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Ein lesbischer Liebesroman, in dem Sturm und Schnee es schaffen, einsame Herzen zu erwärmen. Weihnachtsmuffel Zoe reist über die Feiertage nach Norwegen, um einen Zeitungsartikel zu schreiben, der ihren Job retten könnte. Ein beliebter Spielzeugfigurenmacher ist plötzlich verstorben und Zoe soll über die Firmenübernahme seiner Tochter berichten. Niemals hätte sie erwartet, mit der charmanten und attraktiven Firmenerbin Helen abenteuerliche Schlittenfahrten zu unternehmen und ihre Freude an Weihnachten neu zu entdecken. Schon bald kann Zoe ihre Zuneigung zu Helen nicht mehr leugnen, doch zugleich verdichten sich die Hinweise auf ein Familiengeheimnis. Wird Zoe ihre Suche nach der Wahrheit fortführen und riskieren, Helen damit zu verlieren, oder haben die beiden Frauen die Chance auf ein gemeinsames Happy End?
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Inhaltsverzeichnis
Weitere Bücher von Ina Steg
Danksagung
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Ina Steg
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Weitere Bücher von Ina Steg
Letzte Zutat Liebe
Eine Diebin zum Verlieben
Alles nur Kulisse
Danksagung
Ich danke meiner Lektorin Jenny Spanier von Herzen für ihre geduldige und mutmachende Unterstützung. Ihre vielen schönen Ideen haben die Geschichte mit Sanftheit und Charme bereichert.
Dem Ylva-Team danke ich für die Hingabe, so viel Kraft in jedes Buch zu stecken, bis alle Teile verschmelzen.
Liebe Leserin, lieber Leser, ich danke dir für die Möglichkeit, meine Geschichten mit dir teilen zu können und für deine Neugierde, sie zu lesen. Was für ein wunderbares Abenteuer.
Widmung
Für
Anna und Jess
(…ever…)
Kapitel 1
Zoe betrachtete den blinkenden Weihnachtsstern in dem Fenster hinter ihrer Chefin. Jedes Jahr gab es einen neuen, mit noch mehr Farben und einer schnelleren Abfolge der Farbwechsel.
Während sie auf Sandys Reaktion bezüglich ihres Artikels wartete, schmiedete Zoe einen Plan, wie sie den Stern kaputtmachen könnte.
Es würde aus Versehen passieren. Durch ein einfaches Missgeschick, wie ein umgeworfenes Wasserglas oder ein Stolpern über das Kabel.
Zoe betrachtete die Schnur. Das Kabel hing von der Fensterbank hinab und verschwand hinter dem Sideboard, das sich hinter Sandys Rücken befand. Sie kannten sich zwar bereits seit zehn Jahren, doch es gab gerade leider keinen überzeugenden Grund, warum sich Zoe hinter dem Schreibtisch ihrer Chefredakteurin aufhalten sollte.
Blau, Hellgrün, Rot, Gelb, Pink.
Ganz Frankfurt schien momentan in diesen Farben zu blinken.
Warum hingen die Leute überhaupt ständig Dinge in die Fenster? Schließlich waren sie dazu gemacht, um hinauszuschauen und nicht, um von dem Kram, der sie zierte, eine Migräne zu bekommen.
Sandy atmete laut aus.
Das war kein gutes Zeichen.
Wenn sie ihre Lesebrille von der Nase zog und lächelte, konnte Zoe beruhigt sein.
Nun schaute Sandy sie über den Rand der Brille hinweg an, zog sich diese von der Nase und legte sie auf den Tisch.
Na also, geht doch.
Zoe lächelte.
»Toll, dass der Artikel schon fertig ist, obwohl wir erst gestern Morgen beim Sonntagsdienst darüber gesprochen haben.« Sandy fuhr sich durch ihre kurzen Haare und gab so etwas wie ein glucksendes Kichern von sich. »Es war eine großartige Idee, mit den hohen Temperaturen im Sommer zu beginnen, die den Weinreben ihre Süße verleihen und somit auch den Geschmack des Glühweins prägen, um dann darauf zu verweisen, dass eben diese Temperaturen nun dazu führen, dass er auf den Weihnachtsmärkten kaum verkauft wird. Brillant.« Sandy neigte sich vor. »Wie hast du gestern noch die Winzerin ans Telefon bekommen?«
»Beim Weinfest vor zwei Jahren habe ich ihr unsere Verlegerin vorgestellt. Seitdem bestellt Christa wohl regelmäßig einige Kisten bei ihr und beschenkt damit ihre Geschäftspartner und Kollegen.«
Sandys Blick huschte kurz zu ihrem Garderobenschrank.
Zoe lächelte, weil sie wusste, dass sich darin auch einige der Flaschen befanden. »Als wir uns bei einem weiteren Termin mal sahen, gab sie mir ihre private Handynummer.«
Sandy warf noch mal einen Blick auf den Bildschirm. »Es ist gut, etwas über die verschiedenen Meinungen der Glühweinverkäufer zu lesen und wie sie versuchen, die Verluste aufzufangen. Die Idee des einen, Glühweintrinken bei den warmen Temperaturen als gesunde Schwitzkur zu verkaufen, ist zwar ein wenig schräg, aber es scheint ja zu funktionieren. Du musst gestern Abend noch lange unterwegs gewesen sein, um die vier Märkte abzuklappern.«
Zoe winkte ab. »Abends ist die Stimmung doch viel schöner.«
»Sollte dich etwa der Geist der Weihnacht gepackt haben?«
Zoe ignorierte die Bemerkung. »Kann der Artikel morgen so rausgehen?«
Sandy nickte. »Wir lassen ihn in der Länge. Falls du gerade noch Artikel oder Meldungen in Bearbeitung hast, wäre es gut, wenn du diese gleich fertigstellst oder überlegst, ob du sie jemandem übergibst. Christa will dich, Robert und Daniel in einer Stunde im Konferenzraum sprechen. Es geht um einen größeren Auftrag über die Feiertage. Ich habe die Besprechung schon im Teamkalender eingetragen.«
Schlagartig wurden ihre Hände kalt. Zoe überlegte. Als Verlegerin vergab Christa selten Aufträge direkt an die Journalisten. Meistens geschah das nur über die Chefredakteure und -redakteurinnen der Haupt- und Lokalredaktionen, wie Sandy. »Weißt du, worum es geht?«
Sandy lächelte kaum merklich. »Ja, aber ich kann erst mal nur sagen, dass dieser Auftrag eine gute Chance für dich wäre. Du weißt ja …«
Zoe nickte und bedeutete Sandy somit, dass sie nicht weitersprechen musste.
