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»In der Liebe gibt es Regeln.«
»Natürlich, aber wer stellt die auf?«
Detective Katrin Sander steht vor einer Reihe beruflicher und privater Herausforderungen: Die Öffentlichkeit übt Druck auf die Polizei aus, einer mysteriösen Droge auf die Spur zu kommen, die in der Clubszene von Chicago im Umlauf ist. Zudem muss sie den verzwickten Fall rund um einen Brandanschlag lösen.
Privat möchte sie ihrer Kollegin Melinda aus dem SWAT-Team näherkommen, doch seit einem One-Night-Stand, der Monate zurückliegt, tritt sie auf der Stelle. Als Katrin im Rahmen ihrer Ermittlungen dann der faszinierenden Gewürzhändlerin Eve begegnet, die sie auf eine emotionale Reise durch die Stadt einlädt, ist das Gefühlschaos perfekt.
Melinda auf der einen Seite, die sich ihr nicht ganz öffnen zu können scheint, Eve auf der anderen Seite, deren Kennenlernen mit Katrin auf Lügen basiert. Zwischen der Suche nach der Wahrheit und der Entwirrung ihrer eigenen Gefühle muss Katrin Entscheidungen treffen, die nicht nur ihr eigenes Glück betreffen, sondern auch das Leben der Menschen verändern werden, die ihr wichtig sind.
“Chili, Zimt und Koriander” von Ina Steg ist ein lesbischer Liebesroman darüber, die Liebe in all ihren Formen anzunehmen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Ina Steg
Lektorat: Jenny Spanier
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Cover: Giusy Ame/Magcicalcover.de
Satz: Zeilenfluss
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Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-9671-4436-9
Für Jenny
»Freuen Sie sich auch so mit mir? Wir stehen nun regelmäßig in der Zeitung. Aber verdammt noch mal mit den falschen Schlagzeilen.«
Der Commander hielt den Lokalteil des Chicago Reader in ihre Richtung. »›Beschützt unsere Kinder! Eltern demonstrieren vor Polizeirevier.‹«
Er klatschte das Papier neben sich auf den Tisch. Seine flache Hand erzeugte einen Knall. Katrin und ihre drei Kollegen zuckten zusammen.
»Wir haben es sogar in den Tribune geschafft.« Er hielt eine weitere Seite in die Luft. »›Neue Natur-Droge an der Near South Side besonders bei jungen Leuten beliebt. Was tut die Polizei?‹«
Auch diese Seite landete geräuschvoll neben ihm.
Er verschränkte die Arme und blickte sie einen nach dem anderen an. »Diese Frage gebe ich gerne an Sie weiter. Seit Wochen steigen die Zahlen von jungen Leuten, die mit starken Symptomen nach ihren Party-Nächten in den Krankenhäusern landen und etwas von einer angeblich harmlosen Natur-Droge erzählen. Doch ich habe aus Ihrer Abteilung keine neuen Erkenntnisse dazu.«
Katrin sah Commander Bronson in die Augen. »Wir arbeiten daran, aber die Lage ist sehr undurchsichtig. Die Blut- und Urinproben wiesen bei allen Patientinnen und Patienten, wenn überhaupt, nur auf geringen Drogenkonsum hin. Es gab vereinzelt Nachweise von Cannabis, Amphetaminen und Ecstasy, die zusätzlich konsumiert wurden. Wenn die Patienten zugaben, dass sie die neue Droge ausprobiert haben, konnten in den Proben keine Ausscheidungs- oder Abbauprodukte nachgewiesen werden, die uns Indizien auf die Zusammensetzung liefern. Die meisten Konsumenten gaben zudem an, dass ihre Freundinnen und Freunde überhaupt keine Nebenwirkungen gehabt hätten. Wieso hat eine Gruppe der Konsumenten keine Probleme mit den Inhaltsstoffen, und die andere wird vor allem mit Atemnot und Hautausschlägen ins Krankenhaus eingeliefert? Wir haben die so gewonnenen Indizien in den letzten Wochen zusammengeführt, aber es lässt sich kein typisches Muster erkennen, wie es sich normalerweise nach dem Konsum bestimmter Mittel abzeichnet.«
Der Commander griff nach den Zeitungsseiten und hielt sie erneut in ihre Richtung. »Ein Muster kann ich Ihnen nennen, Sander. Diese jungen Leute haben alle besorgte Eltern, die extrem unzufrieden mit unserer bisherigen Arbeit sind. Mir reicht es schon, wenn ich die Lokalpresse am Hals habe, aber eine Schar demonstrierender Eltern vor unserem Revier degradiert das Ansehen unserer ganzen Truppe.«
Katrins Kollege Bennett räusperte sich. »Sir, ich kann verstehen, wie unangenehm es ist, dass diese Sache eine eigene Dynamik bekommen hat, aber wir haben schließlich auch noch andere dringende Fälle auf dem Tisch.«
Katrin hatte befürchtet, Bennett würde diese Situation nutzen, um mal wieder zu betonen, dass die Narcotics eine der am meisten beanspruchten Abteilungen des Departments war.
Die Augen des Commanders wurden zu Schlitzen. »Ich weiß durchaus zu schätzen, was Sie hier alle leisten. Was ich aber nicht schätze, sind die Nachfragen unserer Bürgermeisterin zu meinem Quartalsbericht. Wenn uns solche Fälle entgleiten und diese negative Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wird sie wissen wollen, warum so viel in den letzten Jahren in neues Personal investiert und das Geld der Regierung nicht für etwas Sinnvolleres ausgegeben wurde. Zum Beispiel für eine weitere Pferdestaffel. Die Bürgerinnen und Bürger lieben unsere Pferdestaffel, und ich sage Ihnen auch, wieso: weil sie ihnen ein Gefühl von Sicherheit gibt. Nur leider können zweiunddreißig Pferde und ihre Reiter keine Fälle lösen. Das können nur Sie.«
Katrin betrachtete ihre Kollegen. Die Officers Trembley und Green ließen die Köpfe hängen. Die beiden Streifenpolizisten fanden es sicher nicht sehr angenehm, dass Bronson ihre Arbeit mit der Wirkung von Pferden verglich. Schließlich waren sie diejenigen, die sich Nacht für Nacht in die raue Party-Szene begaben, um ihre beiden Detectives mit neuen Informationen zu versorgen.
Commander Bronson neigte zu Monologen, die manchmal recht informativ und charmant sein konnten. Heute war das leider nicht der Fall. Er begann nun ausschweifend darüber zu lamentieren, dass er seit vielen Jahren für sie alle seinen Kopf hinhielt und etwas mehr dafür erwarten könne als die wenigen Ergebnisse, die sie ihm bis jetzt vorgelegt hatten.
