Gretas Erzählung - Barbara Herrmann - E-Book

Gretas Erzählung E-Book

Barbara Herrmann

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Mutter beschließt Daniel Gruber, eine Stelle als Meteorologe in deren Heimatdorf im Salzburger Land anzunehmen und das Haus der Familie zurückzukaufen. Dort entdeckt sein Sohn Julian auf dem Speicher eine Kiste mit Weihnachtskugeln, die ihn sofort in ihren Bann ziehen. Die Nachbarin Greta erzählt ihm daraufhin die Geschichte von zwei Waisenkindern, die von ihrem Onkel ausgebeutet und schikaniert wurden und in ihrer Verzweiflung zusammen mit den Schwabenkindern über die Alpen wanderten, um Arbeit zu finden. Schweren Herzens mussten sie die geliebten Weihnachtskugeln, die sich schon seit Generationen in der Familie befanden, zurücklassen. Eine bewegende und mystische Weihnachtsgeschichte über eine Bergbauernfamilie im frühen 20. Jahrhundert.

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Das Buch

Nach dem Tod seiner Mutter beschließt Daniel Gruber, eine Stelle als Meteorologe in deren Heimatdorf im Salzburger Land anzunehmen und das Haus der Familie zurückzukaufen. Dort entdeckt sein Sohn Julian auf dem Speicher eine Kiste mit Weihnachtskugeln, die ihn sofort in ihren Bann ziehen.

Die Nachbarin Greta erzählt ihm daraufhin die Geschichte von zwei Waisenkindern, die von ihrem Onkel ausgebeutet und schikaniert wurden und in ihrer Verzweiflung zusammen mit den Schwabenkindern über die Alpen wanderten, um Arbeit zu finden. Schweren Herzens mussten sie die geliebten Weihnachtskugeln, die sich schon seit Generationen in der Familie befanden, zurücklassen …

Die Autorin

Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Der Umzug

Gretas Weihnachtsgeschichte

Die Familie Johann Hofer

Der Schneesturm

Das Unglück

Das Leben bei Onkel Heinrich

Heinrichs Begegnungen mit der Mystik

Das Elend der Waisenkinder

Benedikt und Elena verlassen die Heimat

Heinrichs Schicksal

Franziska und ihr Hof

Katharina und ihre Pflegeeltern

Max und sein Vater Benedikt

Benedikt, Elena und die neue Heimat

Max’ Ankunft im Bergdorf

Max auf dem Hof seiner Vorfahren

Daniel und sein Erbe

Max und Daniel

Die Familienzusammenführung

Die verlorenen Weihnachtskugeln

Der Umzug

Was für eine Aufregung. Julian und Sofia saßen ordentlich angeschnallt auf dem Rücksitz des betagten Familienautos, das scheppernd im zweiten Gang die kurvenreiche Bergstraße hochächzte.

»Mama, wann sind wir denn da?«, fragte die neunjährige Sofia, während sie das Buch zuklappte, in dem sie die ganze Zeit gelesen hatte.

»Nur noch zehn Kilometer«, antwortete ihre Mutter Pauline, die sich halb umdrehte und ihr zulächelte.

»Ooch, das ist aber noch weit«, maulte Julian, der auf seinem Sitz mitsamt dem Gurt etwas nach vorne gerutscht war. Dabei ließ er die Beine gegen die Rücklehne des Fahrersitzes baumeln, sodass er seinem Vater rhythmisch in den Rücken trat.

»Mir ist so langweilig, Mama!«, rief er und warf seine Beine immer schneller gegen den Sitz.

»Aufhören, du Monster!«, schrie sein Vater so laut los, dass Julian vor Schreck zuerst erstarrte und dann in Tränen ausbrach.

»Was soll denn das, Daniel?«, herrschte Pauline ihren Mann an. Ihre Stimme bebte, ihre Augen blitzten, und auf ihrer Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Sie hatte Mühe, vor den Kindern nicht gänzlich die Beherrschung zu verlieren.

Daniel schüttelte den Kopf.

»Reg dich bitte nicht auf, Pauline, mir ist nur kurz der Gaul durchgegangen.«

Er schaute sie bittend an.

