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Die Astronautin Laura Benedikt ist wild entschlossen, bei der letzten Mission zur Internationalen Raumstation mit an Bord zu sein. Doch als ihr Ausbilder von ihr verlangt, mehr Persönlichkeit in das Auswahltraining einzubringen, fürchtet Laura, dass ein Coming-Out ihr einen Strich durch die Rechnung machen würde. Auf einem Spaziergang findet sie einen Notizzettel, der Laura schließlich zu der geheimnisvollen Chefköchin June führt. Laura gerät in einen Strudel der Gefühle, denn der Liebe hatte sie zugunsten ihrer Arbeit eigentlich entsagt. Doch durch June stellt sie ihre Einstellung zur bevorstehenden Mission in Frage. Und dann ist da noch ihre bisexuelle Kollegin Melissa, mit der sie eine Affäre beginnt. Welchen Weg wird Laura einschlagen, um ihr Glück zu finden?
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Inhaltsverzeichnis
Von Ina Steg außerdem lieferbar
Danksagung
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Über Ina Steg
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Eine Diebin zum Verlieben
Tintenträume
Gestern die Sehnsucht, heute der Himmel
Falling into Place – Der Geschmack von Glück
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Eine Diebin zum Verlieben
Alles nur Kulisse
Danksagung
Ich danke Astrid Ohletz für ihren Willen und die Hingabe, sich mit mir zum Kern der Geschichte durchzuarbeiten und unterwegs nach den Schätzen zu suchen. Dem Team des Ylva Verlages gilt mein Dank für die besondere Leidenschaft, die in jedes Buch fließt. Meiner Lektorin Katharina Grabowski-Marks danke ich herzlich für die vielen verwobenen Feinheiten, die der Geschichte und mir sehr gutgetan haben.
Widmung
Für dich, liebe Leserin, lieber Leser
und dein mutiges Herz
Prolog
Laura musste nur die Wohnungstür aufschließen, dann würde Karen ihr entgegenkommen und sie in den Arm nehmen. Vielleicht hatte sie eine Überraschungsparty organisiert. Ja, das war gewiss der Grund, warum sie nicht da gewesen war, um Laura nach ihrer Landung auf der Erde zu empfangen. Es musste so sein.
Laura drehte mit zitternden Fingern den Schlüssel um und lauschte. Stille. Sie schob die Tür auf und trat einen Schritt in den Flur. In der Wohnung war es stickig, nur noch ein Hauch von Karens Parfüm lag in der Luft.
»Karen?«
Laura ließ ihren Rucksack auf den Boden sinken. Sie sah auf den Garderobenständer. Vier leere Kleiderbügel hingen daran. Karens olivgrüne Jacke, die Laura ihr vor einem Jahr geschenkt hatte, war verschwunden, genauso wie Karens bunte Tücher und ihre Mütze.
Laura drehte sich um zur Küche und verharrte in der Bewegung. Das gemeinsame Selfie aus dem Urlaub in Wales, was immer neben dem Türrahmen gehangen hatte, war verschwunden. Nur noch ein feiner grauer Rand auf der Tapete verriet, dass es mal dort gewesen war. Laura wurde schwindelig. Was war hier los?
Sie drückte die Tür zur Küche auf. Die Schränke standen offen. Ein großer Teil der Tassen und Teller fehlte, zwischen dem Geschirr klafften Lücken. Nein! Das konnte nicht wahr sein. Laura blickte zum Tisch. Er war leer. Sie drehte sich um und lief ins Wohnzimmer. Auch hier stimmte nichts mehr mit ihren Erinnerungen überein. Wo vorher Bilder und Spiegel gehangen hatten, waren nun kahle, weiße Stellen. Ihre Schritte hallten, es fehlten Möbelstücke, die Kommode von Karens Urgroßmutter, der Schuhschrank, in dem vor allem Karens Schuhe Platz gefunden hatten. Auch auf dem Wohnzimmertisch fand Laura nicht, was sie suchte.
Sie eilte zurück durch den Flur und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Es war nur noch eins der beiden Nachtschränkchen übrig. Die Oberfläche war mit einer feinen Staubschicht bedeckt. Der Anblick des Bettes mit der abgezogenen Matratze schnürte ihr die Kehle zu. Sie taumelte zurück und stieß gegen den Kleiderschrank. Ein beißender Schmerz zog ihr durch den Rücken, dann versagten ihre Knie. Sie rutschte an dem kantigen Holz hinunter zu Boden.
Wochenlang hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, nach Hause zu kommen. Jede Nacht auf der Raumstation war sie mit Karens Gesicht vor Augen eingeschlafen.
Aber Karen hatte sie verlassen. Ohne eine Nachricht. Ohne Worte der Erklärung. Die Erkenntnis fuhr ihr als kalter Schauer über den Körper.
Laura schluchzte auf. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie ließ die Stirn gegen die Knie sinken und zog die Beine fest an ihren Körper. Willkommen zu Hause.
Kapitel 1
Laura hob mühsam den Arm und schaute auf die Aufgabenliste. Es fehlten nur noch zwei Arbeitsschritte bis zum Ende ihres simulierten Ausflugs ins All. Seit knapp fünf Stunden befanden sie sich nun unter Wasser, um einen Nachbau der Internationalen Raumstation abzurüsten, und sie lagen gut im Zeitplan.
Die Reflexion der Scheinwerfer im Trainingsbecken blendeten sie. Ihre Augen brannten, dennoch durchströmte sie ein warmes, zufriedenes Gefühl. Laura verlagerte ihr Körpergewicht etwas nach hinten und schaute durch das Visier des Astronautenhelmes nach oben. Die Szenerie über der Wasseroberfläche war in bunten, tanzenden Punkten schemenhaft zu erkennen. Sie schloss die Augen. Dunkelheit umgab sie. Laura dachte an die Schwärze des Weltalls, wenn alles gut ging, würde sie in wenigen Monaten endlich wieder in diese unendliche Weite blicken dürfen.
Sie ließ die Haltestange los und trieb für einige Sekunden schwerelos im Wasser. Ihr Magen kribbelte und ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Es fühlte sich an wie nach einem intensiven Kuss. Langsam öffnete Laura die Augen. Nur noch zwei Arbeitsschritte, dann wäre sie ihrem Ziel wieder ein Stück näher. Sie drückte sich mit der Hand von der glatten Oberfläche des Modells ab, welches das deutsche Raumfahrtlabor nachstellte, und hangelte sich nach unten, dabei winkte sie ihren Kollegen zu sich.
