Jonglieren - Barbara Trapido - E-Book

Jonglieren E-Book

Barbara Trapido

4,9

Beschreibung

Eine Familiengeschichte von Shakespearescher Leichtig­keit: Christina ist kein liebes Mädchen, auch wenn sie es gerne wäre. Ständig muss sie ihre Stachel ausfahren. Vor allem der Vater mit seinen ­extravaganten Ideen geht ihr gegen den Strich. Ihre Mutter hingegen hat zu wenig Biss, und die Großmutter, anfangs ihre liebste Verbündete, ­erweist sich als gnadenlos engstirnig. Nur Pam, ihre Adoptivschwester, liebt sie von Herzen. Kein Wunder, dass ihr Weg zu den Menschen, mit denen sie durchs Leben gehen möchte, nicht geradlinig verläuft. Im Internat lernen Christina und Pam die beiden Freunde Jago und ­Peter kennen. Allen vieren hat das Leben Schweres mitgegeben. Durch einen tragischen Vorfall werden sie in alle Winde ­zerstreut. Jahre später finden sie sich in Oxford wieder, zu einem Happy End mit glücklichen Paaren. Wer mit wem - das bleibt bis zum Schluss spannend. 1994 zuerst erschienen, war "Jonglieren" in England ein Bestseller, die erste Veröffentlichung in Deutschland folgte 1995. Als Klassikerin weib­licher Erzählkunst findet Barbara Trapido nun ihren Platz bei der edition fünf.

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Band 18 der

Barbara Trapido

Jonglieren

Roman

Aus dem Englischen undmit einem Nachwort von Karen Nölle

© 2013

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburg

herausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Karen Nölle

Titel der englischen Originalausgabe Juggling, erschienen 1994 bei Hamish Hamilton Ltd, London. Der Roman erschien erstmals auf Deutsch im Berlin Verlag 1995, die Übersetzung wurde für diese Neuausgabe überarbeitet.

© Barbara Trapido 1994

© für Übersetzung und Nachwort: Karen Nölle 2013

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

ISBN 978-3-942374-60-6

www.editionfuenf.de

Inhalt

Erster Teil HINLEGEN UND AUFSTEHEN

Pam, Christina und der Beinahe-Vater sich schneidende Kreise

Jago, Peter und der Hundsstern die verlorenen Söhne

Zweiter Teil VORNÜBERLEHNEN

Der dicke Priester, der nette junge Mann und der schöne dunkle Junge

Der geraubte Junge und der Begriff des objektiven Korrelats

Dritter Teil FALLEN

Die Groupies, die Klugscheisserin und der Werwolf

Die Oger, die Beata Beatrix und die Koboldschwester

Der schwebende Knabe und die Sternschnuppe

Der Gyntyp und der Höllenhund

Vierter Teil BALANCIEREN

Judith und Dulcie späte und frühe Vertikale

Junker Christoph von Bleichenwang und die Lockungen der Logik

Hugo Campell hingelagert der grüne Mann am Wasser

Irrungen Paarungen Verkleidungen Geschlechtsverwirrungen

Der grüne Mann sur l’Herbe

Die scharlachrote Frau, das grüne Häschen und der äußerst verräterische Schädel

Fünfter Teil LANDEN

Ein Diagramm und die heilige Dreifaltigkeit

Luft und Engel Serious Sirius und der wunderbare Knabe

Zwillinge, Geschwister und der Schattentheater

Insekt und Ödipus

Waisen, Jongleure und hohe Hüte

Epilog oder was ihr wollt

Patchwork als Chance

Die Autorin

Bisher bei uns erschienen

Für Annelies Schuddeboom.Und für Margaret Alice Stewart-Liberty.

Erster Teil

HINLEGEN UND AUFSTEHEN

PAM, CHRISTINA UND DER BEINAHE-VATER SICH SCHNEIDENDE KREISE

Als Christina sechs war, ging sie mit ihrem Vater in ein Museum. Dort standen sie eine ganze Weile vor einem Fries vom Kampf der Griechen gegen die Amazonen. Die Griechen waren alles Männer, und die Amazonen waren alles Frauen, aber Christina verstand das nicht richtig. Ihr Vater schien sich sehr für die Frauen zu interessieren, aber sie fand die Männer viel eindrucksvoller. Die nur ganz leicht aus der Vertikalen verschobenen Linien ihrer zum Anmarsch aufgereihten Körper schufen einen eindrucksvollen, geballten Rhythmus, einer steilen Kursivschrift gleich. Die Frauen lagen alle am Boden. Ihre Gesichter waren passiv und die Körper aus so vielen runden Formen gestaltet, dass sich die eckige Geometrie der Männer verbot. Sie lagen anmutig in die Horizontale gegossen als Besiegte da. Mit zurückgeworfenen Köpfen und leicht bekleideten, weichen Körperlinien bildeten sie einen schmiegsamen Gegensatz zu den Männern.

»Wer waren die Amazonen?«, fragte Christina.

