, werden diese am Roundtable thematisiert und Lösungen erarbeitet.> Roundtables, Seiten 127 ff.,
Teammitglieder wie auch Vorgesetzte arbeiten in der Arbeitswelt 4.0 unter Umständen in unterschiedlichen Ländern, was je nach Zeitzone und Fremdsprachenkompetenz den Austausch erschweren kann. Nicht alle Roundtables eignen sich für eine virtuelle bzw. hybride Durchführung. Wenn die Arbeitsrealität der Klient*innen jedoch ausschließlich in virtuellen Teams stattfindet, passen Jobcoaches die Roundtables an dieses Format an.
Zurzeit werden wir von den Entwicklungen und Möglichkeiten der KI überrollt. Laufend werden neue KI-Tools für fast jede Lebenslage und Fragestellung entwickelt. Die Nutzer*innen können aus unzähligen Möglichkeiten auswählen, was bei der Vielzahl an Angeboten nicht einfach ist. Bislang nutzen unsere Klient*innen vor allem ChatGPT oder Gemini. Es gibt weitere Tools, die automatisch Protokolle und Zusammenfassungen erstellen, Bilder generieren, Texte korrigieren oder übersetzen. KI transformiert Arbeitsstellen tiefgreifend. Frühere grundlegende Veränderungen der Arbeitswelt (durch Maschinisierung, Automatisierung und Digitalisierung) ersetzten vorwiegend manuelle Tätigkeiten mit eher einfacherem Qualifikationsniveau. Die Veränderung durch KI wird alle Qualifikationsniveaus betreffen: von standardisierten Kundendienstanliegen wie Terminbuchungen bis zu medizinischen Spezialabklärungen (Majkovic u. a. 2024).
Digitale, kognitive und soziale Skills werden in der Arbeitswelt zunehmend wichtiger. Im Jobcoaching treffen wir auf Menschen, die aufgrund dieser Entwicklungen Angst vor Arbeitsplatzverlust oder vor zusätzlichem Druck haben, da sie sich an neue KI-gesteuerte Prozesse im Arbeitsalltag anpassen müssen.
Die KI hat aber auch Vorteile. Immer mehr Klient*innen und Jobcoaches nutzen KI. Die Einsatzmöglichkeiten sind sehr breit. KI kann bei der Suche nach Stelleninseraten, beim Erstellen und Optimieren des Lebenslaufs und von Bewerbungsschreiben oder für professionelle Bewerbungsfotos eingesetzt werden. Neben den Sprachkorrekturprogrammen kann KI zudem helfen, Arbeitszeugnisse einzuschätzen, Vor- und Nachteile zu einem Thema anzugeben, Lohnvergleiche durchzuführen oder Vorstellungsgespräche vorzubereiten. Und last, but not least: KI kann bei Themen wie Selbstwert, Achtsamkeit, Small Talk, Stressbewältigung, gewaltfreie Sprache, Angstattacken und vielem mehr eingesetzt werden.
KI kann zweifellos inspirieren. Der Zugang ist zeit- und personenunabhängig. KI bleibt auch bei hartnäckigem Nachfragen freundlich, gibt schnell Ideen und umfassende Inputs. Sogar Bewerben kann Spaß machen. Braucht es denn zukünftig überhaupt noch Jobcoaches? Auf jeden Fall! Es ist wichtig, dass unsere Klient*innen menschliche Jobcoaches haben, die Interesse an ihnen und ihren Herausforderungen haben, die nachfragen, Feedback geben, den Prozess begleiten und die Umsetzung kontrollieren. Zudem können Jobcoaches ihren Klient*innen aufzeigen, wie sie mit KI umgehen können. Einige Klient*innen verlieren sich in den unzähligen Möglichkeiten und Antworten. Andere nutzen für jegliche Fragestellungen KI, was Abhängigkeiten schaffen kann und auch aus ökologischer Sicht (hoher Stromverbrauch) nicht sinnvoll ist.
