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Dies ist die Geschichte der 15-jährigen Johanna und ihrer besonderen Freundschaft mit der Hexe Wacholder. Johanna reicht es. Zuhause gibt es ständig Streit. Ihre Eltern interessieren sich nur noch für ihre Noten, aber nicht dafür, wie es ihr in der Schule wirklich geht. Zufällig sieht sie die Anzeige der Hexe Wacholder. Sie lebt mit ihren Katern Mars und Maler in einem Haus und sucht jemanden für das Zimmer unter dem Dach. Johanna zieht bei ihr ein, doch in ihr wird es nicht ruhiger. Warum lässt die Neue im Jahrgang ihr Herz so schnell schlagen und nicht ihr Freund Tobi, von dem alle schwärmen und mit dem sie seit einem halben Jahr eigentlich eine schöne Zeit hat? Zwischen Johanna und Wacholder entwickelt sich eine Freundschaft, durch die sie sich beide trauen, zu ihren Gefühlen zu stehen und das auszusprechen, was sie sich wirklich wünschen.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Hexe Wacholder
Kaffee mit Zimt und Kandis
Umarmt
Drei Regeln und ein Seemannslied
Küsse und Kühlschranknotizen
Mittwochs Malereien
Die Seele macht blau
Dieses eine Wort
Auflodern
Neue Verbündete
Leonie
Berg- und Talfahrt
Hin und weg
Über Scherben
Aufgewühlte Erde
Fremd sein
Keine Worte
Eine offene Tür
Ich
Wir
Bald
Jetzt
An der kurzen Straße, mit dem langen Namen, in einem schiefen Haus mit großen Fenstern, lebte die Hexe Wacholder. Man muss immer ein Stück vom Himmel sehen können und auch etwas von der Erde, fand Wacholder.
Jeden Morgen stand sie um Punkt sechs Uhr auf, trank einen Pfefferminztee mit einer Scheibe Zitrone und Honig und dazu aß sie ein Stück Apfelkuchen sowie eine Möhre.
Den Kuchen aß sie, weil ihr am Nachmittag öfter mal etwas dazwischengekommen war und dann hatte es Tage ohne Kuchen gegeben. Weil ein Tag ohne Kuchen nicht sein durfte, gab es ihn seit vielen Jahren schon immer am Morgen. Die Möhre aß sie wegen der schönen leuchtenden Farbe und natürlich auch, weil Vitamine wichtig sind.
Mit Tee und Teller stand sie am geöffneten Fenster und ließ den Wind in das Haus. »Guten Morgen, lieber Wind«, sagte sie. »Nimm alles mit vom alten Tag und mache mir Platz für Neues.« Und da im Norden oft ein starker Wind blies, kam es häufig vor, dass eine Böe erst Wacholders langen, braunen Haare in die Höhe wirbelte und dann durch die Lavendelzweige fuhr, die quer im Raum zum Trocknen hingen. Man roch diesen Duft bis unter das Dach.
Wenn der Wind seine Reise durch das Haus gemacht hatte, flüsterte sie ihm zu: »Grüße alle unsere Freunde da draußen, die Bäume und auch die Tiere und wünsche einen schönen Tag.«
Wenn sie mit dem Frühstück fertig war, öffnete sie die Tür zu ihrem Garten und schob einen Fuß über die Schwelle, um dem Wetter zu begegnen. Von Mai bis August lief sie barfuß, weil sie es liebte, den sonnengewärmten Holzboden zu spüren. Genauso gerne schlüpfte sie jedoch ab September in weiche, kuschelige Socken, wackelte mit den Zehen und fühlte den herrlichen Stoff auf ihrer Haut.
Wenn Wacholder wusste, was sie draußen erwarten würde, machte sie einen Schritt rückwärts und griff in die Holzkiste neben der Tür. Sie nahm die Tüte mit den Katzenleckerlies heraus und ließ sie laut rascheln. Das Katergeschwisterpaar Mars und Maler eilte aus der ersten Etage aus ihrem Bett herbei.
Wacholder bückte sich und legte zwei Leckerlies vor die Tür.
Die Kater liebten das Haus. Nie hätten sie hinausgewollt. Zum einen, weil sie als Babys in einem Pappkarton an einer Straße ausgesetzt worden waren und seitdem den Geräuschen von draußen misstrauten und zum anderen, hatten sie im Haus alles, was sie brauchten. An den Balken im Zimmer unter dem Dach konnten sie ihre Krallen schärfen und überall standen Töpfe mit Kräutern, in die sie ihre Nasen stecken konnten. Aber Wacholder dachte, vielleicht wäre ihnen eines Tages danach, doch nach draußen zu gehen und dann sollten sie auch die Möglichkeit dazu haben.
Beide Kater schoben den Kopf über die Schwelle, angelten mit den Pfoten nach den Leckerlies und oft gab es draußen plötzlich ein Geräusch. Daraufhin machten sie einen Buckel und schlichen rückwärts und wer schon mal gesehen hat, wie Katzen rückwärtsgehen, der kann sich denken, dass Wacholder jedes Mal kichern musste.
Kurz danach ging Wacholder auf die Knie und stützte sich auf ihre Hände. Dabei rutschten ihre vielen Armreife klirrend nach unten und nachdem sie sich in Balance gebracht hatte, lief sie ebenfalls rückwärts. Die Kater sollten schließlich auch etwas zu kichern haben. In dieser Position machte sie ein paar Streckübungen für den Rücken und schaute sich um.