»Wenn dir einer ununterbrochen im selben Rhythmus ins Kreuz tritt, während du dich auf den Verkehr konzentrieren musst, dann verlierst auch du die Beherrschung.«

Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und strich ihr beruhigend über den Arm. Dann blickte er in den Rückspiegel und sah seinem Sohn in die Augen.

»Ich habe das nicht so gemeint, Julian. Du hast mir zwar nicht wehgetan mit deinen Füßen, aber du hast mich vom Fahren abgelenkt. Da kann schon mal ratzfatz ein Unfall geschehen, wenn man unaufmerksam ist. Das solltest du wissen, du bist doch schon elf Jahre alt. Entschuldige bitte, dass ich so laut geworden bin.«

Julian wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

»Ist schon gut, Papa. Ich habe es ja verstanden«, schniefte er.

»Na, dann können wir ja wieder nett zueinander sein.«

Daniel lächelte und nickte ihm durch den Rückspiegel zu.

»Wir sind auch in wenigen Minuten da, dann ist es vorbei mit der Langeweile.«

Julian gab sich zufrieden und sah aus dem Fenster. Doch wie hier die Langeweile vorbei sein sollte, das konnte er sich nicht vorstellen. Hier waren überhaupt keine Leute unterwegs, und es kamen ihnen auch kaum Autos entgegen. Es gab nur Felder, Wiesen und Bäume, ganz wenige Häuser, keine Läden mit Schaufenstern, keine Spielplätze, aber viele hohe Berge und Kühe auf den Wiesen. Er stöhnte laut und sah seine Schwester an.

»Denkst du, dass die Langeweile da oben in dem Dorf vorbei ist?«

Sofia schüttelte den Kopf.

»Nein, das glaube ich nicht. Hier ist es einfach nur grässlich. Und es gibt gar nichts für Kinder. Ich möchte wieder zurück nach Wien zu Oma.«

Sie zog eine Grimasse und blickte aus dem Fenster.

»Wir sind da«, sagte Mama Pauline kurze Zeit später und deutete auf ein Ortsschild mit dem Namen Wiesen.

Julian schüttelte den Kopf.

»Heißt das Dorf Wiesen, weil es hier so viele Wiesen gibt?«

Daniel lachte.

»Stimmt, der Name passt zufällig. Vielleicht kann man ja nachlesen, woher das Dorf seinen Namen bekommen hat«, erklärte er, während er das Auto vor dem Haus parkte.

Es war ein schönes großes Haus, das mit seinen grauen Steinen aussah, als hätte es jemand in den Felsen hineingeschoben. Das Dach reichte fast bis auf den Boden, die Fenster waren klein und die Fensterläden dunkelbraun. Vor dem Haus stand eine Sitzbank aus Holz.

Das alles interessierte Julian und Sofia aber überhaupt nicht. Die trauerten in Gedanken ihren Freunden und der lebhaften Stadt nach, in der sie bislang gelebt hatten.

Sie hatten zwei schöne Kinderzimmer oben im zweiten Stock, der über eine schmale Holzstiege zu erreichen war. Auch der große Flur davor lud zum Spielen ein. Das Haus war schon mit ihren Möbeln aus Wien eingerichtet, alles war fast wie von Geisterhand geschehen. Als sie mit dem Auto losgefahren waren, hatte sich auch ein großer Lastwagen mit vielen Männern auf den Weg gemacht. Während sie selbst noch ein paar Tage bei Oma und Opa, Mamas Eltern, zu Besuch blieben, räumten die Männer die Möbel ins Haus. So war jetzt alles schön gemütlich geworden.

Das Elternschlafzimmer, zwei Gästezimmer und das Bad waren im ersten Stock, und im Erdgeschoss befanden sich das Wohn- und das Esszimmer, die Küche, eine Toilette und Mamas großes Arbeitszimmer. Sie arbeitete als Illustratorin von zu Hause aus, während Papa als Meteorologe hierher ins Salzburger Land versetzt worden war. Er würde oben auf dem Berg zusammen mit einem Kollegen die Wetterstation und die Lawinenüberwachung übernehmen. Dazu musste er jeden Tag mit der Seilbahn hochfahren und die letzten beiden Kilometer bis zur Station hochwandern. Er hatte den Kindern erzählt, dass man früher, als es noch keine Seilbahn gab, den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen musste. So war er froh, dass es jetzt diese Seilbahn gab.