Owen zog sich vorsichtig von der nachgebauten Schleuse zurück, die ins Innere des Modells führte. Seine Bewegungen wurden langsamer. Er kämpfte offensichtlich gegen den Widerstand des Anzuges.
Auch Laura spürte die zurückliegenden Stunden als unangenehmes Ziehen in jedem Muskel. Ihre Schultern schmerzten von der Last des Versorgungssystems im Rucksack und sie hatte Durst.
Sie drehte den Kopf leicht und fuhr mit den Lippen über den Trinkschlauch, der auf der Höhe ihres Schlüsselbeins aus dem Inneren des Anzugs ragte. Sie nahm einen Schluck Wasser und wartete, bis Owen bei ihr angekommen war.
Er streckte den Daumen in die Höhe. Wegen des dicken Handschuhs war die Geste kaum zu erkennen.
»Kontrollzentrum? Wir beginnen jetzt damit, die Kamera abzubauen«, sagte Laura.
»In Ordnung. In einer Minute geht die Sonne auf. Klappt das Sonnenvisier runter und dreht das Kühlsystem auf Level drei.«
Ihre Kollegin Selah beherrschte fünf Sprachen fließend. Wenn die Dänin Deutsch sprach, klangen die Worte hart und kantig. Laura musste sich deshalb stark konzentrieren, um nichts Wichtiges zu überhören. Es war ungewohnt, dass Selah heute im Kontrollzentrum saß. Normalerweise war sie Astronautin wie sie und trainierte mit ihr die Praxis, aber um die Abläufe besser zu verstehen, musste jede von ihnen Schichten im Kontrollzentrum absolvieren. Bald würde auch Laura dran sein.
Sie hob ihr Handgelenk und hielt den daran befestigten Spiegel auf Höhe ihres Bauches, bis der Knopf des Temperaturreglers unterhalb ihres Brustkorbes darin zu erkennen war. Sie drehte daran und die kleinen Plastikröhrchen, die ihr Unterhemd und ihre lange Unterhose durchzogen, wurden mit kühlerem Wasser durchflutet. Anschließend schob sie das Sonnenvisier herunter. Alles erschien nun in einem schmutzigen Orange.
»Alle Vorkehrungen durchgeführt!«
Ihr Kollege bestätigte seine Handgriffe ebenfalls mit einer knappen Mitteilung.
Laura löste eine der Sicherheitsleinen von der Öse ihres Gurtes. »Owen, ich sichere die Kamera, danach kannst du mit den Schrauben auf der rechten Seite anfangen. Warte, bis ich mein Okay gebe.«
Ein Schwall Wasserblasen des Tauchers, der neben ihr schwamm und den Einsatz filmte, nahm Laura kurz die Sicht. »Hast du verstanden, Owen?« Sie musterte ihren Kollegen eindringlich.
Seine Hände glitten von den Haltestäben ab. Drei Armlängen von ihr entfernt trieb er nun im Wasser, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt.
Laura stockte der Atem. »Kontrollzentrum? Owen antwortet nicht.« Sie kniff kurz die Augen zusammen, vielleicht hatte ihre Wahrnehmung sie getäuscht? Doch Owen blieb weiterhin bewegungslos.
»Laura, er ist ohnmächtig geworden. Mit der Sauerstoffzufuhr stimmt etwas nicht. Sie reicht nur noch für fünfzehn Minuten.«
Fünfzehn Minuten. »Verstanden. Ich beginne mit der Rettung.«
Laura schaute auf das Display. Schritt eins: Die Stoppuhr starten. Mit dem Zeigefinger drückte sie den grünen Knopf. Nichts geschah.
Laura atmete heftig aus und ballte die Hand zu einer Faust. Sie schien keine Kraft mehr in ihrem Körper zu haben. Konzentrier dich! Sie presste den Knopf noch einmal. Im oberen Teil des kleinen Bildschirms fingen die Ziffern an zu tanzen und verschwammen vor ihren Augen. Ihr wurde schlagartig heiß. Was zur Hölle ist mit mir los? Vorsichtig hob sie den Spiegel, sah auf den Temperaturregler und drehte die Temperatur im Anzug weiter herunter. Sie wusste, dass jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet wurde.
Das Rauschen der Kühlschläuche auf ihrer Haut schwoll an. In ihren Ohren klang es dumpf und wie aus weiter Ferne. Das Adrenalin verzerrt deine Wahrnehmung.
Schritt zwei: sichern.
Laura schob sich an der Außenseite des Modells entlang und kam Owen schnell näher. Du wusstest, dass sie dich in so eine Situation bringen würden.Das hier ist nur eine Übung. Du warst diejenige, die damals bei der Landung Samantha gerettet hat. Du kannst das!
Die Landung. Blitzartig tauchten Szenen des Tages auf, der alles verändert hatte. Die Rettung war gut verlaufen, aber danach war ihr Leben aus einem anderen Grund völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Nicht jetzt. Sie schob die Bilder beiseite.
»Laura, du musst dich beeilen.« Selahs Stimme durchbrach das Summen und Brummen der Geräte.
Wie viele Minuten war vergangen? Noch immer konnte sie die Ziffern auf der Uhr nicht richtig erkennen. Sollte sie das melden? Nein, du hast diese Handgriffe schon hundertmal gemacht. Du wirst schnell sein. Konzentrier dich.Also noch mal. Schritt zwei: sichern.
Sie war bei Owen angekommen. Durch das abgedunkelte Sonnenvisier konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Seine Schulter stieß gegen ihre. Er trieb von ihr weg. Und wenn es doch keine Übung ist? Laura wurde übel.
»Ich löse die Leinen und sichere Owen an meinem Anzug.« Sie griff nach den beiden Sicherheitsleinen, mit denen er am Modul befestigt war, öffnete den Verschluss und hakte ihn an ihrem breiten Gürtel ein. Dann befestigte sie die zweite Leine ein Stück weiter vorne an einer der Haltestangen des Moduls.
Owens Körper drehte sich.
Schnell hob sie den Arm, streckte die Finger aus und hielt diese schützend zwischen Owens Helm und eine der Haltestangen. Es war, als gehörte der Arm gar nicht zu ihrem Körper. Neue Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge. Etliche Hände winkten ihr zu. Fahnen wurden geschwenkt. Es wurde geklatscht und ihr Name gerufen. Vertraute Gesichter blickten ihr mit strahlendem Lächeln entgegen. Nur sie hatte gefehlt. Karen. Lauras Augen füllten sich mit Tränen.