»Zwischendurch ist es gut, seine gewohnte Umgebung mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.«
So hatte sie schon ein verloren geglaubtes Buch unter dem Sofa entdeckt und Malers Lieblingsspielzeug, den roten Flummi mit den vielen Zahnabdrücken. Erst durch die Zahnabdrücke, hatte er seine besondere Art, in die wildesten Richtungen zu springen erhalten und Maler war sicher froh gewesen, diese Zeit nicht umsonst investiert zu haben.
Um viertel vor sieben ging Wacholder ins Bad und erledigte, was man da so erledigen musste und verließ das Haus.
Diese ersten fünfundvierzig Minuten am Tag gehörten ihr. Und so blieb es auch, als wir uns begegneten.
Als ich die Wassermühlenoberbachstraße erreichte, frischte der Wind auf und zerrte an meinem, eben noch an der Bushaltestelle, frisch gemachten Zopf. Ich fror, was nicht nur am Wind lag. Jeder Schritt, den ich auf das schiefe Haus zumachte, wurde abwechselnd von einer heißen und von einer kalten Welle begleitet, die meine Muskeln zittrig und all meine wohl zurechtgelegten Sätze leicht werden ließen. Einer nach dem anderen schien sich in meinem Kopf aufzulösen. Wenigstens wusste ich noch meinen Namen.
Guten Tag, ich bin Johanna, wir haben gestern Nachmittag telefoniert. Ich komme wegen des Zimmers.
Die beiden Sätze waren noch da.
Alle anderen nicht.
Also, ein Kompliment wollte ich ihr machen. Etwas Nettes sagen. Vielleicht zu ihrer Frisur oder dem Haus. Eventuell standen schöne Blumen davor, deren Blütenpracht ich loben konnte.
Wenn sie mich direkt auf meine Eltern ansprechen sollte, dann würde mir mein Portmonee aus der Hosentasche rutschen. Das hatte ich gut vorbereitet, es schaute bereits ein Stück aus meiner Hosentasche hinaus. Ich müsste nur mein Bein etwas anziehen, dadurch würde es zu Boden fallen. Wir würden uns erschrecken und ich könnte Wacholder mit einem anderen Thema ablenken. So würde sie mich ein wenig kennenlernen und vielleicht fiel es ihr dann schwerer nein zu sagen.
Ich war da.
Das Haus war schmal, aber hoch. Es gab drei Stufen zur Haustür und keine Blumen davor. Stattdessen wuchsen rechts und links Sträucher mit dornigen Zweigen. Mit einem Kompliment dafür war es also Essig.
Ich klingelte und atmete tief ein. Hatte ich eingeatmet? Es fühlte sich nicht so an, als ob in meine Lunge wirklich Sauerstoff gelangte.
Die Tür ging auf und sie stand vor mir, die Hexe Wacholder.
Ihr langes, braunes, von feinen grauen Strähnen durchzogenes Haar wurde von einer Windböe erfasst und durcheinandergewirbelt.
»Hallo Johanna. Hier. Fege doch bitte die Stufen hinter dir.«
Wacholder streckte mir einen gebundenen Besen aus langen Ästen entgegen.
Ich drehte mich um, blickte auf meine Schuhe und prüfte, ob Schmutz daran klebte. Es war alles okay.
Verwundert sah ich sie an.
»Wenn du jetzt fegst, hast du nachher einen besonders schönen Rückweg, das wird dich freuen. Außerdem sind wir beide ein wenig nervös. Aber jetzt haben wir uns schon kurz gesehen und wenn wir nun noch mal eine Minute richtig Luft holen können, wird es uns gleich sicher viel besser gehen.«
Sie lächelte.
Ich nahm ihr den Besen ab und nickte. Bedacht stieg ich die Stufen hinunter, fegte sorgfältig ein Stück des Weges, ging am Rand die Stufen wieder hinauf und reinigte auch diesen Teil, danach gab ich ihr den Besen zurück.
Wacholder stellte ihn mit dem Stil nach unten in den Flur. Sie drehte sich erneut zu mir um und streckte ihre Hand aus. »Ich freue mich, dass du da bist. Komm bitte herein.«
Ich schüttelte ihre Hand.
Sie sah mir in die Augen und lächelte.
Ihr Händedruck war stark und doch ganz sanft.
Sie ließ meine Hand etliche Sekunden lang nicht los. Ich mochte das. So konnten wir uns einige Momente lang ansehen.
Wacholder hatte einen durchdringenden Blick. Ihre Haut war braun gebrannt und auf der Nase und über der Oberlippe hatte sie einige Sommersprossen. Auf der linken Wange waren zwei frische Kratzer zu sehen.
»Hast du gut hergefunden?«
Sie ließ meine Hand langsam los.
Ich nickte. »Der Bus hält nur zwei Straßen weiter.«
»Ich hörte davon. Ich fahre immer mit dem Rad, aber meistens in die gegenüberliegende Richtung. Ist das nicht komisch? Manchmal scheint es einen nur in eine bestimmte Richtung zu ziehen und dann beachtet man die andere gar nicht mehr.«
Ich kräuselte die Nase. Das machte ich immer, wenn ich nachdenklich, aber auch freundlich aussehen wollte, also immer dann, wenn ich keine Antwort parat hatte.
