Jolandas Reise in die Vergangenheit - Barbara Herrmann - E-Book

Jolandas Reise in die Vergangenheit E-Book

Barbara Herrmann

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Beschreibung

Nach dem Tod ihrer Mutter findet Jolanda in deren Nachlass eine Schatulle mit Briefen und Fotos. Ihre vermeintlich heile Welt stürzt ein, als sie erfährt, dass ihre verstorbenen Eltern gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Sie begibt sie sich auf die Reise in den Schwarzwald und nach Sizilien, um die Familiengeheimnisse ihrer Adoptivmutter zu lüften und ihre richtigen Eltern zu finden. Bei ihrer Suche tun sich ungeahnte menschliche Abgründe auf, die sich noch über Jahrzehnte bis in die Gegenwart auswirken. Eine Familie, die den strengen und althergebrachten Werten sowie den Vorurteilen gegenüber den italienischen Gastarbeitern zu Beginn der Sechzigerjahre Tribut zollen muss, auf diese Weise ihren inneren Zusammenhalt verliert und letztendlich daran zerbricht. Ein bewegender und spannender Roman, mit viel Emotionen und einer Prise Amore.

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Seitenzahl: 306

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Das Buch

Nach dem Tod ihrer Mutter findet Jolanda in deren Nachlass eine Schatulle mit Briefen und Fotos.

Ihre vermeintlichheile Welt stürzt ein, als sie erfährt, dass ihre verstorbenen Eltern gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Sie begibt sie sich auf die Reise in den Schwarzwald und nach Sizilien, um die Familiengeheimnisse ihrer Adoptivmutter zu lüften und ihre richtigen Eltern zu finden.

Bei ihrer Suche tun sich ungeahnte menschliche Abgründe auf, die sich noch über Jahrzehnte bis in die Gegenwart auswirken.

Eine Familie, die den strengen und althergebrachten Werten sowie den Vorurteilen gegenüber den italienischen Gastarbeitern zu Beginn der Sechzigerjahre Tribut zollen muss, auf diese Weise ihren inneren Zusammenhalt verliert und letztendlich daran zerbricht.

Ein bewegender und spannender Roman, mit viel Emotionen und einer Prise Amore.

Über die Autorin

Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Der Anruf

Der Abschied

Das Vermächtnis

Die Großeltern

Franco in Taormina

Helene in Palermo

Helene zurück im Schwarzwald

Jolanda in Berlin

Der Grosso-Clan in Palermo

Jolanda in Frankfurt

Jolanda im Schwarzwald

Albano in Palermo

Besuch aus Sizilien

Das neue Leben

Der Anruf

Jolanda fuhr ihren Wagen in die Tiefgarage des Apartmenthauses, in dem sie das Dachgeschoss voller Stolz ihr Eigen nannte.

Nachdem sie eingeparkt hatte, stieg sie aus, hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und griff im Kofferraum nach den zwei Einkaufstüten und ihrer Laptoptasche. Dann lief sie rasch zum Fahrstuhl, der sie mit einem eigens dafür vorgesehenen Schlüssel direkt in ihre Wohnung brachte.

Nach alter Gewohnheit und einem bis aufs i-Tüpfelchen festgelegten Ritual streifte sie noch auf dem Flur die Pumps von den Füßen, stellte die Handtasche auf der Kommode ab, zog die Kostümjacke aus und hängte sie sorgfältig auf einen Kleiderbügel an der Garderobe.

Dann brachte sie die Einkaufstüten in die Küche und verstaute die Frischwaren im Kühlschrank. Mit einem Glas Wein ließ sie sich auf das Sofa fallen und schloss müde die Augen.

Was für ein Tag! Sie hatte heute einen riesigen Deal an Land gezogen, einen Deal, der sie so gut wie sicher in ihrer beruflichen Karriere ganz nach oben katapultieren würde.

Der Gedanke, eine Unternehmensberaterin zu sein, der man in der Branche zukünftig großen Respekt zollen und die bei ihrem Arbeitgeber sicher bald eine Partnerschaft eingehen würde, entlockte ihr ein zufriedenes Lächeln.

»Geschafft, meine Gute! Du hast es tatsächlich geschafft«, flüsterte sie voller Selbstsicherheit und klopfte sich anerkennend auf die linke Schulter.

Allerdings hatte die Tatsache, so erfolgreich zu sein, ihren Preis, überlegte sie, und der war neben dem Verzicht auf Freizeit und enge Freundschaften eben auch, dass sie bewusst und rational – um nicht zu sagen geschäftsmäßig – vor zwei Jahren eine Beziehung mit ihrem Kollegen Elias eingegangen war.

Er war so etwas wie der Steigbügelhalter ihrer Karriere, und sie war sehr dankbar für seine Unterstützung.

Sogar das Zwischenmenschliche war ihrer Ansicht nach vollkommen in Ordnung und gestaltete sich nicht ganz so berechnend, wie man es bei einer rationalen Verbindung vermuten könnte.

Sie passten ganz gut zusammen, konnten sich aufeinander verlassen, hatten dieselben beruflichen Ansichten und Vorstellungen und bedienten sich dabei der gleichen Härte.

Beide liebten den Luxus, mochten edles Essen und legten großen Wert auf Designerklamotten und eine saubere, aufgeräumte Wohnung. Und was ganz wichtig war, sie verstanden sich auch im Bett. Zumindest glaubte Jolanda das.

Doch wenn sie ehrlich zu sich war, dann musste sie zugeben, dass sie keinen Vergleich und keinerlei Erfahrung in diesen Dingen hatte. Elias war ihr erster Mann und Liebhaber, sie fand das Zusammensein mit ihm nicht unangenehm, wusste aber auch nicht, ob es anders oder schöner sein könnte.