»Laura, du musst mir sagen, was du machst. Es bleiben nur noch elf Minuten.«
Die Anweisungen vermischten sich mit den Geräuschen aus ihrer Erinnerung: Musik, Lachen, Rufe.
»Laura, hörst du mich?«
Einer der Taucher erschien schemenhaft vor ihr. Er machte ein Handzeichen.
Aber welches? Sie streckte den Daumen in die Höhe und winkte ihn zur Seite. »Alles in Ordnung, Selah, ich höre dich. Ich wechsle die Leinen von einem Haken zum nächsten und ziehe Owen in die Sicherheitsschleuse.«
»Achte darauf, was hinter dir ist, und beachte die abstehenden Teile des Moduls. Du bist bereits gegen etwas gestoßen.«
War sie das? Sie hatte nichts bemerkt. So wie damals, im Gedränge – Journalisten, Fans, Teammitglieder hatten sich um sie geschart, jemand hatte zu ihr gesagt: »Achten Sie auf die Kameras, hinter Ihnen sind noch mehr.«
Sie war umringt worden. Man hatte ihr auf die Schultern geklopft. Blitzlichtgewitter blendete sie. Mikrofone wurden ihr unter die Nase gehalten und Wortfetzen drangen zu ihr. Doch sie war unfähig gewesen, sich zu konzentrieren, bis jemand sie mit dieser einen, bestimmten Frage zurück in die Wirklichkeit gerissen hatte: »Sie schauen so suchend in die Menge. Vermissen Sie jemanden?«
Karen war nicht gekommen.
Tränen trübten Lauras Sicht. Ihre Hände zitterten. War es doch ein Fehler gewesen, sich für diese Mission aufstellen zu lassen? War sie immer noch nicht bereit dafür? Die letzten Monate waren gut gelaufen. Warum brachte diese Übung sie jetzt so aus dem Konzept?
»Wir brechen ab!« Micks Stimme durchschnitt die Stille.
Was? Nein! Wenn Mick übernahm, war die Übung vorbei.»Aber … ich.«
Owen bewegte sich wieder.
»Begebt euch zur Schleuse. Laura, du warst zu langsam und du hast womöglich deinen Anzug beschädigt. Ein Taucher wird dich begleiten.«
Owen zog ihr die Leine aus der Hand. »Ich übernehme wieder.«
Seine Stimme war sanft, dennoch konnte sie am Klang hören, dass er enttäuscht war.
»Ich folge ihm.« Sie hatte versagt. So etwas war ihr bisher nur ein einziges Mal passiert. Während der Ausbildung, vor acht Jahren. Aber doch nicht jetzt, während der letzten wichtigen Phase des Auswahlverfahrens.
Hastig zog sie sich an den Leinen Richtung Schleuse.
Mick würde sie gleich befragen und vielleicht würde er jemanden aus dem Komitee dazu holen. Sie würde wieder lügen müssen, so wie damals, nach ihrem Zusammenbruch. Alles würde von vorne beginnen. Nein, das durfte nicht passieren. Waren all die Jahre, in denen sie so hart gearbeitet hatte, um das Erlebnis zu vergessen, umsonst gewesen? Ihr Brustkorb verkrampfte sich.
Owen hatte die Schleuse erreicht. Er drehte sich zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen, um sie hereinzuziehen.
Ein dumpfer Schmerz durchzog ihren Magen. Diese Geste beschämte sie. Dennoch griff Laura nach dem dicken Handschuh und bedankte sich.
In der Schleuse angekommen drehte sie sich zur Tür, zog sie zu, betätigte den langen weißen Hebel und checkte die Kontrolllampe. »Wir sind angekommen und die Tür ist verschlossen, ihr könnt die Luke freigeben.«
Bevor Owen sich weiter nach vorne ziehen konnte, griff sie nach seinem Arm. »Owen, es tut mir leid.«
Er drehte sich zu ihr. »Das ist okay. Jeder hat mal einen schlechten Tag.«
»Nein, ich habe dich in Gefahr gebracht.«
Er winkte ab. »Das war eine Übung. Ich weiß, dass du es kannst.«
Heute war es zwar eine Übung gewesen, doch schon bald würden sie da draußen sein, nur zu zweit, treibend im Weltall und Owen musste sich zu hundert Prozent auf sie verlassen können. War das nun überhaupt noch möglich?
»Die Luke ist frei«, klang es aus dem Kontrollraum.
»Owen …«, Laura wollte sich noch einmal entschuldigen, doch Owen war bereits dabei, den Hebel der Luke zu betätigen.
Die Tür öffnete sich. Ein Schwall Luftblasen wirbelte um sie herum.
Sie schwammen aus der Schleuse hinaus.
Je ein Taucher kam auf sie zu und löste die Gewichte von ihren Knöcheln.
Langsam trieben sie nach oben.
Einer der Taucher zog Laura auf die Plattform, mit der sie gleich aus dem Übungsbecken befördert werden sollte.
Sie umfasste mühsam die Haltestangen. Der Stress hatte ihr alle Kraft genommen. Als sie durch die Wasseroberfläche brach und sie verschwommen einige ihrer Kolleginnen und Kollegen am Beckenrand erkannte, wurde ihr wieder heiß. Scham durchflutete ihren ganzen Körper. Doch es gab kein Entrinnen. Sie würde sich den Fragen und Vorwürfen stellen müssen.
Langsam, viel zu langsam bewegte sich die Plattform auf den Beckenrand zu und setzte nach einigen Minuten unsanft auf.
Wenn Laura doch einfach aus dem Anzug schlüpfen und in die Kabine eilen könnte, um erst einmal alleine zu sein. Stattdessen würde sie noch mindestens eine halbe Stunde ausharren müssen, bis man den Anzug kontrolliert und ihr herausgeholfen hatte.
Das Wasser, das nach dem Auftauchen über das Visier gelaufen war und ihr die Sicht getrübt hatte, versiegte. Laura erblickte Melissa, die mit festen Schritten auf sie zukam. Dass sie die Chefin der Raumanzugentwickler schickten, war kein gutes Zeichen. Sie nahm sich persönlich nur Zeit für die Astronauten, wenn es einen dringlichen Grund gab. Bestimmt war es Micks Idee gewesen sie zu rufen. Verfluchter Kerl.
Hinter Melissa folgte Leon, ihr Assistent mit einem Klemmbrett. Auf beiden Gesichtern waren Sorgenfalten zu sehen.
Melissas Blick ruhte einige Herzschläge lang auf ihr, dann begann sie, die Schnüre des Rucksacks zu lösen.