Unauffällig schaute Katrin zu ihrem Handgelenk. Es war kurz nach siebzehn Uhr. Da heute Montag war, würde Melinda gegen siebzehn Uhr dreißig im Fitnessstudio sein. Katrin hatte Lust auf diese Energie, die zwischen ihnen herrschte. Seit sie sich vor einem halben Jahr zum ersten Mal begegnet und gleich im Bett gelandet waren, flirteten sie intensiv miteinander.
Bilder dieser einen Nacht am Ende der Betriebsfeier flackerten vor ihrem inneren Auge auf, und die Worte des Commanders wurden zu einem Hintergrundrauschen.
Melinda und Katrin hatten an dem Abend beide getrunken − zu wenig, um nicht mehr zu wissen, was sie taten, aber zu viel, um das zu stoppen, was sie gegenseitig anzog.
Melinda war gerade neu ins Team gekommen. Katrin mochte Feiern dieser Art nicht besonders und hatte sich deshalb vor allem allein in der Nähe des Buffets aufgehalten. Als Erstes waren ihr Melindas Hände aufgefallen, mit denen sie sich durch ihr schwarzes, langes Haar gefahren war. Die schlanken feingliedrigen Finger mit den vielen kleinen, aber deutlichen Narben wirkten stark, und ihre Bewegungen waren fließend.
Sie hatten nur kurz miteinander gesprochen, und schon hatte Melinda ihr sehr eindeutige Blicke zugeworfen. Erst hatte sie ihr Gesicht gemustert, dann ihren Körper, und Katrin hatte schnell darauf reagiert. Das erotische Knistern zwischen ihnen hatte sein Übriges getan.
›Lass uns abhauen‹, hatte Melinda geflüstert, und so waren sie erst in einem Taxi gelandet und dann auf Melindas Matratze, die in ihrer Wohnung zwischen den Umzugskartons auf dem Boden gelegen hatte. Ob sie mittlerweile ein Bett besaß?
»Sander?«
Katrin blickte zu Bronson, der sie fragend ansah.
»Entschuldigen Sie, Sir, mir kamen gerade neue Ideen in Bezug auf den Fall.«
Bronson atmete laut aus. »Achten Sie bitte alle darauf, der Presse keinen weiteren Zündstoff zu liefern. Sander, klemmen Sie sich auch besonders hinter den Fall von vor einer Woche, den Brandanschlag. Wir haben erst vor einem Monat bekannt gegeben, dass wir die Fallen Guardians in unserem Bezirk geschwächt haben, und nun taucht deren Erkennungszeichen plötzlich an einem Tatort auf.«
Katrin nickte.
»Ich erwarte wöchentlich einen schriftlichen Bericht mit dem aktuellen Sachstand von Ihnen. Sollten Sie etwas Neues für mich haben, womit ich der Presse den Wind aus den Segeln nehmen kann, dann können Sie mir auch gern eine E-Mail schicken oder mich anrufen. Ich bin da und warte auf Ihre Ergebnisse. Einen schönen Abend.« Sein spitzer Ton hallte in dem Raum nach. Stuhlbeine kratzten hart über den Boden, und das Gemurmel wurde lauter.
Bennetts Blick zu Katrin ließ klar erkennen, wie unzufrieden er war.
Sie bedeutete ihm mit einer Geste auf die Uhr an ihrem Handgelenk und einem Fingerzeig Richtung Tür, dass sie losmüsse. Das war unhöflich, aber sie wollte keine Minute verpassen, in der sie mit Melinda zusammen sein konnte.
Eilig huschte sie vor ihren Kollegen aus dem Raum und flitzte zu ihrem Büro.
Unter dem Türspalt von Kellermanns Zimmer drang noch ein Lichtschein hervor. Er machte anscheinend mal wieder Überstunden. Kurz zögerte Katrin, sie wollte los, aber sie wusste, dass sie Kellermann vor seinem Drang, sich beweisen zu wollen, hin und wieder schützen musste. Er war ein halbes Jahr nach ihr aus Deutschland angeworben und für eine neu eingerichtete Stelle der reinen Präventionsarbeit bei der Polizei in direkter Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung eingesetzt worden. Ein Versuch des Polizeipräsidenten, die Kriminalität in Chicago einzudämmen. Diese vom Büro und nicht von der Straße aus zu bekämpfen, hatte Kellermann viel Misstrauen und auch Spott eingebracht. Umso mehr setzte er alles daran, dass seine Ideen erfolgreich waren.
Katrin klopfte an seine Tür. Wenn sie Hilfe brauchte, war er auch stets für sie da. Sie hatten sich von Beginn an vertraut.
Er bat sie herein, und Katrin betrat das Büro. Ein angenehmer Geruch von frisch aufgebrühtem schwarzem Tee hing in der Luft.
Kellermann stand über eine Szenerie aus Figuren und Miniaturhäusern auf einem breiten Holzbrett gebeugt und sah in ihre Richtung.
Katrin verschränkte die Arme. »Ich verordne dir, Feierabend zu machen.«
Er schüttelte den Kopf. »Morgen früh ist Deadline für den Bericht, und am Vormittag von zehn bis zwölf Uhr ist der Termin mit dem Bauamt der Stadt und dem Commander.«
Katrin lehnte den Kopf an den Türrahmen. »Warum fängst du auch immer so spät mit der Vorbereitung deiner Präsentationen an? Ich habe dich letzte Woche schon daran erinnert.«
»Verehrte Kollegin, du magst es kaum glauben, aber ich habe halt auch einige Schwächen. Neben der Sucht nach diesen Dingern …«, er klopfte auf die Brusttasche seines Anzugs, in der sich immer eine Packung Zigarillos befand, »… erkenne ich nicht, wenn mir jemand etwas Gutes will und mich zum Beispiel vor den ewig gleichen Fehlern bewahren möchte.«
»Ich mache trotzdem damit weiter, wenn es dir recht ist.«
»Typisch! Du kommst wirklich aus der deutschen Behördenstruktur. Da läuft die Mühle auch immer weiter, selbst wenn kein Wasser mehr darin ist. Und ich weiß, wovon ich rede, schließlich habe ich unsere schöne Heimat ein halbes Jahr nach dir verlassen.«
Katrin blickte zu dem Modell. »Wofür ist das gedacht?«
Kellermann verdrehte die Augen. »Das ist ein Akt der Verzweiflung. Meine Power-Point-Präsentationen haben die Damen und Herren aus der Stadtverwaltung nicht wirklich verstanden. Sie baten mich, anschaulicher zu werden. Also bekommen sie meine strategischen Überlegungen zur präventiven Verbrechensbekämpfung in einem Miniaturmodell präsentiert.«
Katrin ging darauf zu und zeigte auf eine der Baumfiguren, die Kellermann auf dem Kopf stehend angeklebt hatte. »Mein lieber Kollege, heute scheinst du die Mühle ohne Wasser zu sein. Du solltest wirklich Feierabend machen, oder zumindest eine Pause einlegen.«
Grinsend sah er über seine Brille hinweg hinunter auf den Baum. »Das ist eine besondere Baumsorte, sie wächst mit den Wurzeln nach oben. Die kommt aus Kanada.«
Katrin kniff die Augen zusammen und versuchte, streng zu wirken. »Ich habe heute Abend die Chance, eine interessante Frau zu treffen. Aber für dich würde ich diese sausen lassen.«
Da Kellermann niemals das Fitnessstudio in der Nähe des Police Departments, geschweige denn irgendein anderes, betrat, konnte er bei dieser Andeutung keinen Bezug zu Melinda herstellen.