Seit ein paar Tagen waren sie nun hier eingezogen, aber für Julian und Sofia gab es nichts, das sie interessierte. Selbst die Kühe vom Nachbarn standen nur langweilig auf der Wiese herum.

Andere Kinder kannten sie noch nicht, denn sie hatten noch zwei Wochen Ferien. Danach würden wieder jeden Tag alle Kinder aus den kleinen Dörfern ringsherum eingesammelt und in die Kreisstadt zum Unterricht gefahren. Das hatte ihnen Mama bereits vor Monaten erzählt. Mittlerweile wussten sie, dass in ihrem Dorf nur sechs Kinder wohnten, davon waren zwei erst sieben, die anderen vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Es gab also niemanden hier, der zu ihnen passte. Und an Mamas Trost, dass bestimmt viele Kinder in der Schule seien, die zu ihren Freunden werden könnten, wollte Julian auch nicht so richtig glauben.

Auch heute streifte er gelangweilt durch das neue Haus und wusste nicht, womit er sich beschäftigen sollte. Als er am Zimmer seiner Schwester vorbeikam, blickte er durch die offene Tür. Sofia saß auf dem Boden und spielte mit ihren Puppen.

»Kommst du mit nach draußen?«, fragte er.

Nach kurzem Nachdenken schüttelte sie den Kopf. »Nein, was soll ich denn da? Da ist es langweiliger als hier.«

Sofias Puppen leisteten ihr immer noch durch ihre Anwesenheit etwas Gesellschaft, und außerdem war sie eine Leseratte, sodass sie weniger mit Langeweile zu kämpfen hatte als ihr Bruder, der sich nun wieder alleine eine Abwechslung suchen musste. Aber was sollte er tun?

Mut- und ideenlos stand er auf dem Flur vor den Kinderzimmern und tastete mit seinen Augen den Raum ab. In der Ecke war eine kleine Zugleiter aufgeklappt, die zum Speicher führte. Mama hatte vorhin etwas dort oben gemacht und wohl die Leiter nicht wieder eingefahren.

Er überlegte kurz, aber dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen und schlich nach oben. Dort war ihm plötzlich, als wäre er in einer Schatzkammer angekommen. Lauter Holzkisten zwischen alten Möbeln, ein Schaukelpferd und viele andere Dinge, die er nicht zuordnen konnte. Julian fühlte sich wie auf einem Besuch im Abenteuerland. Aufgeregt durchstöberte er alle Kisten und Schränke, die er öffnen konnte, streichelte alte Blechspielsachen, wie zum Beispiel kleine Karussells, Autos und bunte Vögelchen, die man aufziehen konnte und die sich dann drehten, fuhren oder hüpften. Er staunte nicht schlecht, als er merkte, dass ihm das sehr viel Spaß machte, weil er diese einfachen Dinge gar nicht kannte. Er spielte eher mit dem Computer oder gerade mal noch mit seinem Technikbaukasten. In einer Ecke fand er alte Kinderbücher, Bauklötze und eine Holzeisenbahn.

Nun öffnete er eine Holzkiste, die voller Kleidungsstücke war. Zuerst wollte er sie gleich wieder schließen, dann aber entschied er sich, richtig nachzusehen. Nachdem er mit den Armen die Pullover hin- und hergeschoben hatte, fand er ganz unten eine kleinere Kiste, die mit einem Eisenriegel verschlossen war.

Er nahm die Kiste heraus und setzte sich damit auf den Fußboden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinen kleinen Fingern den verrosteten Riegel aufschieben konnte. Als es ihm gelungen war, öffnete er vorsichtig den Deckel, und es leuchtete ihm lauter bunter Weihnachtsbaumschmuck entgegen. Weihnachtskugeln mit feinen Ornamenten, silberne Tannenzapfen, Engelchen sowie silberne Vögelchen mit Schwänzchen aus weichen, weißen Büscheln. Er fasste alles ganz vorsichtig und ehrfürchtig an, weil es so zerbrechlich aussah.