Schlagartig erinnerte sie sich an ihr Gespräch vor einem halben Jahr. Im Laufe des kommenden Jahres sollten die Stadtteilredaktionen zusammengelegt und Stellen abgebaut werden.
Zoe war zwar seit zehn Jahren dabei, aber sie war nicht verheiratet, hatte keine Kinder, momentan noch nicht mal eine Freundin, und stand somit ganz oben auf der Liste.
Mit ernster Miene sah Sandy sie an. »Kommst du nach dem Termin vorbei und sagst mir, wie es gelaufen ist?«
»Ja, natürlich.«
Zoe stand auf und verabschiedete sich. Während sie zurück in das Hauptbüro lief, durchforstete sie gedanklich ihre To-do-Liste. Es gab nur noch ein paar Meldungen, die sie beenden musste.
Die Nervosität hatte nun ganz von ihr Besitz ergriffen und ihr Herz schien schneller zu schlagen. Im Büro blieb sie stehen und atmete tief ein und wieder aus.
Es duftete nach Zimt und Kaffee.
Ob Robert auch nervös war?
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Für einen Moment verweilte er auf den beiden Plätzchentellern, die bereits wieder fast leer waren. Manchmal dachte sie, es arbeiteten nicht fünfzehn Leute in diesem Büro, sondern als käme jeder der hundertzehn Mitarbeiter der Hauptredaktion ständig an diesen Tellern vorbei.
Zucker wäre jetzt allerdings nicht verkehrt.
Sie ging auf die Plätzchenreste zu und schaute zu den gegenüberliegenden Tischen. Nur zwei waren besetzt. Robert war nicht an seinem Platz. Sie griff nach einem Spekulatius und ging an ihren Schreibtisch. Auch ihre Bürohälfte war gerade fast verwaist.
Zoe mochte die Vorweihnachtszeit nicht, denn es war zwar sehr viel zu tun, aber im Großraumbüro herrschte trotzdem eine trügerische Ruhe, da immer mindestens ein bis zwei Kollegen krank waren, sich bereits im Weihnachtsurlaub befanden, oder eine der zahlreichen Veranstaltungen besuchten. Am Ende des Jahres gaben viele Unternehmen noch mal Pressekonferenzen, um über ihre Bilanzen und die Pläne für das neue Jahr zu sprechen. Auch wenn sie das laute Grundrauschen aus Telefonklingeln, Tippen und Stimmengewirr auch jetzt wieder sehr vermisste, war es ihr doch ganz recht, dass die Chance dadurch geringer war, auf den bevorstehenden Termin angesprochen werden zu können.
An ihrem PC öffnete Zoe die wenigen Dokumente, die sie noch bearbeiten musste, feilte an den Formulierungen und ergänzte einige Angaben.
Zehn Minuten vor der Videokonferenz ging Zoe in den Besprechungsraum. Sie öffnete ein Fenster, schaltete den Beamer ein, fuhr den Laptop hoch, klickte auf den Link im Kalendereintrag und legte ihren Notizblock vor sich ab.
Nach einigen Augenblicken erschien Daniels kantiges Gesicht in dem Fenster rechts unten in der Ecke. »Hi. Kannst du mich gut hören und sehen?«
Zoe hob die Hand. »Hey, ja, alles gut, du mich auch?«
Er hob den ausgestreckten Daumen in die Höhe.
»Wie ist die Stimmung im Westen der Stadt?«, fragte Zoe aus Höflichkeit.
»Das übliche Weihnachtschaos. Dank des kleinen Politik-Skandälchens hatte ich aber genug zu tun und konnte mich vor ein paar allzu festlichen Terminen drücken.«
»Ich habe deinen Artikel gelesen. Klasse Sache.«
Daniel grinste und zeigte dabei seine perfekten weißen Zähne, von denen Zoe sicher war, dass er sie bleichen ließ.
Zoe hatte Daniels Artikel nicht gelesen.
Ihm war vor einer Woche eine besondere Sensation gelungen, weil er die Verwicklungen eines Bezirksbürgermeisters in einen Umweltskandal aufgedeckt hatte.
Es war eine Minute vor zwölf. Robert kam herein und warf sich auf den Stuhl. »Tach! Hatte noch ein Telefonat.«
Christas Bild erschien in der Mitte des Bildschirms.
Sie begrüßten sich.