Kellermann machte eine leichte Verbeugung. »Ich fühle mich geehrt, dass du mich alten Knacker einer charmanten und spannenden Frau vorziehen würdest.«
Katrin verdrehte amüsiert die Augen. »Erstens kannst du auch sehr charmant sein, allerdings hast du selten Lust darauf. Zweitens, würde ich auf Männer stehen, hätte ich dich schon längst um ein Date gebeten, und drittens kann ich dir wirklich gern bei den Vorbereitungen helfen.«
»Danke, aber ich habe alle Ergebnisse schon hier drin.« Er tippte sich an den Kopf. »Muss die nur noch in die Tasten hauen. Das klappt schon.«
»Was besprecht ihr morgen mit dem Bauamt?«
»Die geplanten Umgestaltungen rund um die gefährdetsten Banken der Stadt. Potenzielle Täter werden es nicht mehr so leicht haben, ihre Fluchtautos in der Nähe zu parken, ohne dafür in Zonen mit Schranken und Überwachungshäuschen zu fahren. Und zeitgleich«, er wies auf einige Miniaturbäume, »werden wir den Bürgern das Ganze als Begrünungsmaßnahme schmackhaft machen können. Denn wo sich Natur entfalten soll und Vögel nisten können, dürfen Autos nicht zu schnell fahren und werden durch Bodenschwellen und Schranken abgebremst.«
Katrin lachte. »Klingt nach einem prima Plan. Viel Glück morgen.«
»Und dir heute Abend.« Er zwinkerte ihr zu.
Katrin grinste und eilte mit großen Schritten in ihr Büro, um ihre Sporttasche zu holen.
* * *
Im Fitnessstudio war es noch relativ voll. Es war zwar nicht besonders modern ausgestattet, aber wegen seiner günstigen Preise sehr beliebt.
Nachdem Katrin sich umgezogen hatte, betrat sie das Erdgeschoss und blickte hoch zu der von einem Geländer umsäumten Empore, auf der die Fitnessräder standen. Auf einem davon saß Melinda.
Das schwarze, schulterlange Haar hatte sie zu einem festen Zopf nach hinten gebunden. Katrin hatte es schon berühren dürfen. Es war dick, samtweich und roch nach Lavendelshampoo. Ein angenehmer Schauer fuhr bei dieser Erinnerung über ihre Haut.
Es dauerte einen Moment, bis ihre Blicke sich trafen. Melinda winkte.
Katrin streckte die Finger ihrer linken Hand in die Luft, um ihr mitzuteilen, dass sie in fünf Minuten zu ihr käme.
Melinda lächelte und nickte.
Gemächlich ging Katrin auf die Matten am Ende des Raumes zu. Sie stellte sich mit dem Rücken zu Melinda, um sich nicht ablenken zu lassen, hoffte jedoch, Melinda würde sie beobachten, auch wenn der Gedanke sie nervös machte.
Katrin begann mit einigen Dehnübungen. Betont langsam reckte sie ihre Arme in die Luft, streckte sich nach rechts und links und ballte in schneller Abfolge ihre Hände zu Fäusten. Eine Minute hüpfte sie auf der Stelle, griff anschließend nach einem auf dem Boden neben einigen Hanteln abgelegten Seil und sprang, bis sie ins Schwitzen kam. Die Wärme tat ihren Muskeln gut, und die Anspannung des vollgepackten Arbeitstages fiel von ihr ab.
Sie nahm ihre Handtücher und ging die Treppe hoch. Ihr Herz klopfte schnell, und das nicht nur wegen des Aufwärmtrainings. So war es stets, kurz bevor sie Melinda sah. Sie war aufgeregt und wollte rasch zu ihr, gleichzeitig überlegte sie, warum sie sich dieser Situation immer wieder aussetzte. Vermutlich, weil jedes Mal ein klein wenig mehr zwischen ihnen zu passieren schien. Melinda berührte sie auffällig oft, betrachtete sie häufig, und auch ihre Umarmung beim Abschied dauerte jedes Mal einige Augenblicke länger. Sie musste Melinda heute unbedingt nach ihrer Nummer fragen.
Als Katrin in der oberen Etage angekommen war und auf Melinda zuging, hielt diese in ihrer Bewegung auf dem Rad inne.
Katrin ließ ihren Blick einige Wimpernschläge lang über Melindas Körper wandern.
Melinda war fast einen Kopf kleiner als sie. Die weiblichen Rundungen an ihren Beinen und dem Po waren fest, und an den Armen zeichneten sich feine Muskelstränge ab.
Ihre Berührungen beim Sex waren intensiv gewesen. Melinda hatte schnell die Führung übernommen. Katrin hatte das überrascht, denn mit achtunddreißig war sie zehn Jahre älter als Melinda, und diese Rollenverteilung hatte sich im ersten Moment komisch angefühlt.
Katrin versuchte, trotz dieser Erinnerungen, Melinda keinen anzüglichen Blick zuzuwerfen. Sie lächelte und blieb dicht vor ihr stehen.
»Hi.«
»Hey.«
Melinda beugte sich leicht vor und berührte Katrin am Arm. Ein sanftes Kribbeln breitete sich von dieser Stelle aus.
Katrin drückte Melinda an sich, und ihr duftendes Haar streifte ihre Wange.
Einige Atemzüge lang verweilten sie in der Umarmung, bis Katrin sich zögerlich löste. Leise sagte sie: »Ich mache eben meine zehn Minuten auf dem Rad, bleibst du noch hier?«
Melinda nickte.
Katrin setzte sich auf den Sattel und wählte die mittlere Stufe auf dem Display. Seit drei Wochen schaffte sie nun diesen Schwierigkeitsgrad. Auch heute durchflutete sie Stolz, weil sie durch diese stetigen Veränderungen an den Geräten und Gewichten der Hanteln merkte, wie weit sie in einem Jahr schon gekommen war.
