Violas Vermächtnis - Barbara Herrmann - E-Book

Violas Vermächtnis E-Book

Barbara Herrmann

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Beschreibung

Die Geschichte zweier Schicksale, die sich vor der prachtvollen, geschichtsträchtigen Kulisse der Kurstadt Baden-Baden begegnen. Renate steht vor dem beruflichen und privaten Scherbenhaufen ihres Lebens. Doch dies bleibt nicht der einzige Schicksalsschlag, den sie einstecken muss. Im Kampf um ihre Existenz erkennt Renate schließlich die Magie des Zufalls und die starke Kraft zwischen Himmel und Erde. Auch Gero macht eine schwere Zeit durch. Als seine Schwester Viola stirbt, bittet sie ihn, eine Frau zu finden, die seine Hilfe braucht. Doch wie kann Gero diese Frau finden? Wann und unter welchen Umständen wird er ihr begegnen? Durch Zufall? Oder wird auch der Himmel seine Finger im Spiel haben? Die Fragen und Antworten auf Zufälle und andere mystische Zufälligkeiten in verschiedenen Lebenssituationen unserer Zeit sind die perfekte Würze dieses Romans. Mehr als 20 Schwarzweiß-Fotos führen die Leser*innen an die Schauplätze in Baden-Baden.

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Das Buch

Die Geschichte zweier Schicksale, die sich vor der prachtvollen, geschichtsträchtigen Kulisse der Kurstadt Baden-Baden begegnen.

Geschieht dies durch Zufall?

Oder wird auch der Himmel seine Finger im Spiel haben?

Die Fragen und Antworten auf Zufälle und andere mystische Zufälligkeiten in verschiedenen Lebenssituationen unserer Zeit sind die perfekte Würze dieses Romans.

Mehr als 20 Schwarzweiß-Fotos führen den Leser an die schönsten und eindrucksvollsten Orte in Baden-Baden.

Die Autorin

Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.

Zwei Familien mit dem Zufall auf dem Weg des Lebens

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen…

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

1

Die Abendsonne schien durch das Fenster und zeichnete Lichtspiele auf die Möbel, als ob nichts geschehen wäre. Renate Bauer bemerkte und beachtete sie nicht. In ihrem Kopf summte und brummte es wie in einem Wespennest. Ihre Gedanken sprangen hin und her und wuselten wild durcheinander wie ein Ameisenhaufen.

Sie saß in sich gekehrt auf dem Sofa ihres Wohnzimmers und wollte noch an diesem Tag nach einer Lösung suchen, wie sie ihrem Leben eine Wende geben konnte. Dabei schwankte siezwischen Lethargie und Aufbruch, zwischen „jetzt erst recht“ und „lieber doch nicht“. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Gefühl, stark zu sein, und der schleichenden Hingabe, die manchmal bis zum Selbstmitleid reichte. Dabei taten ihr die widerspenstigen und widersprüchlichen Gefühle körperlich schon weh.

Eigentlich entsprach es gar nicht ihrem Naturell, sich gehen zu lassen. Im Grunde war sie eher eine kämpferische Frau, dennoch ließ auch sie sich hin und wieder von solchen Gefühlen vereinnahmen.

Zu ihrer inneren Zerrissenheit kamen noch die Einschläge von außen, die sie gar nicht selbst in der Hand hatte, die sie gar nicht beeinflussen konnte.

Es waren Briefe, unheilvolle Briefe, Androhungen und Fristen. Es waren fremde Menschen, die Einlass forderten und die in ihren innersten Angelegenheiten herumschnüffelten, weil sie glaubten, dort etwas zu finden. Diese Leute drangen einfach in ihr letztes persönliches Geheimnis ein. Sie öffneten Zimmer- und Schranktüren, sie sahen ihre Wäsche im Fach liegen und sie stellten ihr unangenehme Fragen. Und sie kamen immer wieder aufs Neue, immer und immer wieder.

Nach außen aber schwieg sie. Niemand erfuhr, wie es in ihr aussah, mit keinem Menschen sprach sie über diese inneren Nöte, diese Gedanken, die ihr ihre Hilflosigkeit immer mal wieder bildlich vor Augen führten. Es war ihr zu peinlich, jemanden damit zu behelligen, schließlich war sie selbst die Versagerin. Sie war eine Frau, die alles falsch gemacht hatte.

Und jetzt auch noch das. Jetzt auch noch ihr Mann. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte. Jetzt auch noch er.

Wie hatte Christian ihr das antun können? Wie konnte ihr Mann zu so etwas fähig sein? Er hatte ihr Vertrauen, ihre Liebe missbraucht und sie im Stich gelassen, auf die erbärmlichste Art und Weise, ganz nach dem Motto: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.

Renate lachte hart auf. Sie fand keinen Ausdruck für das, was da gerade vor sich ging. Dabei hörte sich das Wort „gerade“ so an, als ob es eben erst begonnen hätte.

Nein, nicht erst seit eben, sie schleppte das Paket auf ihrem Rücken schon ein paar Monate mit sich herum. Über weite Strecken hatte sie es geschleppt, unbewusst, aber dennoch qualvoll.

Manchmal wurde einem Schmerz zugefügt, es tat weh, man wunderte sich über diesen Zustand, aber die Frage nach dem Warum stellte man sich erst sehr viel später.

Mittlerweile zeigte die Uhr kurz vor acht. Christian war immer noch nicht da, und das ging schon seit Monaten jeden Tag so. Sie wusste, dass ihre Beziehung nicht mehr stimmte, nicht mehr so war, wie sie sein sollte.