»Wow, ist das schön«, flüsterte er. »So einen schönen Baumschmuck habe ich ja noch nie gesehen.«

Vorsichtig legte er die Kugeln zurück und verschloss die Kiste wieder. Spontan nahm er sie mit hinunter auf sein Zimmer und schob sie unters Bett. Er erzählte niemandem, welch kostbaren Schatz er gefunden hatte.

Die Spielsachen hätte er sich auch noch gerne heruntergeholt, obwohl er eigentlich schon zu groß war für dieses kleine Blechspielzeug. Trotzdem hätte er es am liebsten in ein Regal gestellt, um es immer anschauen zu können, so beeindruckend und spannend fand er das Spielzeug. Ob Mama einverstanden wäre, wenn er das machte?

Als Julian an der Küchentür vorbeikam, ging er hinein und öffnete den Kühlschrank. Nach einigem Suchen griff er zu einem Wiener Würstchen und biss ein Stück davon ab. Dann rannte er aus dem Haus und den Bürgersteig entlang. Kurz danach stoppte er, weil er eine Stimme hörte.

»Hallo Kleiner!«, rief es aus dem Haus gegenüber. Angestrengt tastete er mit den Augen die Fenster ab, aber die Gardinen verdeckten die Glasscheiben.

»Hallo, hier bin ich!« Eine krächzende, fast leise Stimme. Dann wackelte der Vorhang am rechten Fenster.

»Kannst du bitte mal kurz rüberkommen und mir helfen?«

Julian zögerte noch einen Moment, dann rannte er auf die andere Straßenseite und blieb vor dem Fenster stehen.

Eine faltige Hand schob langsam die Gardine zur Seite, und ein ebenso faltiges, aber freundliches Gesicht erschien hinter der Scheibe.

»Das ist aber schön, dass du stehen geblieben bist. Gehörst du zu der neuen Familie, die in das Haus eingezogen ist?«, wollte die alte Frau wissen.

»Ja.«

»Dann sei doch so lieb und bitte deine Mutter, kurz zu mir rüberzukommen. Ich bin vor ein paar Tagen ausgerutscht und hingefallen, und nun kann ich nicht einkaufen gehen.«

»Oh, das mache ich gleich.« Julian nickte ihr lächelnd zu und rannte zurück nach Hause.

»Mama, Mama«, rief er, als er die Wohnzimmertür aufstieß.

»Was ist denn los? Warum bist du denn so aufgeregt?«

Er fasste seine Mutter an der Hand.

»Komm mit, die alte Frau gegenüber bittet dich um Hilfe. Sie ist hingefallen und kann nicht laufen.«

Pauline legte ihr Staubtuch zur Seite.

»Du hast recht, da müssen wir gleich helfen.«

Gemeinsam hasteten sie zum Haus der Nachbarin. Die Haustür ließ sich leicht öffnen, und nach einem kurzen Klopfen traten sie ein.

»Guten Tag«, sagte Pauline und reichte der alten Frau freundlich die Hand.

»Ich habe von Julian gehört, dass Sie Hilfe benötigen. Was kann ich denn tun?«

»Erst einmal möchte ich mich vorstellen. Ich bin Greta und lebe alleine hier. Normalerweise kann ich mich noch selbst versorgen, auch wenn ich ein bisschen langsam unterwegs bin.«

Greta lächelte und zwinkerte mit dem rechten Auge. »Aber eine Fünfundneunzigjährige, die darf ruhig langsam sein.«

»Das stimmt. Nein, das ist sogar bewundernswert, wenn Sie das alles noch so gut leisten können. Immerhin haben Sie ja ein Haus zu versorgen.«

Pauline hob die Hand und reckte den Daumen nach oben.

Greta nickte.

»Aber vor ein paar Tagen habe ich beim Fensterputzen nicht richtig aufgepasst und bin von meinem Schemel heruntergefallen.«

»Ach herrje, ist Ihnen was Ernstes passiert?«

Erschrocken fasste sich Pauline an den Mund.

