Gerda rockt die Bühne - Barbara Herrmann - E-Book

Gerda rockt die Bühne E-Book

Barbara Herrmann

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Beschreibung

Oma Gerda hat die Nase voll. Sie hat ihren starrköpfigen, dominanten Ehemann überlebt und hofft auf eine bessere Zeit. Doch anstatt endlich das Leben neu zu beginnen, wird sie von ihrer Tochter und deren Kindern eingespannt und ausgenutzt. Als sie eines Tages das Zimmer ihrer Enkelin aufräumt, stolpert sie über deren E-Gitarre. Wie unter Zwang legt sie los und lässt die Rock´n Roll-Zeit ihrer Jugend wiederauferstehen. Der kurze Ausflug in die Vergangenheit legt in Gerda einen Schalter um. Sie erinnert sich an das alte Motorrad ihres Mannes, das immer noch im Schuppen steht, packt einen Koffer und ihre winzige Rente und verlässt das Haus. Eine abenteuerliche Reise beginnt, in deren Verlauf Gerda sogar eine Musikerkarriere startet. Ein turbulenter und kecker Roman über das Leben der alten Junggebliebenen, erzählt mit einem Augenzwinkern und einer großen Portion Humor.

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Über das Buch

Oma Gerda hat die Nase voll. Sie hat ihren starrköpfigen, dominanten Ehemann überlebt und hofft auf eine bessere Zeit. Doch anstatt endlich das Leben neu zu beginnen, wird sie von ihrer Tochter und deren Kindern eingespannt und ausgenutzt.

Als sie eines Tages das Zimmer ihrer Enkelin aufräumt, stolpert sie über deren E-Gitarre. Wie unter Zwang legt sie los und lässt die Rock 'n' Roll-Zeit ihrer Jugend wiederauferstehen.

Der kurze Ausflug in die Vergangenheit legt in Gerda einen Schalter um. Sie erinnert sich an das alte Motorrad ihres Mannes, das immer noch im Schuppen steht, packt einen Koffer und ihre winzige Rente und verlässt das Haus. Eine abenteuerliche Reise beginnt, in deren Verlauf Gerda sogar eine Musikerkarriere startet …

Ein turbulenter und kecker Roman über das Leben der alten Junggebliebenen – erzählt mit einem Augenzwinkern und einer großen Portion Humor.

Über die Autorin

Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Nachwort

1

»Oma! Wo bist du? Ich brauche meine Sportklamotten«, rief Josefine die Treppe herunter.

Es war gerade halb sieben am Morgen, und die Hektik strömte spürbar durch das ganze Haus.

Türen wurden auf- und zugeschlagen, die Toilettenspülungen schienen im Dauereinsatz, das Duschwasser rauschte, und der Geruch diverser Seifen und Parfums vermischte sich zu einem bunten Strauß von Blütendüften.

Das alles ging Gerda zugegebenermaßen tierisch auf den Keks, denn sie würde nie im Leben verstehen, warum drei weibliche Geschöpfe bereits am frühen Morgen so ein Chaos verbreiten konnten.

Deshalb zog sie sich, nachdem sie für ihre Familie das Frühstück zubereitet hatte, auf ihr Zimmer zurück und setzte sich auf das Bett.

Sie brauchte morgens nach dem ersten Ansturm einfach ein paar Minuten für sich, und anscheinend war ihr dieser kleine Moment heute nicht gegönnt.

Also erhob sie sich gleich wieder und stieß einen tiefen Seufzer aus, um sich notgedrungen auf den Ruf ihrer Enkelin einzulassen.

Noch ehe sie allerdings selbst die Tür öffnen konnte, flog diese schon auf, und natürlich war da zuvor auch kein Klopfen zu hören gewesen. Warum auch? Es war doch nur Oma.

Josefine stand mit einem Marmeladenbrot in der Hand vor ihr.

»Oma, bist du taub? Wo sind meine Klamotten für den Turnbeutel?«, rief sie mit vollem Mund.

»Na, da, wo du sie zuletzt hingeworfen hast, schätze ich mal.«

Gerda hätte sie am liebsten rausgeworfen, stattdessen betrachtete sie ihre Enkelin eingehend.

Josefine war fünfzehn Jahre alt, ein schlankes, großes Mädchen mit langen blonden Haaren und blauen Augen.

Heute trug sie schrille Hotpants, ein bauchfreies Top und passende Ballerinas. Ihr eigentlich schönes Gesicht war für ein Mädchen in ihrem Alter viel zu auffällig geschminkt.

»Was schaust du denn so? Habe ich was Komisches an mir?«

Josefine blickte an sich hinunter und kaute auf ihrer Brotkruste rum.

»Ne, hast du nicht. Du siehst aber aus, als wärst du in einen Farbtopf gefallen. Das ist nicht wirklich schön, wenn du dich als junges Ding so auffällig schminkst.«

Warum nur sagte ihre Mutter der Kleinen nicht, dass es nicht gut war, so auffällig rumzulaufen?

Sie war noch blutjung und kleidete sich viel zu aufreizend. So etwas barg doch auch unvorhersehbare Gefahren.

Fehlte nur noch, dass sie sich so aufgestylt mit einem … – wie hieß das noch mal?

Gerda musste überlegen, dieses moderne Zeug verlangte einem aber auch alles ab, stellte sie fest.

Ah, dann fiel es ihr ein: mit einem Selfie selbst postet.

»Du hast doch keine Ahnung, Oma. Du weißt doch gar nicht mehr, was modern ist. Gib mir meine Klamotten, ich muss los.«

»Ja, wenn du das von einer alten Schachtel wie mir denkst, dann ist ja gut so, wie du aussiehst und wie du rumläufst. Ich habe übrigens keine Sportkleidung von dir. Wenn du sie nicht in den Wäschekorb getan hast, dann kann ich sie nicht gewaschen haben, und dann liegt die Wäsche auch nicht gebügelt im Schrank. Bis du das irgendwann einmal kapiert hast, musst du schauen, was du in die Schule mitnimmst.«

»Mist! Das geht aber nicht, Oma.«

»Lass mich gefälligst alleine!«

Gerda stellte sich an die Tür und zeigte ihrer Enkelin mit der ausgestreckten Hand den Weg aus dem Zimmer. Sie hatte jetzt keine Lust mehr, zu diskutieren oder gar hinter der Göre herzulaufen.