Ihr Gefühl und die Erkenntnis, dass ihr Mann ein anderer Mensch geworden war, hatten sie nicht getäuscht. Er betrog sie mit einer anderen Frau. Auch wenn diese Tatsache noch nicht laut ausgesprochen worden war, gab es für sie mittlerweile keinen Zweifel mehr daran. Nach dieser Erkenntnis ließen sich ihre Gefühle nicht mehr beschreiben. Sie wechselten in kurzen Abständen zwischen Wut, Enttäuschung, Trauer, Zorn, Nachsicht, Zukunftsangst, Resignation, Hilflosigkeit und dann wieder zu wilder, fast ungestümer Entschlossenheit.

Renate war zweiundfünfzig Jahre alt. Mit der Tatsache, dass sie im klassischen Sinne nicht für jeden hübsch war, hatte sie sich schon seit langer Zeit abgefunden. Ihre Nase war etwas schräg, das Kinn zu energisch in dem schmalen Gesicht, und ihre blauen Augen mit dem sehr intensiven, manchmal geradezu stechenden Blick waren zu groß. Sie war von kleiner Statur, ihre fraulichen Rundungen waren nur angedeutet und entsprachen nicht dem, was man ideal nennt. Aber sie war froh, wenigstens schlank zu sein.

Bisher hatte sie das nie gestört, sie hatte sich akzeptieren können, so wie sie war. All die Jahre wusste sie sich von ihrem Mann geliebt und hatte von Beginn an ein einigermaßen harmonisches Eheleben geführt.

Natürlich hatte es Höhen und Tiefen gegeben wie bei anderen Paaren auch. Die ersten Jahre waren überaus schwierige Jahre, Jahre der Entbehrung gewesen.

Sie war noch sehr jung gewesen, gerade mal achtzehn Jahre alt, als sie damals schwanger wurde. Wie es in den Sechzigern selbstverständlich war, hatten auch sie auch gleich geheiratet. Obwohl sie beide noch fast Kinder waren, hatten sie von jetzt auf gleich die große Verantwortung für ein Kind übernehmen müssen.

Hinzu kamen das tägliche Bestreben und die Notwendigkeit, ein würdiges Heim aufzubauen, sozusagen aus dem Nichts. Ihre Löhne waren äußerst gering, sodass sie beide voll arbeiten mussten.

Das Baby, ihr kleiner Sohn Jan, wurde nach wenigen Wochen in einer Kinderkrippe untergebracht, und ihr Mann Christian leistete in der Zeit des Aufbaus unzählige Überstunden, um endlich vorwärts zu kommen.

In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie eine kleine Wohnung gemietet. Das Wohnzimmer war gerade mal achtzehn Quadratmeter groß und mit geschenkten Möbeln eingerichtet. Ihr Schlafzimmer war nur unwesentlich kleiner, die Betten mussten über einen Kredit finanziert werden, und ein gebrauchtes Kinderbett wurde an eine freie Wand gestellt. Die Küche bestand aus einem winzigen Quadrat und im Bad gab es kaum Platz zum Stehen. Die Wände waren feucht. Mehr war es nicht, mehr durfte es aus finanziellen Gründen nicht sein.

Sie waren bescheiden, sehr bescheiden und dennoch zufrieden gewesen.

Inzwischen war Jan erwachsen, beruflich erfolgreich, verheiratet und lebte in Hamburg. Renate und Christian hatten ein ansehnliches Zuhause, eine hübsche Vierzimmerwohnung mitten in der Altstadt von Baden-Baden und bis vor zwei Jahren beide einen sicheren Arbeitsplatz gehabt.

Während sich für Christian daran auch bis heute nichts geändert hatte, war Renate von einem Tag zum anderen arbeitslos geworden. Aus Angst, keine Arbeit mehr zu finden, hatte sie einen fatalen und unverzeihlichen Fehler begangen, der ihr Leben bis heute beeinflusste. Nein, er beeinflusste es nicht nur, sondern war des Pudels Kern, die Ausgangsbasis all ihrer Probleme und ihrer Verzweiflung.

Ein einziger, allerdings großer Fehler, und ihr ganzes berufliches und privates Leben lag in Scherben.

Herzlichen Glückwunsch! Auf diese ironische Weise gratulierte sie sich stets mehrmals am Tag selbst. Sie hatte lernen müssen, dass diese Art von Fehler nicht einfach mal so ausradiert werden konnte. Es war eine Art von Fehler, der es ihr schwer machte, daraus zu lernen und ihn für die Zukunft zu korrigieren. Er blieb auf weite Sicht an ihr kleben wie eine Klette. Was sollte das ganze Gequatsche von der zweiten Chance und von Sprüchen wie: Man darf ruhig Fehler machen, man muss nur daraus lernen und darf sie nicht wiederholen?

Ein hartes Lachen entwich zwischen den Lippen.

All diese Weisheiten halfen in ihrem Fall nicht. Diese Worte waren nur Schall und Rauch, nur etwas für Schönschwätzer und Sprücheklopfer.

Siebenundzwanzig Jahre waren sie nun verheiratet und solange Renate denken konnte, war Christian pünktlich nach Hause gekommen. Doch von einem Tag auf den anderen hatte sich das geändert. Im Nachhinein konnte Renate nicht verstehen, dass sie es zwar bemerkt, aber wiederum doch nicht richtig bemerkt hatte.

Es war ihr tatsächlich nicht in seiner vollen Tragweite aufgefallen, so sehr war sie wohl mit sich selbst und mit ihren persönlichen Problemen beschäftigt gewesen.

Sie erinnerte sich an den ersten merkwürdigen Vorfall vor einigen Wochen, der ihr im Gedächtnis geblieben war.