Das, was manchmal in Liebesfilmen im Fernsehen gezeigt wurde, von großen Gefühlen, Herzklopfen, Sehnsucht und Schmetterlingen im Bauch, war ihr alles fremd. Sie fühlte eher Zufriedenheit, Vertrauen und Verständnis sowie eine große Portion Sympathie für Elias – alles Attribute, die nach ihrem Dafürhalten von großer Wertschätzung und gegenseitigem Respekt zollten.

Mit dem Zusammenleben hielten sie sich bislang zurück. Jeder von ihnen hatte noch seine eigene Wohnung, weil keiner sein Zuhause aufgeben wollte und sie auch immer wieder ihre Auszeiten brauchten, besonders dann, wenn der jeweils andere gerade um die Welt flog, um Firmen zu retten oder auch zu vernichten, wobei Letzteres in der Regel überwog.

Die Gegensprechanlage summte. Jolanda stöhnte und erhob sich. Eigentlich erwartete sie niemanden.

»Ja, wer ist da?«

»Ich bin es, Gabriela«, rief ihr die immer gut gelaunte Nachbarin entgegen.

»Hast du keinen Schlüssel?«

»Doch, habe ich, aber ich habe die Hände voll. Mach endlich auf, ich möchte mit dir anstoßen.«

Jolanda seufzte und drückte den Türöffner. Wenige Minuten später stand Gabriela mit zwei Styroporbehältern vom Sushi-Restaurant in der rechten und einer Flasche Wein in der linken Hand vor ihr.

»Was gibt es denn zu feiern?«, wollte Jolanda wissen.

Gabriela strahlte sie an und schob sich an ihr vorbei ins Wohnzimmer.

»Ich bin heute befördert worden, ganz einfach.«

Jolanda nickte ihr zu und nahm ihr das Essen ab, um es am Tisch zu öffnen.

»Das passt, dann feiern wir zusammen. Ich habe heute einen Knaller-Abschluss hinbekommen. Meine Beförderung kommt bestimmt auch bald.«

»Oh, wie schön. Da hatte ich ja den richtigen Riecher.«

Sie ließen sich das Essen schmecken und genossen den guten Tropfen. Dabei arbeiteten sie die typischen Frauenthemen um Mode und Aussehen sowie die Pegelstände ihrer momentanen Beziehungen durch – bis Gabrielas Handy die lustige Zweisamkeit störte.

Ihr Freund kam etwas früher zurück als gedacht, und deshalb musste sie sich verabschieden.

Als Gabriela gegangen war, kam Jolanda wieder auf die Gedanken zurück, die sie zuvor schon beschäftigt hatten. Ihre Beziehung zu Elias, ob man Schmetterlinge spüren musste oder nicht.

Diesmal unterbrach das Telefon ihre Gedanken.

»Ja bitte.«

»Hallo Jolanda, hier ist Emilia.«

»Ist was mit Mutti?«, rief sie statt einer Begrüßung. Sofort begann ihr Herz, heftig zu klopfen.

Ihre Mutter beauftragte Emilia, die Haushälterin, sonst nie, bei ihr anzurufen.

»Stimmt. Deine Mutter ist im Krankenhaus.«

»Und, ist es schlimm?«

»Ja, sehr schlimm.«

»Wie schlimm? So rede doch endlich!«

Emilia atmete kurz durch, bevor sie antwortete.

»Hm, sie hatte heute Nachmittag einen Herzinfarkt und liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte empfehlen dir, zu kommen, denn es steht schlecht um sie.«

»Nein, das kann doch nicht sein! Sie war doch nicht krank.«

»Das stimmt nicht. Sie war sehr krank. Schon länger hätte sie sich einer Bypass-Operation unterziehen sollen, aber sie hat sich strikt geweigert.«

»Warum hast du mich dann nicht angerufen und informiert? Ich hätte meine Mutter zu einer Operation bewegen können!«, schrie Jolanda.

Ihre Stimme überschlug sich nun, und die Tränen liefen ihr über die Wangen, während die Hand, die den Telefonhörer festhielt, mächtig zitterte und ihn auf dem Ohr tanzen ließ.

»Nein, du hättest gar nichts erreichen können. Abgesehen davon hatte sie mir verboten, mit irgendjemandem über ihre Erkrankung zu sprechen. Und ich bin loyal.«

Emilia schwieg einen Moment und wunderte sich, dass kein weiterer Protest kam.

»Was ist jetzt, wann kommst du?«

Jolanda holte tief Luft und schniefte durch die Nase, die mittlerweile vom Weinen ganz verstopft war.

»Ich muss nur schnell telefonieren und fahre dann gleich los. In etwa einer Stunde bin ich in Wiesbaden.«

»Bis später, und fahre vorsichtig.«

»Ja.«

Jolanda legte auf. Ihr schlotterten die Knie, und ihre Hände waren von kaltem Schweiß überzogen. Mit so etwas hätte sie nie und nimmer gerechnet.

Warum nur hatte ihre Mutter ihr nichts davon erzählt? Eine Herzerkrankung war doch kein Pappenstiel.

So etwas Ernstes konnte sie doch nicht einfach verschweigen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Jolanda stöhnte laut auf, wählte die Nummer ihres Chefs Alexander und bat ihn um ein paar Tage Urlaub.

Anschließend schickte sie noch eine kurze SMS an Elias.

Er war ohnehin in Asien und würde sich schon melden, wenn es zeitlich passte. Dann packte sie einen kleinen Koffer und fuhr auf die Autobahn.

Zum Glück war es keine große Strecke, die sie zu bewältigen hatte, und sie war froh, dass sie bald am Ziel sein würde, da während der gesamten Fahrt ihre Gedanken unaufhörlich um ihre Mutter kreisten, die sie eigentlich nur kerngesund, aktiv und voller Energie kannte.