Wütend drehte sich Josefine um und stapfte davon.

Plötzlich war von der kleinen Halbstarken nichts mehr übrig, da rannte nur noch ein kleines, verzogenes Mädchen aus dem Zimmer.

Wenn sie jetzt noch mit dem Bein aufstampfte, wäre ihr kindisches Verhalten perfekt.

»Oma, bring heute meine Jacke zur Reinigung!«

Das war jetzt die helle Stimme von Natalie.

»Oh Herr, lass Abend werden, der Morgen kommt von alleine«, flüsterte Gerda.

»Jetzt kommt die nächste Enkelin. Fehlt nur noch meine Tochter, dann habe ich wenigstens dieses morgendliche Theater hinter mir.«

»Oma, ich habe die Tüte mit der Jacke neben den Schirmständer gestellt.«

Natalie machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Oma zu fragen, ob sie überhaupt Zeit hatte, die Jacke wegzubringen. Warum sollte sie auch? Oma wird das schon machen. Die macht immer alles.

Natalie war siebzehn Jahre alt und sah ihrer Schwester ziemlich ähnlich. Auch sie war groß gewachsen, schlank und hatte ebenso blonde lange Haare.

Nur die Augen waren nicht blau, sondern grün. Die hatte sie von ihrem Vater.

Gerda raffte sich auf und hastete in die Küche.

Dort traf sie auf ihre Tochter Victoria, die bereits im Mantel am gedeckten Küchentisch stand – in einer Hand die Kaffeetasse, in der anderen ein halbes Brötchen, das sie voller Hektik runterwürgte.

Gerda schüttelte den Kopf.

»Das kann man ja nicht mehr mit anschauen. Warum setzt du dich nicht für ein paar Minuten hin und trinkst deinen Kaffee?«

Sie konnte so ein Verhalten nicht begreifen.

Es wurde doch die gleiche Zeit verbraucht, egal ob man auf einem Stuhl saß oder in Hut und Mantel vor dem Tisch stand.

Victoria ging auf den leisen Vorwurf ihrer Mutter gar nicht erst ein. Sie wollte keine Diskussion am frühen Morgen.

Und die würde unweigerlich folgen, wenn sie sich jetzt auf diesen Dialog einließ.

»Ich komme heute Abend später. Kümmere dich um den Einkauf, die Liste habe ich auf meinen Schreibtisch gelegt.«

Gerda war kurz davor zu explodieren, als sie das hörte. In letzter Zeit verspürte sie immer öfter den Wunsch, der Familie nicht mehr zur Verfügung stehen zu wollen.

Ihr Gefühlsleben schwankte zwischen der Meinung, es hier aushalten zu müssen, und dem Drang, diese Ausbeuterei abzulehnen.

Momentan war das aber nur ein Gefühl.

»Mit vollem Mund spricht man nicht, Victoria«, sagte sie stattdessen, um ihre Wut ein wenig zu unterdrücken.

»Das habe ich dir bereits vor vierzig Jahren beigebracht.«

»Ach Mama, lass gut sein mit der Erziehung. Ich bin in Eile.«

Mit einem Ruck schob Gerda den Stuhl, der mitten in der Küche stand, ordentlich an den Tisch.

»Ich habe keinen Bock mehr auf eure Aufträge und euren Saustall. Ihr müsst respektieren, dass ich ein Recht auf ein eigenes Leben habe, auch wenn ich hier wohne.«

»Hör auf zu meckern, Mama, und entspann dich lieber. Du hast es doch gut hier, wohnst in einem großen Haus und hast einen schönen Garten.«

Victoria griff nach ihrer Aktentasche.

»Ein bisschen was zum Haushalt musst auch du beitragen. Andere Mütter müssen ins Altersheim, da ist es bestimmt nicht so angenehm wie hier. Tschüss, bis heute Abend.«

Mit einem Kopfnicken drehte sie sich um und verließ das Haus. Sie war ja schließlich in Eile.

Gerda ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sie war geplättet.

Was ihre Tochter ihr gerade so ganz nebenbei aufs Brot geschmiert hatte, das war schon …

Was war es eigentlich?

Es war eine Ungezogenheit.

Nein, es war eine Schweinerei, so etwas zur eigenen Mutter zu sagen, ihr einfach zwischen Tür und Angel mit dem Altersheim zu drohen, obwohl sie keinerlei Gebrechen hatte und durchaus alleine leben konnte.

Das war schon harter Tobak.

Die hat wohl vergessen, dass es gewissermaßen mein Haus ist und eigentlich sie selbst froh sein müsste, mit ihren Mädels hier wohnen zu dürfen, überlegte sie wütend weiter.

Andersherum wird also ein Schuh daraus.

Aus rein steuerlichen Gründen hatte Gerda ihrer Tochter das Haus bereits zu Lebzeiten überschrieben, und jetzt so zu tun, als müsste sie auch noch dankbar sein, nicht abgeschoben zu werden, war einfach unglaublich.

Gerda erhob sich und lief zum Fenster. Ihre Gedanken analysierten weiter.

Und nicht zu vergessen, sie hatte lebenslanges Wohnrecht. Dennoch lud ihr die Bande trotz des geschenkten Hauses auch noch den ganzen Haushalt auf den Buckel und schämte sich nicht einmal dafür.

Nach Augusts Tod war das alles nahtlos über die Bühne gegangen. Sie hatten wohl gedacht, dass es am einfachsten sei, wenn Gerda bei ihrer bisherigen Aufgabe blieb und weiterhin Haus und Hof versorgte.