Greta verdrehte die Augen wegen ihrer eigenen Dämlichkeit.

»Nichts Schlimmes, nein. Ich bin umgeknickt, und jetzt kann ich eben nur unter großen Schmerzen laufen.«

»Soll ich Ihnen das Bein mit einer kühlenden Salbe einreiben und mit einer Binde stabilisieren?«

»Nein danke, das ist nicht nötig. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir ein paar Lebensmittel mitbringen, wenn Sie einkaufen gehen.«

»Das mache ich gerne. Wir können Ihnen in den nächsten Tagen auch das Mittagessen bringen, wenn Sie mögen, damit Sie ihr Bein schonen.«

»Ja, das ist ganz lieb von Ihnen. Vielen Dank.«

Pauline schüttelte den Kopf.

»Sie müssen sich nicht bedanken. Das ist doch selbstverständlich. Ich gehe jetzt rüber ins Haus, mache Ihnen eine Thermoskanne mit Tee und richte einen kleinen Snack und etwas Obst her. Die Kinder bringen Ihnen das in ein paar Minuten.«

Greta strahlte, ihre Augen glänzten. Was für eine nette Familie. Was für ein Glück. Sie hatte zwei Tage lang nur von Butterbrot und Tee gelebt und freute sich, nun wieder anständige Mahlzeiten zu bekommen.

Kurze Zeit später brachten Julian und Sofia einen prall gefüllten Korb mit Köstlichkeiten und einem vorzüglichen Kräutertee. Greta ließ es sich schmecken und freute sich, dass sie von den beiden Kindern nebenbei prima unterhalten wurde. Sie erzählten ihr von ihrem Umzug, ihrer Langeweile und dem Unbehagen, nicht zu wissen, wie es in der neuen Schule sein würde.

»Aber ihr habt doch hier die Natur und viele Tiere. Das ist ganz anders als das, was ihr von der Stadt kennt«, gab Greta zu bedenken.

»Eure Eltern haben auch einen Stall, glaube ich, da könnt ihr Hühner halten und jeden Tag ein frisches Ei aus dem Nest holen. Ihr könntet euch aber auch einen Hund und eine Katze als eure guten Freunde anschaffen.«

Julian holte tief Luft.

»Ach, ich glaube, das dürfen wir nicht. Mama sagt immer, dass Tiere so viel Arbeit machen.«

Greta bekam große Augen und winkte ab.

»Papperlapapp, aber doch nicht hier in einem Bergdorf. Das sind Meinungen aus der Stadt. Weißt du was? Ich werde mal ein gutes Wort für euch einlegen, wenn eure Mama bei mir zu Besuch ist. Bis dahin können wir Brettspiele machen oder auch Märchen und Geschichten erzählen.«

»Darf ich dich mal was fragen?«

»Was denn?«

»Weißt du, ob in unserem Haus mal Kinder gewohnt haben?«

Greta nickte.

»Ja, das ist aber schon ganz lange her. Seit vielen Jahren hat in eurem Haus niemand mehr gewohnt. Warum fragst du?«

»Ich war auf dem Speicher und habe kleines Blechspielzeug gefunden, das mir sehr gut gefallen hat. Am liebsten würde ich es in ein Regal stellen. Aber ich weiß nicht, wem es gehört und ob ich das darf.«

»Ah, das besprichst du am besten mit deinen Eltern.«

»Ich habe noch was Schönes gefunden.«

Julian blickte ängstlich drein. Ihn plagte ein bisschen das schlechte Gewissen, weil er die Kiste ohne zu fragen mit in sein Zimmer genommen hatte.

»Was hast du denn so Geheimnisvolles gefunden?«, wollte Sofia wissen.

»Eine Kiste mit wunderschönen Weihnachtskugeln.«

Sofia fand das langweilig. Im Sommer Weihnachtskugeln, wie peinlich von ihrem Bruder.

»Kannst du uns eine Geschichte erzählen, Greta?«, fragte sie stattdessen.

»Ja, gleich.«

Greta wandte sich Julian zu.