Wacholder schloss die Tür und ich zog meine Schuhe aus.
»Da stehen Gästepantoffeln. Magst du einen Kaffee?«
»Ja, mit Milch und Zucker bitte.«
Ich schlüpfte in die grauen Filzschuhe. Das war mir gar nicht so recht, denn sie passten nicht zu meiner guten schwarzen Jeans, die ich extra für heute rausgelegt hatte, aber das konnte ich Wacholder ja schlecht sagen.
Als ich mich aufrichtete, blickte ich auf die Zeichnung einer grinsenden Katze. Sie trug einen Schlips und hatte eine qualmende Zigarette im Mundwinkel. Die Katze hatte Ähnlichkeit mit der aus Alice im Wunderland.
»Bitte, dein Kaffee.«
Ich zuckte zusammen.
Wacholder war neben mir aufgetaucht und hielt mir eine bunt gepunktete Tasse entgegen. Bedacht nahm ich sie ihr ab.
»Danke.«
»Das Bild ist von dem Künstler Mecki Bambuso, der eigentlich Markus Winterfeld heißt. Winterfeld, stell dir mal vor und dann nennt er sich Bambuso. Nun ja, auch Künstler verlieren manchmal das Gefühl für das Wesentliche.«
Wacholder zeigte auf die Katze. »In der Ausstellungsbroschüre stand, durch seine Bilder befördere er die Figuren unserer Kindheitsgeschichten in die Gegenwart. Er möchte uns damit an unseren inneren Kern erinnern. Gelingt ihm das?«
Ich blickte erneut auf das Bild, danach zu Wacholder und zuckte mit den Schultern. »Mich bringt es zum Lachen.«
Wacholder schmunzelte. »Wenn die Kunst bereits in meinem Flur jemanden zum Lachen bringt, dann hat sie ihren Zweck auch erfüllt. Ich fand die Katze aus Alice im Wunderland schon immer etwas gruselig. Sie redete mir zu viel. Vielleicht hätte ich lieber die Zeichnung von Donald Duck mit den dunklen Augenringen nehmen sollen.«
»Ich lese am liebsten Mangas, aber Donald finde ich auch toll.«
»Dann können wir ja mal tauschen.« Wacholder stellte sich neben mich und blickte die Treppe hoch. »Wir sollten und erst das Zimmer ansehen, damit du weißt, ob es dir überhaupt gefällt.«
Wollte sie gar nicht wissen, warum ich alleine hier war? Ich hatte ihr am Telefon ja gesagt, dass ich fünfzehn bin.
Die Anspannung meiner Muskeln ließ etwas nach. Bis wir auf meine Eltern zu sprechen kamen, war anscheinend noch etwas Zeit.
»Gerne.« Ich hob die Tasse an die Lippen und schielte auf den herausschauenden Löffel, dabei nahm ich den Duft von Zimt wahr.
Wacholder sah zu mir. »Es ist Kandis drin. Du musst vielleicht noch umrühren. Ich finde, der Kandis macht so schöne Geräusche in der Tasse, wenn er hin und her gewirbelt wird.«
Ich senkte die Tasse, rührte sachte um und lauschte. »Und der Zimt malt ein Bild auf die Oberfläche.«
»Stimmt. Ich habe ganz vergessen, dich zu fragen, ob du Zimt magst. Auf alles Süße kommt bei mir auch Zimt. Und auch auf vieles, was nicht süß ist.«
»Ich mag ihn gerne.«
Wacholder rührte ebenfalls ihren Kaffee um und hielt dabei ihr Ohr nah an die Tasse. Sie nickte zufrieden, ging an mir vorbei und die ersten Stufen der Treppe nach oben. »Das Zimmer ist unter dem Dach.«
Ich folgte ihr.
Wacholder hatte einen federnden Gang. Sie nahm zwar jede Stufe mit Bedacht, dafür aber mit Schwung. Sie trug eine weite, hellblaue Leinenbluse mit dreiviertel langen Ärmeln. Silberne Armreife mit türkisfarbenen Steinen zierten ihre Handgelenke. Zwei davon lagen nicht so eng an und rutschten hoch und runter. Ihre Haut war vom vergangenen Sommer auch an den Armen braungebrannt.
Wehmütig blickte ich auf meine Handrücken. Meine Haut blieb stets blass. Selbst im Urlaub im vergangenen Jahr in Italien waren nur ein paar Sommersprossen auf der Nasenspitze dazugekommen. In diesem Jahr waren wir zuhause geblieben, weil ich mich mit meinen Eltern so oft gestritten hatte. Mein Magen zog sich an die Erinnerung daran zusammen.
So in Gedanken versunken, merkte ich erst kurz vor knapp, dass Wacholder auf der ersten Etage mitten im Flur stehengeblieben war.
Ich stellte mich neben sie und betrachtete die drei Türen.
Wacholder zeigte nach links. »Dort ist mein Schlafzimmer und daneben mein Arbeitszimmer. Beide sind nicht aufgeräumt. Neben der Treppe ist das Bad.«
Sie ging einige Schritte und öffnete die Tür.
Ich folgte ihr und warf einen Blick in das hell-blau gekachelte Badezimmer, welches hinter der Tür eine Dusche besaß. Rechts von mir gab es einen schmalen, hohen Spiegel, ein breites Waschbecken und die Toilette.