Gerda drehte sich um und schüttelte unentwegt den Kopf. Sie hätte heulen können, aber die Wut verbot ihr strikt, diesem Wunsch nachzugeben.

Also ging sie erst einmal wieder in ihr Zimmer. Sie musste jetzt nachdenken.

Auf der kleinen Kommode stand das gerahmte Bild von ihrem verstorbenen Mann August, der sie mit seinem strengen Gesichtsausdruck mahnend ansah.

Wenn sie nur lange genug draufschaute, siegte die täuschende Wahrnehmung, dass sich seine streng blickenden Augen vergrößerten und hervorstachen.

Ja, es entstand sogar der Eindruck, dass sie sich bewegten.

»Du brauchst mich gar nicht so anzuglotzen!«

Sie streckte dem Bild die Zunge raus.

»Das, mein lieber August, das lasse ich deiner Tochter nicht durchgehen. Darauf kannst du Gift nehmen!«, keifte sie.

Sie hielt kurz inne, lachte hart auf und trat ganz nahe an das Foto heran.

»Nein, du hättest dich nie vergiftet, du Armleuchter. Noch bis zu deinem letzten Atemzug hast du mich auf dem Krankenbett unaufhörlich schikaniert.«

Ihre Augen blitzen das Bild an.

Wenn Blicke töten könnten und August nicht bereits tot wäre, würde er spätestens jetzt umfallen.

Sie drehte das Bild um, weil sie ihn nicht mehr sehen wollte, dann setzte sie sich auf die Bettkante.

»Ich muss etwas ändern. Das kann es nicht gewesen sein, das darf es einfach nicht gewesen sein!«, rief sie laut.

Gerda stieß die Luft aus, um der aufsteigenden Beklemmung Herr zu werden.

Die ganze Situation konnte einen depressiv werden lassen, aber sie wäre nicht Gerda, wenn sie jetzt resignierte.

Wenn sie nur nicht so feige gewesen wäre. Ihr ganzes Leben hatte sie sich eigentlich eher unterwürfig verhalten, weil August keine Widerrede zuließ.

Er gehörte zu der Generation Mann, der am Abend die Pantoffeln gebracht bekam, und sie war die Generation Frau, die gehorsam folgte, obwohl die Sechzigerjahre dafür bekannt waren, dass die Jugend sich gegen die Generation der Obrigkeiten auflehnte.

Gewürzt war das Ganze bei Gerda mit einer Portion Bequemlichkeit und dem Wissen, versorgt zu sein.

2

Ihre Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit.

Kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag hatte sie August in der Tanzschule kennengelernt.

Er war ein stattlicher junger Bursche mit blonden, lockigen Haaren, die sich trotz des strengen Schnittes kaum bändigen ließen.

Seine blauen Augen blitzen sie wie zwei funkelnde Sterne an, als er sie zu seiner Tanzpartnerin auserwählte.

Ihr Mund war völlig trocken vor Aufregung, denn sie hätte nie gedacht, dass es so gut laufen würde.

Es waren nämlich einige von der Natur benachteiligte Jungs dabei, und sie hatte schon Sorge gehabt, mit einem von ihnen für die nächsten Wochen das Tanzbein schwingen zu müssen.

Sicher waren sie alle nett, aber einer hatte zum Beispiel Segelfliegerohren, ein anderer einen Zinken von einer Nase, dass man einen Tropfenfänger hätte aufhängen können.

Dann war da einer, der eine Brille mit so dicken Gläsern trug, dass er ohne das Nasenfahrrad bestimmt nicht die Hand vor den Augen sah.

Wieder ein anderer hatte große, schiefe, nach vorne stehende Zähne wie ein Hase, und ein weiterer fiel durch seine Kleidung auf, denn er schob so extrem Hochwasser, dass er die Hose nur von seinem Bruder oder Vater übernommen haben konnte.

Aber der junge Mann, der da vor ihr stand, sah einfach nur gut aus.

»Darf ich bitten?«, fragte er mit einer vollendeten Verbeugung.

Gerda nahm die Einladung mit einem Knicks an. »Gerne.«

»Ich bin August, und du?«

»Gerda heiße ich.«

Sie war eine kleine Schönheit. Ihre langen blonden Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, hüpften bei jeder Bewegung keck hin und her. Sie trug ein gepunktetes blau-weißes Rockabilly-Kleid mit einem weitschwingenden Rock und breitem Gürtel, in dem sie hinreißend aussah.

»Ich hoffe, ich begreife die Schritte.«

In ihrer Verlegenheit wusste sie nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Sie hatte ja in solchen Dingen absolut keine Übung, denn sie war in einem streng gläubigen Elternhaus aufgewachsen, ihr Vater war Lehrer, genauer gesagt ein Oberstudienrat, und ihre Mutter Hausfrau.

Ganz klar, dass sie nicht viele Erfahrungen mit Flirts hatte.

Der Tanzkurs war das erste Zugeständnis an die Tochter, der erste Schritt in Richtung Erwachsenwerden – allerdings nur, weil das Tanzen zur Etikette und zum guten Ton gehörte.

»Och, ich kann das ja auch noch nicht«, beruhigte er sie. »Wir lernen das schon zusammen, keine Sorge.«

August reichte ihr den Arm und führte sie nach der Aufforderung des Tanzlehrers auf die Tanzfläche.

3

Das Telefon riss Gerda brutal aus ihrem Ausflug in die Vergangenheit. Äußerst widerwillig griff sie zum Hörer.

»Ja bitte?«

»Warum bist du denn so ungehalten?«, hörte sie Victoria am anderen Ende der Leitung rufen.