Laura beobachtete Owen, der fünf Meter von ihnen entfernt stand. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie ihnen die Helme abnahmen, sie wollte ihm in die Augen sehen können.
Melissa kam wieder in ihr Blickfeld. Sie löste die Verschraubungen des Helms, dann zog sie ihn behutsam nach oben und sah sie mit einem langen, durchdringenden Blick an. »Wie geht es dir?«
Die rauchige Stimme traf Laura bis ins Mark. Verdammt. Nicht das auch noch. Lass sie nicht an dich ran.
Laura drehte den Kopf zu Leon, der damit begonnen hatte, die einzelnen Aluplättchen am Anzug auf Beschädigungen zu untersuchen. Er macht sich zu viele Notizen, das bedeutet nichts Gutes. War sie so oft irgendwo angestoßen? Sie hatte nichts bemerkt.
Melissa folgte ihrem Blick. »Ich übernehme gleich die Kontrollen, Leon. Lässt du uns bitte allein.«
Melissa meinte es ernst, sie wollte eine klare Antwort von ihr. Laura schluckte.
Leon nickte ihnen zu. »Okay«, sagte er, überreichte Melissa das Klemmbrett und ging.
Melissa sah sie noch einmal durchdringend an. »Wie geht es dir?«, wiederholte sie.
»Okay. Denke ich.« Laura wich ihrem Blick aus.
Melissa schien ihr Gesicht mit dem Blick abzusuchen, Zentimeter für Zentimeter, so, als sei sie auf der Suche nach verräterischen Anzeichen, die Lauras wahren Zustand verrieten. Sie hob eine Hand und fühlte Lauras Stirn. Ihre weichen Finger verweilten eine ganze Weile auf ihrer Haut. »Gut, sprechen kannst du schon mal. Und jetzt bitte eine ehrliche Antwort.«
Wenn Lauras Gesicht vorher schon warm gewesen war, dann glühte jetzt die Stelle, an der Melissa sie berührt hatte.
Sie machte noch einen Schritt auf Laura zu.
Nein, nicht noch näher. Lauras Herz klopfte schnell. Der Duft von Melissas Haut und ihrem Haar drang zu ihr. Er war nussig und mischte sich mit dem Geruch von stundenlanger Arbeit mit Metall und Schmierölen. Ein Ziehen machte sich in Lauras Bauchmitte breit. Melissa roch wie der Weltraum.
Die Erinnerung an den rauen Duft, der sie immer wieder auf der Raumstation umgeben hatte, vor allem dann, wenn sie die Luke zu einem Raumfrachter geöffnet hatten und die vorderste Spitze in die Station hereingeragt hatte, überkam sie. Dieses besondere Gefühl, in Kontakt mit etwas zu kommen, was sie mit der unendlichen Weite des Alls verband, machte sich als angenehmes Kribbeln in ihrem Körper bemerkbar. Gleichzeitig setzte die Erkenntnis ein, dass sich ihre Chance, bald erneut eine Mission antreten zu können, durch ihren misslungenen Auftritt eben erheblich verschlechtert hatte.
»Also, bekomme ich nun eine überzeugende Antwort von dir?«, fragte Melissa und durchbrach damit ihren Gedankenstrudel.
Lauras Blick schärfte sich. Melissas Stimmlage hatte sich verändert. Der Ton war schneidend. Laura kannte ihn aus ihrer Ausbildungszeit. Eine klare Antwort war unumgänglich.
Melissa stand immer noch sehr nah vor ihr. Ihr schönes Gesicht hatte zwar weiche Züge angenommen, doch die Sorgenfalten auf der Stirn waren nicht zu übersehen und ihre braunen Augen waren fast schwarz geworden.
»Ich konnte mich plötzlich nicht mehr konzentrieren.«
Melissa trat einen kleinen Schritt zurück und drehte endlich die Verschraubungen des Anzuges an ihren Armen auf.
»Was war der Auslöser?«
Bei dem Wort zuckte Laura zusammen. Natürlich spielte Melissa auf die vergangenen Ereignisse nach der Landung ihrer letzten Mission an. Sie war die Einzige gewesen, die Laura immer wieder darauf angesprochen hatte und ihr die damals vorgeschobenen Gründe für den Burn-out nicht abgenommen hatte: dass sie mit den Anforderungen an sie überfordert gewesen sei, dass der Flug ins All sie geschwächt habe. Melissa schien zu ahnen, dass das nicht alles gewesen war.
»Es ist einfach so passiert.«
Melissa zog die beiden Unterarmteile ab, dann fuhr sie mit ihren Fingern über Lauras angespannte Muskelstränge und streifte die langen Handschuhe von ihrer Haut.
Die feinen Härchen auf Lauras Armen stellten sich auf. Ob es wegen der Berührung oder der kühlen Luft war, konnte Laura nicht sagen. Melissa stand jetzt so nah vor ihr, dass Laura ihren Atem auf der Wange spüren konnte.
Laura bewegte die schmerzenden Finger und lächelte. »Ich bin froh um jedes Gramm der hundertdreißig Kilo, die du mir abnimmst.«
»Ich könnte dir noch viel mehr abnehmen.« Melissa lächelte mitfühlend. Der Ton ihrer Stimme ließ Laura keinen vernünftigen Gedanken fassen.
»Das ist nicht nötig.«
»Keine Ausreden mehr, Laura, nicht schon wieder.«
Melissas Hand lag auf ihrer Armbeuge und die Wärme darunter drang in Lauras Körper. Ihre Knie wurden weich.
»Ich bin für dich da.«
Laura hob eine Hand und zog Melissas Finger sachte von ihrem Arm. »Ich weiß. Ich kann jetzt nicht darüber reden. Noch nicht. Lass mich erst etwas zur Ruhe kommen, bitte.«
Melissa betrachtete sie noch einige Augenblicke lang, dann nickte sie und fuhr damit fort, sorgfältig die Aluplättchen an den verschiedenen Stellen des Anzugs zu überprüfen. Über manche fuhr sie mit dem Finger, um die Tiefe der Schrammen zu kontrollieren.
Anscheinend war Laura ständig irgendwo angestoßen. Das würde eine lange Nachbesprechung geben. Mick ist bestimmt sauer und Owen hat zwar ein ruhiges Gemüt, aber er ist Perfektionist. Was wäre, wenn sie bei seinen Schilderungen schlecht wegkommen würde? Vor dir hat er zwar Respekt, Selah mag er jedoch sehr, und es gibt nur einen Platz für eine Frau bei der nächsten Mission. Er wird nun sicher lieber Selah dabei haben wollen.