Die Alarmglocken hätten an diesem Tag läuten müssen, laut und schrill, aber sie hatten es nicht getan. Sie hatte das Abendessen vorbereitet und jede Minute mit Christian gerechnet. Fast drei Jahrzehnte lang hatte sie die Uhr nach ihm stellen können. Fast auf die Minute genau hatte er morgens das Haus verlassen und es abends wieder betreten.

Es musste etwas passiert sein, dachte sie, eine solche Verspätung konnte nicht sein. Sie wählte die private Nummer seines Vorgesetzten, um ihn zu fragen, ob sie Überstunden machen mussten. Doch er erklärte ihr, dass sie das Büro pünktlich verlassen hatten.

Blieb also nur noch die Vorstellung, dass es eine Panne oder einen Unfall gegeben hatte. Renate hatte nicht die Ruhe, still dazusitzen. Alle zwei Minuten sprang sie auf und lief zum Fenster. Sie lauschte auf jedes Geräusch im Treppenhaus, glaubte, den Schlüssel in der Tür zu hören, aber jedes Mal musste sie feststellen, dass sie sich getäuscht hatte.

Sie wanderte ununterbrochen durch die Wohnung und zum Fenster. Düstere Bilder von einem Autounfall peinigten sie, und sie überlegte, was sie tun konnte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste Geduld haben, sie durfte nicht in Panik verfallen oder gar überreagieren.

Einige Zeit später kam Christian dann schließlich nach Hause, als wäre es die normalste Sache der Welt, zu spät zu kommen. Mit keiner Geste entschuldigte er sich, dass er so spät kam. Mit keinem Wort ging er darauf ein, dass sie so lange auf ihn hatte warten müssen. Auf ihren fragenden Blick reagierte er gelassen.

Er erklärte ihr, dass er mit einem Kollegen eine Kneipe besucht hatte, weil dieser aus irgendwelchen Gründen getröstet werden musste. Außer an den Weihnachtsfeiern war Christian noch nie mit Kollegen in einer Kneipe gewesen.

Jetzt aus der Distanz fiel ihr ein, dass seine Augen dabei unruhig hin und her geblickt hatten. Eine derart dumme Ausrede hätte normalerweise alle schlafenden Hunde in ihr wecken müssen. Aber in der Aufregung hatte sie auch Christians etwas gekünsteltes und merkwürdiges Lachen nicht bemerkt, noch nicht.

Hätte sie ihm nicht blind vertraut, hätte sie gleich ahnen können, dass er nicht die Wahrheit sprach.

Dann, erst dann begriff sie, dass er sich verändert hatte und nicht mehr der Mann war, den sie kannte und dem sie vertraute. Mit den Händen konnte sie es plötzlich greifen, fühlen, dass eine Frau im Spiel sein musste.

Jetzt erst fiel ihr auf, dass er sich jedes Mal, wenn sie ihn nach seiner Verspätung gefragt hatte, in umständlichen Ausreden ergossen hatte, die nicht der Wahrheit entsprechen konnten. Sie hatte aus seinen Worten und seinem Verhalten puren Zynismus und Ablehnung gespürt.

Von jenem Abend an war sie hellwach gewesen und hatte die Situation aufmerksam beobachtet und ja, es geschahen stets irgendwelche Dinge, die anders und fraglich waren.

Das Schlagen der Tür riss Renate aus ihren Gedanken. Äußerst ungern kehrte sie aus der Vergangenheit zurück. Christian betrat das Wohnzimmer, er schien gut gelaunt, sah sich erst um und blickte sie dann herablassend an.

„Entschuldige, aber wir hatten heute noch eine Besprechung. Ich hatte keine Zeit mehr anzurufen“, sagte er lapidar mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Eine Besprechung hattest du gestern und vorgestern auch. Merkwürdig nur, dass du als kleiner Angestellter plötzlich Sitzungen hast wie niemals zuvor in deinem Berufsleben. Mir scheint, dass man aus den Mitarbeitern eurer Abteilung lauter Manager machen möchte“, antwortete sie ironisch und blickte ihm direkt ins Gesicht.

„Was willst du damit sagen?“

Sofort wurde er ungehalten.

„Willst du damit allen Ernstes behaupten, dass ich dich anlüge? Du sitzt in der Wohnung, lässt es dir gut gehen und hast keine Ahnung mehr von der Arbeitswelt. Aber du beurteilst sie!“

Renate zuckte zusammen, ihr Blick wurde unruhig und ihre Augenlider flatterten. Da war er wieder, der versteckte Vorwurf, dass sie nicht arbeitete. Für ihn war wohl Angriff die beste Verteidigung.

„Wenn du denkst, dass du mir ein schlechtes Gewissen einreden kannst, gut. Dann mag dir das gelegentlich gelingen, aber immer werde ich das nicht zulassen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“

Sie stand auf.

„Glaubst du, dass ich gerne hier sitze? Du weißt doch, dass ich mich seit langer Zeit bemühe, eine Arbeit zu finden“, warf sie ihm wütend an den Kopf, während sich ihr Körper versteifte und sie immer mehr in Wut geriet.

„Bemühen alleine genügt nicht. Du musst handeln.“

„Warum bist du so ungerecht zu mir, Christian? Das ist doch nicht wahr, was du da sagst.“

„Ich bin nicht ungerecht, ich stelle wirklich nur Tatsachen fest. Überzeuge mich vom Gegenteil.“

„Du bist kälter, als ich das je für möglich gehalten hätte.“ Renate schüttelte den Kopf. Vor ihr saß ein völlig fremder Mann. Ein Mann, der sie zu hassen schien, ein Mann, dem sie im Wege war, ein Mann, der augenscheinlich nicht wusste, wie er sich von ihr befreien konnte.