Wacholder zeigte unter das Waschbecken. »Da könnte noch ein Regal hin, für deine Sachen. Meine sind alle in dem Schrank dort.«
Ich betrachtete den alten Schrank aus dunklem Holz, sah Wacholder an und lächelte.
Wacholder ging erneut vor, die nächsten Stufen hinauf, öffnete am Ende der Treppe eine Falttür und ich folgte ihr in das Zimmer unter dem Dach.
Vier Stützbalken standen im Raum. Sie waren in dunklem Rot gestrichen, genau wie der Fußboden. Drei kleine Fenster, auf der rechten und linken Seite sowie mir gegenüber, warfen einen hellen Schein auf die Einrichtung. Geradeaus vor mir stand ein schmales Bett, daneben ein Nachtschränkchen und unter der Schräge rechts daneben eine Kommode mit zwei großen Schubladen. Es duftete nach sonnengewärmten Holz.
Mein Schreibtisch würde noch reinpassen, aber das Bücherregal und mein eigener Kleiderschrank nicht. Mein Regal war ein Einfaches aus Holzstreben. Vielleicht könnte mein Vater es zusägen.
Mir wurde wieder ganz kalt.
Sie werden dagegen sein. Warum sollten sie mir erlauben, auszuziehen, wenn sie mir eh schon ständig vorwarfen, dass wir uns zu wenig sahen und den Kontakt zueinander verloren.
Ich machte einen Schritt, damit Wacholder meine veränderte Körperspannung nicht bemerkte, doch sie folgte mir und betrachtete mich.
Ich zog den Zopf fest, um meine Arme dabei schützend vor mein Gesicht halten zu können.
»Ich habe das Zimmer mal für eine Freundin von mir eingerichtet, sie besuchte mich öfter. Nun leider nicht mehr. Wo hast du eigentlich meine Anzeige entdeckt?«
»Sie hing an einer Laterne in der Nähe meiner Schule.«
»Ach, die Laternen an den Schulen. Die hatte ich wohl vergessen.«
Wacholder nahm einen Schluck Kaffee.
Wie meinte sie das?
»War die Anzeige gar nicht mehr aktuell?«
Ich bekam plötzlich wieder schlecht Luft.
»Doch, doch. Ich hatte nur schon länger gesucht und niemanden gefunden und es eigentlich erst mal aufgegeben. Ich dachte, ich hätte alle Anzeigen abgehängt. Dann war meine Vergesslichkeit ja mal für etwas gut. Alles zeigt irgendwann seinen Nutzen.«
Sie lächelte mir zu und ich wurde innerlich wieder ruhiger.
»Gefällt dir denn das Zimmer?«
»Es ist sehr hübsch. Wegen den Möbeln müsste ich mal mit meinen Eltern sprechen.«
Ich tat so, als sei mit ihnen schon alles geklärt, dabei wussten sie von nichts.
»Magst du Apfelkuchen?«
»Sehr gern.«
»Lass uns in die Küche gehen.«
Wir stiegen die erste Treppe wieder hinunter.
»Wacholder, ich müsste kurz wohin. Könntest du meine Tasse mit runternehmen?«
Sie nickte und nahm meine Tasse entgegen.
Ich ging in das Bad und schloss die Tür. Auf das Waschbecken gestützt, atmete ich tief durch.
Ein feiner Duft nach Orange lag in der Luft. Mein Blick fiel auf das Fensterbrett, auf dem ein dunkelblaues Stövchen stand. Ein Teelicht brannte darunter.
Mein Herzschlag beruhigte sich.
Ich drehte mich um und blickte zu dem Schrank. Darauf standen ein weißer und ein roter Blumentopf mit jeweils einem wuchernden Efeu und einer Pflanze darin, die ich nicht kannte, deren Zweige aber ebenfalls am Schrank hinunterrankten.
In die Schranktüren waren wunderschöne geschwungene Verzierungen gefräst. Sie wirkten wie Flammen, die gen Himmel loderten. Neben der Dusche war eine kleine Heizung, auf der ein grünes Handtuch mit bunten Kringeln lag. Wacholder schien gern Altes mit Neuem zu vermischen. Sie mochte wohl Buntes, aber ebenso dunkle Töne, wie die, des antiken Holzschrankes. Es passte alles erstaunlich gut zueinander.
Ich stellte mir vor, hier jeden Morgen in den Tag starten zu dürfen. Das angenehme Gefühl, was sich in mir ausbreitete, gab mir wieder Halt.
Wacholder war mir gegenüber sehr freundlich. Sie gab dem Ganzen also vielleicht eine Chance. Hätte ich doch vorher mit meinen Eltern reden sollen? Wenn Wacholder ja und sie nein sagten, wäre ich dann nicht umso enttäuschter? Aber vielleicht würde Wacholder mir auch helfen und mit ihnen reden?
Ich drehte mich wieder zum Waschbecken um und atmete den frischen Duft der Orange ein.
Eins nach dem anderen. Erst mal musste ich mit Wacholder über das Geld sprechen. Vielleicht wäre es danach schon vorbei.
Ich ging auf die Toilette, wusch mir die Hände und eilte nach unten in die Küche.
Auf dem runden Tisch hatte Wacholder Tee und Kuchen bereitgestellt. Ich setzte mich ihr gegenüber.