Laura sah in Owens Richtung. Er war im Gespräch mit einem der neuen Raumanzugentwickler und sah nicht zu ihr herüber. Verdammt noch mal. Laura atmete laut aus.
Melissa sah zu ihr hoch. »Ich bin gleich fertig.«
Zum Glück. Lange hielt sie diese Nähe nicht mehr aus. Sie würde duschen gehen und sich dabei plausible Erklärungen für die Nachbesprechung ausdenken, und zwar so überzeugende, dass alle sie ihr abnehmen würden. Vor allem Mick.
~ ~ ~
Mick stand mit verschränkten Armen vor ihr.
Laura konnte diese Geste bei ihm nicht ausstehen, weil sein eigentlich schmächtiger Oberkörper durch die sehnigen Arme dabei plötzlich bedrohlich breit wirkte.
Seine tintenschwarzen Haare fielen ihm vor die grünen Augen, die zu schmalen Schlitzen verengt waren. Und er stand, während sie saß.
Herrgott. Laura stand ebenfalls auf.
Mick zog eine Augenbraue hoch und lockerte seine Haltung. »Was wird das? Willst du etwa gehen?«
»Nein, ich begebe mich mit dir auf Augenhöhe, dazu bist du ja gerade nicht in der Lage.«
Mick sah an sich herunter, so, als habe er gar nicht bemerkt, dass er bereits nach den ersten zwei Sätzen des Gesprächs aufgesprungen war.
»Du hast recht. Entschuldige.« Er zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.
Laura setzte sich ebenfalls wieder und atmete hörbar aus. Ihre verkrampfte Körperhaltung löste sich etwas. »Warum ist Owen nicht hier?«
»Ich wollte erst mit dir alleine reden.«
»Wieso fassen mich plötzlich alle mit Samthandschuhen an? Vorhin Melissa und jetzt du. Ja, ich habe Mist gebaut, aber ich habe mich dafür entschuldigt. Traust du mir nicht zu, dass ich aus dieser Sache lernen werde?«
»Natürlich, darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass dir diese Fehler überhaupt nicht hätten passieren dürfen. Meine Güte, Laura, wir sprechen hier von Anfängerfehlern. Du hast dem Kontrollraum keinen Bericht mehr erstattet. Du warst aufgeregt, wegen etwas, wegen einer Situation, die wir vor zig Jahren schon hunderte Male geübt haben und die du außerdem im wahren Leben hast durchmachen müssen. Die du erfolgreich gemeistert hast, wenn ich dich erinnern darf. Für eine Frau von deinem Format hätte das heute so easy wie eine Shoppingtour sein müssen.«
Unter anderen Umständen hätte sie ihn für diese klischeehafte Metapher, von denen Mick einige in seinem Sprachrepertoire besaß, aufgezogen. Es zeigte ihr wieder, wie wenig er doch von ihr wusste. Lieber verbrachte sie acht Stunden in einem beengenden Raumanzug, als acht Minuten in einem Klamottenladen.
Für eine Frau von deinem Format hallte es ihr durch den Kopf. Natürlich warf er jetzt alles in die Waagschale – ihre erfolgreiche Ausbildung, ihre gesammelten Erfahrungen für die Vorbereitungen neuer Missionen in den letzten Jahren, ihr Ansehen innerhalb des Teams. Da wirkte ihr Aussetzer jetzt umso schwerwiegender.
Mick beugte sich vor. »Vor dir liegt vielleicht eine eineinhalb Jahre dauernde Extremsituation. Das wird kein Zuckerschlecken da oben. Es kann so viel passieren. Wir brauchen die Besten für diese letzte, wichtige Mission.«
»Das weiß ich und die Beste werdet ihr bekommen. Ich hatte mich einfach nicht mehr unter Kontrolle.«
»Was immer dich durcheinandergebracht hat, löse dich davon.«
Sein Satz schoss wie eine Faust auf sie zu und traf sie heftig. »Was meinst du eigentlich, was ich täglich tue? Ich arbeite hart an mir. Du weißt, wie wichtig mir jede Mission ist.«
»Vielleicht ist ja genau das dein Problem.«
»Wie meinst du das?«
Er atmete schnaufend aus. »Du bist zu verbissen. Ich schätze deinen Einsatz sehr, aber du mutest dir zu viel zu. Du musst dich auch mal erholen. Von morgens bis abends sehe ich dich irgendwo in der Behörde.« Er lehnte sich nach hinten und schlug die Beine übereinander. »Alle schätzen deine Hilfsbereitschaft und dein Interesse für die anderen Abteilungen, aber du musst auch mal raus aus dieser Umgebung und dir andere Herausforderungen suchen. Ich kenne dich, seit du hier angefangen hast, du warst zu Beginn viel unternehmungslustiger und hattest so viele Interessen, auch außerhalb der Behörde. Du hast dich verändert.«
Laura verschränkte die Arme. »Menschen verändern sich nun mal im Laufe ihres Lebens, da ist wohl niemand vor gefeit.«
»Ich meine es nur gut. Ich rede extra allein mit dir darüber, außerdem habe ich Melissa gebeten, dir in der kommenden Zeit etwas mehr zu helfen. Wenn so etwas wieder vorkommt, geht es eine Stelle höher und dann wird auch dein Privatleben auseinandergenommen. Jedes Puzzlestück wird beleuchtet. Ich weiß nicht, ob du momentan gut dastehen würdest, wenn du über deine Freizeit berichten solltest.«
Laura drehte leicht ihren Kopf und fixierte eins der Fußbodenbretter. Sie wusste, dass er recht hatte, und genau das machte sie wütend.
»Was würdest du Überzeugendes erzählen können?«
Laura sprang auf. »Verdammt, Mick, warum tust du das?«
Mit einem Ruck stellte er sich ebenfalls hin und beugte sich zu ihr. »Wenn du noch nicht mal dieser einen, simplen Frage standhalten kannst, dann sehe ich Schwarz für dich, Laura.«
Wut loderte als brennender Schmerz in ihr auf. »Soll ich dir jetzt auch noch dankbar sein für diese praktische Übung?« Die Frage tat ihr sofort leid. Sie wusste, dass sie im Grunde nicht wütend auf ihn, sondern wütend auf sich selbst war. Sie selbst hatte sich in diese Lage gebracht.