Bislang hatte Jolanda immer gedacht, dass ihre Mutter ihr Leben noch lange genießen könnte.

Und jetzt? Jetzt lag sie auf der Intensivstation, und man musste beten, dass sie es überstand.

Kurze Zeit später nahm sie die Ausfahrt und brauste die letzten wenigen Kilometer bis zu ihrem Elternhaus.

Der Abschied

Emilia hörte Jolanda kommen.

Sie beobachtete durch das Küchenfenster, wie sie ihr Auto in der Einfahrt abstellte, ausstieg und ihren Koffer aus dem Wagen nahm.

Schnell öffnete sie die Eingangstür und half Jolanda, das Gepäck auf ihr früheres Kinderzimmer zu tragen.

Alles war, wie immer.

Selbst Jolandas Malblöcke lagen noch auf dem Schreibtisch, und im Schrank fand sie Kleidung und Nachtwäsche, die ihr ganz sicher heute noch passte. Sie hatte immer noch die gleiche Figur.

Nun musste Jolanda lächeln.

Sie hatte vor Kurzem ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, und es kam ihr vor, als wäre sie erst gestern von zu Hause ausgezogen, dabei waren seitdem schon neunzehn Jahre vergangen.

Jolanda legte sich auf ihr Bett und sah sich um. In all den Jahren hatte sich hier im Haus nichts verändert, die Zeit schien stehen geblieben zu sein, aber dennoch war so viel geschehen.

Ihr Vater Lorenz starb bereits vor neun Jahren an Krebs, er war gerade einmal siebzig geworden. Jolanda brauchte danach lange, um einigermaßen darüber hinwegzukommen.

Damals stand sie noch am Anfang ihrer beruflichen Karriere, und sie war ohnehin ein ausgesprochenes Papakind.

Nach ihrem Auszug von zu Hause rief er sie jeden Tag an, kümmerte sich um sie und räumte ihr alle Steine aus dem Weg. Eigentlich hatte sie es ihm zu verdanken, dass sie so entspannt ihre Berufswahl treffen konnte.

Und ihre Mutter Florentine? Na ja, teilweise durchwachsen.

Sie war seinerzeit zwar zähneknirschend damit einverstanden gewesen, dass Jolanda Betriebswirtschaft studierte, aber dann sollte sie – wie es sich ihrer Meinung nach für eine junge Frau gehörte – eine eher kleine Karriere anstreben, was auch immer Florentine darunter verstand.

Jolanda hatte damals das Gefühl, dass ihre Mutter irrwitzige oder besser gesagt gar keine Vorstellungen davon hatte, was eine junge Frau beruflich anstreben sollte.

Florentine war eine Vollzeit-Hausfrau, wie es für ihre Generation durchaus üblich war. Doch Jolandas Vater setzte sich durch, und die Entscheidung wurde zum Glück der Tochter selbst überlassen.

Da war es nur allzu verständlich, dass sich nach seinem Tod Jolandas Verhältnis zu ihrer Mutter reichlich unterkühlt gestaltete.

Jolanda setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Ihre Telefonate und Kontakte waren eher spärlich, und oft stritten sie um Kleinigkeiten.

Manchmal hatte Jolanda den Eindruck, als wären Florentines Gefühle nicht die einer liebenden und sorgenden Mutter, sondern eher abweisend, ablehnend und barsch.

Doch nach längerem Nachdenken schüttelte Jolanda den Kopf.

Nein, das bildete sie sich nur ein, ihre Mutter liebte sie, es konnte keinen Zweifel geben. Und doch schien es ihr gelegentlich, als stünde irgendetwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, für das Jolanda keine Erklärung fand.

Das war vermutlich auch der Grund, dass sie beide sich nicht sehr oft sahen. Es war wohl ihre ganz eigene Art und Weise, möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Außerdem war Jolanda viel zu sehr mit ihrer Arbeit und ihrem Beruf beschäftigt, sodass sie sich gar nicht so viele Gedanken darüber machte, ob und wie oft sie sich sahen. Sie hatte ja einen tollen Arbeitsplatz gefunden und strebte eine erfolgreiche Karriere an.

Ihre Mutter hingegen war nach dem Tod ihres Mannes ständig unterwegs. Sie reiste viel durch die Welt und war ganz oft in Indien, einem Land, das sie sehr liebte.

Manchmal dachte Jolanda, dass Florentine vor der Einsamkeit des Hauses flüchtete oder zu sehr mit dem Tod ihres Mannes beschäftigt war und sie sich deshalb mit den Reisen abzulenken versuchte.

Aber wissen konnte Jolanda das nicht. Über ihr Seelenleben sprach ihre Mutter so gut wie nie.

Im letzten Jahr besuchte Florentine dann zum allerersten Mal ihre Tochter in Frankfurt. Sie staunte nicht schlecht, als sie die Wohnung im Dachgeschoss sah, und nachdem Jolanda sie mit ins Büro genommen und sie in die besten Restaurants der Stadt ausgeführt hatte, wich die vermeintliche Kälte langsam einer verhaltenen Freude.

Ihre Mutter nahm sie spontan in die Arme.

»Ich bin hocherfreut, mein Kind. Dein Vater hatte ja während deines Studiums so recht. Er berichtete mir andauernd, was du gerade machst, wie du vorankommst und welchen Job du anstrebst. Aber ich wollte es eigentlich nicht hören, schon gar nicht wollte ich, dass aus dir so eine harte und kalte Geschäftsfrau wird, die Existenzen vernichtet.«

»Ach Mutti, das ist so viele Jahre her und doch heute nicht mehr wichtig. Ich mache meine Arbeit und bin glücklich. Lass uns das Missverständnis vergessen und öfter mal, was zusammen unternehmen. Das Leben kann so schön sein, wir hatten schließlich mit Vaters Krankheit genug Sorgen.«

Florentine schob sie leicht von sich, strich ihr über die Wange und schaute sie sehr ernst an.