»Ich bin nicht ungehalten, ich bin beschäftigt. Was willst du denn um diese Zeit?«

»Entschuldige, Mama, ich wusste nicht, dass ich mich rechtfertigen muss, wenn ich dich anrufe. Sei so lieb und bereite für heute Abend ein Essen für vier Personen vor, ich bringe Gäste mit. Mach einfach als Vorspeise eine Antipasti-Platte, dann ein Steak mit Salat und einen Nachtisch. Wir kommen so gegen acht.«

»Ich hatte eigentlich vor, heute Abend ins Theater zu gehen. Du kannst doch mit deinen Gästen ein Restaurant aufsuchen.«

Sie hegte die leise Hoffnung, mit dieser spontanen Ausrede den Auftrag loszuwerden.

Aber Victorias Antwort folgte auf dem Fuße: »Das geht nicht. Es sind wichtige Geschäftspartner, und die freuen sich, wenn sie privat eingeladen werden.«

»Das ist dein Problem, nicht meines. Ich bekoche doch nicht schon wieder deine Gäste.«

Gerda versuchte, standhaft zu bleiben. Sie hatte heute keinen guten Tag und wollte einfach nicht.

»Hör jetzt bitte auf rumzuzanken, Mutter. Du kannst morgen auch noch ins Theater gehen.«

»Ja klar, wer es glaubt, wird selig. Hier ist so viel zu erledigen, dass ich nie ins Theater komme.«

»Das ist doch nicht wahr. Außer dem bisschen Hausarbeit ist doch nichts zu tun, die Mädels sind sehr selbständig, und ich bin auch immer im Büro. Ich muss jetzt Schluss machen, wir besprechen das ein anderes Mal. Also bis um acht, und nimm bitte das blaue Geschirr.«

Gerda stand mit dem Hörer in der Hand mitten im Flur, schlug mit der Faust gegen die Wand und rief: »Diese dusselige Kuh, was bildet die sich eigentlich ein? So respektlos kann man doch nicht mit seiner Mutter umspringen. Das ist ja unglaublich. Und so eine Kanaille habe ich liebevoll großgezogen!«

Stinksauer lief sie in ihr Zimmer und ließ sich in ihren Lehnsessel am Fenster fallen.

»Die ist genau wie ihr Vater«, flüsterte sie.

August, ihr verstorbener August. Das war vielleicht ein Kaliber von Mensch gewesen.

Sie wusste heute gar nicht mehr, wie sie es jahrzehntelang mit ihm ausgehalten hatte.

Eigentlich musste sie Gott dankbar sein, dass er zuerst August und nicht sie abholte.

So blieben ihr wenigstens noch ein paar schöne Jahre, dachte sie damals an seinem Totenbett. Wie hatte sie auch ahnen können, dass ihre Tochter in seine Fußstapfen trat?

Gerda wusste, dass sie sich nicht so einfach befreien konnte, aber sie würde ihrer Tochter und ihren Enkelinnen kleine Nadelstiche versetzen, das nahm sie sich jetzt felsenfest vor.

Der Stachel, ins Altersheim gehen zu müssen, den ihre Tochter gesetzt hatte und der Gerda nun ständig pikste, hinterließ eindeutig seine Spuren.

Bei August hatte sie sich damals eher als Duckmäuser hervorgetan, doch diese Eigenschaft musste sie jetzt schleunigst ablegen.

Niemand würde sie irgendwo hinstecken, und niemand würde bestimmen, wo sie zu sein und wie sie zu leben hatte.

Am besten erkundigte sie sich schnell, ob sie ihren Fehler mit der Übergabe des Hauses korrigieren konnte.

Wenn nicht, sah es verdammt eng für sie aus. Ihre eigene Rente war ganz klein und reichte eigentlich nicht für ein einigermaßen ruhiges Leben, denn sie hatte ja nie richtig gearbeitet.

August war selbstständig, hatte nicht an seine Frau gedacht und erst recht nicht an die Zeit nach seinem Tod.

Er war der Meinung, dass das Haus, also ein Dach über dem Kopf, und eine kleine Lebensversicherung für seine Hinterbliebenen reichten, falls er das Pech haben sollte, zuerst abtreten zu müssen.

Eine Rente hatte er sich selbst nie angespart. Er bekam ein Ruhegeld aus der Likörfabrik seiner Familie, aber nur solange er lebte.

Und die Fabrik war inzwischen geschlossen.

Die Rezepturen und die Marke hatte ein großer Konzern aufgekauft.

Das bisschen Geld dafür bekam Augusts Bruder, der ja auch als Erstgeborener die Firma geerbt hatte.

August dagegen erhielt nur den Pflichtteil, von dem er sich ein neues Auto kaufte. Ja, und die kleine Lebensversicherung hatte Gerda bereits teilweise ausgegeben.

Den kläglichen Rest, der nun noch übrig war, hatte sie für ihre Beerdigung beiseitegelegt.

Wenn sie nicht bei ihrer Tochter bleiben wollte, musste sie sich wohl oder übel eine Arbeit suchen – und das konnte sie sich im Moment gar nicht vorstellen, weil sie keinerlei Berufserfahrung oder besondere Kenntnisse und Fähigkeiten anzubieten hatte, abgesehen von der Pflege und der Haushaltsführung natürlich.

Aber sollte das ihre Zukunft sein? Vom Regen in die Traufe? Nein, das wollte Gerda nicht.

Ein schneller Blick zur Uhr sagte ihr, dass sie sich noch eine halbe Stunde im Sessel genehmigen konnte, bis sie endgültig mit der Hausarbeit loslegen musste.

Schnell zog sie ihren kleinen Schemel ran und stellte ihre Füße drauf. Dann lehnte sie sich zurück, und ihre Gedanken wanderten wieder dorthin, wo sie bereits vor Victorias Anruf gewesen waren: bei August und der Tanzschule.

4

Spätestens nach der dritten Stunde war sie damals in Augusts Armen nur so dahingeschmolzen.

Der aber hatte den Tanzkurs als eine Pflichtübung betrachtet, die auch noch bezahlt werden musste.