„Renate, das bin ich doch gar nicht. Ich bin nicht kalt. Aber du musst doch die Wahrheit akzeptieren können.“

Christian erhob sich ebenfalls, schlenderte zum Fenster und kehrte ihr den Rücken zu, damit er sie nicht ansehen musste.

„Was weißt du denn schon?“, rief Renate.

„Du hast doch keine Vorstellung, wie es ist, in meinem Alter eine Arbeit zu suchen. Du hast keine Ahnung, wie es ist, diese fadenscheinigen Absagen hinnehmen zu müssen. Du hast auch keine Ahnung, was sich in meinen Gedanken und Gefühlen abspielt.“

Renate schritt vor Aufregung hin und her.

„Was ist, wenn ich doch etwas finde und mir sofort das Gehalt gepfändet wird? Wird man mich dann nicht gleich wieder entlassen? Da sind so viele Fragen und überall Unsicherheiten. Es müsste jemanden geben, der mir den richtigen Weg zeigt. Ich kenne niemanden, aber ich versuche jedenfalls alles, um das zu ändern.“

Sie blieb stehen und senkte den Kopf.

„Du versuchst eben nicht alles, meine Liebe“, antwortete er gelassen.

„Eine Putzstelle wäre doch das Mindeste, was du hättest finden können. Dann bräuchtest du dir auch keine Gedanken um eine Pfändung zu machen. Die paar Kröten nimmt dir schon keiner weg.“

Es war ihm klar, dass er jetzt gemein reagierte, aber er konnte nicht anders. Es war sein Schutzschild, damit er sein schlechtes Gewissen in Grenzen halten konnte, er brauchte das als Rechtfertigung für sein Seelenleben. Denn er wusste ja, dass sein Verhalten nicht in Ordnung war.

Renate schüttelte den Kopf. Tränen versuchten sich, in ihre Augen zu drücken.

„Eine Putzstelle soll ich mir suchen? Das würde dir natürlich gefallen, mich in dieser Position zu sehen. Es würde dir in deine jetzt gezinkten Karten spielen. Aber ich würde auch das machen, wenn ich eine Stelle für acht Stunden bekäme. Es gibt fast nur private Putzstellen und die sind für eine oder zwei Stunden am Tag. Das reicht doch beileibe nicht, um eine vernünftige Regelung für meine Probleme zu finden. Ich muss mein Gesamtpaket regeln, und mein Gesamtpaket ist und bleibt mein Leben!“

Er drehte sich wieder zu ihr um. „Dein Leben, wie pathetisch! Du willst dein Leben in Ordnung bringen? Das wirst du in deinem Leben nicht mehr schaffen. So viel Geld wirst du nie wieder verdienen. Und dann ist eine Putzstelle immer noch besser als gar nichts. Jeder Euro zählt, findest du nicht?“, argumentierte er grinsend.

Wütend und enttäuscht senkte Renate den Blick. Sie wollte seine vorwurfsvollen Augen nicht sehen. Sie wusste auch so, dass sie allein für die prekäre finanzielle Situation verantwortlich war, in der sie sich befanden. Sie machte sich ja selbst jeden Tag aufs Neue Vorwürfe.

„Du musst mich nicht ständig darauf hinweisen. Natürlich weiß ich, dass ich schuld bin. Aber denkst du nicht, dass ich damals in gutem Glauben gehandelt habe? Du hattest ja schließlich meinen Plänen auch zugestimmt“, rief sie schrill und ihre Augen blitzten.

Was sollte das jetzt, ihr heute zu sagen, dass sie es nie mehr schaffen würde? Was für einen Unsinn redete er da? Ihr Anwalt würde Vergleiche aushandeln können, das hatte er ihr gesagt. Natürlich erst dann, wenn sie wieder Arbeit hatte. Doch sie hatte eine reelle Chance.

„Darum alleine geht es nicht. Schau doch mal in den Spiegel. Du kümmerst dich nicht um dein Aussehen, deine Haare hast du seit mindestens zwei Monaten nicht mehr ordentlich schneiden lassen, deine Kleidung ist alt, ausgewaschen und unattraktiv. Du sitzt nur noch in der Wohnung herum und kommst zu keinem Ergebnis. Mit dir kann man einfach nichts mehr anfangen. Du lebst in deiner eigenen Welt und träumst vom besseren Leben“, stellte er fest ohne einen Funken Rücksichtnahme.

Renate hob den Kopf und blickte ihn ungläubig an.

„Wieso gehst du dann nicht? Das wäre doch das Einfachste, wenn ich dir so zuwider bin und du mich nicht mehr ansehen und nichts mehr mit mir anfangen kannst!“, schrie sie.

Christian zog es vor, nicht darauf zu antworten. Er grinste sie nur an und wechselte das Thema.

„Wieso hältst du es nicht für nötig, mir ein Abendbrot herzurichten, wenn ich nach einem langen Arbeitstag müde nach Hause komme?“

„Du kommst nicht von der Arbeit, Christian.“

„So? Nicht?“

„Nein.“

„Na, dann eben nicht!“, sagte er.

Renate musste mehrmals schlucken, um die Situation nicht eskalieren zu lassen.

Es tat unsäglich weh zu hören, was er von ihr hielt und wie er sie einschätzte. Er war zynisch und kannte kein Erbarmen. Ihre Situation zwang sie nun einmal dazu, an ihrer Kleidung und ihrem Äußeren zu sparen. Doch auch dies machte er ihr zum Vorwurf. Sie erkannte, dass sie ihn endgültig verloren hatte. Wütend blickte sie ihn an.