»Ja, das machen wir, meine Große. Aber versprich mir, dass du sehr genau hinschaust, ob du eine Firma wirklich zerschlagen musst oder nicht.«

»Mutti, warum sagst du das so bestimmt? Gab es denn in unserer Familie mal so einen Fall?«

»Nein, einfach nur so. Man liest ja so viel in den Zeitungen.«

Dann trat sie an das große Wohnzimmerfenster und blickte schweigend über die Dächer von Frankfurt.

»Und warum hast du dich so sehr dagegen gesträubt, dass ich gerade diesen Beruf ergreife?«

Florentine drehte sich um und sah ihre Tochter mit abwesendem Blick an.

»Es gibt keinen besonderen Grund, wirklich nicht. Nach deinem Abitur habe ich eben in dir ein zartes junges Mädchen gesehen, das irgendwann einmal einen eigenen kleinen Betrieb haben sollte. Ich bin heute lediglich etwas sentimental, weil ich gesehen habe, wie glücklich und zufrieden du bist und wie explizit du dein Leben aufgebaut hast.«

»Dann ist ja gut. Komm, setz dich und lass uns ein Glas Wein trinken. Heute ist unser letzter Abend in Frankfurt. Aber wir können das gerne jederzeit wiederholen.«

In diesem Moment erinnerte sich Jolanda an jedes Wort und an jede Geste dieses denkwürdigen Abends mit ihrer Mutter. Warum gerade heute? Und was war mit diesem komischen Versprechen, das sie ihr geben sollte?

War da doch ein Familienschicksal oder irgendwo eine Firma, die sie übernehmen sollte?

»Jolanda«, hörte sie Emilia rufen.

»Ich habe uns was zu essen gemacht.«

»Ja, ich komme.«

Schnell lief sie ins Bad, machte sich etwas frisch, ging ins Esszimmer und setzte sich an den gedeckten Tisch.

Als sie das liebevoll hergerichtete Abendbrot sah, merkte sie erst, wie hungrig sie war, und griff beherzt zu.

»Ich werde nachher noch einmal im Krankenhaus anrufen«, sagte sie zwischen zwei Bissen Brot.

Emilia nickte.

»Ja, mach das. Hoffentlich geht es ihr bald wieder besser.«

»Das wünsche ich ihr und mir auch. Ich muss gerade so viel nachdenken, was mich ziemlich aufwühlt. Eigentlich kenne ich meine Mutter gar nicht so richtig, obwohl sie mich großgezogen hat und immer für mich da war.«

Jolanda biss in eine Gewürzgurke.

»Und warum kennst du deine Mutter nicht richtig?«

Jolanda dachte kurz nach.

»Ich weiß nicht, das ist so ein Gefühl, das mich heute beschleicht. Sie hat mir nie etwas von sich, von ihrer Zeit als Teenager, irgendwelchen Berufswünschen oder der Zeit vor meinem Vater erzählt. Und sie hielt mich auch gefühlsmäßig immer auf Abstand. Ich glaube, solange mein Vater da war, hat er das kompensiert. Und danach habe ich mich in meine Karriere gestürzt. Erst heute in meinem Kinderzimmer habe ich angefangen, darüber nachzudenken.«

Emilia schaute sie kopfschüttelnd an und strich ihr über den Arm.

»Ach, hör auf damit. Das ist doch sentimentaler Quark. Lass es dir lieber schmecken.«

»Das Essen ist so lecker. Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal eine Gewürzgurke gegessen habe, geschweige denn ein Abendbrot, das den Namen Vesper verdient hat.«

Emilia musste lachen.

»Da bist du aber selbst schuld. Du hast keine Stunde Fahrtzeit und könntest das so oft haben, wie du möchtest.«

»Danke für den Hinweis. Du weißt doch, dass Mutti und ich nicht so häufig aufeinandersitzen wie vielleicht andere.«

»Ja, dann musst du dir dein Vesper wohl selbst herrichten.«

Jolanda tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und erhob sich.

»Ich gehe dann mal telefonieren.«

Sie wartete keine Antwort ab, lief in die Bibliothek und rief im Krankenhaus an.

»Jolanda Mayer hier. Ich möchte mich nach dem Zustand meiner Mutter erkundigen. Können Sie mich bitte mit der Intensivstation verbinden?«

Während sie auf einen Gesprächspartner wartete, stand sie neben dem Stuhl und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf die Schreibtischplatte.

»Ja, ich höre«, antwortete sie auf das »Hallo« am anderen Ende der Leitung. Sie lauschte der Stimme und wurde ganz blass. Ihre Hände begannen zu zittern, und dann schoss ihr das Wasser aus den Augen.

»Nein!«, schrie sie. »Nein! Warum haben Sie nicht angerufen, als Sie erkannten, dass es zu Ende geht?«

Sie nahm die Antwort auf ihre Frage unter Tränen entgegen, bedankte sich kurz und legte auf. Dann sackte sie in den Schreibtischsessel und legte den Kopf auf die Unterarme, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

***

Einige Zeit später kam sie noch immer weinend zurück ins Wohnzimmer.

»Mutti ist vorhin gestorben. Das ging so schnell, dass es leider nicht möglich war, uns in die Klinik zu rufen.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut.

Auch Emilia liefen die Tränen über die Wangen, während sie den Arm um Jolandas Schultern legte und sie tröstete.

Nach einer Weile sprang Jolanda auf und lief im Wohnzimmer hin und her.

»Ich konnte gar nicht mehr mit ihr reden. Vielleicht wäre es für sie wichtig gewesen, mich noch einmal zu sehen. Warum bin ich heute Abend, als ich ankam, nicht gleich zu ihr ans Krankenbett gefahren?«, rief sie mit gehetztem Blick.