Er dachte und handelte einfach nur rational und kühl, doch vielleicht war es genau das, was sie an ihm faszinierte und sie so dahinschmelzen ließ.

Heute aber war ihr ihre Dummheit von damals ein Rätsel. Wie hatte sie sich nur in so einen Eisklotz verlieben können?

»Hast du Lust, mit mir zum Maitanz zu gehen?«, fragte er sie zwischen den Grundschritten des Langsamen Walzers.

Gerda wurde rot bis zu den Haarspitzen, und ihr Herz pochte, als wollte es gleich herausspringen.

Es kostete sie alle Mühe, August nicht vor Aufregung auf die Füße zu treten, sie musste sich extrem auf die Tanzschritte konzentrieren.

Als sie ihm schritttechnisch wieder so in den Armen lag, dass sie sich aus der Drehung herausbewegten, schaute sie ihm automatisch in die Augen.

»Ja.« Mehr fiel ihr vor Aufregung nicht ein, was sie doch innerlich ärgerte.

August indes verzog keine Miene und konzentrierte sich wieder in aller Abgeklärtheit auf die Tanzschritte.

Gerne hätte sie gewusst, ob er sich über ihre Antwort freute, doch er sagte nichts dergleichen.

Da war nicht eine Regung, die ein Gefühl zum Ausdruck brachte.

Auf der Straße hupte mehrmals ein Auto. Gerda erschrak, blickte zur Uhr und schob ungern die Gedanken an die Vergangenheit beiseite.

5

»Oh, ich mit meiner elenden Tagträumerei!

Jetzt ist fast eine Stunde vergangen. Wie soll ich das nur alles schaffen, was die Familie von mir erwartet?«, flüsterte sie unter einem Stöhnen, während sie sich auf den Weg in die Küche machte.

Sie öffnete den Kühlschrank, um sich einem Überblick zu verschaffen.

»Mach einfach ein Steak, wir kommen um acht«, äffte sie Victoria nach.

Theatralisch warf sie die Kühlschranktür zu.

»Ich werde ihr heute ein Steak zubereiten, an das sie noch lange denken wird.«

Bei der Vorstellung, ihrer herrschsüchtigen Tochter eins auszuwischen, lachte Gerda so laut, dass man es bis auf die Straße hören konnte.

Rasch streifte sie sich eine Jacke über, schnappte sich ihren Einkaufskorb und zog die Eingangstür hinter sich zu.

An der Hauswand lehnte ihr altes, klappriges Fahrrad, und mit diesem strampelte sie die wenigen Straßen lang, um im nahen Shoppingcenter die Einkäufe zu erledigen, die man ihr auf den Zetteln notiert hatte.

Die Jacke ihrer Enkelin für die Reinigung hatte sie leider, leider vergessen mitzunehmen, wie sie mit einem verschmitzten Lächeln feststellte.

Gezielt und mit raschen Schritten erledigte sie ihre Besorgungen und fuhr wieder nach Hause.

Als sie die Steaks in den Kühlschrank legen wollte, konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Sie hatte so ihre Vorstellungen, wie sie die Steaks zubereiten würde. Schnell legte sie das Fleisch auf einen Teller und schob diesen in den Kühlschrank.

Für heute hatte sie noch ein strammes Programm zu erledigen, und so nahm sie sich wie jeden Tag zuerst den ersten Stock mit den Schlafzimmern und den Bädern vor.

Diese Etage hatte es in sich.

Die beiden Mädels ließen alles liegen und stehen, und so war der Fußboden in ihren Zimmern übersät mit verschiedenen Kleidungsstücken, schmutziger Wäsche, Schuhen, Taschen, zerknülltem Papier, Haarbürsten voller Haare und anderen Alltagsgegenständen.

Gerda war jeden Tag aufs Neue entsetzt, wenn sie die Räume betrat und das alles aufräumen musste.

Nicht selten brach sie vor Wut in Tränen aus, weil sie diese Frechheit und Zumutung fast nicht ertragen konnte, und dennoch machte sie sich stets daran, das Chaos zu beseitigen – mit Ausnahme der Schmutzwäsche, denn die legte sie mittlerweile einfach auf einen Stuhl. Die Mädchen mussten lernen, wo sich der Wäschekorb befand.

Sie arbeitete sich zügig durch.

Zwischendurch zwickte allerdings ihr Rücken, denn es war schon eine schwere Aufgabe, ein Haus mit drei Etagen sauber zu halten, zumal die Familie, die selbst gar nicht auf Ordnung und Reinlichkeit achtete, ihr das nicht gerade leicht machte.

Während sie die großen Flächen der Badezimmerfliesen wienerte, ließ sie ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit abschweifen.

6

Der Tanzkurs mit August war der Ausgangspunkt ihres künftigen Lebens. Aufgeregt flitzte sie in ihrem Zimmer umher, als sie sich für den Maitanz und Augusts Einladung vorbereitete.

Sie zog ein pinkfarbenes Kleid mit einem Petticoat an. Es hatte weiße Tupfen – Tupfen waren der modische Hingucker in dieser Zeit –, einen weißen Kragen und einen breiten weißen Gürtel, dazu trug sie weiße Söckchen mit einem Rüschenrand und weiße Schuhe mit kleinen Absätzen.

Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, und um den Hals legte sie sich eine weiße Perlenkette.

Nun galt es, den perfekten Lidstrich hinzubekommen. Mit einem Pinsel und ruhiger Hand trug sie den Eyeliner auf und zog ihn leicht über den Augenwinkel hinaus. Es folgte noch der rote Kussmund und nicht zu vergessen der mit Kajal aufgemalte Schönheitsfleck.

Sie drehte sich vor dem wandhohen Spiegel.

Toll sah sie aus, einfach nur toll, befand sie, nachdem sie sich ausgiebig betrachtet hatte.