»Danke dafür.«
Wacholder lächelte. »Mit etwas Süßem auf dem Teller, redet es sich leichter.«
Sie pustete in ihre Tasse. »Und mit Fencheltee, der beruhigt den Magen.«
Ihr Blick traf mich und zum ersten Mal war dieser nicht sehr freundlich. Er war ernst und Wacholder wirkte besorgt.
Ich trank einen Schluck und setzte mich ganz gerade hin.
»Mir gefällt das Zimmer sehr gut. In deiner Anzeige stand, der Anteil an der Miete sei verhandelbar. Ich gehe seit einem Jahr, einmal in der Woche für vier Stunden in einer Gärtnerei arbeiten und verdiene dort vierzig Euro. Das sind hundertsechzig Euro pro Monat.«
Ich ließ die Tasse los, weil ich mir die Finger verbrannte.
»Mit meinen Eltern habe ich noch nicht gesprochen, aber ich denke, es wäre gerade gut für uns, wenn ich nicht mehr so oft zuhause wäre. Wir … wir streiten uns viel.« Ich schluckte.
Das hatte ich nicht sagen wollen. Ich wollte meine Eltern vor Wacholder nicht schlecht machen. Doch plötzlich waren all die Erinnerungen an die vergangenen Wochen zurück.
Fetzen der Vorwürfe stoben durch meinen Kopf und ließen Wut in mir auflodern. Wie eine heiße Flamme köchelte sie in meinem Magen und ließ meine zuvor auswendig gelernten Sätze verkohlen. Ich konnte die Wut nicht bremsen, wieder mal nicht.
Wacholder betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Schnell sprach ich weiter. »Wir sind oft nicht einer Meinung. Ich kann ihre Erwartungen nicht erfüllen und dann gibt es Streit. Ich glaube, der Abstand würde uns guttun. Ich wollte erst eine Zusage für ein Zimmer haben, bevor ich mit ihnen rede, damit sie sehen, dass ich Verantwortung übernehmen kann. Vielleicht geben sie zu der Miete auch noch ein wenig dazu. Von meinem Taschengeld bezahle ich auch meine Kleidung, da kann ich leider nicht mehr viel von abgeben. Hundertsechzig Euro sind sehr wenig, das weiß ich …« Meine Stimme zitterte.
Man, wie peinlich.
Ich trank einen weiteren Schluck Tee. Nun war es vorbei. Wacholder fand es bestimmt albern, wie ich mich verhielt.
»Das hätte ich sicher auch so gemacht.«
Ich sah Wacholder an.
Der milde Ausdruck war in ihren Blick zurückgekehrt.
»Du wolltest an der bedrückenden Situation etwas ändern und hast diese Energie genutzt. Das war gut, sonst würdest du jetzt vielleicht immer noch darin feststecken. Deine Eltern könnten diesen Freitagabend zum Essen herkommen, um mich kennenzulernen und sich das Zimmer anzusehen.«
Also zog Wacholder meinen Einzug wirklich in Betracht?
Plötzlich hörte ich Getrappel auf den Treppenstufen.
Wacholder blickte über ihre Schulter. »Das sind Mars und Maler. Sie haben wohl den Apfelkuchen gerochen. Ich esse ihn sonst morgens, wenn sie ihr Frühstück bekommen. Sie erhoffen sich wohl einen Nachmittagssnack.«
Kuchen zum Frühstück? Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, drehte sich Wacholder zur Tür um. Ich beugte mich zur Seite.
Zwei Katerköpfe erschienen, beide schwarz mit weißen Flecken, der eine hatte ihn rund um das linke Auge und der andere am Hals.
»Wir haben Besuch, deshalb gibt es heute ein zweites Mal Kuchen«, sagte Wacholder leise.
Die beiden schnupperten und der Kater mit dem weißen Fleck im Gesicht machte einige Schritte.
»Das ist Maler. Er ist etwas mutiger als sein Bruder. Sie sind beide sehr schreckhaft. Man fand sie in einem Pappkarton, ausgesetzt an einer Hauptstraße, als sie Kätzchen waren.«
Mein Magen zog sich zusammen. Ich beugte mich weiter runter.
Maler blieb stehen und starrte mich an.
»Hallo, erschrick bitte nicht vor mir.«
Maler drehte sich um, lief zur Tür, kam wieder zurück und maunzte leise.
Im Augenwinkel sah ich, wie Wacholder mir etwas hinhielt. Ich streckte die Hand aus und sie ließ zwei dicke Kuchenstreusel hineinfallen.
Ich machte meinen Arm so lang wie es ging und hielt den einen Krümel Richtung Maler.
Mars machte nun auch einen langen Hals.
Maler tapste näher, schnupperte und biss in den Krümel.
Seine Zähne zwackten in meine Finger und ich ließ den ersten der beiden Streusel los. Nun machte Mars einen Satz nach vorne, landete vor meiner Hand und ich ließ auch den anderen Krümel fallen.
Er schleckte ihn auf, dann verschwanden die Brüder unter dem Tisch und strichen Wacholder um die Beine.
»Wie alt sind sie?«
»Sieben Jahre, aber im Herzen nur ein paar Monde alt, so viel Quatsch wie sie anstellen. Falls du nachher deine Schuhe nicht mehr richtig zubinden kannst, tut es mir leid. Sie zerbeißen gerne alle möglichen Schnüre und wenn sie einen Teil davon erobern können, schleppen sie diesen in jeden Winkel des Hauses. Wäre das für dich in Ordnung?«
Meine Augen öffneten sich weit.