»Emilia, ich mache mir solche Vorwürfe! Warum bin ich nicht mehr zu meiner Mutter gegangen?«

Emilia trat auf sie zu und umarmte sie.

»Das konntest du doch nicht wissen. Deine Mutter hätte auf dich gewartet, wäre ihr das so wichtig gewesen. Man hört doch öfter davon, dass Menschen erst gehen, wenn sie mit sich im Reinen sind. Ich weiß zum Beispiel von einer Nachbarin, die sich am Schluss noch mit ihrem Sohn versöhnen wollte und so lange nicht loslassen konnte, bis er an ihrem Bett saß. Also beruhige dich doch.«

»Nein, nein, ich werde mir nie verzeihen, dass sie alleine gestorben ist. Ich bin ihre Tochter und hätte bei ihr sein müssen.«

Jolanda zitterte wie Espenlaub und weinte bittere Tränen, während sie mit schweren Schritten zum Fenster schlurfte und die Stirn an die Scheibe presste.

»Wie konnte ich nur?«

Emilia merkte, dass es jetzt keinen Sinn mehr machte, auf Jolanda einzuwirken oder gar zu versuchen, ihr Trost zu spenden. So drehte sie sich ganz leise um, schlich zur Tür und zog diese vorsichtig hinter sich zu.

Auch für sie war das heute ein ganz schwieriger Tag. Zunächst einmal war Florentine nicht irgendeine Chefin für sie gewesen, nein, sie war eine Vertraute und auch eine Freundin. Sie hatten alles Alltägliche und manchmal auch etwas mehr miteinander besprochen, und Florentine hatte sie nicht wie eine Angestellte, sondern wie ein Familienmitglied behandelt.

Emilia ging auf ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Jetzt hatte auch sie Zeit zum Trauern und zum Weinen.

»Was wohl aus mir wird? Ich bin gerade mal etwas über fünfzig. Zu jung, um auf der faulen Haut zu liegen, doch zu alt, um einen neuen Job zu finden«, flüsterte sie zu sich selbst, dann griff sie nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase.

Jolanda hingegen schleppte sich einige Zeit später auf ihr Zimmer, zog sich aus, schminkte sich ab, kühlte ihre Augen und legte sich aufs Bett. Emotional konnte sie sich dagegen lange Zeit überhaupt nicht beruhigen.

Erst als sie vor Erschöpfung nicht mehr weinen konnte, war es ihr möglich, die Gedanken erneut durch ihre Kindheit und ihr Leben mit den Eltern wandern zu lassen. Erst waren es verschwommene und bruchstückhafte Bilder, die vor ihrem geistigen Auge vorbeiliefen.

Bilder aus der Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war, das viel mit dem Vater unternahm, der mit ihr spielte, sie beim Ballettunterricht anmeldete, der ihr vorlas und sie immer herzte und drückte.

Aber auch Bilder der spärlichen Gemeinsamkeiten mit der Mutter, die auf Jolandas Manieren achtete, ihre Kleidung bestimmte, die Schularbeiten kontrollierte, auf Pünktlichkeit Wert legte und auch mal schimpfte, wenn etwas nicht so war, wie es sein sollte.

Später dann, als sie in die Oberstufe kam, begannen die täglichen Konflikte mit ihrer Mutter. Natürlich spielte auch die Pubertät eine beachtliche Rolle, und so potenzierten sich die ohnehin spärlichen Gefühle zueinander durch die Bockigkeit eines heranwachsenden Mädchens an der Schwelle zur Frau, was oftmals so starke Spannungen erzeugte, als befänden sie sich unter Starkstrom.

Ihr Vater versuchte immer, zwischen ihnen beiden zu vermitteln, und ganz oft bemerkte Jolanda, wie er einen fast bösen Blick in Florentines Richtung warf und ihr eigentlich etwas entgegenschleudern wollte, dann aber nur resigniert den Kopf schüttelte.

Wenn es um einen Streit zwischen Mutter und Tochter ging, schien immer etwas Unausgesprochenes zwischen den Eltern zu stehen.

Jolanda setzte sich wieder auf. Zu sehr belastete sie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Zu sehr wühlte sie das alles auf, und zu heftig waren die Gefühle, die auf dieser Gedankenreise ihren Körper durchströmten und an die Oberfläche stießen.

Damals zermürbte sie es, wenn es Diskussionen über ihre Kleidung gab, wenn sie keine Schminke benutzen durfte und wenn sie Einladungen zu Partys absagen sollte.

Mit zunehmendem Alter nahm natürlich das Konfliktpotenzial stetig zu, es breitete sich zwischen Mutter und Tochter zunehmend Kälte aus, und die beiden entfernten sich gefühlsmäßig immer mehr voneinander.

Seinen Höhepunkt fand das Ganze dann mit Jolandas Berufswahl und ihrem Auszug in ein Studentenzimmer in Frankfurt, den ihr Vater veranlasste. Er hatte gesehen, dass er seine beiden Frauen nicht mehr zusammenwohnen lassen konnte.

Erst vor ungefähr einem Jahr war das Verhältnis zwischen ihnen beiden durch Florentines Besuch in Frankfurt und die entspannten Tage, die sie zusammen verbrachten, besser geworden. Aber eben nur besser, denn den Abstand, der sich über viele Jahre hinweg beständig gehalten hatte, vermochten sie nicht gänzlich abzubauen.

Dagegen war Jolandas Beziehung zu ihrem Vater von Anfang an sehr innig und liebevoll gewesen. Lorenz war ihr Ein und Alles und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

Aber er wusste auch, sie zu erziehen und zu lenken. So verband er die Erfüllung von Wünschen immer auch mit hübsch verpackten Forderungen.