August kam pünktlich kurz vor acht, um sie abzuholen. Er begrüßte ihre Eltern und hielt ihr anschließend die Tür auf, als sie sich auf den Weg machten.

Dabei zeigte sein Gesicht keinerlei Regung, ob er sie schön fand, ob vielleicht auch sein Herz ein wenig für sie schlug oder ob sich überhaupt etwas in seinem Inneren abspielte.

Gerda wunderte sich zwar, fand das aber nicht schlimm. Sie hatte von ihrem Vater gelernt, dass Männer das Herz nicht auf der Zunge trugen und feine Gefühle ohnehin nicht jedermanns Sache waren.

Also freute sie sich auf diesen schönen Abend und auf den Maitanz, konnte sie doch die gelernten Schritte hier zum ersten Mal in der Öffentlichkeit umsetzen.

August kam aus gutem Hause, präzise gesagt aus einem sehr guten und dazu noch gut betuchten Haus.

Sein Vater hatte nach dem Krieg eine Likörfabrik aufgebaut, und Liköre waren der Renner überhaupt.

Alle stürzten sich auf den Eierlikör, den Kirschlikör und die anderen feinen Kreationen.

Die Familie belieferte auch die neue Art von Läden, die man Supermärkte nannte, und verdiente dadurch ein Vermögen.

Nebenbei war sein Vater noch im Stadtrat aktiv, und seine Mutter engagierte sich in der Kirchengemeinde.

August war zwei Jahre älter als Gerda, und weil er bereits einundzwanzig war, hatte er schon den Führerschein und zu dieser Gelegenheit natürlich auch von Papa einen VW-Käfer bekommen.

Das Maifest fand wie immer in der Stadthalle statt, der größten Halle in der kleinen Kreisstadt.

Zielstrebig führte August sie durch die Menschenmenge an einen Tisch, an dem bereits ein paar seiner Freunde Platz genommen hatten.

Es war eine bunte Mischung von Mädchen und Jungs – und natürlich einer der wenigen Tische nahe am Podium und an der Tanzfläche.

Gerda freute sich, denn das war ein exklusiver Platz, der nur für bevorzugte Persönlichkeiten reserviert wurde.

So weit vorne hatte ihre Familie noch nie sitzen dürfen. Das war einfach wunderbar.

»Das ist Gerda, meine Tanzpartnerin in der Tanzschule«, erklärte August der Runde.

Gerda schluckte, denn das hätte er nicht so emotionslos, so geschäftsmäßig sagen müssen.

Alle begrüßten sie aber freundlich, und sie setzte sich neben einen jungen Mann, der ihr die Hand gab.

»Ich bin Ralf, ein Freund von August.«

»Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Ralf.«

»Darf ich dir ein Kompliment machen?«

Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab.

»Du siehst richtig toll aus. Mit diesem Kleid ist ein Rock ’n’ Roll heute Abend ein Muss. Also damit du das gleich weißt, dieser spezielle Tanz ist für mich reserviert.«

Sie wurde rot, und ihre Augen strahlten, denn Ralf war sehr aufmerksam zu ihr, und seine Worte waren Balsam auf ihrer Seele.

Der Abend auf dem Maifest verlief dann ganz anders, als sie sich das vorgestellt hatte.

August war zwar anwesend, aber nicht für sie da.

Er diskutierte ins Unermessliche mit seinem Nachbarn und mit zwei Mädels und zwei Jungs auf der anderen Seite des Tisches.

Wegen der Musik mussten sie sich ganz schön zur Mitte beugen, damit ein Gespräch überhaupt stattfinden konnte.

Gerda verstand nicht, wie man sich an einem so schönen Abend anscheinend mit irgendwelchen Problemen auseinandersetzen konnte.

Das Einzige, was bei denen neben den heißen Diskussionen noch funktionierte, waren die regelmäßigen Schnäpse und Biere.

August hatte Gerda vollkommen vergessen, und sie störte das gar nicht mehr, denn sie tanzte sich mit Ralf die Füße wund.

Nach einem Discofox zog er sie hinter sich her zur Bühne. Die Bandmitglieder, die sich gerade eine kleine Pause gönnten, saßen alle auf kleinen Hockern und wischten sich die Schweißtropfen von der Stirn.

»Hey Leute, ihr seid einfach klasse. Ich danke euch sehr für die tolle Musik und dafür, dass ihr heute meine Arbeit mit übernommen habt. Ich mache das alles wieder gut, versprochen.«

Ralf verbeugte sich vor der Band und legte voller Dankbarkeit die Hand auf sein Herz.

»Hoffentlich! Das ist schon ermüdend, wenn einer fehlt, und nach einem neuen Sänger oder einer Sängerin musst du dich auch schnell umsehen. Das ist einfach zu anstrengend«, erklärte ihm der Gitarrist und verdrehte die Augen.

»Ja, aber einen Sänger zu finden, ist sehr schwer. Ich bin schon seit Wochen auf der Suche.«

Ralf hielt immer noch Gerdas Hand, denn er hatte die Jungs ja eigentlich darum bitten wollen, dass sie einen Rock ’n’ Roll für sie spielten.

Gerda wiederum hörte dem Gespräch interessiert zu. »Ist das deine Band?«, fragte sie neugierig.

»Ja, wir sind schon ein paar Jahre zusammen und eigentlich an den Wochenenden sehr gut gebucht.«

»Es muss schön sein, immer Musik machen zu können«, stellte sie schwer beeindruckt fest.

»Wieso, spielst du auch ein Instrument?«

Ralf schaute sie interessiert an. Sie war ein süßes Mädchen.

Sie lachte.

»Nein, das ist alles nur für den Hausgebrauch. Ich kann die Flöte, die Gitarre und die Trompete spielen – aber wirklich nur für die Hausmusik. Und ich kann recht gut singen, das sagt man zumindest in der Familie«, ergänzte sie schnell und strahlte ihn an, denn sie war froh, dass sie wenigstens ein paar ihrer Fähigkeiten aufzählen konnte.