»Wenn du hier wohnst, meine ich.«
Das mit dem Geld war also kein Problem?
»Natürlich. Ich teile meine Schnürsenkel gerne.«
Wacholder lächelte, streckte die Hand aus und zog einen Haftnotizzettelblock von der Fensterbank. Auch auf meiner Seite lag so ein Block.
Sie schrieb etwas darauf, löste das Blatt und reichte es mir.
»Das ist meine Handynummer. Ruf mich an, wenn du weißt, ob ihr am Freitag kommt. Wenn deine Eltern mich vorher schon sprechen wollen, können Sie mich auch gerne anrufen.«
»Danke.«
Wacholder nahm einen großen Bissen vom Kuchen, kaute langsam und schaute aus dem Fenster.
Ich aß ebenfalls weiter und blickte hinaus. Einige trockne Blätter wirbelten umher.
»Ich freue mich, wenn in einigen Wochen der Herbst naht. Alles wird ruhiger werden und so ist es gut.«
Ich nickte und sah zu Wacholder hinüber. Ihr Blick ging immer noch in die Ferne.
Ich aß auf und leerte die Tasse. »Ich gehe dann mal.«
Wir standen auf.
Mars und Maler flitzten aus der Küche und die Treppe hinauf.
Im Flur zog ich meine Schuhe an, die Schnürsenkel waren noch dran, und nahm meine Jacke.
Wacholder zeigte auf eine Schale mit eingepackten Bonbons, die auf der Kommode vor mir stand.
»Nimm dir ein paar davon. Man weiß nie, wie lang ein Weg wird, wenn man das Haus verlässt.«
Ich stutzte, griff aber dann zwei der funkelnden Stücke heraus und steckte sie in die Tasche.
Ich drehte mich ganz zu Wacholder um und streckte die Hand aus.
»Danke. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Johanna.«
Sie öffnete mir die Tür.
Ich stieg die Stufen hinunter und bemerkte, dass meine Knie ganz buttrig waren. Nun ging es also zu meinen Eltern.
Ich drehte mich noch mal um.
Wacholder stand in der Tür, hob die Hand und nickte mir lächelnd zu. Sanft und freundlich.
Ich drehte mich um und lief mit festerem Schritt der Bushaltestelle entgegen.
* * *
Es war kurz vor halb sieben und somit fast Abendbrotzeit, als ich zuhause ankam.
Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus und betrat den Wohn- und Essbereich.
Mein Vater blickte von seiner Zeitung auf. »Du kommst spät.«
»Aber ich bin pünktlich.«
»Trotzdem, du weißt, dass wir um halb sieben essen.«
»Es ist fünf Minuten vor halb.« Ich schaute demonstrativ auf mein Handgelenk, an dem sich keine Uhr befand.
»Ja und nächstes Mal ist es dann schon fünf Minuten nach halb.«
In meinem Magen grummelte es, doch ich musste mich zurückhalten. »Du hast ja recht.« Ich bemühte mich zu lächeln und ging in die Küche, in der meine Mutter gerade das Tablett mit dem letzten Teller bestückte. Sie drehte sich zu mir.
»Es ist halb sieben.«
»Entschuldige. Ich weiß, ich bin fast zu spät.« Eilig griff ich nach dem Tablett und bugsierte es hinaus.
Meine Mutter brachte die Teekanne mit und gemeinsam deckten wir den Tisch.
Wir setzten uns und wünschten einander einen guten Appetit.
Ich schmierte mir ein Brot und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch mein Vater war schneller.
»Wie war es in der Schule?«
»Gut.«
»Habt ihr heute Hausaufgaben aufbekommen? Du warst ja den ganzen Nachmittag unterwegs.«
»Die sind erst für Mittwoch. Ich habe also noch Zeit.«
Mein Vater legte das Messer ab. »Morgen triffst du dich doch bestimmt wieder mit Isa. Schaffst du das dann mit den Hausaufgaben?«
»Im letzten Schuljahr hat es doch auch gut geklappt.«
Meine Mutter strich meinem Vater über den Arm.
»Dein Vater hat recht. Achte bitte auf deine Zeiteinteilung. Beim Elternsprechtag haben sie gesagt, dass in der Neunten der Stoff viel umfangreicher wird. Es geht schließlich um deine Zukunft.«
Meine Zukunft.
Ich schluckte.
»Genau deswegen war ich heute unterwegs.«
»Wegen was?« Die Stimme meines Vaters hatte schon wieder einen besorgten Unterton.
»Wegen meiner Zukunft. Ich habe mich um etwas gekümmert, was uns allen helfen könnte.«
»Uns allen?«
Und schon hatte sich die Stimmlange meiner Mutter der von meinem Vater angepasst. Sie waren sich in dem Misstrauen mir gegenüber also wieder mal einig.
»Ich denke, wir sind einer Meinung, dass die Ferienwochen sehr anstrengend waren. Vor lauter Streit sind wir sogar nicht weggefahren.«
Meine Mutter ließ das Messer geräuschvoll auf den Teller fallen. Ich zuckte zusammen.
»Hältst du uns das nun etwa vor? Wir waren uns alle einig darüber.«
Unter dem Tisch ballte ich meine Hand zur Faust, um die Welle der Wut von meinem Mund wegzulenken.