Als Jolanda zum Beispiel einen neuen Computer wollte, meinte er, sie müsse dafür einen Zusatzkurs in Betriebswirtschaft belegen, um sich so an der Anschaffung beteiligen zu können.

Auf diese gefühlvolle Art stachelte er sie zum Lernen an und gab ihr auch die Nähe, die sie als junges Mädchen brauchte.

Als es um ihre Ausbildung ging und die Mutter dazwischen grätschen wollte, stellte sich Lorenz offen auf Jolandas Seite, woraufhin Florentine sich ernüchtert und enttäuscht zurückzog.

Jolanda wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, als sie an ihren Vater dachte. Sie hatte viel Zeit gebraucht, um mit diesem Verlust fertig zu werden, und jetzt war auch die Mutter schon nicht mehr da.

Die Familie Mayer gab es nun nicht mehr, mit Ausnahme des Bruders ihres Vaters, mit dem sie in losem, aber nicht allzu engem Kontakt stand.

Onkel Helmut war sehr nett, sie wusste, dass sie ihn immer ansprechen konnte und er auch immer helfen würde, falls sie ihn brauchte. Dennoch, irgendwie war sie jetzt alleine.

Im Gegensatz zu anderen Familien gab es keine Tanten und Onkel, keine Großeltern und Cousinen. Es gab niemanden. Merkwürdig nur, dass ihr das nie aufgefallen war. Sie hätte doch ihre Mutter fragen können, doch sie war immer zu viel mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Jolanda stand auf, trat zum Fenster und schaute in die Nacht hinaus.

Das Gefühl, wichtige Dinge in der Beziehung zu ihren Eltern versäumt zu haben, breitete sich in ihr aus wie ein Virus und ließ sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie stöhnte auf.

Es war wohl immer so, dass man erst mit dem Verlust eines Menschen merkte, was man hätte anders und besser machen können und was man überhaupt hätte tun müssen.

Und was sie noch mehr bedrückte, war die Erkenntnis, dass die Familie, jetzt im Nachhinein betrachtet, nicht die eng verschweißte Einheit war, die ohne Wenn und Aber zueinanderstand und sich bedingungslos liebte.

An nächsten Morgen stand Jolanda mit dunklen Augenringen und verschwollenen Augen vor dem Spiegel.

Sie erschrak, als sie sich so sah. Normalerweise war sie eine attraktive junge Frau von achtunddreißig Jahren mit pechschwarzen langen Haaren, die sie meist zu einem modernen Knoten verschlang.

Jolanda war mittelgroß und wohl proportioniert, und ihr sicherer Kleidungsstil, egal ob sportlich oder elegant, ließ sie zu jeder Gelegenheit gut aussehen. Heute allerdings nicht. Heute wirkte sie derangiert und krank.

Emilia hatte ihr ein Frühstück hingestellt und sich dann in sinnlose Hausarbeit gestürzt. Als Jolanda das Esszimmer betrat, war sie gerade dabei, zu putzen, Staub zu wischen und zu saugen. Jolanda verstand sie.

Auch Emilia war bestimmt emotional angegriffen und verunsichert.

Sie zwang sich deshalb, alleine am Tisch sitzend ein Brötchen zu essen, und trank dazu reichlich Kaffee, um der Erschöpfung etwas entgegenzusetzen.

Dann ging sie in die Bibliothek und begann, die notwendigen Telefonate zu führen.

Sie bat einen Bestatter, vorbeizukommen, informierte die Klinik, rief beim Anwalt der Familie an und telefonierte eine Liste von Bekannten und Freunden der Mutter ab, die sie alle persönlich über deren Tod informieren wollte.

Schneller als gedacht war der Vormittag vorbei, und das, ohne zu grübeln und Fragen beantworten zu wollen, die ohnehin offenbleiben würden.

Beim Mittagessen saßen sich Emilia und Jolanda eine ganze Weile schweigend gegenüber und löffelten ihren Eintopf.

»Was wird jetzt aus mir, Jolanda?«, fragte Emilia nach einer Weile unvermittelt.

»Wie meinst du das?«

»Na, ich muss doch wenigstens wissen, ob du mich noch für die Auflösung des Hauses brauchst oder ob ich mir gleich was Neues suchen muss. Das wird ja für mich auch nicht gerade einfach.«

»Ja, entschuldige bitte. Ich habe mich damit noch gar nicht beschäftigt. Du bist für mich so etwas wie das lebende Inventar und irgendwie selbstverständlich dabei.«

»Das ist aber jetzt nicht mehr so. Ich brauche einen Zeitplan.«

Emilia hatte Tränen in den Augen stehen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte.

»Das verstehe ich doch.«

Jolanda erhob sich, nahm sie in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Ich bin heute Mittag bei unserem Anwalt. Er wollte, dass ich umgehend komme, weil er Anweisungen für mich hat. Bitte warte, bis ich wieder zurück bin, vielleicht hat meine Mutter auch für dich eine Information hinterlassen. Ansonsten brauche ich natürlich deine Hilfe bei der Auflösung des Haushalts. Ich bin auch gerne für dich da, wenn du dir eine neue Arbeit suchst, versprochen.«

Jolanda lächelte sie aufmunternd an.

Emilias Gesicht entspannte sich zusehends.

»Danke. Selbstverständlich warte ich und helfe dir. Ich kann aber schon zum neuen Jahr nach einer Arbeit suchen?«

»Ja, zum ersten Januar. Das ist ein guter Zeitpunkt, denn bis dahin sind wir hier ganz bestimmt fertig.«

Jolanda überlegte kurz.