»Bitte, versteh mich«, seine Stimme wurde wieder leiser. »Wir befinden uns in der letzten Entscheidungsphase. Die drei Monate bis zur Benennung sind schnell vorbei. Du wirst jetzt ständig mit solchen Situationen wie heute konfrontiert und ich habe die Verantwortung für jeden von euch. Ich will das Beste für das ganze Team, aber um dich mache ich mir eben besondere Sorgen, wegen deiner Vergangenheit.«
Laura schaute zu Boden. Mick war häufig ruppig, aber nicht unfair. »Das kann ich nachvollziehen. Ich verspreche dir, dass so etwas wie heute nicht wieder passieren wird.«
»Kannst du es dir auch selbst versprechen?«
Sie sah ihm in die Augen und schwieg.
Mick richtete sich auf und bedeutete ihr damit, dass die Diskussion fürs Erste beendet war. »Es steht dir frei, allein mit Owen über die Sache zu sprechen. Ich habe alles gesehen und gehört, um mir meine eigene Meinung zu bilden. Allerdings werde ich den Trainingsplan umstellen. Selah geht bis zum Ende der Woche ins Tauchbecken. Du bist dann in einem Monat wieder dran, wenn wir mit den Übungen für den Rückbau des Forschungsmoduls beginnen.«
In einem Monat? Das konnte er nicht ernst meinen. Wie würde diese Entscheidung auf das Team wirken? Sie wollte keine Sonderbehandlung. »Aber, Mick …«
Er hob abwehrend eine Hand. »Du gehst morgen nach der Mittagspause in den Kontrollraum, um Selahs Einsatz zu begleiten. Melissa hat angeboten, die weiteren Nachbesprechungen in Bezug auf die Tauchübung selbst zu übernehmen, statt es wie üblich von einem ihrer Mitarbeiter machen zu lassen. Du solltest froh sein, dass sie sich die Zeit für dich freischaufelt.«
Lauras Kehle schnürte sich zu. Sie nickte.
»Bis morgen.« Er ging.
Das laute Klacken der Tür ließ sie zusammenzucken. Ein Zittern ergriff ihren Körper. Nein! Bleib gefälligst stark! Sie drehte sich um, packte den Stuhl an der Lehne und griff so fest zu, dass sich ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut abzeichneten. Sie unterdrückte den Impuls, den Stuhl durch den Raum zu schleudern, stattdessen stieß sie ihn von sich. Er kippte seitlich, schien zu fallen, landete dann aber doch wieder auf seinen vier Beinen.
Eilig verließ Laura den Raum.
~ ~ ~
Nach Feierabend war Laura an der Treppe zur U-Bahnstation wieder umgekehrt. Sie konnte die anderen Menschen und das künstliche Licht nicht ertragen. Auch wenn es schon sehr spät war, brauchte sie unbedingt noch frische Luft.
Mit hastigen Schritten bog sie in den hell erleuchteten Park ein, der sich schräg hinter der Raumfahrtbehörde befand. Federwolken bedeckten den schwarzen Abendhimmel mit einer feinen weißen Schicht. Sie spürte den Wind aus Nordost im Nacken. Eine Regenfront nahte und würde die Stadt wohl gegen Mitternacht erreichen. Laura fuhr sich über das Gesicht. Nicht mal den Himmel konnte sie betrachten, ohne gleich das Wetter zu analysieren. Ob Mick mit seiner Kritik doch recht hatte? War sie mittlerweile zu stark mit ihrer Arbeit verwoben?
Ein Jogger kam ihr entgegen. Auf der Wiese warf jemand einen Stock für seinen Hund.
Laura blieb stehen und blickte erneut zum Himmel. Das Licht des Vollmondes brach durch die Wolken und tauchte die Umgebung in silbriges Schimmern. Im Augenwinkel sah sie vor sich auf dem Gehweg etwas Weißes aufblitzen. Sie ging darauf zu und bückte sich. Ihre Oberschenkel verkrampften. Fest presste sie die Zähne aufeinander. Das Training und die Anspannung hatten Spuren hinterlassen. Kurz blieb sie in der Hocke. Bist du dem Ganzen wirklich noch mal gewachsen? Solche stressigen Situationen wie heute würden auf der Raumstation häufig vorkommen.
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde das weiße Etwas vom Wind angehoben. Es drohte davonzufliegen. Hastig streckte Laura ihre zitternden Finger danach aus, zog es zu sich und betrachtete es von Nahem. Es war ein Zettel. Langsam kam sie wieder zum Stehen. Ihre Knie trugen sie noch. Ein gutes Zeichen. Die Außenseite des Papiers war mit Erde verschmiert. Vorsichtig klappte Laura es auseinander und las:
- Gellan 5/200
- C. 100, 105 g (!)
- S. 20 Blatt gew.
- Ä. 1/1
Die Zusammenstellung irritierte sie. Das erste Wort kannte sie nicht. Laura drehte den Zettel um, doch die Rückseite war leer. Sie betrachtete die Notizen genauer. Sie waren in einer ausladenden und geschwungenen Handschrift festgehalten worden. Vermutlich von einer Frau. Laura mochte die Linienführung, die Buchstaben waren ein wenig zur Seite geneigt. Es sah so aus, als wollten die Wörter vom Zettel tanzen. Auch die Zahlen ergaben keinen Sinn für Laura. Das Ganze sah aus wie eine Formel. Bloß für was?
Laura blickte auf und sah sich um. Dem Zustand nach, schien der Zettel hier noch nicht sehr lange zu liegen. Der Herbst war nah und es hatte in den letzten Tagen immer wieder geregnet. Das Papier war nicht nass, nur etwas klamm. Während sie den Zettel zwischen den Fingern hielt, bemerkte sie, dass sie ruhiger wurde. Der Krampf im Brustkorb, der ihr den ganzen Nachmittag lang das Atmen schwergemacht hatte, löste sich.
Sie ging erneut in die Hocke und legte den Zettel auf ihren linken Oberschenkel. Sie faltete ihn wieder, dann zog sie ein Taschentuch aus der Jacke, und schob den Zettel vorsichtig auf den feinen Stoff. Die weichen Ecken klappte sie um das Papier und steckte das kleine Päckchen in die Innenseite ihrer Jacke. Plötzlich hatte sie es doch eilig, nach Hause zu kommen, sie wollte den Zettel vorsichtig trocknen, bevor er kaputtging.
Kapitel 2
»Welch hoher Gast in unseren bescheidenen Hallen.« Claudius lächelte, als Laura auf ihn zukam.
Sie umarmten sich.