Jobcoaches können Klient*innen unterstützen, KI nutzbringend einzusetzen. Dazu gehören:
Gutes Prompten (Fragestellungen eingeben): Je präziser und klarer der Prompt, desto besser die Resultate. Definiert wird die Rolle, die die KI einnehmen soll (etwa »erfahrene Kauffrau«), die Fragestellung (»Arbeitszeugnis bewerten«), die Form (»Fließtext«), die Länge der Antwort (»10 Sätze«) und in welchem Stil die Antwort sein soll (»einfache Sprache«).
Kritisches Einordnen erhaltener Antworten: KI generiert teilweise falsche oder irreführende Informationen und unpassende Inhalte. Es ist schwierig, Fakten von Fakes zu unterscheiden. Oft sind Quellen der Antworten unbekannt und der Lösungsweg ist nicht nachvollziehbar. Es ist daher wichtig, die Vorschläge von KI kritisch zu prüfen. Wir sollten nur das übernehmen, was sinnvoll erscheint. Da die schnellen und umfassenden Antworten auf den ersten Blick imponieren, ist das nicht immer einfach. Es braucht Selbstbewusstsein und eine gute Selbsteinschätzung, um die Antworten einzuordnen und bei Bedarf auch zu verwerfen.
Beachten von Datenschutz und Quellen: KI-basierte Tools sind lernende Systeme. Sie nutzen die eingegebenen Daten weiter. Jobcoaches und Klient*innen wissen nicht, wofür ihre Eingaben später benutzt werden und was mit diesen passiert. Wir mahnen daher, sensible Informationen wie Namen, Adressen, Diagnosen, Firmeninterna etc. nicht in KI-Tools einzugeben oder entsprechende Inhalte nicht mit KI zu erstellen.
Natürlich gelten diese Punkte auch für Jobcoaches. Selbst wenn es verlockende KI-Möglichkeiten gibt, etwa automatisch Berichte aus einem Verlaufsprotokoll zu erstellen oder Protokolle zu schreiben, müssen sich Jobcoaches an den Datenschutz halten.
Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden von vielen Seiten bei der Arbeitsintegration unterstützt. Psychiatrische Kliniken bieten beispielsweise Arbeitstherapien an. Es gibt auch spezialisierte Institutionen, die geschützte Arbeitsstellen und Programme anbieten, die das Ziel haben, Menschen mit einer psychischen Erkrankung stufenweise in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Idee dabei ist »erst trainieren, dann platzieren«, das heißt, Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden so lange trainiert, bis sie wieder eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ausüben können. Die nachhaltige Integration in den ersten Arbeitsmarkt kann durch diese Stufenmodelle jedoch häufig nicht erreicht werden, was schon vor über 25 Jahren festgestellt wurde (Pfammatter u. a. 2000). Solche Forschungsergebnisse führten zu einem Umdenken und trugen zur Entwicklung des Supported-Employment-Ansatzes bei.
Das Supported-Employment-Konzept stammt aus dem angelsächsischen Raum und wurde ursprünglich für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt. Es bricht mit der traditionellen Vorstellung, dass Menschen mit einer Behinderung spezifische Trainings in geschützten Werkstätten brauchen, damit sie später im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Neu werden Betroffene durch Jobcoaches unterstützt, damit sie ohne vorheriges Training direkt auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Aus dem Stufenmodell »erst trainieren, dann platzieren« wird »erst platzieren, dann trainieren«.
Deborah Becker und Robert Drake (1993) passten das Konzept den Bedürfnissen von Menschen mit psychischen Erkrankungen an. Ihr Modell »Individual Placement and Support« sieht die Motivation der Betroffenen und die individuelle Begleitung der Jobcoaches als entscheidende Faktoren, um eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erlangen und zu halten.
Im Jahr 2003 wurde der IPS-Ansatz in der Studie EQOLISE beforscht. Deutschland, Italien, England, die Niederlande, Bulgarien und die Schweiz beteiligten sich an dieser Multicenterstudie. Die Ergebnisse (Burns u. a. 2007) zeigten, dass dieser Beratungsansatz auch in Europa umgesetzt werden kann. Supported Employment gilt seit über zwanzig Jahren als Evidence-Based Practice (Bond 2004), deren Wirksamkeit auch in aktuellen Studien bestätigt wird (Brinchmann u. a. 2020; de Winter u. a. 2022; Bond u. a. 2023). Der Ansatz hat eine breite Akzeptanz bei Klient*innen, Behandelnden und im Arbeitsumfeld gewonnen.