»Würdest du auch jeden Tag nach Frankfurt fahren, wenn ich da was für dich hätte? Ich meine, das ist nur eine gute halbe Stunde mit der Bahn. Und es wäre keine Hausarbeit.«

Emilia verspürte eine leichte Freude, als sie das hörte. »Ja, das ist kein Thema. Was ist das für eine Tätigkeit?«

»Ich möchte später erst einmal telefonieren. Wenn die Stelle noch da ist, besprechen wird das. Einverstanden?«

»Gut.«

Emilia atmete auf. Vielleicht fand sie ja relativ schnell wieder Anschluss, dann würde ihr Leben in geordneten Bahnen weitergehen.

Nach dem Essen machte sich Jolanda zurecht und fuhr in die Stadt. Der Anwalt der Familie hatte seine Kanzlei in der Fußgängerzone, deshalb parkte sie im nahe gelegenen Parkhaus eines Einkaufscenters.

Er erwartete sie schon.

»Guten Tag, Jolanda. Noch mal mein herzliches Beileid. Komm rein und nimm bitte Platz.«

Er durfte sie duzen, denn er kannte sie schon als kleines Mädchen und war im Hause ihrer Eltern ein und aus gegangen.

Jolanda duzte ihn natürlich auch.

»Danke dir. Es kam jetzt ganz schnell und auch überraschend für mich.«

»Ja, aber für mich nicht ganz. Ich habe mit Engelszungen auf sie eingeredet, sich doch am Herzen operieren zu lassen. Leider wollte sie das nicht. Sie sagte immer, ich solle es gut sein lassen, sie habe genug gestrampelt und brauche ihre Ruhe. Was kommt, das kommt, meinte sie.«

»Ich verstehe das nicht. Emilia hat mir auch davon erzählt. Man könnte meinen, sie war des Daseins überdrüssig, dabei hatte sie doch ein schönes Leben und einen guten Mann.«

»Ich weiß auch nicht. Vielleicht haben uns die beiden die heile Welt auch nur vorgespielt«, überlegte er und strich mit der Hand über den Aktenordner.

Jolanda dachte kurz nach.

»Ja, ganz so heil war ihre Beziehung glaube ich nicht. Aber wo ist das schon so? Es war wie bei vielen anderen Menschen auch, mal so und dann mal wieder nicht so – es sei denn, wir waren alle blind, oder die beiden waren die besten Schauspieler, die es gibt«, meinte sie mit einem Lächeln, als ihr das so spontan durch den Kopf ging.

»Wie dem auch sei, mögen sie in Frieden ruhen«, beendete er die laut ausgesprochenen Gedanken.

»Ja, da gebe ich dir recht. Weshalb hast du mich hergebeten?«

»Ich habe hier das Testament und einen Brief für dich. Das machen wir aber nach der Beisetzung, wenn ich den Erbschein habe. Heute geht es um direkte Anweisungen, die nicht warten können«, erklärte er, während er aus dem Safe ein paar Unterlagen holte.

»Gut. Dann kläre mich bitte auf.«

Er reichte Jolanda eine Mappe.

»Hier ist der ganze Ablauf ihrer Beerdigung festgelegt. Bitte gib das dem Bestatter und weiche nicht davon ab. Es ist verpflichtend und mit deinem Erbe verknüpft.«

»Puh, was dachte sie sich nur dabei? Ich widersetze mich doch nicht ihrem letzten Willen!«

Sie spürte einen Anflug von Enttäuschung und Wut in sich aufsteigen.

»Und die Drohung mit dem Erbe ist überflüssig. Ich verdiene selbst genug. Von mir aus können wir das Erbe auch spenden.«

»Sei nicht ungerecht, Jolanda. Sie hat eben präzise Angaben gemacht. Es geht auch noch um Emilia. Sie soll dir bei der Auflösung des Hauses helfen, und dann bekommt sie das kleine Häuschen am anderen Ende der Stadt, das Elternhaus von Lorenz. Es steht leer, und wenn sie dort einzieht, muss sie keine Miete mehr bezahlen. Dazu erhält sie mit dem Erbschein eine bestimmte Summe, die ihr das Leben bis zur Rente absichern soll.«

Jolanda nickte zufrieden und lächelte ihn an.

»Das freut mich für Emilia. Ich hätte ihr auch einen Teil abgegeben, wenn das nicht geregelt gewesen wäre. Ist doch prima so. Dann vermittle ich ihr noch einen guten Job, damit sie sich nicht nutzlos vorkommt.«

»Sehr gut. Du bist ein Schatz, Jolanda. Den Rest machen wir nach der Beisetzung.«

»In Ordnung.«

Jolanda erhob sich und reichte ihm zum Abschied die Hand.

»Wegen des Beerdigungstermins rufe ich dich an.«

»Mach das. Bis bald, Jolanda.«

***

Jolanda und Emilia fuhren gleich morgens um neun in die Kanzlei des Anwalts zur Testamentseröffnung.

Emilia bekam also das Häuschen und ein Sparbuch, das ihr ermöglichte, im kleinen Rahmen ohne Not zu leben. Und da ihr Jolanda einen Job in der Cafeteria eines Unternehmens in Frankfurt besorgt hatte, würde es für sie ohne Probleme weitergehen. Dankbar reichte sie erst dem Anwalt die Hand, dann umarmte sie Jolanda.

Jolanda erbte das Haus und das gesamte Vermögen der Eltern. Dazu übergab ihr der Anwalt noch einen persönlichen Brief der Mutter. Anschließend verabschiedeten sich die beiden Frauen und fuhren zurück zum Anwesen der Eltern.

Am frühen Nachmittag öffnete Jolanda den Brief ihrer Mutter. Zu ihrem Erstaunen entpuppte sich dieser als gar nicht so persönlich, wie sie gedacht hatte.

Er war für sie eher eine große Enttäuschung, denn er bestand lediglich aus der kühlen Anweisung, an einer bestimmten Stelle im Wohnzimmer nach einer Schatulle zu suchen und den Inhalt genau durchzusehen. Ihre Mutter wünschte ihr noch alles Gute auf ihrem weiteren Lebensweg, und das war es dann auch schon.