»Wie war dein Tag?«, fragte Melinda und sah sie aus ihren dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern an.
»Gab gerade eine ausufernde Besprechung mit dem Commander. Die war leider etwas anstrengend.« Aber weil ich mich so auf dich gefreut habe, geht es mir sehr gut, hätte sie am liebsten ergänzt. »Wie war es heute bei dir?«
»Musste auch viel zuhören. Wir hatten eine Extrastunde Team-Psychologie. Der Commander ist unzufrieden mit uns. Es gäbe noch zu viele Einzelkämpfer bei der SWAT-Einheit, behauptet er.« Melinda machte einen Schmollmund. »Er könnte uns ja auch mal dafür loben, wie reibungslos unsere Übungen und Einsätze immer verlaufen, und sich darüber freuen, was wir als Team gemeinsam schon erreicht haben, anstatt ständig nur das zu kritisieren, was angeblich noch fehlt, oder?«
»Das stimmt.«
»Es gibt wohl die Theorie, dass ein einziges Mitglied mit seiner Denkweise die Energie des ganzen Teams beeinflussen kann. Wusstest du das?«
Katrin schüttelte den Kopf. »Das wäre krass.«
»Ich sollte dann wohl besser nicht zum Dienst kommen, wenn ich meine Tage habe. Wenn ich mich in der Zeit schon so furchtbar fühle, was macht das dann bitte mit den anderen?« Melinda grinste.
Katrin nickte. »Ich bin sowieso für zwei Joker-Tage im Monat, an denen man zu Hause bleiben darf, um seinen Mitmenschen nicht zu sehr auf den Keks zu gehen.«
Melinda sah sie an. »Die hättest du bestimmt nie nötig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mal jemanden störst.«
»Ach ja? Muss ich mir so was von einem Mitglied des SWAT-Teams sagen lassen? Ich bin dir wohl zu lieb und zu weich, was?«
Nun kräftig in die Pedale tretend erhob sich Melinda auf dem Rad. »Ganz richtig, zeig mal, was du draufhast!«
Katrin erhob sich ebenfalls.
Einige Minuten lang lieferten sie sich einen Wettkampf, bis Melinda vom Fahrradsattel rutschte. Sie griff nach Katrins Unterarm und hielt sich daran fest. »Ich gebe auf.« Sie neigte den Kopf zur Seite und lehnte ihn an Katrins Schulter, sodass ihre Wange Katrins nackten Oberarm berührte. Melinda blickte zu ihr hoch. »Bei den Gewichten schlage ich dich aber.«
»Na, das wollen wir doch mal sehen.«
»Warte. Ich muss mich noch kurz ausruhen.« Mit geschlossenen Augen schmiegte sie sich an ihre Schulter. Ihre Hand lag immer noch auf Katrins Arm.
Bewegte Melinda ihre Finger ein wenig? Katrin hatte das Gefühl, die sanfte Berührung zwischen ihren feinen Härchen zu spüren. Sie drehte den Kopf so, dass ihre Nasenspitze Melindas weiches Haar streifte. Es roch nach Lavendel und Sommerregen.
Ich liebe deinen Duft.
Am liebsten hätte sie diesen Satz laut ausgesprochen. Wie gern würde sie Melinda über das Haar streichen und sie fest an sich ziehen.
Bevor dieses Gefühl sie ganz und gar einnehmen konnte und sie gleich nicht mehr in der Lage wäre, aufzustehen, griff sie nach Melindas Handgelenk. Sachte drückte sie ihren Mittel- und Zeigefinger auf die Stelle, an der sie den Puls fühlen konnte. »Alles in Ordnung, ich denke, wir können weitermachen.«
Melinda öffnete die Augen und schnappte sich ihre Sachen.
Sie gingen ins Erdgeschoss, und Katrin setzte sich auf die Bank mit der Langhantel.
Melinda stellte sich hinter sie. »Insgesamt sind zwanzig Kilo drauf, schaffst du die?«
Katrins Herz klopfte immer noch schnell. Bei dem Gefühl von Melindas Haut an ihrer war ihr schwindelig geworden. War da überhaupt noch Kraft in ihren Muskeln?
»Klar.«
Katrin griff zur Hantelstange und hob sie erst sachte über ihre Schultern und den Kopf in die Höhe, ließ sie sinken und machte anschließend einige raschere Wiederholungen dieser Bewegungsabfolge.
»Fertig.«
Melinda setzte die Stange zurück in die Halterung. Plötzlich lagen ihre Hände auf Katrins Schultern. »Du hältst die Stange etwas zu weit nach hinten.«
Mit den Daumen strich sie über Katrins Schulterblätter. Einige Momente lang verweilte sie so auf ihrem Nacken. »Hier oben bist du verspannt.«
»Okay, ich achte darauf«, sagte Katrin leise. Sie schluckte. Ihr Hals war ganz trocken.
Melinda wanderte mit ihren Fingern über ihre Oberarme. »Hast du heimlich trainiert?«
Ein wohliger Schauer packte Katrins ganzen Körper und ließ sie eine Gänsehaut bekommen. Sie hoffte, Melinda würde das nicht auffallen. Schnell schüttelte sie den Kopf. »Kommt vom Aktenorder-Schleppen im Büro.«
Melinda lachte. »Los, wir tauschen.«
Katrin stand von der Hantelbank auf.
»Ich will fünfundzwanzig Kilo«, sagte Melinda, spannte dabei einen Bizeps an und prüfte dessen Umfang mit zwei Fingern.
»Angeberin.«
»Immer nur vor dir. Ich will dich beeindrucken.«
»Das tust du auch so.«
Sie standen voreinander und sahen sich an.
Melinda legte den Kopf schief und biss sich auf die Unterlippe. »Lieber doch nur zwanzig Kilo«, lenkte sie ein. »Du machst mich nervös, wenn du so etwas sagst.«
War das gut oder schlecht?
Melinda setzte sich, und Katrin hob die lange Hantelstange aus der Halterung, damit Melinda besser danach greifen konnte.
Melinda absolvierte zahlreiche Wiederholungen und atmete hörbar ein und aus. Ein feiner Schweißfilm bedeckte ihre Haut. Wie nach dem Sex.
Kurze Erinnerungsfetzen der gemeinsamen Nacht flackerten vor Katrins innerem Auge auf, in der sie aneinandergekuschelt eingeschlafen waren. Katrin war am nächsten Morgen als Erste aufgewacht. Sie hatte Melinda nicht geweckt, sondern ihr nur einige liebe Worte auf einem Zettel hinterlassen und war gegangen. Irritiert und verunsichert von den Geschehnissen, hatte sie nicht den Mut gehabt zu bleiben. Sie hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, die sie erst seit einem Abend kannte.