Die Arbeitsfähigkeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht mehr stufenweise in einem Schonraum aufzubauen, stellt auf verschiedenen Ebenen einen Paradigmenwechsel dar. Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden nicht mehr von Expert*innen qualifiziert und/oder trainiert, sondern direkt bei der Umsetzung ihrer beruflichen Wünsche unterstützt. Zudem motiviert es die Teilnehmenden, da das Vorgehen gezielt auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Das Jobcoaching ist niederschwellig und grundsätzlich allen Menschen mit einer psychischen Erkrankung zugänglich. Der Ansatz entspricht der Empfehlung der OECD (2014), bei psychischen Erkrankungen parallel zur Behandlung frühzeitig die berufliche Rehabiliation einzuleiten.
Dem IPS-Modell von Deborah Becker und Robert Drake (2003) liegen acht Prinzipien zugrunde, die in der folgenden Abbildung zusammengefasst sind. Die IPS Fidelity Scale (Bond u. a. 2011) ermöglicht eine Einschätzung, wie das Jobcoaching-Angebot den postulierten Prinzipien entspricht.
Abbildung 1
Die 8 IPS-Prinzipien (nach Becker & Drake 2003)
1. Das Ziel des Jobcoachings ist eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt
Klient*innen sollen an einer regulären Arbeitsstelle mit marktüblichem Lohn tätig sein. Es ist möglich, die Stelle den gesundheitlichen Einschränkungen anzupassen. Explizit ausgenommen sind Tätigkeiten auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, der vom Staat subventioniert ist. Synonyme hierfür sind »geschützte Arbeitsplätze«, »Integrationsarbeitsplätze« oder »IV-Arbeitsplätze«.
2. Jobcoaches arbeiten mit Behandelnden zusammen
In den USA ist das Jobcoaching ein integraler Bestandteil der psychiatrischen Behandlung. Das hiesige Gesundheitssystem ist anders aufgebaut, daher ist es wichtig, dass in Absprache mit den Klient*innen eine enge Zusammenarbeit mit den Behandelnden möglich ist. So können die Ziele abgestimmt und gemeinsame Strategien zur Unterstützung entwickelt werden.
Durch diese Zusammenarbeit knüpfen Jobcoaches im Laufe ihrer Tätigkeit zudem ein Netzwerk mit verschiedenen Behandelnden. Dadurch können sie Klient*innen, die psychotherapeutisch nicht (ausreichend) eingebunden sind, passende Therapieplätze organisieren.
3. Das Jobcoaching ist ein Angebot für alle Menschen mit psychischer Erkrankung
Alle Personen mit einer psychischen Erkrankung haben Zugang zum Jobcoaching. Faktoren wie Diagnose, Arbeitsfähigkeit, Symptome oder beruflicher Werdegang spielen keine Rolle. Der Wunsch der Klient*innen, (wieder) auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein, und die Bereitschaft, mit Jobcoaches zusammenzuarbeiten, sind ausschlaggebend.
4. Jobcoaches nehmen die beruflichen Wünsche der Klient*innen ernst
Die Tätigkeitsfelder stellensuchender Klient*innen werden nicht im Voraus begrenzt, sondern richten sich nach deren Interessen und Fähigkeiten. Zeigt sich im Verlauf, dass die Berufswünsche unrealistisch sind, wird dies im Jobcoaching thematisiert und eine Alternative erarbeitet.
5. Jobcoaches informieren Klient*innen über (Sozial-)Versicherungsleistungen und weitere Beratungsangebote
Mögliche Ansprüche auf Sozialleistungen und spezifische Beratungsangebote werden im Jobcoaching besprochen. Klient*innen werden darauf aufmerksam gemacht, wie sich eine neue Stelle oder eine Lohnerhöhung auf die Rentensituation auswirkt.
6. Die Stellensuche beginnt unmittelbar nach dem Kennenlernen