»Sag mal, die Weihnachtskugeln, was ist mit denen? Warum findest du die so gut?«

»Ich weiß nicht. Ich habe noch nie so schönen Baumschmuck gesehen, und die Kugeln haben mich so angestrahlt, dass ich sie mit auf mein Zimmer genommen habe, ohne meine Eltern zu fragen.«

Gretas Weihnachtsgeschichte

Greta schaute zuerst aus dem Fenster, dann fasste sie Sofia am Arm.

»Du wolltest doch eine Geschichte hören. Ich weiß eine, in der es zufällig um Weihnachtskugeln geht. Also ist das auch was für Julian, der heute die Kiste mit den Kugeln gefunden hat.«

»Ist das eine schöne Geschichte?«, fragte Sofia zweifelnd.

Greta ging erst einmal nicht auf die Frage ein, sondern wandte sich an Julian.

»Läufst du mal schnell rüber und holst uns die Schatulle mit den Weihnachtskugeln?«

Er stand sofort auf.

»Mach ich.«

Nur wenige Minuten später kam er zurück und stellte die Kiste auf den Wohnzimmertisch. Dann setzte er sich wieder zu den beiden anderen.

»Es ist eine traurige und zugleich auch schöne Geschichte. Außerdem ist es ein zu Herzen gehendes, wahres Ereignis aus unserem Dorf, das schon seit mehreren Jahrzehnten allen Kindern immer wieder zur Weihnachtszeit erzählt wird, weil darin die Nächstenliebe und die Barmherzigkeit eine große Rolle spielen«, erklärte Greta und strich sich mit der rechten Hand über die Wange.

»Ist das die Geschichte vom Jesuskind?«, überlegte Julian laut. Die würde er jetzt wirklich langweilig finden, weil er sie natürlich schon kannte. Sie wurde nämlich immer an Heiligabend von seiner Mama vorgelesen. Aber das konnte eigentlich gar nicht sein. Greta sprach ja von einer wahren Geschichte aus dem Dorf, und das Jesuskind hatte nicht hier gelebt, sondern in Jerusalem.

»Nein, natürlich nicht. Ich erzähle euch doch nicht mitten im Sommer die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel«, erklärte Greta, lachte laut und zwinkerte ihnen zu. Währenddessen rückte sie mithilfe der Kinder ihren Sessel näher ans Fenster und schickte die beiden zum Sofa, um ein paar weiche Kissen zu holen, damit sie sich vor ihr auf den Boden setzen und gleichzeitig auch aus dem Fenster schauen konnten.

Als endlich alle Vorbereitungen getroffen waren, blickte Greta durch ihre Brille in vier neugierige, große Augen zu ihren Füßen.

»Mein Gott, ist das alles lange her«, flüsterte sie. »Gib mir bitte mal die Schatulle mit den Weihnachtskugeln, Julian.«

Er nickte und brachte ihr die offene Holzkiste. Vorsichtig nahm Greta eine Kugel in die Hand und legte sie in ihren Schoß. Und dann noch eine und noch eine.

Ganz zuunterst lag ein zusammengefalteter Zettel, von Kinderhand beschrieben, den sie laut vorlas:

Liebe Eltern und kleine Schwester, wir vermissen euch so sehr. Warum musstet ihr uns verlassen? Warum seid ihr alle gestorben? Uns geht es nicht gut hier bei Onkel Heinrich, und deshalb werde ich mit Elena heute weggehen. Ich bitte euch, behütet uns auf unserem schweren und langen Weg. Die Weihnachtskugeln, die wir alle so sehr geliebt haben und immer am Jahresende das Symbol unserer Liebe und unserer Dankbarkeit für ein gutes Jahr, für die Geburt Christi und seine beschützende Hand waren, haben uns kein Glück und auch keinen Schutz mehr gebracht, obwohl ich sie im Koffer aufbewahrt habe. Ich verstecke sie nun bei Onkel Heinrich auf dem Speicher, weil wir sie nicht mitnehmen können. Es gibt so lange kein zufriedenes Weihnachtsfest mehr für uns beide, bis wir die Weihnachtskugeln wieder selbst an einen Baum hängen und sie leuchten sehen können.