„Ich habe mich entschlossen, nicht mehr für dich zu kochen“, sagte sie spontan.

„Denn ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du eine andere Frau hast. Sie kann für deinen Alltag sorgen. Ich bin sicher, du brauchst mich nicht mehr“, stellte sie mit bebender Stimme fest. Rasch stand sie auf und verließ schnell und energisch das Wohnzimmer.

Christian saß wie angewurzelt da. Irgendwie tat sie ihm jetzt leid. Aber er wusste von Anbeginn seiner Affäre, dass Renate bald dahinterkommen würde. Es konnte gar nicht anders sein. Früher war er immer pünktlich nach Hause gekommen, und er hatte jetzt keine glaubhaften Ausreden, warum dies jetzt nicht mehr so war. Dennoch benutzte er fadenscheinigen Erklärungen.

Renate war inzwischen nicht mehr die Frau, die er vor vielen Jahren geheiratet hatte. Er konnte ihr Versagen nicht akzeptieren und ihre enttäuschten Blicke nicht mehr ertragen. Es interessierte sie nicht mehr, was gesellschaftlich und politisch geschah.

Selbst an den Wochenenden blieb sie in der Wohnung und beschäftigte sich nur mit ihrer Arbeitssuche.

Er stockte kurz, weil er merkte, wie er sich selbst widersprach. Vorhin noch hatte er ihr vorgeworfen, sich keine Arbeit zu suchen, und jetzt warf er ihr vor, dass sie das sogar am Sonntag tat. Aber was hatten sie nicht alles an positiver Lebensqualität verloren?

Und sie hatte eine große berufliche Enttäuschung erleben müssen.

Selbstverständlich ahnte er, dass sie sich ausgegrenzt fühlte so ganz ohne Arbeit. Natürlich mussten sie beide darunter leiden und sich finanziell sehr stark einschränken. Gab ihr aber diese Situation das Recht, ihn so extrem zu vernachlässigen?

Sie lebten ihre Ehe nicht mehr wirklich. Ihre Alltagssorgen erstickten alle Zärtlichkeiten und Intimitäten, und er hatte es mittlerweile so satt, mit diesen finanziellen Problemen leben zu müssen.

Wenigstens ab und zu wollte er ein fröhliches Gesicht sehen. Er kam mit ihrer schwierigen Situation einfach nicht mehr zurecht, war überzeugt, dass sie ihn moralisch hinunterzog, ihm sein ganzes Leben genauso versaute wie ihr eigenes.

Und das war ihm eindeutig zu viel. Er wollte nicht mehr. Seine Gedanken gingen zurück zu dem Augenblick, an dem sich sein Leben von einer Sekunde zur anderen von Grund auf verändert hatte.

Vor wenigen Monaten saß er während der Mittagspause in der Cafeteria. Er war an diesem Mittag nicht nach Hause gefahren, um Renate nicht begegnen zu müssen. Eine Kollegin, die er nur flüchtig kannte, setzte sich an seinen Tisch. Sie kamen ins Gespräch und irgendwie funkte es sofort zwischen ihnen.

Eine Weile unterhielten sie sich über allgemeine Dinge wie das Wetter, die Arbeit und andere Belanglosigkeiten. Dabei hielten sich ihre Augen unaufhörlich fest. Spannung lag in der Luft. Die Unterhaltung war gespickt von kleinen verbalen, erotischen Nadelstichen, die sie in einen Bann zogen, von dem sie sich beide nicht mehr lösen konnten und auch nicht mehr lösen wollten.

Sie war sehr anziehend, obwohl ihr Gesicht etwas kantig wirkte. Ihre braunen Augen standen zu weit auseinander, der Mund war klein und die Nase zu üppig. Ihre braunen Haare waren zu einer flotten Kurzhaarfrisur geschnitten, die Figur kräftig und korpulent.

Auffallend war ihr ausladender Busen. Ihre Kleidung war sehr geschmackvoll und sah teuer aus. Es störte ihn nicht, dass sie nicht allzu aufreizend gebaut war. Renate war auch keine Schönheit. Jeder Mensch hatte wohl Mängel aufzuweisen. Wichtig waren die Ausstrahlung und die Persönlichkeit, und die mussten stimmen. Alles andere zählte für ihn nicht wirklich.

Ohne über die Folgen nachzudenken, fuhren sie gleich an diesem ersten Tag nach Feierabend hinaus an einen See und kauften unterwegs Wurst, gebratene Hähnchenteile, Käse, Obst und Brot. Natürlich durfte eine gute Flasche Wein nicht fehlen. Sie waren begeistert, als sie an einem kleinen Strand, den sie für sich alleine hatten, ihre Decke ausbreiteten, die zum Glück in Christians Kofferraum lag.

„Ist das schön hier, Karin. Woher kennst du diesen Platz?“

„Ach, weißt du, den kenne ich schon lange. Schon als Kinder haben wir die Nachmittage hier verbracht.“

Christian half ihr, die eingekauften Lebensmittel auf der Decke auszubreiten. Dann rutschte er zu ihr hinüber und umarmte sie. Zärtlich blickte er ihr in die Augen und legte seine Hände um ihr Gesicht. Er war fasziniert von ihr und kam ihr immer näher und näher. Schließlich legte er seine Lippen auf ihre und küsste sie zärtlich und fordernd zugleich, bis sie kaum noch Luft bekam.