Es lief schon wieder alles schief. Ich wollte doch gar nicht streiten.
»Die Entscheidung war ja auch gut. Wir waren uns einig, dass wir statt viel gemeinsamer Zeit, lieber etwas Abstand brauchen. Und ich denke, den brauchen wir immer noch. Wir sitzen keine fünf Minuten zusammen und streiten schon wieder.«
Die blassen Wangen meiner Mutter färbten sich rosa und die Brille meines Vaters schien zu beschlagen. Das bildete ich mir natürlich ein, aber ich spürte, wie er kurz davor war, ungehalten zu werden.
Er winkte ab und bemühte sich zu lächeln. »Wir streiten doch gar nicht. Wir reden nur über den Tag.«
»Ja, über meinen Tag. Und ich bekomme nur Vorwürfe von euch.«
»Also bitte«, meine Mutter verschränkte die Arme.
Ich schaute in ihre hellen grünen Augen, die ich immer sehr mochte, weil in ihnen stets etwas Mildes lag. Doch wie so oft in letzter Zeit, waren sie nun zusammengekniffen und tiefe Falten umrandeten sie.
»Jeden Abend sitze ich hier und habe das Gefühl, mich für alles rechtfertigen zu müssen.«
»Wir machen uns doch nur Sorgen«, sagte mein Vater.
Da platzte es aus mir heraus. »Bin ich denn so ein schlechter Mensch, dass ihr euch immer Sorgen machen müsst um mich? Bereite ich euch so viel Kummer?«
Nun war es meine Mutter, die zusammenzuckte.
Mein Vater beugte sich über den Tisch.
»Johanna, schau mal, allein, dass du jetzt schon wieder so wütend wirst. Das passiert viel zu häufig in letzter Zeit und deine Noten …«, ich ließ ihn nicht aussprechen. »Dann frag dich doch mal, was mich so wütend macht. Du hast doch angefangen, in diesem Ton mit mir zu reden.«
Mit beiden Händen schlug meine Mutter auf den Tisch.
»Jetzt lasst uns doch aufhören mit diesem Mist. Ich möchte einmal mit euch hier sitzen und mich vernünftig unterhalten.«
Ich ließ mich nach hinten sinken. »Ich glaube nicht, dass wir so ein Gespräch momentan hinbekommen.«
Meine Mutter atmete laut aus. »Also, wo warst du heute Nachmittag?«
Ich straffte die Schultern. »Ich habe mir ein Zimmer angesehen. Ein eigenes Zimmer für mich bei der Hexe Wacholder.«
Meine Eltern starrten mich an. Fast zeitgleich sagten sie: »Ein Zimmer?«
Ich nickte.
Mein Vater beugte sich vor. »Du warst bei der Hexe Wacholder. Etwa, bei der aus der Zeitung?«
Gut, er wusste es noch.
Mein Vater hatte uns vor einigen Monaten ein Interview mit Wacholder aus der Zeitung vorgelesen und meine Eltern hatten lange über die Frau geredet, die sich als Hexe bezeichnete und mit ihren Künsten anderen Menschen in vielen Lebenslagen half. Meine Eltern redeten gerne über Leute, die ein gewisses Ansehen in der Stadt hatten, ebenso, wie über den Klatsch, der über Prominente verbreitet wurde.
»Sie vermietet ein Zimmer in ihrem Haus unter dem Dach. Als wir den Artikel in der Zeitung gelesen haben, habt ihr sehr gut von ihr gesprochen und sie ist wirklich sehr nett. Ihr reicht das Geld, was ich in der Gärtnerei verdiene für die Miete und von dort aus bin ich sogar schneller in der Schule.«
»Du kannst doch nicht einfach so zu einer Fremden marschieren, ohne uns Bescheid zu geben.«
Nun war mein Vater wirklich ungehalten.
»Isa wusste wo ich war, mit Adresse und allem. Ich habe mein Handy laut gehabt und ihr sofort eine Nachricht geschickt, als ich mich auf den Weg nach Hause gemacht habe.«
Mein Vater blickte zu meiner Mutter.
Ich wusste, wenn es um die wirklich großen Dinge ging, wartete er ihre Meinung ab.
Meine Mutter blickte auf ihre Hände. Viele Sekunden vergingen. Sie sah nicht erst zu meinem Vater, sondern direkt zu mir. Ihre Augen waren glasig.
Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals.
»Du denkst, es ist das Beste, wenn wir eine Zeit lang voneinander getrennt wohnen?«
Ich schluckte. Sie war verletzt. Aber die beiden waren an dieser Situation genauso schuld. Ich sprach das Ganze wenigstens aus. Nun musste ich standhaft bleiben.
»Ja«, sagte ich leise. »Ich will nicht immer streiten.«
Meine Mutter starrte auf die Tischkante.
»Mama?«, fragte ich leise.
Meine Mutter sah mich an. Sie wischte sich eine Träne von der Wange, stand auf, legte die Arme um mich und gab mir einen Kuss auf den Kopf.
Ich mochte das sonst nicht, weil ich mich dadurch fühlte, als sei ich wieder sechs Jahre alt, aber in diesem Moment verhinderte es die Tränen, die in mir aufstiegen und drohten, über meine Wangen zu kullern. Ich nahm einen großen Schluck Saft, während meine Mutter sich wieder hinsetzte.