»Du kannst singen? Und du kannst Gitarre spielen?«

Er blickte sie mit großen, fragenden Augen an. In seiner Aufregung trat er von einem Bein auf das andere. Konnte es sein, dass Gerda in seine Band passte und er endlich fündig geworden war?

Aber noch viel aufregender war sein Herzklopfen. Er hatte sich heute auf den ersten Blick verliebt und das sofort gespürt und gewusst.

Aber sie war mit August gekommen, und da musste er seine Gefühle verbergen. Trotzdem wollte er nicht gleich aufgeben. Wer wusste schon, was die Zeit noch bringen würde?

August hatte sich heute Abend keinen Pfifferling um sie gekümmert, und so ein Verhalten war nicht gerade das Gelbe vom Ei, das machte man eigentlich nicht. Und deshalb war die Messe in Ralfs Augen noch nicht gelesen.

»Ja und nein«, rief Gerda lachend.

»Ich kann ein bisschen singen und Gitarre spielen. Du denkst doch jetzt nicht, dass ausgerechnet ich die Sängerin sein könnte, die du suchst? Ich kann nicht öffentlich auftreten.«

Sie schüttelte den Kopf und streckte den Arm nach vorne, um ihren Protest zu unterstreichen.

Ralf lächelte sie an. Er wusste nicht warum, aber er war überzeugt, dass sie das gesuchte Mosaiksteinchen sein könnte.

»Welche Lieder kannst du gut singen?«

»Nein, Ralf!«

»Lass uns doch einfach nur ein wenig fachsimpeln.«

Sie schaute ihn voller Misstrauen an.

»Komm schon. Was kannst du gut singen?«

»Och, ich kann viele Lieder singen. Ich sitze immer am Radio und singe einfach mit. Da lernt man schnell die Texte und die Melodien, die werden ja immer rauf und runter gespielt. Im Moment singe ich viel von Catarina Valente. Aber wirklich nur privat!«

»Das ist gut.«

Er nickte ihr aufmunternd zu.

»Die Valente ist beliebt bei den Leuten.«

Er überlegte, wie er sie dazu bringen konnte, mit ihm und der Band auf die Bühne zu gehen.

Oder sollte er Geduld haben und sie nächste Woche zur Probe einladen?

Er hätte alles dafür gegeben, die junge Frau besser einschätzen zu können, so musste er sich jetzt auf seinen Instinkt verlassen.

Er drehte sich zur Bühne und schaute Hendrik, seinem Schlagzeuger, in die Augen. Die beiden verstanden sich blind, und Hendrik wusste, was Ralf wollte, auch ohne Worte.

Er ging ein paar Schritte auf Gerda zu.

»Hallo, ich bin Hendrik, der Schlagzeuger. Entschuldige, dass ich die ganze Zeit zugehört habe. Ich fand eure Unterhaltung äußerst spannend und möchte mich zwar nicht einmischen, aber ich glaube, dass ich eine gute Idee habe.«

»Und die wäre?«, fragte sie skeptisch.

»Wir machen uns einen Spaß und singen zu dritt. Dann bist du in unsere Stimmen eingebettet und musst dir keine Sorgen machen.«

»Und was sollen wir singen?«

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie sich umdrehte und in den Saal hineinschaute.

Die vielen Menschen machten ihr richtig Angst.

Hendrik strahlte sie an. Er spürte, dass er sie dazu bewegen konnte, mit auf die Bühne zu kommen.

»Wir singen ein Lied deiner Lieblingssängerin. Die ist ohnehin sehr gefragt, und so bringen wir den Saal dazu, mitzusingen. Also, wir singen Wo meine Sonne scheint von Catarina Valente.«

Ralf hielt sich vornehm zurück. Er wollte sich lieber nicht einmischen.

Gerdas Augen wurden immer größer.

Oje, wie sollte sie da bloß Nein sagen?

Das wäre ein Traum. Jeden Tag sang sie dieses Lied und liebte es wie kein anderes.

Aber auf einer Bühne, vor so vielen Leuten?

Was wäre, wenn sie gar keine so gute Stimme hatte, wie ihre Freunde und Verwandten sagten?

Was wäre, wenn sie anschließend ausgelacht würde?

Dann wäre sie überall unten durch.

»Ich traue mich nicht, Hendrik.«

Sie zuckte die Schultern.

»Schau da runter, diese Menschenmasse. Ich bin das nicht gewohnt, ich kann das nicht.«

»Aber, aber, komm mal kurz hoch.«

Hendrik nahm sie an der Hand und zog sie ganz sachte nach oben.

»Du stellst dich hier zwischen Ralf und mich, ein wenig nach hinten versetzt. Dann bist du etwas geschützt und nicht alleine.«

Er schob sie neben sich und nickte Ralf zu, damit dieser sich ebenfalls zu ihnen stellen konnte.

Das Mikrofon zog er in die Mitte.

Ralf blickte sie aufmunternd an.

»Wir machen das ganz locker. Ich gebe dir deine Einsatzzeichen, und du wirst sehen, dann geht es ganz einfach. Gib mir deine Hand, ich halte sie fest und kann dir damit Sicherheit beim Singen geben. Los geht’s!«

Er gab seinen Kollegen den Einsatz, und siehe da, Gerda begann, aus vollem Hals zu singen: »Ich grüß’ meine Insel im Sonnenlicht …«

Die beiden Freunde registrierten das Ganze mit Begeisterung und absolut großer Verwunderung. Das war ja ein Goldkehlchen, das ihnen da ins Netz geflattert war.

Dann kam der Refrain: »Wo meine Sonne scheint und wo meine Sterne steh’n …«

Ralf zupfte Hendrik von hinten am Ärmel und gab ihm ein Zeichen, still zu sein.

Gerda merkte nichts davon, sie war in ihrem Element und hatte sogar Ralfs Hand losgelassen.