Wenige Tage später waren sie sich zufällig vor dem Police Department begegnet, und Melinda hatte ihr von diesem Fitnessstudio in der Nähe erzählt. Zuvor hatte Katrin immer in ihrem Stadtviertel trainiert. Seitdem sahen sie sich hier zweimal die Woche. Woche um Woche verging, und mittlerweile lag ihre erste Begegnung fünf Monate zurück, doch über das, was passiert war, hatten sie noch nicht gesprochen.
»Geschafft.«
Katrin wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie legte die Stange zurück in die Halterung, stellte sich neben Melinda und lächelte sie an. »Das war zu leicht. Gib’s zu, du wolltest mich nur gut dastehen lassen.«
»Klar. Du sollst dich in meiner Nähe wohlfühlen.«
»Das tue ich. Immer.«
Sie sahen sich in die Augen, viele Herzschläge lang. Sollte Katrin sie jetzt nach ihrer Nummer fragen? Sie öffnete den Mund, da winkte Melinda sie plötzlich zu sich hinunter.
Langsam beugte Katrin sich etwas vor.
Melindas Lippen waren nun ganz nah an ihrem Ohr. »Ich glaube, der Typ da vorn schaut dich an.«
Ein Stich fuhr durch Katrins Magen. Es war wieder passiert. Melinda kam ihr nah, doch dann durchbrach sie den schönen Moment jedes Mal sehr abrupt, und das Flirren zwischen ihnen erstarb.
Katrin schaute sich um. Ein junger Kerl Mitte zwanzig mit freiem Oberkörper sah zu ihnen herüber, während er abwechselnd zwei Kurzhanteln stemmte.
Hätte er doch bloß nicht zu ihnen gesehen. Aber wie konnte sie es ihm verübeln, sie wollte Melinda am liebsten auch die ganze Zeit anschauen.
Katrin versuchte ein Lächeln. »Er sieht dich an. Ist doch klar. Wenn ich die Wahl zwischen dir und mir hätte, würde ich auch dich ansehen.«
Melinda legte den Kopf schief. »Er ist ganz süß, oder?«
Hin und wieder ließ sie Bemerkungen solcher Art fallen, die Katrin zeigten oder zeigen sollten, dass Melinda auch auf Männer stand. Oder vielleicht sogar nur auf Männer? Vielleicht hatte sie Angst, Katrin könnte im Team erzählen, sie sei bi oder lesbisch, und wollte Katrin so glauben lassen, ihre gemeinsame Nacht sei nur ein Ausrutscher gewesen?
Melinda sollte sich wegen ihr keine Sorgen machen, und deshalb ging Katrin jedes Mal auf dieses merkwürdige Spiel ein.
»Ja, er ist süß«, sagte sie. »Ich gehe ein Gerät weiter.«
Sie machten nun nebeneinander ihre Übungen. Hin und wieder blickte Katrin zu Melinda, und zweimal erwischte sie sie dabei, wie sie gerade Katrins Beine oder ihre Arme betrachtete, doch sie sah jedes Mal sofort wieder weg.
Nach einer Dreiviertelstunde griff Melinda nach ihrem Handtuch und der Trinkflasche. »Ich muss los.« Auch das passierte unabgesprochen zwischen ihnen. Eine ging immer eher, damit sie nicht zusammen in den Umkleideraum mussten.
»Melinda?«
Melinda sah sie an.
Gibst du mir deine Telefonnummer?, formulierte Katrin in Gedanken, mal wieder, doch sie sagte: »Es war schön, dich zu sehen.«
»Finde ich auch.« Melinda beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, unglaublich nah an der Stelle, wo ihre Lippen endeten.
Katrin zog Melinda an sich und umarmte sie. Melinda schlang die Arme fest um ihren Rücken und ließ keinen Platz zwischen ihren Körpern. Sobald Katrin mit einer leichten Bewegung andeutete, sich zu lösen, drückte Melinda sie noch ein wenig fester an sich.
All die Stunden zwischen unseren Treffen warte ich auf diesen Kuss von dir und du vielleicht auf unsere Umarmungen?, dachteKatrin und hätte die Frage am liebsten laut ausgesprochen.
Katrin löste sich von ihr, und Melinda ließ ihre Hände langsam über Katrins Arme gleiten. »Bis zum nächsten Mal.«
»Bis bald. Komm gut nach Hause.«
»Ich kann auf mich aufpassen, Detective.«
»Daran habe ich keinen Zweifel.«
Melinda streckte einen Daumen in die Luft, drehte sich um und verließ den Raum.
Katrin blickte ihr hinterher, bis sie durch die Tür verschwunden war.
Sie setzte sich wieder auf die Hantelbank, griff nach ihrem zweiten Handtuch und vergrub für einige Momente ihr Gesicht darin.
Verdammt. Wieder eine Chance vertan, an ihre Nummer zu kommen. Katrin würde gern mit Melinda über deren Gefühle reden. Was hatte die gemeinsame Nacht wohl für sie bedeutet?
Anscheinend wollte Melinda Kontakt mit ihr haben, fragte sie aber nicht nach einem Treffen an einem anderen Ort, wo sie mal in Ruhe reden konnten. Und Katrin wollte sie nicht überrumpeln, indem sie ein Gespräch in Gang setzte, das ihr vielleicht unangenehm war. Hinzu kam, dass Melinda neu im Team und in der Stadt war. Katrin wusste selbst, wie viel da auf einen einprasselte. Sie sollte abwarten, bis bei Melinda wieder Ruhe eingekehrt war.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Oder war das genau der falsche Weg? War es ein Fehler, Melinda Zeit zu geben, sich in der Stadt und auf der Arbeit erst einzugewöhnen? Und woran sollte sie erkennen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war?
Was ist, wenn ich zu lange warte?
Vielleicht war Melinda schon bald nicht mehr an einem Flirt mit einer Arbeitskollegin interessiert, sondern würde sich jemanden suchen, der nicht so zögerlich wie Katrin war.
Ihr wurde schwindelig. Sie ließ sich nach hinten auf die Hantelbank sinken, legte ihre Hände auf den Bauch und schloss die Augen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es ihr vor drei Jahren gegangen war, als sie Deutschland verlassen hatte und nach Chicago gezogen war. Über ein Jahr hatte es gedauert, bis sie das Gefühl gehabt hatte, im Job und in der Stadt wirklich angekommen zu sein.