»Du hast heute also länger mit ihr geredet, mit Wacholder?«
»Ja und sie hat uns für Freitag zum Essen eingeladen, damit ihr sie kennenlernen könnt.«
Mein Vater nahm sein Messer wieder auf und griff nach der Butter. »Das klingt doch sehr vernünftig. Wir lernen sie kennen und reden dann noch mal über diese ganze Sache.«
Er würde nein sagen. Ich kannte diesen Ton. Er tat erst diplomatisch und am Ende sagte er doch nein. Das kam von seinem furchtbaren Job am Schreibtisch. Er führte die Verhandlungen zuhause, wie auf der Arbeit.
»Ich ...«, nun legte meine Mutter mir die Hand auf den Arm und drückte ihn sanft.
»So machen wir das. Am Ende der Woche sehen wir weiter.«
Ich blickte auf den Tisch und griff fahrig nach der Marmelade.
Nun hieß es abwarten – und das hasste ich, sogar mehr als Mathe.
Als wir am Freitagabend bei Wacholder ankamen, begann es zu regnen. Dicke graue Wolken hingen seit Tagen am Himmel und hatten die Stimmung zuhause noch bedrückender gemacht.
Meine Eltern und ich waren die Woche über höflich zueinander gewesen, doch meine Mutter hatte sehr traurig gewirkt und mein Vater war gereizt gewesen. Ich hatte wegen dem bevorstehenden Treffen einen nervösen Magen gehabt und kaum etwas gegessen.
Ich hatte Angst davor, wie es zwischen uns weitergehen würde, wenn sie sich gegen den Auszug entschieden.
Meine Mutter klingelte und innerhalb weniger Augenblicke öffnete Wacholder die Tür. Sie sah ganz verändert aus. Ihre langen Haare trug sie zu einem Dutt und dazu einen dunkelgrünen Hosenanzug.
»Es freut mich, dass Sie es hergeschafft haben, was für ein Wetter. Die Sommergewitter sind wirklich heftig in diesem Jahr. Kommen Sie bitte herein. Wir setzen uns in die Küche.«
Ich ging als Letzte an Wacholder vorbei. Sie strich über meine Schulter und lächelte mir zu. Ich blieb für einen Moment stehen und lächelte ebenfalls.
In der Küche nahm Wacholder uns allen die Jacken ab, brachte sie hinaus und als sie wiederkam, schüttelte sie meinen Eltern die Hände.
»Jutta Kleinschmitt, aber nennen Sie mich doch bitte Wacholder.«
»Clemens Richter.«
»Isabelle Richter.«
»Bitte, setzen Sie sich. Es gibt nachher Suppe, aber vielleicht möchten Sie vorher einen Tee?«
»Gerne«, sagte meine Mutter.
»Mögen Sie Kräuter-Tee? Ich habe gerade erst einen gegen die Gewitterkälte gemischt, mit Ingwer und Löwenzahn.«
Meine Mutter nickte und mein Vater bat um ein Glas Wasser.
Während wir uns setzten und Wacholder uns mit dem Rücken zugewandt hantierte, betrachteten meine Eltern die Einrichtung.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich alles um mich herum kaum wahrgenommen.
Die Möbel bestanden aus dunklem Holz. Von der Decke hingen Töpfe mit Kräutern und es gab viele schmale Holzbretter, die an den Wänden angebracht waren. Darauf standen Gläser mit getrockneten Teeblättern und Gewürzen und dazwischen Figuren aus Holz und Stein. Ich entdeckte einen Buddha und daneben einen Ritter mit glänzender Rüstung sowie die Figur eines Wolfes. Am Kühlschrank hingen etliche Zettel mit Notizen.
Ob meinen Eltern dieser Ort wohl zu wunderlich war?
Wacholder goss mir Sprudel ein und stellte eine Flasche Sirup dazu. »Den musst du probieren. Eine Freundin von mir hat ihn letzten Monat gemacht. Die Hexe Gerlinde aus der Nordstadt. Es ist Johannisbeerensirup aus Beeren von ihrem Balkon.«
»Danke«, sagte ich.
Ich schaute zu meinen Eltern, die sich, genau wie Wacholder, schick gemacht hatten. Mein Vater trug ein dunkelblaues Hemd und eine rote Krawatte und meine Mutter einen weißen, edlen Pullover, den sie sonst nur zu Geburtstagen oder an Weihnachten trug.
Wacholder reichte meiner Mutter den Tee und meinem Vater das Wasser und stellte sich selbst ebenfalls ein Glas Sprudel hin, in den sie den Sirup träufelte.
»Ich freue mich, Sie hier willkommen heißen zu dürfen«, sagte Wacholder und lächelte.
Wenn sie lachte, bildeten sich Falten rund um ihre Mundwinkel und um ihre Augen. Das gefiel mir. Ich lachte auch so viel wie möglich, da ich mir später genau solche Falten wünschte.
»Das Johanna meine Anzeige entdeckt hat, ist wirklich ein Glück. Ich fand eine Zeit lang niemanden, dem es hier wirklich gefallen hätte. Manchen war das Zimmer zu klein, einige mochten keine Katzen und ich gebe zu, den ein oder anderen mochte ich nicht. Manchmal ist das so zwischen zwei Menschen, da kann dann keiner von beiden unbedingt etwas für.«
Mein Vater schmunzelte.
Das war gut.