Euer Sohn und Bruder Benedikt

Julian stand daneben, und als er das hörte, fielen ihm bald die Augen aus dem Kopf.

»Dann wohnen jetzt also wir in dem Haus, wo Benedikt und seine Schwester so traurig waren, die Weihnachtskugeln versteckten und dann weggingen?«

Greta antwortete nicht auf seine Frage. Ihre Augen blickten in die Ferne, sie strich sich über die Stirn, als müsste sie die ganzen Erinnerungen aus ihrem Kopf herausstreicheln.

»Benedikt und Elena«, flüsterte sie.

»Meine Güte, die armen Kinder. Ich wusste, dass es für sie nicht einfach war, wir haben das immer alle gesehen und miterlebt. Aber in ihre Herzen hineinschauen, das konnten wir damals nicht. Fast niemand außer dem Pfarrer und dem Bürgermeister hat sich eingemischt. Ich glaube, dass dann im Laufe der vielen Jahre bestimmt ein halbes Märchen aus der Geschichte wurde.«

»Wieso Märchen?«

Sofia verstand gar nichts mehr. Die alte Greta sprach wirres Zeug. Sie hatte doch gesagt, dass es ein wahres Ereignis gewesen sei. Sofia suchte Julians Blick und tippte sich kaum merklich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Der aber schüttelte den Kopf und legte den Finger auf den Mund, in der Hoffnung, dass seine Schwester begriff und nichts Unüberlegtes sagte. Er stellte sich noch näher neben Greta.

»Das ist dann aber gar kein Märchen, denn Märchen sind immer erfundene Geschichten. Wie meinst du das mit dem halben Märchen?«

Greta musste lächeln. Sie war so in ihre Gedanken verstrickt gewesen, dass sie gar nicht merkte, wie sehr sie die beiden Kinder verunsichert hatte. Als sie die großen, fragenden Augen der beiden sah, lachte sie laut, bis ihr die Tränen kamen. Dann zog sie Julian in ihre Arme.

»Ihr denkt bestimmt, dass ich einen an der Waffel habe, was?«

Die beiden antworteten nicht, und sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, dass die Geschichte in den vielen Jahrzehnten sehr oft und immer wieder von anderen Menschen weitererzählt wurde. Und da natürlich nicht jeder die gleichen Worte gebrauchte, kam immer wieder mal etwas Neues dabei heraus. Deshalb denke ich, dass die Hälfte mittlerweile ein Märchen ist. Außer meiner Version, die ist kein halbes Märchen. Ich habe alles höchstpersönlich mitbekommen. Meine Geschichte ist die Wahrheit.«

Sie machte eine kleine Pause.

»Die Familie Hofer wohnte vor sehr langer Zeit oben auf dem Berg.«

Sie hob den Arm, deutete aus dem Fenster und schaute die Kinder mit blitzenden Augen an.

»Schaut mal hoch. Dort oben auf halber Höhe zur Bergspitze, auf der übrigens das ganze Jahr Schnee liegt, da steht immer noch das Haus der Familie.«

»Ich kann es gar nicht sehen«, sagte Julian, der sich erhoben hatte und angestrengt den Felsen entlangblickte.

Greta umarmte ihn und zog ihn an sich.

»Jetzt folge mal meinem Finger. Siehst du die drei dunklen Stellen neben dem Felsvorsprung, einen schwarzen Punkt eingerahmt von zwei Strichen? Da steht in der Mitte das Haus und rechts und links jeweils eine Tanne.«

Julian lehnte sich ganz nah an die Fensterscheibe. »Ja, jetzt sehe ich es. Das ist aber so weit weg und beinahe nicht zu erkennen.«

Sofia stupste ihren Bruder an.

»Ich sehe das nicht. Wo muss ich denn hinschauen?«

»Komm mal her, Sofia. Hier, genau hier an meinem Finger entlang«, sagte Greta und lächelte die Kleine an, die mit dem Kopf direkt neben Gretas Finger heranrückte und ihre Augen über den Berg gleiten ließ.