„Karin, ich glaube, bei mir hat heute der Blitz eingeschlagen. Ich habe mich in dich verliebt und verstehe nicht, wie schnell das passieren konnte.“

Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Nie hätte er geglaubt, dass so etwas möglich war, und schon gar nicht bei ihm selbst. Er hatte eigentlich vergessen, wie das war.

Sie strahlte ihn an und legte ihren Kopf in seinen Schoß.

„Mir geht es genauso, dabei dürften wir das normalerweise gar nicht. Mein Mann hat das eigentlich nicht verdient.“

„Bei mir ist das nicht ganz so. Weißt du, meine Frau ...“

Er verdrehte die Augen und blickte verlegen zur Seite.

„Das zu erzählen wäre abendfüllend. Das lassen wir heute besser. Manchmal wünsche ich mir die Trennung, wegen ihrer ganzen Probleme. Aber dann habe ich wieder Skrupel, weil ich Zweifel habe. Du musst wissen, wir sind seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet und ich müsste ihr eigentlich beistehen. Aber ich kann es einfach nicht. Kannst du mich verstehen?“

Karin setzte sich auf, sah ihn an und nickte.

„Ja, schon. Sie kann nicht verlangen, dass du dich aufopferst, wenn es nicht mehr stimmt. Du musst das ganz schnell und entschieden ändern, Christian.“

„Wie soll ich das ändern? Ich kann sie doch nicht hinauswerfen. Wo soll sie denn hingehen mit all den Sorgen, die sie jetzt umtreiben? Wenn wenigstens ein Ende der Situation abzusehen wäre.“

„Suche ihr ein Zimmer, das reicht doch für den Anfang.“

„Das kann ich nicht, noch nicht.

Es war ein unvergesslicher Abend.

Von diesem Tag an trafen sie sich täglich. Karin war auch verheiratet und hatte vor kurzem ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert.

Sie und ihr Mann hatten drei Kinder, die noch zu Hause lebten. Sie gingen alle noch zur Schule und waren zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre alt. Dennoch gaben sie sich wie unter Zwang ihren berauschenden Gefühlen hin, wohl wissend, dass ihre Familien sehr darunter leiden würden, wenn es herauskäme.

Von nun an verbog sich Christian mit seinen Lügen. Er war in einen großen Zwiespalt geraten. Einerseits zog es ihn zu Karin, seiner neuen prickelnden Liebe. Andererseits hatte er Angst, ob diese Liebe im Alltag bestehen konnte.

Bei Renate hingegen wusste er seit Jahrzehnten, woran er war. Es war albern, aber er hätte am liebsten nur einmal ausprobiert, ob es mit Karin funktionierte. Eine Beziehung auf Probe wäre das Richtige gewesen. Da dies nicht ging, musste er abwarten und weiterlügen. Er konnte und wollte sich noch nicht entscheiden.

Ja, so war das vor einigen Monaten, dachte Christian. So hatte er Karin kennen gelernt und so hatte sich das Ganze entwickelt, das er jetzt nicht mehr steuern konnte.

Er schob seine Gedanken beiseite und rannte Renate, die ihn einfach sitzen gelassen hatte, wütend hinterher.

„Was sagst du da?

„Das glaube ich nicht wirklich! Du hast uns doch in diese Situation gebracht! Wir haben kaum Geld, du lebst von dem, was ich verdiene und steuerst so gut wie nichts bei. Was hast du dir bloß dabei gedacht?“

Christian war krebsrot, bebte vor Wut, holte tief Luft und musste sich beherrschen, nicht die Hand gegen sie zu erheben.

„So einfach kannst du das nicht interpretieren“, erklärte Renate.

„Genau wie du habe ich über Jahrzehnte gearbeitet und unser Leben organisiert. Ich habe den Haushalt versorgt und unseren Sohn erzogen, habe dich immer geliebt und war für dich da. Natürlich habe ich einen großen Fehler gemacht. Die finanzielle Katastrophe lastet aber nicht auf deinem, sondern auf meinem Namen und auf meinen Schultern. Ich werde angegriffen und nicht du.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an.

„Dein Benehmen ist das Allerletzte!“

„Na und! Du kannst doch nicht sagen, dass ich nicht betroffen bin. Mit meinem Geld müssen wir auskommen, was schwer ist und auch manchmal fast gar nicht geht!“, tobte er und schlug sich energisch mit der Hand auf die Brust.

„Solange du hier lebst, erwarte ich, dass du für häusliche Normalität und Mahlzeiten sorgst!“, brüllte er mit hervorstechenden Augen.

Er hatte jetzt vollkommen die Kontrolle über sich und seine Worte verloren.

„Da hast du die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich werde meinen Anwalt fragen. Du kannst nicht zwei Frauen haben. Eine für das Schöne im Leben und mich als Haushaltshilfe für dein leibliches Wohl und die Wäsche. Was für eine bizarre Situation.“

„Das ist ja gar nicht so“, antwortete er erschrocken.

„Wie, das ist nicht so? Du hast mit hundertprozentiger Sicherheit eine andere Frau.“

„Das stimmt nun wirklich nicht“, sagte er mit Nachdruck.

„Das glaubst du doch selbst nicht, was du da sagst, Christian. Wieso bist du nicht einfach ehrlich? Außerdem wäre ich dir sehr dankbar, wenn du ihr sagen könntest, dass sie hier nicht mehr ständig anrufen soll.“

„Aber das tut sie doch gar nicht.“

„Ach, sieh einer an, jetzt hast du dich verplappert! Endlich hat die Lügerei ein Ende.“

Renate holte tief Luft. Diese brutale Wahrheit tat weh.