»Es geht um eine Reportage über eine norwegische Firma. Sagt euch der Name Georg Amundsen etwas?«
Amundsen. Der Name kam Zoe bekannt vor. Erinnerungen stoben durcheinander, bis sich zwei klar herauskristallisierten. »Eine Straße in Bockenheim ist nach ihm benannt. Und gab es nicht vor ein paar Wochen einen Nachruf in unserem Lokalteil auf ihn?«
Christa hob ihren Zeigefinger. »Genau. Er ist vor drei Monaten im Alter von zweiundsechzig Jahren sehr plötzlich verstorben. Unser Korrespondent in Oslo kümmerte sich um den Nachruf. Er hatte dafür Kontakt mit einer Pressesprecherin des Unternehmens. Nun wird seine Tochter die Firma übernehmen. Uns erreichte eine Mail von ihr. Da sie das Unternehmen zukünftig auf dem deutschen Markt wieder stärker positionieren möchte, fragte sie nach einer möglichen Berichterstattung unsererseits. Sie fände es eine gute Idee, zunächst in ihrer ehemaligen deutschen Heimatstadt wieder auf die Firma aufmerksam zu machen.«
Christa trank einen Schluck, bevor sie weitersprach. »Die Chefredaktion ist auf mich zugekommen, denn meine Familie war damals mit den Amundsens eng befreundet. Georg Amundsen und seine Frau kamen in den Siebzigerjahren nach Deutschland und bauten hier einen Zweig des norwegischen Familienunternehmens auf. Indem er andere Geschäftsleute überredete, sich ebenfalls in der damals noch recht unbekannten Einkaufsstraße anzusiedeln, wurde der Stadtteil Bockenheim innerhalb weniger Jahre in der ganzen Stadt sehr beliebt.«
Christas Gesichtsausdruck wurde weicher. »Er baute Spielzeugfiguren aus Holz. Es waren ganz besondere Stücke und bereits nach einigen Jahren waren es begehrte Sammlerobjekte. Ich habe meinen Kindern damals auch welche geschenkt.« Sie räusperte sich. »Ende der Achtziger brachen er und seine Frau mit ihrer Tochter hier plötzlich alle Zelte ab und gingen zurück nach Norwegen. Sie blockten danach jeden Kontaktversuch ab, selbst von guten Freunden. Ich habe mir den Nachruf auf Georg Amundsen angesehen und mich daraufhin mit unserem Korrespondenten unterhalten, denn diesen Teil der Vergangenheit hat er in seiner Story nur knapp ausgeführt.«
Christa blickte auf ihre Notizen. »Er erzählte mir, dass sein Interview mit der Pressesprecherin sehr zäh gewesen wäre. Sie wollte kaum etwas über Amundsens Zeit in Deutschland erzählen, sondern versorgte ihn nur mit Eckdaten. Er hat daraufhin noch ein Telefonat mit Amundsens jahrelangem Stellvertreter geführt. Dieser habe nicht sehr glücklich über Helen als seine neue Firmenchefin gewirkt, sei aber auf detaillierte Fragen ebenfalls kaum eingegangen. Unser Kollege äußerte mir gegenüber Bedenken, umfangreich über die Firma zu berichten, ohne genau nachzuforschen, was damals passiert sei und ohne die aktuelle Stimmungslage vor Ort einzufangen. Aufgrund des damaligen Verhaltens von Amundsen teile ich seine Einschätzung. Mit der Chefredaktion habe ich deswegen vereinbart, dass die Story in unserer Reihe Persönlichkeiten der Region platziert werden könnte, jedoch ist der Inhalt noch sehr offen. Helen Amundsen geht davon aus, dass wir ein Firmenportrait schreiben werden, wir wollen aber, dass jemand von euch vor Ort recherchiert, wie es um die Firma steht und was es mit der Vergangenheit der Familie auf sich hat. Jemand mit starker Verbindung zu der Region und zu der ehemaligen Heimat der Amundsens wird das Vertrauen zu der Familie schneller aufbauen können als einer unserer Korrespondenten.«
Christa teilte ihren Bildschirm und öffnete den elektronischen Kalender. »Wir stehen unter Zeitdruck. Die offizielle Firmenübergabe ist jetzt am Freitag. Dann kommen die Feiertage. Wie ihr wisst, erscheint die Reihe jeden Freitag. Da wir wegen der offiziellen Übergabe noch den Bezug zu diesem Jahr brauchen, wird der Artikel also am 27. Dezember erscheinen. Insgesamt sind es acht ganze Tage vor Ort, am neunten geht es zurück. Das klingt erst mal viel, aber über die Feiertage und am Wochenende wird es sicherlich schwierig sein, Leute zu Interviews zu bewegen. Deswegen ist morgen Vormittag schon der Hinflug, damit noch Zeit für die ersten Recherchen ist. Am 26. kann der Artikel dann noch hier vor Ort besprochen werden.«
Zoe setzte an, etwas zu sagen, da entfuhr Robert ein lautes puh. Er rieb sich mit seinen ausgetreckten Fingern über die Stirn und war damit so theatralisch wie immer. »Interessante Sache, Christa. Aber, es tut mir leid, ich bekomme das beim besten Willen nicht hin. Ich habe den ganzen Freundeskreis in diesem Jahr zu mir eingeladen. Das kann ich nicht so kurzfristig absagen.«
Zoe schob ihren Oberkörper vor. »Ich kann das machen.«
»Ich habe auch Zeit«, sagte Daniel. Seine Augen hatten sich verengt. Er schaute Zoe genau ins Gesicht.
»Sorry, Daniel, aber ich denke, dass die Story gut zu meinem Schwerpunkt passt. Du bist Profi, wenn es um die Lokalpolitik geht. Ich war in meinen ersten fünf Jahren in der Redaktion im Zentrum für die dortigen Stadtteile eingesetzt und habe mir mein Netzwerk unter den Geschäftsleuten aufgebaut. Heute berichte ich auch noch oft von den Geschehnissen in Bockenheim. Ich denke, wenn jemand eine Firma und ihre Geschichten aus dem Stadtteil porträtieren soll, dann bringe ich dafür einiges mehr an Erfahrung mit als du.«
Daniel zog hörbar Luft ein. »Nun ja, das mag vielleicht stimmen. Aber ich habe bisher viel mehr Reportagen und Portraits geschrieben als du. Das wird dem Stil des Textes deutlich zugutekommen und die Leser erwarten bei dieser Reihe auch ein bestimmtes Niveau.«
Zoe schluckte, blickte dann aber genau in die Kamera. »Christa, ich denke, ich bin die bessere Wahl dafür. Ich kann zu Amundsens Tochter sicher schneller ein Vertrauensverhältnis aufbauen, weil ich viel über den Stadtteil weiß, in dem das Geschäft ihrer Familie damals war.«
Daniel schwieg.
Christa machte sich eine Notiz, dann blickte sie wieder in die Kamera. »Daniel, ich denke durch ihren Bezug zu dem Stadtteil ist Zoe dem ganzen Thema wirklich näher. Ich danke euch beiden trotzdem für das Gespräch und wünsche euch schöne Feiertage. Lasst Zoe und mich für die weiteren Details bitte allein.«
Daniel riss sich etwas zu abrupt seine Kopfhörer von den Ohren. Sein Bildausschnitt wurde schwarz und verschwand dann ganz.
Robert verabschiedete sich und verließ den Raum.
Zoe ließ ihre Hände unter den Tischen sinken und ballte sie einige Male zu Fäusten, damit das Blut wieder besser zirkulierte.
Christa lächelte. »Schön, dass es klappt, Zoe. Hattest du schon mal eine Story in der Reihe?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Na, umso besser. Sie ist bei den Lesern sehr beliebt.«
Und deswegen auch bei euch in der Chefetage.