Sie erinnerte sich an ihre Streifzüge durch die Clubs und Bars. In den ersten Wochen in der neuen Stadt hatte sie sich wie ein Teenager gefühlt, begierig darauf, die Lesbenszene zu entdecken. Doch die Dates waren immer an den gleichen Problemen gescheitert. Zum einen hatte ihr noch das Gespür für die Feinheiten der Sprache gefehlt, und es war ihr schwergefallen, stets das auszudrücken, was sie wirklich sagen wollte. Dadurch war sie oberflächlich und distanziert rübergekommen. Ihren Job beim 1st District – Central Chicago Police Department als Detective hatten die meisten Frauen zwar sehr spannend gefunden, aber sie wollte nicht bei jedem Treffen so viel darüber reden müssen. Zudem hatte sie sich in der Stadt kaum ausgekannt. Bei dem üblichen Small Talk, um das Eis zu brechen, waren ihr immer nur wenige Sätze eingefallen. Wenn sie über ihre Heimat sprach, war das Interesse ebenfalls schnell abgeebbt, denn für die meisten Amerikanerinnen bestand Deutschlands Kultur nur aus Bier und dem Oktoberfest.
Deswegen hatte sie nach den ersten drei Monaten in Chicago zunächst die Stadt erkundet, viele Sehenswürdigkeiten besucht und einzelne Stadtteile auskundschaftet. Und dann war sie bei einigen Nachforschungen für die Arbeit im Saint Anthony Hospital auf Judie getroffen. Die einzige Frau, mit der es ein paar Monate gehalten hatte. Doch Katrin hatte sich schweren Herzens von ihr trennen müssen. Während Judie sich in sie verliebt hatte, entwickelte sich Katrins Gefühl nicht über eine große Zuneigung hinaus.
Melinda war zwar neu in der Stadt, schien aber deutlich mutiger beim Flirten zu sein als Katrin, was sie ihr im Fitnessstudio leider regelmäßig unter Beweis stellte, wenn sie Blickkontakt mit Männern aufnahm. Somit würde sie bei Dates sicherlich nicht so viele Startschwierigkeiten haben wie Katrin.
Beunruhigt setzte sich Katrin aufrecht hin.
Mach dir nicht solcherlei Gedanken. Melinda mag dich.
Sie fühlten sich zueinander hingezogen, und im Fitnessstudio hatte Melinda immer die Chance genutzt, sich ausgiebig mit Katrin auszutauschen. Selbst als sie einen von Melindas SWAT-Kollegen getroffen hatten, war es Melinda gewesen, die sie mit einer pfiffigen Ausrede in die andere Ecke des Studios bugsiert hatte.
Katrin dachte an Melindas Worte von eben, als sie über den Commander gesprochen hatte.
Sich über das freuen, was man schon hat.
Anstatt besorgt zu sein, sollte Katrin sich über das freuen, was bereits zwischen ihnen bestand und sich langsam entwickelte.
Das, was ich schon habe.
Katrin wiederholte diesen Gedanken. Sie kamen mit dem aktuellen Fall nicht weiter.
Wenn du nichts hast, fang mit dem an, was du schon hast.
Katrin atmete tief durch. Auf ihren Fall bezogen konnte das bedeuten, dass sie, da sie gerade mit ihren Methoden nichts fanden, vielleicht an den falschen Stellen suchten. Vielleicht mussten sie sich darauf konzentrieren, was sie schon hatten, und von dort aus neue Wege finden, um an Informationen zu kommen.
Und vielleicht sollte sie in Bezug auf Melinda dankbar für das sein, was sie schon miteinander erlebt hatten, und für dieses besondere, aufregende Gefühl, das sie momentan verband. Davon ausgehend musste es doch eine Möglichkeit geben, sich noch näherzukommen.
Auf dem Weg zum Police Department betrachtete Katrin gern die Umgebung und ließ ihren Blick auf den Wolkenkratzern verweilen, die zwischen den Wohnblocks in der Ferne weit in die Höhe ragten. Bizarr und glitzernd setzten sie sich vor den weichen Konturen der Wolken am Himmel ab. Dieser Anblick durchbrach zudem Katrins kreisende Gedanken. Seit dem Aufstehen überlegte sie, mit welchem Arbeitsschritt sie gleich im Büro beginnen sollte. Sie mochte die Außeneinsätze, aber heute wäre sie froh, wenn sie nicht zu einem gerufen würde, um sich ohne Unterbrechung dem Drogen-Fall widmen zu können.
Sie blickte in der Ferne auf das langgezogene Gebäude des Police Departments, in dessen breiter Fensterfront sich die wehenden Werbefahnen des Autoverkäufers von gegenüber spiegelten. Die Stadt des Windes machte auch heute ihrem Namen alle Ehre. Während der Mai bereits die ersten zarten Knospen an Büschen und Bäumen hervorzauberte, verwandelten die Häuserschluchten der Stadt die frühlingshaften Windströmungen in kräftige Böen. Jetzt zerrten sie an ihrem langen, dünnen Mantel.
Hastig knöpfte Katrin ihn zu, doch sie übersah eines der Knopflöcher und musste von vorn anfangen.
Stopp!
Katrin blieb stehen. Bedacht atmete sie tief ein und wieder aus. So hektisch wollte sie doch nicht mehr in den Tag starten. In den letzten Monaten hatte sie es meistens geschafft, alles zu vermeiden, was vor eineinhalb Jahren zu ihren Verspannungen der Nacken- und Rückenmuskulatur geführt hatte. Diese hatte sie zu Beginn zwar noch mit heißen Duschen in den Griff bekommen, einige Wochen später aber schon starke Tabletten gebraucht, die wiederum ihrem Magen nicht guttaten. Der Entschluss, sich nicht nur eine Dauerkarte für das Fitnessstudio zu kaufen, sondern auch einen Life-Coach zu engagieren, zahlte sich bis heute aus.
Einmal im Monat erinnerte Clark sie bei ihren Treffen daran, auf Körperhaltung und Atmung zu achten und ihre schädlichen Gewohnheiten zu vermeiden. Dazu zählte auch, bereits nach dem Aufstehen an die Arbeit zu denken. Dass sie immer noch regelmäßig abends in der Pommesbude von Veronica und Eddie aß, verriet sie ihm allerdings nicht.
Sie legte die Hände auf ihren Bauch, atmete bewusst hinein und lauschte der Geräuschkulisse aus dem Rauschen der vorbeifahrenden Autos, dem Rattern der Chicago-Hochbahn und dem Pfeifen des Windes.
Katrin lief wieder los und betrat nach wenigen Minuten das Police Department. Sie ging zunächst in die Kantine, hielt langsam auf den Kaffee-Automaten zu und bemühte sich, alles um sich herum ganz genau wahrzunehmen.
Nichts überstürzen. Im Moment bleiben.
Durch diesen Umweg gab es außerdem eine größere Chance, Melinda im Gebäude zu begegnen, auch wenn sie leider selten vor Ort war. Da Melinda zur Schutzpolizei gehörte, wenn die SWAT-Einheit nicht trainierte oder für einen Einsatz zusammengerufen wurde, war sie an verschiedenen Orten in der Stadt eingesetzt und kam nur für Besprechungen ins Police Department, oder um ihre Berichte zu schreiben.