Jolanda schüttelte den Kopf und musste in Anbetracht dieses Briefes gleich wieder weinen.

»Was soll das?«, flüsterte sie. Kein liebes Wort, nur die Suchanleitung für eine Schatulle. Und die guten Wünsche waren nicht mehr als das, was jeder Fremde mit solch einer Höflichkeitsfloskel ausdrücken würde.

Was für ein denkwürdiger Abschied ihrer Mutter.

Blieb nur noch die Auflösung des Hausstands, die wahrscheinlich eine hochemotionale Angelegenheit werden würde.

Danach würde alles ausgelöscht sein – bis auf die Erinnerungen.

Jolanda mochte es sich gar nicht vorstellen.

In Kürze wurden alle Gegenstände, die sie nicht zur Seite geräumt hatte, versteigert, auch das Haus. Sie würde sich nur wenige Erinnerungsstücke aufbewahren und Emilia die Dinge geben, die sie haben wollte. Wenn das erledigt war, war hier definitiv nach einer weiteren Woche Schluss.

Heute kümmerte sie sich aber ganz speziell um die Schatulle.

Das Vermächtnis

Seit Stunden saß Jolanda nun schon am Wohnzimmertisch im Haus ihrer Mutter.

Sie fühlte sich inzwischen wie gelähmt. Neben ihr auf dem Sofa stand eine große Holzschatulle, die sie im Arbeitszimmer der Eltern aus dem untersten Fach des großen Schrankes herausgeholt hatte.

Sie hatte das Versteck heute zum ersten Mal wahrgenommen, von alleine hätte sie es auf keinen Fall entdeckt, wenn ihre Mutter Florentine nicht den Brief mit Hinweisen für sie hinterlassen hätte.

Ihr brummte der Schädel von den vielen neuen Eindrücken und Informationen, die sie gezwungenermaßen aufnehmen musste.

Genau genommen war ihr speiübel.

Das konnte doch alles nicht wahr sein! Blitzartig raste sie aus dem Stuhl hoch und tigerte ununterbrochen um den Tisch herum.

Ohne anzuhalten, presste sie sich die Hände an die Ohren, um sich selbst zu signalisieren, dass sie eigentlich nichts mehr hören wollte von dem, was in dieser Kiste lag.

Dann blieb sie ruckartig stehen und legte die Hände von den Ohren auf die Augen.

»Ich möchte nichts mehr hören und nichts mehr sehen!«, rief sie laut durch den Raum.

Als sie nämlich vorhin die vielen Unterlagen aus der Kiste genommen hatte, lagen zuunterst Adoptionspapiere, die ihren Namen trugen.

Mit offenem Mund blickte sie auf die Buchstaben, die vor ihren Augen anfingen zu tanzen.

Blitzschnell warf sie die Hülle mit den Papieren ungelesen auf den Tisch, als ob sie sich die Finger daran verbrannt hätte.

»Mein Gott, wo und wie habe ich achtunddreißig Jahre lang gelebt? Wer bin ich überhaupt?«

Die letzten Worte brachte sie nur noch flüsternd über die Lippen.

Gleich danach ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen, um den bitteren Tränen freien Lauf zu lassen.

Sie durchlebte in diesen Minuten eine innere Zerrissenheit in einer Heftigkeit, von der sie nie gedacht hätte, dass man sie je würde erleben können.

Dann griff sie mit zitternden Fingern wieder in die Schatulle und tauchte erneut für lange Zeit in die Vergangenheit ihrer Mutter ein.

Als sie wieder aufsah, war es schon duster, und Jolanda erhob sich, um das Licht einzuschalten.

Auf dem Weg zum Lichtschalter blieb sie am Panoramafenster des Bungalows im Stile der Sechzigerjahre stehen und schaute hinaus in den Garten, der an diesem Novemberabend mit seinen kahlen Bäumen und der gerade eintretenden Dunkelheit ihre gefühlte Einsamkeit und Verlassenheit optisch noch verstärkte.

Sie dehnte die verspannten und müden Glieder, indem sie sich streckte und mit wenigen Kniebeugen versuchte, ihren Bewegungsapparat nach dem langen Sitzen wieder geschmeidig zu bekommen.

Jolanda seufzte und versuchte, die erneut aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, was ihr körperlich sehr wehtat.

Der innere Schmerz presste sich durch ihren Brustkorb und drückte gegen den Magen, als hätte sie schweres, fettiges Essen zu sich genommen.

Es war auch eine verdammt schwere Kost, die sie zu verdauen hatte.

Sie weinte jetzt erneut, die Tränen rannen ihr wie Wasserfälle die Wangen hinunter, und ihr Schluchzen war bestimmt bis zu den Nachbarn zu hören, obwohl der weitläufige Garten dazwischenlag.

Als sie sich nach einiger Zeit wieder etwas beruhigt hatte, schleppte sie sich ins Bad und kühlte ihre brennenden Augen mit kaltem Wasser, das sie sich auch über die Handgelenke laufen ließ. Anschließend schlurfte sie mit schweren Beinen in die Küche, richtete ein kleines Abendbrot her und kochte frischen Tee.

Sie war so froh, dass Emilia heute nicht mehr kommen würde. Diese besuchte ihre Schwester.

Mit dem Tablett in den Händen war sie gerade auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, als ihr Handy klingelte. Schnell stellte sie das Essen ab und griff zum Telefon.

»Jolanda Mayer.«

»Hey Jolanda. Du wolltest doch nach einigen Tagen wieder zurück sein. Warum meldest du dich denn nicht, wenn es länger dauert?«, hörte sie ihren Freund Elias fragen.

»Elias«, stöhnte sie.