»Ich freue mich sehr über diese Möglichkeit.«
»Das könnte eine große Story werden, wenn du herausfindest, was damals wirklich vorgefallen ist. Und wenn sich die Vermutungen des Kollegen bestätigen, dass die Übergabe an Helen bei einigen nicht auf Gegenliebe stößt, verbirgt sich dahinter vielleicht noch mehr zur Situation der Firma. Ich habe heute Vormittag mit Helen Amundsen telefoniert. Sie freut sich sehr, dass wir jemanden aus ihrer alten Heimatstadt vorbeischicken. Da sie auch ein persönliches Interesse an dem Artikel hat, ist sie hoffentlich redefreudiger als ihre Pressesprecherin.«
»Wieso war Amundsens Rückkehr nach Norwegen so ungewöhnlich?«
»Es geschah ganz plötzlich. Er hatte vorher nie davon gesprochen. Er schien sich in Deutschland sehr wohlzufühlen. Mir liegt persönlich etwas an der Sache. Mein Bruder und er waren gut befreundet. Für uns alle war das damals nicht nachvollziehbar, denn die Familie war bei allen sehr beliebt. Mein Bruder und auch etliche der Geschäftsfreunde von Amundsen haben versucht, noch mal Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber er hat nicht mehr darauf reagiert.«
»Verstehe. Dürfte ich dich deswegen vielleicht noch mal anrufen, wenn es nötig sein sollte?«
»Natürlich. Wenn du Sandy zwischendurch deine Ergebnisse schickst, setz mich bitte in cc. Ich habe die Reisestelle schon per Mail über die anstehenden Buchungen informiert. Melde dich dort bitte schnell wegen deiner persönlichen Daten.«
»Das mache ich.«
»God Jul«, sagte Christa auf Norwegisch.
»Frohe Weihnachten.«
Christas Gesicht verschwand von der Bildfläche.
Eilig erledigte Zoe die nötigen Handgriffe, damit sie den Raum verlassen konnte, und klopfte danach an Sandys Tür. Sie berichtete ihr von dem Ergebnis des Gesprächs. Sie wünschten sich schöne Feiertage und Zoe hastete zu ihrem Telefon, um mit der Reisestelle zu reden.
Erst im Gespräch, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass der Flug nach Oslo um zwölf Uhr gehen würde, wurde ihr bewusst, was gerade passierte. Sie flog morgen nach Norwegen.
Und nicht nur das, sie bekam die Chance, einen Artikel abzuliefern, an dem nicht nur die Verlegerin ein persönliches Interesse hatte, sondern der sie auf der Liste mit den Kanditen für die Kündigungen hoffentlich einige Positionen nach unten rutschen ließ.
~ ~ ~
»Es tut mir wirklich leid, aber das ist eine tolle Gelegenheit für mich. Vor allem im Hinblick auf den Stellenabbau im kommenden Jahr.«
Zoe fiel es nicht leicht, in ihrer Stimme einen Grundton des Bedauerns mitschwingen zu lassen, während ihre Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen waren. Letztendlich war sie froh, dem Kaffeetrinken und Abendessen am 24. Dezember im Kreis ihrer Familie zu entkommen, auch wenn sie das vor ihrer Mutter natürlich nie zugeben würde.
Diese zog nun scharf die Luft ein. Das Geräusch drang unangenehm durch den Lautsprecher des Handys. »Hast du dich in den letzten Jahren nicht schon genug bewiesen? Du nimmst ständig Abend- und Wochenendtermine wahr, über die du dann noch nicht mal schreibst.«
Zoe knibbelte an der Palme auf dem Küchenfensterbrett. Sie hatte es aufgebeben, ihren Eltern zu erklären, wie wichtig das Networking für sie war und dass sie dafür nun mal Zeit investieren musste. Das Verlangen nach einer Zigarette keimte in ihr auf. Die ersten drei Monate, die angeblich am schwersten waren, dauerten bei ihr nun schon zehn.
Ihr Vater brummte im Hintergrund »Lass das Kind«.
Wenn es um ernste Themen ging, schaltete ihre Mutter immer den Lautsprecher an und störte Paps damit bei seinen abendlichen Nachrichtensendungen. An seinem Ton konnte sie erkennen, dass er auch diesmal nicht sehr erfreut darüber war.
»Du kannst uns doch über die Feiertage nicht mit Albert allein lassen. Du bist die Einzige, die ihm die Stirn bieten kann.«
Das war also die größte Sorge ihrer Mutter? Na toll.
Alberts breites Gesicht mit dem Hippster-Bart erschien vor ihrem inneren Auge und seine laute Stimme ertönte in ihren Ohren.
Der Freund ihrer Schwester gehörte nun schon seit drei Jahren zur Familie. Er war ein netter Typ, aber er redete viel und da alle in ihrer Familie eher schweigsam waren, war er bei jedem Treffen fast immer der Alleinunterhalter.
Zoe tat das, was sie gut konnte und weswegen sie Journalistin geworden war: Sie fragte viel und hörte dann zu. Vielleicht erweckte das bei ihrer Mutter den Anschein, sie führe mit ihm ein wirkliches Gespräch. Eigentlich war sie es schon seit langem leid, sich bei jedem Treffen über mehrere Stunden auf Albert zu konzentrieren, damit er sich in die Familie integriert fühlte, während alle anderen unter fadenscheinigen Begründungen regelmäßig erst den Tisch und dann sogar den Raum verließen, wenn er in einen seiner Monologe verfiel. Und gerade an Weihnachten würde es ihr reichen, in die Lichter des Tannenbaumes zu starren und zu schweigen.
»Bist du noch dran?«
Zoe schreckte auf und riss dabei ein Blatt der Palme ab. »Ach Mutti, Albert vergöttert euch. Singt einfach ein paar Lieder mehr, dann unterbrecht ihr ihn zwischendurch.«
»Weihnachten in einem fremden Land. Macht dir das denn gar nichts aus?«
»Es ist doch nur dieses eine Mal. Wir holen das nach.«
»Weihnachten kann man nicht nachholen. Hast du es Katharina schon gesagt?«
»Ich schreibe ihr eine E-Mail.«
»Ihr immer mit euren E-Mails. Ruf sie an.«
»Ich schreib ihr jetzt eine E-Mail und rufe sie an, wenn ich angekommen bin.«
»Soll ich dir was vom Kuchen einfrieren?«
»Nein, mach dir keine Umstände. Ich melde mich. Hab euch lieb.«
»Wir haben dich lieb«, sagten ihre Mutter und ihr Vater im Chor.
Sie drückte den roten Knopf auf ihrem Handy und atmete laut aus.
Geschafft.