Ja, sie tänzelte und wippte im Takt vor dem Mikrofon, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte.

Alle Augen im Saal waren auf sie gerichtet, aber auch das registrierte sie nicht wirklich.

Es war unglaublich, fanden die beiden jungen Männer neben ihr.

August saß immer noch bei seinen Freunden und diskutierte munter weiter, bis ihn ein Mädchen aus der Gruppe anschubste und mit dem Kopf zur Bühne zeigte.

August saß mit offenem Mund da und traute seinen Augen nicht.

Gerda … Dann schoss er aus seinem Stuhl hoch und lief mit schnellen Schritten zur Bühne, dabei schob er die tanzenden Paare unsanft zur Seite.

Gerade in dem Moment, als das Lied zu Ende war und donnernder Applaus aufbrandete, hatte er den Bühnenrand erreicht.

Gerda verneigte sich mehrmals, aber der Beifall wollte nicht aufhören.

Nur langsam fand sie in die Realität zurück und konnte nicht fassen, was sie erlebte und fühlte.

Allerdings wurde sie jäh auf die harten Bretter der Bühne zurückgeholt, als August zu ihr hochschrie: »Gerda, was machst du denn da? Du bist mit mir hierhergekommen und grölst auf der Bühne rum?«

»August, ich gröle nicht, sondern habe gesungen. Und was hast du den ganzen Abend gemacht?«

Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»Ich habe nichts gemacht, ich habe mich nur unterhalten, und das hättest du am Tisch auch tun können.«

»Prima, ich hätte auch eure Probleme wälzen sollen, darauf hatte ich aber keine Lust.«

Sie wandte sich leicht von ihm ab.

»Auf jeden Fall hättest du auf mich Rücksicht nehmen müssen«, warf er ihr mit einem mittlerweile krebsroten, von Wut gezeichneten Gesicht vor.

»Komm jetzt da runter, ich fahre dich nach Hause.«

»Ich gehe noch nicht nach Hause, ich bleibe noch ein bisschen und gehe dann zu Fuß.«

Sie war jetzt auch wütend geworden. Wie ging August eigentlich mit ihr um? Nein, dachte sie, so geht das nicht.

»Gerda, das schickt sich nicht. Du bist mit mir hergekommen, und ich bringe dich jetzt wieder nach Hause.«

»Das ist mir wurscht, ob sich das schickt oder nicht. Ich bleibe noch hier, weil ich mich für die Musik und die Band interessiere. Mich kann auch Ralf oder Hendrik nach Hause fahren.

»Na klar, mein Freund Ralf, das ist der, der mich so hintergeht.«

Er schaute Ralf böse an.

»Du bist mir ein schöner Freund.«

»Hör bitte auf, August. So solltest du deine Freunde nicht anmachen. Niemand hat dir etwas getan und hat sich danebenbenommen. Ich bringe Gerda nachher für dich nach Hause. Wir finden, dass sie sehr gut singt, und wollen noch ein paar Lieder zusammen durchsprechen.«

August wandte sich wortlos ab und ging zurück zu seinem Tisch. Er wollte nachdenken, ob er sich eine andere Tanzpartnerin suchen sollte.

Mit einem August machte man so etwas nämlich nicht. Das würde er nicht unwidersprochen hinnehmen.

Gerda aber ließ sich nicht irritieren und setzte sich an den Rand der Bühne.

Jetzt war erst einmal die Musik das Thema, das sie interessierte, denn dieser Auftritt hatte ihr richtig viel Spaß gemacht. August konnte warten.

Er war heute ja auch nicht gerade der aufmerksamste Begleiter gewesen.

»Gerda, du warst einfach klasse.«

Ralf kam richtig ins Schwärmen.

»Könntest du dir vorstellen, von Freitag bis Sonntag als Sängerin mit uns aufzutreten? An zwei Abenden sollten wir uns auch noch zur Probe treffen.«

Hendrik hielt es nun nicht mehr auf seinem Stuhl, und auch Ralf lief wie ein Tiger hin und her.

Gerda schaute die Musiker in aller Seelenruhe an, und die beiden Jungs konnten keinerlei Regung in ihrem Gesicht, kein Anzeichen in der Körperhaltung erkennen, das ihnen einen Hinweis auf ihre Entscheidung geben konnte.

Schließlich stand sie auf, und ganz langsam fingen ihre Augen an zu leuchten.

»Also, wenn ihr damit leben könnt, dass ich bis um achtzehn Uhr arbeiten muss und erst dann zur Probe kommen kann und außerdem donnerstags noch fünfmal zum Tanzkurs muss, dann, ja dann bin ich dabei.«

Abwartend strahlte sie die Jungs an. Sie war so was von aufgeregt, dass sie es kaum mehr unterdrücken konnte.

Unaufhörlich hätte sie Purzelbäume schlagen können über so ein tolles Angebot.

Da konnte sie bestimmt noch ein paar Mark dazuverdienen.

Als Friseurlehrling war ja ihr Gehalt nicht gerade üppig, und der Wunsch nach Kleidern, Schuhen und Schminke war ihr stetiger Begleiter.

Ihre Freundinnen würden sie ganz bestimmt darum beneiden.

Für einen kurzen Moment dachte sie an August. In den letzten Wochen hatte sie dauernd Herzklopfen gehabt, wenn sie mit ihm zusammen war, besonders wenn sie tanzten.

Und jetzt war er sauer und angefressen.

Er hatte sich wie ein alter, eifersüchtiger Ehemann benommen, sowohl am Tisch als auch nachher an der Bühne.

Warum freute er sich nicht mit ihr?

Er könnte doch stolz sein auf ihr Talent.

Sie waren beide jung und hungrig nach neuen Dingen und neuen Erlebnissen.

Zwänge gab es genug durch die Eltern, die Generation, die den Krieg erlebt hatte. Wie dem auch sei, sie würde jetzt erst einmal Musik machen.