„Natürlich ruft sie hier an. Sogar am helllichten Tag. Und ganz oft dann, wenn sie weiß, dass du gar nicht hier bist, nicht hier sein kannst. Was will sie von mir? Will sie mich quälen, will sie mich mürbe machen oder was sonst? Das gelingt ihr garantiert nicht, sag ihr das. Notfalls kümmere ich mich darum, zum Beispiel wer sie ist. Und falls da ein Mann ist, dann ist das umso besser.“

„Stimmt doch gar nicht!“, schrie er zurück.

„So etwas tut sie nicht, ganz bestimmt nicht. Das weiß ich. Lass die Finger von ihr und ihrem Mann. Das geht dich nichts, aber rein gar nichts an. Hörst du?“

„Endlich, zwei Mal bestätigt, es gibt sie also tatsächlich. Nun hast du es ausgesprochen. Du sagst, sie tut so was nicht? Dann sind es die Heinzelmännchen, die hier ständig anrufen und einfach wieder auflegen. Diese Frau hat keinen Charakter, sonst würde sie das nicht tun.“

„Du spinnst dir doch etwas zusammen. Aber das ist ja kein Wunder. Den ganzen Tag im selben Dreh, da geht halt die Fantasie mit dir durch.“

„Rede nur weiter solchen Blödsinn und lüge. Unglaublich, welche Energie du damit verbrauchst, mir diesen absoluten Schwachsinn zu erzählen. Das kannst du doch einfacher haben. Wir können uns doch ganz einfach trennen, natürlich mit den dazugehörigen Konsequenzen“.

Christian setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Sie hatte ihn im Kern getroffen. Nun konnte er nicht mehr lügen, es ging nicht mehr. Er konnte sie verstehen. Seine innere Zwiespältigkeit machte ihm jetzt, als es darauf ankam, ganz besonders zu schaffen. Er wollte sie nicht verlieren. Noch nicht. Wenn einer von ihnen ging, dann konnte er nicht mehr zurück. Er war Renate gewohnt.

Und Karin? Wie würde es mit ihr werden? Wenn sie nun doch völlig verschieden waren? Er war verliebt und genoss die schöne Leichtigkeit.

Aber konnte das auf Dauer Bestand haben? Was, wenn sie unter ihrer familiären Trennung litt?

Wenn die drei Kinder zu ihnen kämen und ihn ablehnten? Was wäre, wenn? In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Innerlich war er völlig zerrissen. Er hielt faktisch an zwei Frauen fest.

„Was willst du von deinem Anwalt? Du hast kein Geld, das ist dir ja hoffentlich bekannt. Und du bekommst von mir keinen Unterhalt, deshalb kannst du auch nicht ausziehen“, hielt er Renate vor.

„Das sehe ich nicht so. Ganz sicher musst du Unterhalt zahlen. So einfach geht das nicht, denn es gibt Gesetze. Ich bin doch nicht deine Leibeigene, mein Lieber. Das kannst du vergessen.“

„Na dann, versuche es“, sagte er resigniert.

„Ich habe kein Geld für zwei Wohnungen. Überlege gut, was du machst. Das können wir finanziell auf keinen Fall bewältigen.“

„Was geht eigentlich in dir vor, frage ich dich. Jahrzehnte lang leben wir zwar ein schwieriges, aber dennoch gutes Leben. Jetzt, wo ich dich am meisten brauche, lässt du mich im Stich. Schlimmer noch, du benutzt mich regelrecht als Haushaltshilfe, und das tut mir in der Seele weh. Niemals hätte ich das von dir gedacht.“

Karin strich sich über die Stirn und drehte sich ihm zu.

„Nach so vielen Jahren verlassen zu werden, das ist schon nicht einfach, aber dein egoistisches Verhalten ist jenseits von gut und böse. Ich habe schon viel gehört von Trennungen und was so gang und gäbe ist. Aber deine Variante sprengt alle Vorstellungen, das weißt du genauso gut wie ich.“

Christian zuckte resigniert die Schultern.

„Ich kann dir in deiner jetzigen Situation nicht helfen, auch wenn du glaubst, dass du mich brauchst. Das ist mir alles zu viel, und mir fehlt die Kraft, dir eine Stütze zu sein. Ich habe keine Lust, deinetwegen ein Leben auf der Schmalspur zu führen. Das kann ich dir sagen. Das ist meine Wahrheit.“

Renate lachte hart auf. Nach diesen klaren Worten verstand sie die Welt nicht mehr.

Christian blickte sie ernst an.

„Kannst du mir nicht etwas Zeit geben? Ich wollte diese Beziehung nicht. Es ist einfach so gekommen.“

Er machte eine Pause und beobachtete sie.

„Ich weiß auch nicht, ob sie Bestand haben wird. Warte doch einfach mal ab. Vielleicht geht das nicht so einfach, wie ich mir das vorstelle. Schließlich hat sie auch eine Familie, auf die sie Rücksicht nehmen muss.“

Christian lief auf sie zu.

„Ich weiß bis heute nicht, was ich will, und würde gerne noch eine gewisse Zeit abwarten.“

„Wie? Ich soll diese Dreiecksgeschichte dulden und warten, bis du erkannt hast, welche von uns beiden die Bessere ist? Das ist doch der Gipfel der Unverschämtheit! Das kann doch nun wirklich nicht dein Ernst sein!“

Mit feuchten Augen verließ Renate die Küche und zog sich ins Esszimmer zurück. Energisch schloss sie die Tür hinter sich. Die Stille war auf einmal unerträglich, und wenn sie an die Unterhaltung von eben dachte, schossen ihr Tränen in die Augen.