Zoe gab der Palme einen großen Schluck Wasser und öffnete anschließend ihren E-Mail-Account, in der Hoffnung, dass Frau Amundsen auf Zoes Frage geantwortet hatte. Sie hatte wissen wollen, ob sie bereits morgen am späten Nachmittag bei ihr in der Firma vorbeischauen könnte. Noch nicht mal ganze neun Tage, inklusive eines Wochenendes und eines Feiertages waren wenig Zeit. Sie musste jede Stunde nutzen.
Ja, sehr gut!
Sie öffnete die Antwort in ihrem Postfach.
Guten Tag Frau Halberg,
kommen Sie gern vorbei, nachdem Sie gelandet sind. Die Adresse lautet:
Tindeveg 12b, Drammen
Mit freundlichen Grüßen
Helen Amundsen
Hoffentlich sprach sie mehr, als sie schrieb, sonst würden das sehr zähe Tage werden.
Zoe druckte die Seite aus und begann ihren Koffer zu packen.
Kapitel 2
Zoe betrachtete die dicken bauschigen Wolken vor dem Flugzeugfenster und riss sich gleich wieder von dem schönen Anblick los. Sie durfte keine Zeit verlieren. Der Flug nach Oslo würde zwei Stunden und fünfzehn Minuten dauern, dann musste sie noch mal knapp dreißig Minuten mit dem Zug bis nach Drammen fahren.
Sie klappte den Laptop auf und hoffte, dass sie im Internet brauchbares Material über die Firma finden würde. Lieber hätte sie vorher noch das Zeitungsarchiv durchforstet, denn das war der erste Ort, an dem sie meistens mit ihren Recherchen begann, wenn es um ältere Informationen ging. Aber dafür hatte sie gestern nun wirklich keine Zeit mehr gehabt.
Sie konnte Helen Amundsen jedoch unmöglich unvorbereitet gegenübertreten. Also begann sie, die Suchmaschine mit den wenigen Schlagwörtern zu füttern, die sie zur Verfügung hatte.
Als erstes tauchte die Internetseite des Spielzeugfigurenmachers auf. Zoe stellte diese auf Deutsch um. Der Header war mit einer Holzmaserung unterlegt und in Lindgrün war zu lesen:
Amundsen – Holzfiguren für Jedermann
Holen Sie sich einen Glücksgefährten nach Hause
Die Startseite war minimalistisch und in hellen Farben gestaltet. Es gab wenige Fotos.
Zoe klickte auf »Über uns« und begann zu lesen.
~ ~ ~
Als der Flieger zum Landeanflug in Oslo ansetzte, hatte Zoe gerade mal eine Seite mit Notizen gefüllt. Viel war das nicht.
Das Flugzeug tauchte unter die Wolken ab. Regen lief an der Scheibe entlang. Unter ihr verschwammen das tiefdunkle Grün der Wälder und die weißen Spitzen der Bergketten mehr und mehr mit dem Licht der Regenmasse und dem graumilchigen Schein des Himmels. Nun kamen die Lichtpunkte der Stadt und des Flughafens in ihr Blickfeld.
Zoe sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf.
Als sie beim Ausstieg über die Landebahn auf den Flughafen zulief, spürte sie die eisige und klare Luft in ihren Lungen.
Während sie im Gebäude auf ihr Gepäck wartete, schaute sie durch die großen Fenster über ihrem Kopf erneut in den Himmel. Diese Farbe erinnerte sie an das Zwielicht an manchen Herbsttagen in Deutschland, kurz bevor die Nacht hereinbrach. Dass die Sonne hier den ganzen Tag nicht zu sehen sein sollte, beunruhigte sie. Ihr Kaffeekonsum war bereits jetzt viel zu hoch.
Sie lief durch die Eingangshalle, tauschte an einem der Wechselautomaten Euro in Kronen und folgte dann den Schildern zum unterirdischen Bahnsteig. Das Ticket hatte sie gestern Abend schon online buchen können.
Als der Zug einfuhr, betrachtete Zoe ihn ausgiebig. Das Design gefiel ihr. Alles war abgerundet und bunt und erinnerte sie an das Aussehen der Autos in dem Film Cars.
Die Sitze waren dicker als in Deutschland. Sie verstaute ihr Gepäck und ließ sich in das weiche Material sinken.
Bald geschafft.
Der Zug fuhr los und aus dem Gebäude hinaus. Erneut prasselte Regen gegen die Scheibe und Zoe konnte kaum etwas von der Umgebung erkennen.
Für einen Moment war sie versucht, die Augen zu schließen, doch sie musste sich weiter vorbereiten.
Erneut klappte sie ihren Laptop auf und setzte ihre Recherchen fort.
Als sie in Drammen ankam, hatte der Regen nachgelassen. Auf dem Bahnsteig überprüfte sie den Ausdruck mit den Reisedaten und nahm dabei den Duft des Windes wahr. Er roch nach Kiefernnadeln und die feinen Regentropfen hinterließen auf ihrer Kleidung einen Dufthauch von Schnee.
Zoe schaute in den Himmel.
Dicke graue Wolken zogen über sie hinweg. Ob es bald schneien würde?
Sie lief durch das Gebäude zu den Bussteigen und drehte sich um. Das Bahnhofsgebäude war in einem satten Gelb gestrichen.
Was für eine schöne Farbe für einen Empfang von Gästen.
Sie wandte sich den Bussteigen zu und ging weiter. Der Bus mit der Nummer vierzehn hielt soeben an.
Zoe stieg ein.
»God dag.« Auf Englisch fragte sie, ob das die richtige Buslinie sei und hielt dem Fahrer den Zettel mit der Adresse der Pension hin. Er nickte ihr zu und sagte in gebrochenem Englisch, dass die Haltestelle genauso wie die Straße hieß. Er nannte ihr den Preis von sechsunddreißig Kronen.
Zoe bezahlte, suchte sich einen Sitz vor dem auch noch genügend Platz für ihren Koffer war, setzte sich und atmete laut aus.
Ihr Körper kribbelte angenehm. Vorfreude und Nervosität vermengten sich zu einem belebenden Gefühl.
Der Bus startete und Zoe erlaubte es sich nun, die Umgebung zu betrachten.
Die Straßenzüge gaben kein einheitliches Bild ab. Holzhäuser in Blau und Rot, mit weißen Giebeln in einem altmodischen und gemütlichen Stil, wechselten sich mit kastenförmigen grauen Betonblöcken ab, deren Wände Graffiti zierte. Immer wieder tauchten dazwischen futuristisch angehauchte Gebäudekomplexe mit gold-schwarz glänzenden Türen und langen rechteckigen Fenstern auf.