Katrin holte Kleingeld aus ihrem Portemonnaie, warf es ein und zog dann ihren Thermobecher aus dem Rucksack. Sie stellte ihn unter die Düse und drückte den Knopf für einen großen Kaffee mit Milch. Einige Atemzüge lang beobachtete sie, wie die dampfende Flüssigkeit zischend und gurgelnd in den Becher floss.
Ein schönes Geräusch, dachte sie lächelnd.
»Guten Morgen.«
Sie blickte zur Seite.
Bennett war neben ihr aufgetaucht.
»Guten Morgen.«
Sie nahm ihren Kaffee und machte ihrem Kollegen genügend Platz vor dem Automaten.
Bennett entschied sich für einen doppelten Espresso und blickte sie an. »Du bist gestern nach der Besprechung so schnell gegangen.«
»Ist das ein Wunder, nach diesem eintönigen Vortrag?«
Neckisch lächelte sie ihm zu, doch er zeigte keine Regung. Sie nahm ihm das nicht übel. Bennett brauchte in letzter Zeit etwas länger, um richtig wach zu werden.
»Wie geht es euren Zwillingen? Sind sie immer noch erkältet?«
Bennett kräuselte die Nase. »Nein, aber nun haben sie eine Mittelohrentzündung. Die ganze Wohnung riecht wie eine Dönerbude, wegen der Zwiebelwickel.«
Sanft lächelte sie ihm zu. »Das tut mir leid. Gute Besserung für die beiden. Und es tut mir auch leid, dass ich gestern so schnell weg war. Ich habe mir schon gedacht, dass du gern noch geredet hättest, aber ich war im Fitnessstudio verabredet und musste zügig los.«
Er nahm den Becher und schüttelte sachte den Kopf. »Schon okay. Ich hätte mich eh nur über den Commander aufgeregt. Aber Schlaf heilt ja oft so einiges. Wie wäre es gleich mit einem Austausch mit den Kollegen? Ich denke, wir brauchen einen neuen Ansatz.«
»Die Idee kam mir auch schon. Officer Green hatte Nachtschicht, aber Trembley müsste greifbar sein.«
»Gut. Kippen wir erst mal das hier runter.«
Bennett nahm einen Schluck und seufzte zufrieden.
Katrin drückte kurz seinen Arm. Sie mochte Bennett. Bei Kritik wurde er zwar schnell grummelig, suchte aber gern nach ungewöhnlichen Lösungen sowie anderen Denkansätzen und tauschte sich mit ihr darüber aus. Dadurch bekam sie oft ebenfalls neue Ideen. Außerdem war er einer der wenigen Kollegen, der sich für ihre Erfahrungen aus dem deutschen Polizeisystem interessierte und Freude daran hatte, seine routinierte Arbeitsweise zu überdenken.
Sie nahmen die lange geschwungene Treppe zurück zur Eingangshalle. Durch das Treppenhaus gelangten sie zu ihren Büros im Kellergeschoss.
Bennetts Büro lag am Anfang des Flures, ihres in der Mitte. Sie verabschiedeten sich, indem sie ihre Kaffeebecher aneinanderstießen und sich aufmunternd zuzwinkerten. Bennett behauptete stets, sie habe mit diesem Motivationsritual angefangen, woran Katrin sich nicht erinnerte. Sie konnte es sich nur so erklären, dass Bennett sie an einem Morgen erwischt haben musste, an dem sie sehr müde gewesen war. Und das kam selten vor.
Katrin eilte in ihr Büro. Kellermann würde sie nur einen Gruß per Mail schicken, denn er war vor wichtigen Besprechungen immer sehr aufgeregt und brauchte jetzt Ruhe.
Sie stellte den Becher ab, zog die Jacke aus und schaltete den Computer ein, dann griff sie zum Hörer und wählte Trembleys Nummer.
»Officer Trembley, guten Morgen. Können Sie in zehn Minuten vorbeikommen? Detective Bennett und ich wollen mit Ihnen besprechen, wie wir in dem Drogen-Fall weiter vorgehen.«
Er stimmte zu, und Katrin gab Bennett Bescheid.
Katrin blickte zu der linken Seite des Whiteboards, auf dem sie ihre aktuellen Fälle notiert hatte, und setzte vor den Drogen-Fall eine Eins und vor den Brandanschlag eine Zwei. Eigentlich mussten sie und Bennett diese Woche noch zahlreiche Berichte von Streifenpolizisten durchgehen und ein paar Entscheidungen treffen.
Es klopfte.
»Herein.«
Bennett und Trembley traten ein. Der Officer nickte ihr zu. Katrin lächelte. Er sprach immer sehr wenig, aber Katrin wusste mittlerweile, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war zuverlässig und kollegial.
Die beiden setzten sich, und Katrin stellte sich vor das Whiteboard. »Wegen der Aufmerksamkeit durch die Presse haben wir bei dem Drogen-Fall jetzt besonders Druck. Trembley, ich weiß, dass Sie Ihre Informanten in der Party-Szene darauf angesetzt haben, auf ungewöhnliche Veränderungen zu achten.«
Er nickte. »Ich höre nichts Neues. Bei den Türstehern gibt es keine auffälligen personellen Änderungen, keine Zwistigkeiten zwischen Club-Besitzern, nichts, was sonst darauf hinweist, dass in der Dealer- und Schmuggler-Szene etwas Großes im Umbruch ist. Wir konnten in den letzten Wochen drei Dealer verhaften, aber sie hatten die neue Droge nicht bei sich und wussten angeblich auch nichts darüber. Das habe ich aber auch alles in den letzten Bericht geschrieben.«
Katrin nickte. »Ich weiß, danke. Ich will nur sichergehen, dass wir nicht etwas übersehen. Nehmen Sie Kontakt zu einem unserer neuesten Kollegen auf. Wir brauchen ein unbekanntes Gesicht für den Einsatz. Einer von ihnen soll am nächsten Wochenende undercover in die Clubs gehen und versuchen, Kontakt zu einigen jungen Leuten aufzunehmen und das Gespräch auf die neue Droge zu lenken, vielleicht gibt es dadurch Hinweise, die uns weiterhelfen.«
Trembley nickte.
Bennett rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Schläfen. »Ich denke auch, wir brauchen viel mehr Insiderinformationen von verschiedenen Seiten, denn mit unseren Schlussfolgerungen kommen wir nicht weiter. Hattest du nicht mal Kontakt zu einer Krankenschwester im Saint Anthony Hospital? Du weißt, es ist leichter, wenn wir jemanden haben, dem wir vertrauen können.«
Katrin schluckte.