Von wegen bescheiden, für Laura war die medizinische Abteilung der Behörde eine der spannendsten. Sie grinste. »Also bitte, ich bin ja wohl ständig hier.«
»Ja, wenn wir deine Blutproben unter das Mikroskop schieben, bist du die Erste im Labor, um zuzuschauen und die Ergebnisse abzugreifen, das stimmt. Ansonsten kriege ich dich aber kaum noch zu Gesicht. Wie läuft es nebenan?«
»Ich war gestern zum ersten Mal im Tauchbecken. Ich bin wohl gerade nicht so in Form. Deswegen habe ich eine Zwangspause verordnet bekommen. Sie haben mir gestern auch noch Blut abgenommen, da warst du schon weg.«
»Schon, schon, was heißt hier schon? Ich bin ein junger Kerl und brauche nach achtzehn Uhr ein paar Einheiten Freizeit. Im Gegensatz zu euch Astronauten bin ich nämlich irdischen Dingen recht zugewandt.«
Laura verdrehte die Augen, knuffte ihn dann aber in die Seite. »Ich brauche dich kurz, hast du Zeit?«
Claudius beugte sich zu ihr und flüsterte: »Ich verstehe, du bist hier, weil ich die Probe verschwinden lassen soll. Ich will das Übliche, aber diesmal in kleinen Scheinen.« Er zwinkerte.
Laura lächelte schwach.
Er hatte sich wohl mehr von seinem Scherz erhofft und sah sie jetzt mitfühlend an. »Hey, bei eurem Pensum kann so was jedem mal passieren. Womit kann ich dir wirklich helfen?«
Laura zog den Zettel hervor und reichte ihn ihm. »Ich habe gestern auf dem Heimweg diese Notizen gefunden. Mich würde interessieren, was die Zusammenstellung zu bedeuten hat. Kannst du damit vielleicht etwas anfangen?«
Claudius beugte sich über das Papier. Ähnlich, wie wenn er Dinge unter dem Mikroskop genauer betrachtete. Dann schienen sein Hals und Nacken auch länger zu werden, um sich zielgenau über dem Objekt ausrichten zu können. Er hatte dann die Haltung eines Geiers. »Vermutlich ein Rezept.«
»Ich dachte, es sei eine Formel, wegen der Abkürzungen und Zahlenangaben?«
Er schüttelte den Kopf. »Es scheinen Kochnotizen zu sein. Gellan verwendet man in der Molekularküche. Die Zahlen sind eventuell Mengenangaben oder Mischungsverhältnisse.«
Laura schaute abermals auf die geschwungene Handschrift. Darauf wäre sie nicht gekommen.
Claudius machte den Rücken wieder gerade. »Hast du den Zettel vor dem Hotel gefunden?«
»Welchem Hotel?«
Er hielt den Zettel in die Luft und tippte auf die Mitte. »Na, vor diesem.«
Das Licht der Lampe fiel auf das Papier und ein Wasserzeichen erschien. Über einer Skizze, die eine Baumkrone darstellte, war der Schriftzug Hotel zur Lindenallee zu sehen.
»Ich habe ihn im Park gefunden. Das Zeichen ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
Claudius ließ den Zettel sinken. »Du scheinst wirklich nicht auf der Höhe zu sein, wenn dir so was entgeht.«
Sie nahm den Zettel wieder entgegen.
»Wie sieht es aus, gehen wir nach der Arbeit mal wieder was trinken?«
Laura zögerte. »Ja, demnächst. Ich melde mich.«
»Tust du eh nicht. Ich melde mich bei dir.«
Laura fuhr sich mit der Hand über den Nacken.
»Schon okay. Gegen die Geheimnisse des Weltalls schneiden ich und die Spelunke um die Ecke eben schlecht ab.«
Laura holte Luft, um etwas zu erwidern, doch er winkte ab. »Mach langsam in den nächsten Tagen. Wenn Mick dich zu sehr fordert, sag mir Bescheid. Ich könnte mal wieder einen Fitnesstest bei ihm anordnen lassen.« Er beugte sich näher zu ihr. »Du weißt schon, den einen, wo wir sämtliche Stellen seines Körpers verkabeln. Und ich meine wirklich Sämtliche.« Er grinste und nun musste auch Laura lachen.
Sie umarmten sich.
Claudius gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns dann spätestens kommende Woche, bei der nächsten Blutprobe.«
»Danke hierfür«, sagte Laura, winkte mit dem Zettel und steckte ihn dann zurück in die Jackentasche.
Sie sah Claudius hinterher, während er den Gang hinunter lief und wenige Augenblicke später in einem der Labore verschwand.
Das schlechte Gewissen machte sich als unangenehmes Zwacken in ihrer Magengegend bemerkbar. Schon in der Uni war sie gern mit ihm um die Häuser gezogen. Aber in den letzten Monaten hatte sie alle Einladungen von ihm ausgeschlagen.
Claudius war aufmerksam und hatte einen herrlich trockenen Humor. Er akzeptierte, dass sie ihm stets wenig aus ihrem Privatleben erzählte. Dafür war sie ihm nicht böse, wenn er während ihrer Treffen mit Frauen flirtete und sie dann manchmal frühzeitig verließ, wenn der Flirt mehr zu versprechen schien. Oder wenn sie am Ende des Abends einen großen Umweg über das Ostviertel machen musste, um ihn heil nach Hause zu bringen, wenn er mal wieder viel zu tief ins Glas geschaut hatte.
Vielleicht würde er es bald ganz aufgeben und sie nicht mehr fragen. Wie auch immer, sie konnte sich nicht mehr mit ihm treffen. Es gehörte zu ihrem jetzigen Vorhaben, sich rechtzeitig von den Menschen zu distanzieren, die sie mochte. Nur so, konnte sie sich auf die nächste Mission vorbereiten, sie sah keine andere Möglichkeit.
Sie verließ eilig das Gebäude und schlug den Weg zum anderen Gebäude der Raumfahrtbehörde ein. Wenn Selah im Tauchbecken gleich alles gut gelang und sie im Zeitplan blieben, könnte Laura heute Abend auf dem Weg nach Hause vielleicht noch bei dem Hotel vorbeifahren. Hoffentlich befand es sich nicht am anderen Ende der Stadt.
~ ~ ~
Das Hotel zur Lindenallee machte seinem Namen alle Ehre. Als Laura aus dem U-Bahn-Schacht trat, erstreckten sich bald sanfte Baumriesen in zwei Reihen vor ihr und säumten den Weg zu einem großen Gebäude, dessen Name in großen Lettern die Vorderfront zierte. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Orangenes Laternenlicht beleuchtete den Weg in der Mitte der Allee nur schwach. Feine Steinchen knirschten unter ihren Schuhen, als Laura zielstrebig an den Linden vorbei und auf das Gebäude zulief. Den Zettel hielt sie in einer Klarsichthülle in der Hand.