Der Bus fuhr aus der Innenstadt hinaus und bog nach knapp zehn Minuten auf schmalere Straßen ab. Ihre Haltestelle befand sich in einer Straße mit alten Bäumen.
Zoe stieg aus und orientierte sich an der ersten Hausnummer, die sie sah. Sie würde noch ein paar Schritte gehen müssen.
Beim Laufen las sie sich auf ihrem Handy einige Fakten zu der Stadt durch. Sie hatte über achtzigtausend Einwohner und galt als schnellst anwachsende Stadt der Region. Mitten hindurch zog sich der Fluss Drammenselva, während an den äußeren Rändern dichte Bergwälder begannen.
Zoe blickte auf und bemerkte, dass sie an der Pension angekommen war. Sie blieb davor stehen und ließ das hellgrün gestrichene, schmale Gebäude für einen Moment auf sich wirken. Grelle, kleine Lampen zierten die Eingangstür. Zwei mit roten Schleifen geschmückte Tannenbäume in Kübeln bogen sich im Wind.
Sie drückte die Tür auf und betrat den Eingangsbereich, der mit einem dicken, dunkelgrünen Teppich ausgelegt war. Es roch nach frischer Farbe und Zitronenputzmittel. Es schien kürzlich renoviert worden zu sein. Der Teppich zeigte kaum Abnutzungsspuren. Geradeaus ging es direkt auf den unbesetzten Empfang zu, auf dem eine Vase mit Tannengrün stand.
»Hello?«
Auf dem Tresen lag ein Umschlag. Zoe neigte sich darüber und sah, dass ihr Name darauf stand. Sie öffnete ihn und fand einen Schlüssel und einen Brief. In krakeliger Handschrift stand dort ein Willkommensgruß, ihre Zimmernummer, die Frühstückszeiten und dass man sich morgen sehen würde. Die Besitzerin, Mary Nielsen, war bei einem Termin.
Während Zoe zu ihrem Zimmer lief, betrachtete sie die Bilder im Flur. Polarlichter und schneebedeckten Wälder waren darauf zu sehen. Sie öffnete ihr Zimmer mit der Nummer fünf und trat in den viereckigen Raum.
Es gab einen breiten, samtigen Sessel, einen rechteckigen, altmodischen Tisch und einen Flachbildfernseher an der Wand.
Zoe stellte den Koffer ab und zog ihre Wechselklamotten sowie den Waschbeutel daraus hervor. Sie würde später auspacken, jetzt wollte sie sich schnell frisch machen, ihre Kameraausrüstung checken und ein Taxi bestellen. Je eher sie wusste, mit wem sie es in den kommenden Tagen zu tun haben würde, desto besser würde sie die ganzen Eindrücke zulassen können.
~ ~ ~
Zoe blickte aus dem Taxifenster hinaus nach oben. Seit zehn Minuten fuhren sie nun weiter stadtauswärts. Hier und da konnte sie zwischen den Häusern einen Blick auf die Hänge der Berge mit ihren Wäldern erhaschen.
Sie fuhren durch zwei Straßen, in denen die Häuser nun sehr weit auseinanderstanden und sehr individuell gestaltet waren. Zoe sah welche mit sonnenblumengelben Fensterläden und eines mit blauen Dachziegeln.
Das Taxi hielt vor einer massiven, hellbraunen Holzhütte, aus deren Schornstein feine Rauchschwaden in den Himmel stiegen. Kein weiteres und vor allem größeres Gebäude war in der Nähe zu sehen. Hatte Helen Amundsen ihr nicht die Adresse des Betriebes gemailt?
»Sind wir schon da?«
»Sie wollten doch zum Tindeveg, oder?«
Erneut prüfte sie die Angaben auf der ausgedruckten E-Mail, nickte, bezahlte und stieg aus.
Das Pfeifen des Windes und das Jaulen von Hunden waren zu hören.
Sie schaute dem Fahrer hinterher, bis er um die Kurve gebogen war.
Eine starke Windböe traf auf Zoes wetterempfindliche Haut. Hastig nestelte sie an ihrem Schal und zog ihn bis über das Kinn, dann schaute sie um sich. Neben dem Haus standen knorrige Bäume und wildgewachsene Büsche. Dahinter war ein umzäuntes Gelände zu erkennen, ein Garten oder Hof.
Das orange-gelbe Licht der Straßenlaternen schimmerte auf dem regennassen Asphalt. Das nächste Haus erkannte sie bloß als kleinen, leuchtenden Fleck in der Ferne. Der Gehweg zum Haus war nicht durch einen klassischen Bürgersteig abgetrennt. Man konnte direkt auf die Stufen des Hauses zugehen. Vielleicht hätte sie den Taxifahrer bitten sollen zu warten, bis sie die Tür erreicht hatte. Wer wusste schon, was sie dahinter erwartete.
Das Gejaule wurde lauter.
Zoe zuckte zusammen, dann lachte sie auf.
Meine Güte, was bin ich nur für ein Großstadt-Pflänzchen.
In den Büschen hingen Lichterketten, die feine Lichtpunkte auf das helle, gemaserte Holz der Veranda und auf die Hausfassade warfen.
Zoe ging vier Stufen empor. An der Tür hing ein Tannenzweig mit silberner Schleife, auf die das Wort Welcome gestickt war. Auf dem Schild über der Klingel stand der Name Amundsen.
Also gut.
Gerade wollte sie auf den glänzenden Klingelknopf drücken, als die Tür aufgezogen wurde.
Vor ihr erschien eine Frau, die sie fast um einen Kopf überragte. Zoe blickte ihr in das rundliche Gesicht, welches von rotbraunen, kinnlangen, gelockten Haaren umrahmt wurde. Sie musste ein paar Jahre älter sein als Zoe, vielleicht Anfang vierzig?
»Hallo, Sie müssen Frau Halberg sein. Die Hunde haben Ihre Ankunft verraten. Ich bin Helen, kommen Sie doch bitte rein.«
»Danke.« Zoe trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
Der große Raum war in warmes, helles Licht getaucht. Auf den Fensterbänken waren zahlreiche Kerzen in geschwungenen Holzständern verteilt, dazwischen standen ein paar rote Weihnachtssterne. An der ihr gegenüberliegenden Wand gab es einen offenen Kamin, in dem ein Feuer loderte, davor stand eine Couch. Links befand sich eine offene Küchenzeile mit einem Tisch und zwei Stühlen.