Für einen Moment kam wieder diese Müdigkeit, diese Resignation in ihr hoch, die gelegentlich ihren Körper lähmte. In solchen Augenblicken lief sie auch oft Gefahr, sich in Selbstmitleid legen und sich darin wälzen zu wollen. Das passierte immer dann, wenn sie sich im Kreis drehte, wenn sie glaubte keine Lösung zu finden. Das war ein Gefühl, als wäre sie in einem Zimmer, ohne Fenster und ohne Tür. Kein Ausgang, nur ein Verharren.

Aber diesmal straffte sie umgehend wieder die Schultern. Nein, das wollte sie nicht, jetzt nicht mehr. Jetzt muss Schluss damit sein.

Christian hatte ihr den Spiegel vorgehalten und genau das ausgesprochen, was sie selbst vierundzwanzig Stunden am Tag beschäftigte: ihre unternehmerische Niederlage. Sie musste heraus aus dieser Wohnung und deswegen ihre Eltern um finanzielle Hilfe bitten. Aber es würde ihr nicht leichtfallen.

Ihr Vater war nie von ihrem Ehemann überzeugt gewesen. Sie schämte sich jetzt, versagt zu haben und als erwachsene Frau zu den Eltern gehen zu müssen. Genau das war aber die Tür, die für sie den Ausgang bedeutete.

Am schlimmsten war, mit niemandem darüber reden zu können. Ihren Sohn wollte sie mit ihrem Problem nicht belasten, und seit sie beruflich Schiffbruch erlitten hatte, hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen. Alle Freunde und Bekannten hatten dies ebenso getan. Es gab niemanden mehr, der ihr als gute Freundin beistehen konnte.

„Mein Gott!“, flüsterte sie.

Sie konnte keinen anderen Silberstreif am Horizont. Es gab ohne Hilfe keine Normalität. Eine Arbeit zu finden, so lehrten sie ihre bisherigen Erfahrungen, war so schwierig. Und das Arbeitslosengeld würde nicht reichen, um das Leben mit all den Schulden alleine bestreiten zu können. Renate stand auf und sah aus dem Fenster.

Sie wusste, dass alles vom Geld abhing.

Heute Abend nahm sich fest vor, nun tätig zu werden und zu sehen, was die nächsten Tage brachten, trotz und gerade wegen dieser vermeintlichen Aussichtslosigkeit.

Christian hingegen hatte sich vor den Fernseher gesetzt. Bilder und Stimmen erfüllten den Raum und liefen an ihm vorbei. Sein Innerstes war aufgewühlt, und seine Gefühle konnte er nicht mehr einordnen. Leise schlich er sich zum Telefon und wählte Karins Nummer. Nach einem kurzen Moment hörte er die Stimme ihres Mannes.

Ohne ein Wort zu sagen, legte Christian auf. Schade, dachte er und schleppte sich müde ins Bad.

Während er sich kaltes Wasser über die Hände laufen ließ, betrachtete er sich lange im Spiegel. Konzentriert musterte er seine dunklen Augenränder, sein schütteres und stark ergrautes Haar. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren konnte er mit seinem Äußeren zufrieden sein. Seine Teilglatze und seine grauen Haare störten ihn überhaupt nicht.

Er war schlank, durchschnittlich groß, hatte braune Augen, eine gerade Nase und einen wohlgeformten Mund.

Was tat er hier eigentlich? Was war das Richtige für ihn? Konnte er Karins hohe Erwartungen erfüllen? Was erwartete Karin eigentlich von ihm und ihrem gemeinsamen Leben? Dachte sie überhaupt an ein gemeinsames Leben? Sie wussten beide nicht, wie sie ihren Alltag gemeinsam gestalten würden, hatten bisher nicht darüber gesprochen, geschweige denn darüber nachgedacht.

Würde es sehr anstrengend sein?

Wie würde das Zusammenleben mit drei fast erwachsenen Kindern werden? Christian stöhnte. Er hatte nur Fragen über Fragen, aber keine Antworten.

Mühsam begab er sich ins Schlafzimmer, wohl wissend, dass er in dieser Nacht kein Auge zutun würde.

Als am nächsten Morgen um fünf Uhr der Radiowecker ansprang, stellte sich Renate schlafend, obwohl sie sofort hellwach geworden war.

Christian erhob sich wortlos und verließ eine halbe Stunde später ohne Frühstück und ohne Abschied die Wohnung. Es war ein herrlicher Morgen. Die Luft war klar, der Himmel blau und die Vögel zwitscherten. Ein wunderbarer Sommertag begann, aber Christian interessierte sich nicht für das schöne Wetter.

Übermüdet und in Gedanken vertieft fuhr er zur Firma und parkte sein Auto auf dem üblichen Parkplatz. Er war noch alleine im Büro, als er eintrat. Seine Kollegen kamen erst gegen halb sieben. Seit Wochen nutzte er diese Zeit, um mit Karin heimlich zu telefonieren.

„Hallo“, flüsterte er in den Hörer, als sie sich meldete. „Ich bin froh, deine Stimme zu hören.“

„Hast du gestern Abend bei uns zu Hause angerufen?“, fragte sie gleich, ohne auf seine Begrüßung zu antworten. Das irritierte ihn. So kannte er sie gar nicht. Normalerweise gab es erst eine zärtliche Begrüßung mit sehnsüchtigen Wünschen.

„Ja, ich hätte gern mit dir gesprochen, denn meine Frau hat mir die Trennung angekündigt. Ich konnte unsere Beziehung nicht länger verheimlichen. Es war ein nervenaufreibender und langer Streit, der mir persönlich sehr zugesetzt und mir zu schaffen gemacht hat.“