Sie hatte vor einigen Wochen bereits daran gedacht, ihre Ex wegen des Falles anzuschreiben, doch es war ihr immer noch unangenehm, dass sie sich damals von ihr getrennt hatte. Außerdem hatte Judie zwischendurch zweimal versucht, sie zu kontaktieren, aber Katrin hatte nicht geantwortet. Leider hatte sie vor Bennett damit angegeben, eine Krankenschwester aus dem Saint Anthony zu kennen.
»Katrin?«
Sie räusperte sich. »Sorry, ich habe überlegt. Ich werde mich bei ihr melden und versuchen, mehr über die Zusammensetzung der Droge herauszufinden.«
Bennett blickte zu Katrins Liste an der Wand. »Wir wollten uns diese Woche auf den Cotton Tail Park und die Dealer-Szene konzentrieren, die sich dort ausbreitet. Die Berichte der Streifenpolizei müssen noch ausgewertet werden. Wir müssen anhand der Zahlen der anderen Brennpunkte entscheiden, wie die Einsätze verteilt werden.«
Katrin fuhr sich über den Nacken. »Kannst du das alleine machen? Du hast den Commander gehört, ich soll auch dem Verdacht auf die Fallen Guardians in Verbindung mit dem Brandanschlag verstärkt nachgehen.«
Bennett atmete laut aus. »Ich versuche mich da durchzuwühlen. Gibst du uns Bescheid, sobald du mit deinem Kontakt geredet hast und wir die weiteren Schritte besprechen können?«
Katrin sagte es ihm zu und verabschiedete sich von den beiden.
Als sie alleine war, griff sie nach ihrem Handy.
Judie.
Ihr Gesicht erschien in Katrins Geist. Der freundliche Blick aus den blauen Augen und ihr charmantes Lächeln mit der kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen. Trotz ihres anspruchsvollen Jobs als Krankenschwester war sie stets energiegeladen und fröhlich gewesen.
Einige Augenblicke dachte Katrin über die Formulierung der Nachricht nach, entschied sich, diese sehr knapp zu halten, und schickte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ab.
* * *
Kurz vor dreizehn Uhr rief Katrin bei Kellermann an. »Gehen wir in die Kantine?«
»Sonst weiß ich ja, dass du ein wirkliches Interesse daran hast, mit mir hinzugehen, aber heute bist du doch nur scharf auf die neuen Storys der SWATs, oder?«
»Ach, komm, du stehst doch auch drauf.«
»Erwischt. Kannst mich in fünf Minuten abholen.«
Als sie zusammen zur Kantine gingen, berichtete Kellermann von seinem Termin mit dem Bauamt. Er hatte mit seinem Konzept und dem Miniatur-Modell überzeugen können. Sie beglückwünschte ihn.
Als sie in der Kantine eintrafen, fühlte Katrin sofort diese besondere Energie, die den Raum alle vierzehn Tage erfüllte.
Gestern war das Training für die Polizisten, die dem SWAT-Team zugeordnet waren, absolviert worden. Gemeinsam übten sie regelmäßig ihre Einsatzabläufe in einem stillgelegten Einkaufszentrum an der West Side im Stadtteil Austin. Die Kriminalpolizisten waren davon ausgeschlossen, umso mehr freute sie sich auf die Erzählungen ihrer Kolleginnen und Kollegen. Zudem war es der einzige Tag, an dem Melinda mit großer Sicherheit ebenfalls in die Kantine kam, da die Nachbesprechung der Übung im Police Department stattfand.
Nachdem sie und Kellermann sich für die Gemüselasagne entschieden hatten und die Tischreihen auf der Suche nach einem freien Platz entlanggelaufen waren, konnte sie Melinda und einige ihrer Kolleginnen und Kollegen entdecken. An deren Tisch waren noch Plätze frei.
»Hey, können wir zu euch kommen?«, fragte Katrin und nickte einzelnen dabei zu.
»Sicher«, sagte Nolan.
Kellermann setzte sich, und Katrin ging zur anderen Seite des Tisches, sodass sie Melinda schräg gegenübersaß.
Melinda sah sie an und formte mit den Lippen ein lautloses Hi. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Katrin lächelte ebenfalls und musste sich zwingen, den Blick schnell wieder von Melinda abzuwenden. Ihre Haare trug sie zu einem festen Zopf und hatte sie dafür komplett aus der Stirn nach hinten gebürstet, außerdem legte sie auf der Arbeit immer ein wenig Make-up auf. Ein schwarzer Lidstrich betonte ihre braunen Augen. Sie wirkte dadurch streng und rief bei Katrin das genau gegenteilige Bild in Erinnerung: Melindas Gesicht, nachdem sie sich in dieser einen besonderen Nacht zum ersten Mal geküsst hatten. Der verträumte Blick, ihr verschmitztes Lächeln und ihre zerzausten Haare, durch die Katrin mit den Fingern gefahren war.
Kellermann sprach die beiden Kollegen zu seiner Seite an und riss Katrin damit aus ihren Gedanken.
»Wie war euer Training?«
»Ist ganz gut gelaufen. Die neuen Schutzanzüge bewähren sich«, antwortete Officer Lee, einer der jüngeren Polizisten.
Agent Warren gab einen Ton von sich, der wie ein pffft klang. Katrin blickte in sein kantiges, blasses Gesicht.
»Sanchez hat ihre Gasmaske zweimal nicht rechtzeitig aus der Halterung ziehen können, und wir mussten mit der ganzen Übung deswegen jedes Mal von vorn anfangen.« Feixend sah er in Melindas Richtung. »Dein Dad, entschuldige, ich meine General Sanchez, hat dir wohl nicht sehr viele seiner Fähigkeiten aus der Army mitgegeben, was?« Er grinste, und Melinda blickte auf ihren Teller.
Katrins Magen durchzog ein Stich. Wie gern würde sie nun einfach aufstehen und Melinda umarmen. Sie ließ ihr Besteck sinken. »Deine Skills brauchten anscheinend auch immer wieder einen Feinschliff, Warren. Zusatzstunden für das Schießen kommen ja nicht von ungefähr.«
Nolan neben ihm prustete und schlug dem Agent gegen die Schulter. »Zusatzstunden? Ich wusste gar nicht, dass sie hier so was anbieten.«
Katrin wusste es, weil diese Stunden sich damals mit ihrem Quereinsteigerkurs überschnitten hatten, bei dem sie mit der Waffentechnik vertraut gemacht wurde.
Warren winkte ab. »Die paar Stündchen …«
»Du warst drei Monate in meinem Ausbildungskurs mit dabei. Das sind mehr als nur ein paar Stündchen gewesen.«