Die Geräusche der Hunde waren nun dumpfer, aber immer noch zu hören. Es duftete nach Kerzenwachs und Kaminfeuer. Innerhalb weniger Augenblicke wurden ihre Schultern ganz leicht und die Strapazen der letzten Stunden schienen von ihr abzufallen.
Helen streckte ihr die Hand entgegen. »Wäre es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich habe in den letzten Jahren wenig Deutsch gesprochen und mein Sie wird dadurch sowieso oft aus Versehen zum Du.«
Zoe griff nach Helens Hand. »Ja, natürlich. Ich bin Zoe.«
Feine Schwielen schmiegten sich an ihre weiche Handfläche. Helens Händedruck war stark und dennoch sanft.
Sie mochte es, wenn jemand sich auf den Händedruck konzentrierte und ihn nicht als etwas beiläufiges abtat.
Zwei Menschen berührten sich für einen Moment.
Zoe kam es so vor, als schien Helen ihre Hand einige Augenblicke länger, als es normalerweise üblich war, festzuhalten. Dabei musterte sie Zoes Gesicht.
Zoe war das nicht unangenehm, sie nutzte den gewonnenen Moment und sah Helen in die dunkelbraunen Augen. Neugierde und Freundlichkeit lagen darin, wenngleich die feinen Ränder darunter von einer stressigen Zeit erzählten.
Helen löste ihre Finger und strich dabei kurz mit ihren Fingerkuppen über Zoes Handinnenfläche.
Ihre Haut kribbelte angenehm.
Sie musste sich wieder fangen. »Ich möchte dir noch mein Beileid aussprechen.«
»Vielen Dank.« Für einen Moment verdunkelten sich Helens Augen, dann streckte sie ihren Arm aus. »Gib mir bitte deine Jacke, ich hänge sie auf.«
Zoe stellte die Kameratasche ab, legte ihren Notizblock und den Stift darauf und zog ihre Jacke aus.
Helen nahm diese entgegen und lief einmal quer durch den Raum. Links neben dem Kamin befand sich eine weitere Tür, die vermutlich zu dem dahinterliegenden Hof führte, daneben hingen Garderobenhaken.
Zoe betrachtete Helen. Sie hatte ein dunkelrotes T-Shirt an, welches gut zu ihrer Haut passte. Zahlreiche feine Sommersprossen zierten ihre Hände und die Arme. Ihr ganzer Körper hatte rundliche Formen. Sie trug eine enge Jeans, die ihren Po besonders zur Geltung brachte.
Du meine Güte.
Sie sollte ihr nicht auf den Hintern schauen, sie hatte hier schließlich einen geschäftlichen Termin.
Zoe drückte ihren Rücken durch, um ihre Körperspannung und damit auch ihren Fokus wieder zu mobilisieren, was in dieser gemütlichen Atmosphäre eine wirkliche Herausforderung war.
Helen hängte die Jacke auf und kam wieder zu ihr.
Zoe griff nach dem Notizblock und dem Stift. »Ich muss gestehen, ich bin ein wenig irritiert. Ich dachte, wir treffen uns an deinem Arbeitsplatz.«
Helen fuhr sich über den Nacken. »Du kommst doch gerade erst aus dem Flieger, deshalb dachte ich mir, es wäre ganz gut, dich erstmal hierher zu bitten. Indirekt ist es auch mein zweites Büro.«
Sie drehte sich um und zeigte in die rechte Ecke des Raumes. Dort stand ein Schreibtisch, auf dem viele Notizbücher und kleinere Werkzeuge lagen. Ein abgewetzter Lederstuhl verdeckte einen Teil der Sicht. Ein Regal mit Ordnern reichte fast bis zur Decke und das freie Stück Wand war übersät mit Bleistiftskizzen auf kleinen Zetteln.
Zoe kniff die Augen zusammen, doch sie konnte nicht genau erkennen, was sie zeigten, dafür war die Ecke zu schwach beleuchtet.
»Es ist auch mein kleines privates Firmenarchiv. Ich hänge an vielen Erinnerungen. Im Betrieb wären sie sicher schon der Zensur unserer Archivarin zum Opfer gefallen.«
Plötzlich wurde das Jaulen der Hunde lauter.
»Meine Hunde sind sehr neugierig auf Gäste. Sie werden wohl so lange keine Ruhe geben, bis sie wissen, wer hier im Haus ist.«
»Du kannst sie ruhig reinlassen.«
»Das würde sehr helfen. Sie sind zu jedem sehr freundlich. Glaub mir, ich habe mal einen Fremden auf dem Grundstück erwischt, dem sie ihre Stöckchen brachten.«
Zoe schmunzelte.
Helen war zur Tür gelaufen, drehte sich noch mal zu ihr und sah sie fragend an.
»Es ist wirklich in Ordnung für mich.«
»Alle auf einmal?«
Zoe nickte. Plötzlich überkam sie doch ein mulmiges Gefühl. »Wie viele Hunde sind es denn?«, rief sie Helen nach.
»Vier.«
Vier. Das ist okay.
»Also, vier Große und fünf Welpen.«
Neun?
Mehrere Hunde drängten sich gleichzeitig durch den gerade geöffneten Spalt und stießen die Tür dann mit voller Wucht ganz auf.
Huskys!
Zoe legte ihre Utensilien wieder weg und streckte die Handflächen aus. »Wow! Hey, alles klar?«
Die Huskys schnüffelten und stupsten Zoes Hände an, schmiegten sich an ihre Beine und bellten.
Zoe ging in die Hocke und wuschelte über ihre Köpfe. Im Raum roch es nun nach Regen und Erde. Ein Husky schob seine Schnauze unter ihren Arm. Zoe kippte zur Seite und konnte sich gerade noch abfangen. »Langsam, ich bin ein Mädchen aus der Stadt und nicht ganz standfest.«
Helen lachte.
Zoe mochte diesen Klang. Helen war sicher eine Frau, mit der man über vieles lachen konnte.
»Das ist Armas. Sein Bruder Jarle, das ist der mit den beiden braunen Ohren, ist der Anführer des Rudels. Armas versucht, dieses Defizit mit Charme wettzumachen.«
Armas gab einen Ton von sich, der eine Mischung aus Jaulen und Bellen war. Er stupste sie mit dem Kopf an.