Rasch überquerte sie die schmale Auffahrt vor dem Eingang. Als sie die Tür an den Holzgriffen aufstieß, bemerkte sie die wohl erst kürzlich darauf aufgetragene goldene Farbe, die glänzte und keine einzige Macke zeigte. Ein dunkelroter Teppich führte sie in das breite Foyer.
Laura blieb stehen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Die Luft war kühl, es roch nach Schuhcreme, frischem Lavendel und Staubsaugergebläse. Rechts von ihr gab es eine Sitzecke mit dunkelbraunen, tiefen Sesseln. Die Glasplatten der Tische glänzten. Auf ihnen standen Vasen mit Blumenmischungen in Gelb, Rot und Lila. Ein Mann nahm hinter einer aufgeschlagenen Zeitung einen Drink zu sich. Im Augenwinkel bemerkte sie die Bewegungen eines jungen Mannes, der auf sie zukam.
»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?« Er trug weiße Handschuhe und hatte eine rote geschwungene Kappe auf dem Kopf, die Laura an Sindbad erinnerte. »Möchten Sie einchecken?«
»Ähm, nein, ich hätte bloß eine Frage.«
Der junge Mann ließ kurz seinen Blick über sie schweifen. Dann zeigte er anscheinend enttäuscht darüber, dass ihm ein Trinkgeld entging, ohne ein weiteres Wort Richtung Rezeption. Er lächelte schmallippig und ging zum Fahrstuhl.
Ein Mann, so groß und breit wie ein Wandschrank, mit schwarzem, perfekt gestutztem Vollbart, gekleidet in Anzug und Fliege blickte ihr vom Empfang entgegen.
Laura lief lächelnd auf ihn zu und holte den Zettel aus der Hülle. Vor dem Tresen aus dunklem Holz blieb sie stehen. »Guten Abend. Ich heiße Laura Benedikt.«
Sie machte eine Pause und suchte in seinem Gesicht nach einer Regung, die verriet, dass er ihren Namen kannte. Es war nicht selten, dass Menschen auf sie reagierten, viele sprachen sie sogar direkt auf ihre Missionen an. Aber entweder war er als Hotelangestellter gut darauf trainiert, sich nichts anmerken zu lassen, oder er kannte sie tatsächlich nicht. Wenn in drei Monaten die erste Pressemitteilung mit dem genauen Ablauf der Mission und ihrem Namen verschickt würde, würde sie wahrscheinlich wieder öfter erkannt.
Der Rezeptionist nickte ihr zu. »Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«
Laura streckte ihm den Zettel entgegen und las dabei das Namensschildchen an seiner Brust. »Herr Witting, ich habe diese Notizen gefunden. Das Wasserzeichen lässt darauf schließen, dass sie von jemanden aus ihrem Hotel stammen. Die Notizen scheinen mir wichtig zu sein, deshalb wollte ich sie hier abgeben.«
Laura hoffte, wenigstens zu erfahren, ob ihre Einschätzung stimmte und die Notizen von einer Frau verfasst worden waren. Sie hatte die interessante Schrift immer wieder begutachtet und dabei hatte sich das Bild einer quirligen, selbstbewussten Frau in ihrer Vorstellung manifestiert.
Herr Wittig nahm das Papier entgegen und starrte einige Sekunden darauf. Seine Augen weiteten sich. Dann sah er sie an. »Aber … das ist ja großartig! Würden Sie bitte mitkommen.« Er drehte sich um und rief in Richtung der angelehnten Tür hinter ihm, durch deren Spalt Laura einen Schreibtisch erkennen konnte: »Jack! Übernehmen Sie bitte. Ich muss kurz nach nebenan.« Ein weiterer Mann trat aus dem Zimmer hervor.
Herr Witting machte einige Schritte und blickte über seine Schulter. »Folgen Sie mir, bitte.«
Sie sollte ihm hinter den Empfang folgen?
Der Rezeptionist schritt durch eine zweite Tür hinter dem Tresen und hielt sie für Laura auf.
Laura gab sich einen Ruck und ging ihm hinterher.
Hinter der Tür lag ein langer, schmaler Gang. Im Gegensatz zu dem, was sie bisher vom Hotel gesehen hatte, waren die Wände hier schon länger nicht mehr gestrichen worden und der Teppich war abgelaufen. Grell leuchtende Notausgangsschilder hingen unter der Decke.
Sie eilten an zwei geschlossenen Türen vorbei und eine kleine Treppe hinunter. Links von ihnen führte der Flur zu einer Glastür, hinter der Laura einen Innenhof erkennen konnte, doch sie bogen rechts in einen breiteren Gang ab. Der Fußboden veränderte sich. Aus Teppich wurde Linoleum.
Herr Witting hielt einen Chip vor einen rundlichen Sensor. Als es piepste, drückte er die Klinke herunter, sah sich zu ihr um und winkte sie näher. Sie war ihm wohl zu langsam.
Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Plötzlich schwoll eine Geräuschkulisse an wie bei einem Orchester, das anfängt, seine Instrumente zu stimmen. Der Lärm schien durch die Tür am Ende des Ganges zu kommen. Das Gemurmel und Geschirrgeklapper wurden bei jedem Schritt, den sie näher kamen, lauter.
Herr Witting hielt an einer Einbuchtung in der Wand an, zeigte auf ein Waschbecken und einen darunter befindlichen Beutel mit Schuhüberziehern. »Einmal bitte die Überzieher anziehen und Hände waschen.«
Er zog ein Knäuel der bläulichen Plastiküberzieher aus dem Beutel, reichte ihr welche, zog zwei über seine ledernen Schuhe und wusch sich dann selbst die Hände.
Laura zögerte kurz. Als sie sein durchdringender Blick traf, tat sie es ihm gleich, neugierig auf das, was sie nun zu sehen bekommen würde.
Er nickte, zog seine Fliege zurecht und drückte dann die weiße Tür vor ihnen auf.
Mit zwei Schritten fand Laura sich in einer riesigen Küche wieder.
Sie blieb stehen. Überall Edelstahltische, -herde und -spülen, blitzende Messer, klappernde Töpfe. Dazwischen eilte ein ganzes Heer weiß-grau gekleideter Menschen hin und her. Die Abzugshauben brummten, Dampfschwaden stiegen empor.
»June!«, brüllte Herr Witting und reckte den Hals. »Ich muss June sprechen!«