»Das gelingt ihm gut.« Behutsam kraulte Zoe seinen Nacken.
»Armas, gi lab!«, sagte Helen.
Armas hob seine Pfote.
Zoe nahm sie vorsichtig in ihre Hand und streichelte kurz darüber.
Durch das Gewusel aus Fell drang leises Fiepen hervor. Fünf Welpen waren zwischen den langen starken Beinen der erwachsenen Hunde zu erkennen.
»Wie alt sind sie?«
Helen antwortete nicht.
Zoe sah aus den Augenwinkeln, wie Helen sie betrachtete.
Sie wandte sich ganz zu ihr.
Täuschte sie sich, oder hatte Helen ihren Körper gemustert?
Helen sah sie überrascht an. »Ich … entschuldige … ich war in Gedanken. Was hast du gefragt?«
»Wie alt sind die Welpen?«
»Etwas über sieben Monate.«
Zoe gab sich Mühe, trotz ihrer Begeisterung noch einen professionellen Eindruck zu machen, und riss sich von den süßen Vierbeinern los. »War nett, euch kennenzulernen.«
Sie stand auf. Armas stupste sie in die Kniekehle. Zoe verkniff sich ein Lachen. »Dürfte ich deine Toilette benutzen?«
»Natürlich. Sie befindet sich dort, zwischen Küche und Schlafzimmer.« Helen zeigte neben die Küchenzeile. »Ich lasse die Bande in der Zeit wieder nach draußen. Sie wissen ja jetzt wer hier ist.«
Zoe schnappte sich ihre Handtasche, ging auf die ihr genannte Tür zu und hörte, wie Helen die Hunde durch Pfiffe und Rufe nach draußen lotste. Dann schloss sie die Tür hinter sich.
In dem weiß gefliesten und gestrichenen Raum hingen zwei Teelichthalter von der Decke. Die Kerzen darin warfen warmes Licht auf das Waschbecken. Zoe stützte sich auf die Keramik und betrachtete ihr Spiegelbild.
Ihre Wangen waren ganz rosig und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war eine seltsame, aber zugleich auch schöne Situation. Anstatt mit Helen durch ihre Firma zu gehen, stand sie nun in dem privaten Badezimmer dieser Frau, die eine sehr charmante Art an den Tag legte und obendrein noch sehr attraktiv war.
Stopp!
Wo kam dieser Gedanke her? Zoe schüttelte sich, als könne sie ihn damit loswerden. Dann atmete sie einige Male tief ein und aus, drehte den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über die Hände und Arme laufen. Es war vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie den persönlichen Teil heute hinter sich brachten und somit morgen nahtlos zu den Fakten übergehen konnten.
Zoe prüfte ihr Spiegelbild. Flink zog sie die tönende Creme aus ihrer Tasche, tupfte ein wenig davon auf die Kuppen ihrer Zeigefinger und verrieb diese auf ihren Wangen. Sie benutzte nur bei geschäftlichen Terminen etwas Make-Up, da sich ihre Wangen immer röteten, wenn sie sich unsicher fühlte oder aufgeregt war. Abschließend strich sie den langen Zopf glatt, dann ging sie zurück in den großen Wohnraum.
Helen kam soeben herein.
Zoe blickte ihr entgegen. Ein kalter Luftstrom wirbelte in das Zimmer und ließ sie erschaudern.
Helen schloss die Tür, zog die Jacke aus, hängte sie auf und betrachtete Zoe von oben bis unten. »Ich hoffe, du hast noch eine dickere Hose mitgebracht.«
Zoe schaute auf ihre Jeans. »Ich trage eine lange Unterhose darunter.«
Wieso erzähle ich Helen von meiner Unterwäsche?
»Die Jeans hält den Wind nicht ab und Regen und Schnee erst recht nicht. Du wirst ständig frieren.«
In Helens Stimme lag Fürsorge.
Zoe winkte ab. »Das wird schon gehen.«
Helen schmunzelte. »Hast du schon gegessen?«
»Ich hatte in der Pension einen kleinen Happen, nachdem ich eingecheckt habe.«
Helen zog eine Augenbraue hoch. »Aber den hast du doch nicht von Mary bekommen, oder?«
»Nein, ich hatte noch genügend Proviant mit. Aber wäre es denn so abwegig, wenn die Pensionsbesitzerin einem besonderen Gast aus Deutschland einen Willkommensgruß zubereitet?«
»Nun ja, da du schon eingecheckt hast, kann ich es dir ja sagen. Mary ist Geschäftsfrau durch und durch. Sie besaß vorher eine Autowerkstatt und wollte sich dann einer Aufgabe zuwenden, bei der sie auch ihre kulinarische Ader ausleben kann. Allerdings ist sie den Gästen an sich nicht besonders wohlgesonnen. Ich glaube, sie hat unterschätzt, wie viel sie in dem Beruf mit Menschen zu tun hat.«
Zoe lachte. »Das klingt nach einer interessanten Geschäftsidee, eine Pension ohne Gastfreundschaft. Hier werden Sie im wahrsten Sinne des Wortes Ihre Ruhe haben!«
Helen lachte ebenfalls.
»Mein Schlüssel lag in einem Umschlag. Ich habe sie noch nicht kennengelernt. Sie wird doch nicht zu streng mit mir sein, oder? Ich könnte mein Zimmer selbst putzen. Und beim Frühstück muss auch niemand mit mir reden. Auch wenn ich morgens eigentlich sehr gut gelaunt bin, könnte ich so tun, als sei ich ein Morgenmuffel.«
»Gib ihr einfach immer Trinkgeld, dann wird das schon klappen mit euch beiden.«
»In Deutschland gibt man Trinkgeld, wenn jemand nett war, aber ich bin natürlich bereit, mich den kulturellen Gegebenheiten anzupassen.«
»Sehr löblich. Dann darfst du meine Einladung zum Abendessen auch nicht ausschlagen.«
Erneut stieg Hitze in Zoes Wangen. Helen gab sich viel Mühe, damit Zoe sich wohlfühlte. »Vielen Dank für dein Angebot. Ich habe tatsächlich noch Hunger.«
»Gewöhn dich lieber daran. Durch die Kälte und die frühe Dunkelheit wird dein Körper ständig Energienachschub verlangen.«