»Die Amazonen«, sagte ihr Vater, »waren ein mythisches Volk kriegerischer Frauen. Sie kämpften in den Straßen von Athen gegen die Griechen. Aber sie wurden von Theseus besiegt.«

»Frauen?«, sagte Christina. »Das waren doch keine Frauen!«

»Doch, sicher«, sagte er. »Sie schnitten sich die rechte Brust ab, um besser mit dem Bogen schießen zu können.«

»Das kann doch nicht sein!«, sagte Christina.

»Die Griechen behaupten das aber«, sagte ihr Vater.

Christina schwieg einen Augenblick. Dann kicherte sie. Sie überlegte, ob er sie wie üblich auf den Arm nahm, aber das, was er sagte, erinnerte sie an ihre Großmutter väterlicherseits, die im Auto nicht gern den Gurt anlegte, weil er ihr den Busen einquetschte. Sie hatte sich irgendwann in Neapel ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Sicherheitsgurt gekauft, um damit die Polizei zu überlisten, doch leider trug sie nur selten T-Shirts, weil sie ihren Busen zu groß fand.

Christina starrte auf die liegenden Amazonen. »Aber wenn sie nun Zwillinge hatten?«, fragte sie. »Wie konnten sie dann beide stillen?«

Ihr Vater lachte. »Ich glaub nicht, dass sie besonders mütterlich waren.« Die Bemerkung enthielt eine unausgesprochene Ergänzung, die Christina deutlich mithörte. Natürlich nicht – solche Frauen – die in den Straßen kämpften. »Ein Eis, Chrissie?«, fragte er.

»Mal sehen«, sagte Christina, die nicht vorschnell auf ihn eingehen wollte, weil ihr Vater, wie die Griechen, entschieden vertikal war, so dass sie sogar hier im Museum den Eindruck hatte, er sei der Decke näher als dem Fußboden. Das brachte sie auf die vielen Situationen, in denen sie wütend geworden und auf ihn losgegangen war, wobei ihre Fäuste ihm bloß gegen die Beine getrommelt hatten. Er konnte sie immer abschütteln, als kitzelte ihn eine Ameise an den Knien. Sie wunderte sich darüber, dass ihre Schwester Pam irgendwie nie so wütend auf ihn zu werden schien. Wieso eigentlich nicht?

»Chrissie?«, sagte er. »Ein Eis. Ja oder nein?«

Christina schritt in Gedanken einen Regenbogen aus Eissorten ab. Pistazie, Tequila, Schokolade, Banane, Amarenakirsch, Erdbeer, Pfefferminz …

»Mir egal«, sagte sie. »Möchtest du denn ein Eis?«

Ihr Vater kannte dieses Spiel nur zu gut. »Komm mit«, sagte er, nahm sie bei der Hand, und sie gingen zum Café.

Kaum hatte sie nachgegeben, suchte sie erneut die Oberhand zu gewinnen. »Papa, Pam kriegt doch kein Eis, oder? Bloß du und ich.«

»Pam ist nicht hier«, sagte er bestimmt. »Wenn sie mit wäre, würde sie auch eins bekommen.«

Pam und Christina waren Schwestern. Pam war groß und schwarzhaarig, hatte schwere dunkle Augenbrauen und einen brünetten Teint. Christina war klein und blond. Da sie ganz und gar verschieden aussahen und einander im Alter ungewöhnlich nahe waren, wurden sie gemeinhin eher für beste Freundinnen als für Schwestern gehalten. Und beste Freundinnen waren sie meistens auch. Mal mehr, mal weniger. Natürlich gab es Probleme. Unausgesprochene Probleme. Die Mädchen zankten sich nie, weil es nicht möglich war, sich mit Pam zu zanken, deren sanfte Art jeden Streit entschärfte. Das war ein Teil des Problems.

Pam war adoptiert, aber Christina war das leibliche Kind. Man hatte aus Pams Herkunft nie einen Hehl gemacht, und die Mädchen konnten sich auf den Hochzeitsfotos ihrer Eltern sehen, Pam als ein sechs Monate altes Baby in einem Kleidchen aus Baseler Spitze und geknöpften Glacélederschühchen, während Christina noch nichts weiter war als ein dicker Wulst unter dem schräg geschnittenen Satin des wunderschönen cremefarbenen Kleides ihrer Mutter. Ihre Eltern hießen Alice und Joe. Alice war Engländerin, Joe war ein Amerikaner italienischer Abstammung.

Joe hatte das Kleid ausgesucht, und es hatte seiner Vorliebe für Extravaganz und Festlichkeit entsprechend einen Schnitt, der die Tatsache, dass Alice in anderen Umständen war, eher betonte als kaschierte. Es schmiegte sich an die Wölbung ihres Bauchprofils und schuf den Eindruck einer hellen, trägen, hochgestellten Sanddüne. Alice hatte nicht das geringste Interesse an ihrer Garderobe und wäre, wie Joe den Kindern erzählt hatte, mit Sicherheit in Turnschuhen und Sweatshirt vor den Traualtar getreten, wenn man sie gelassen hätte.

Er war viel älter als sie. »Ich war noch ein Kind, als ich geheiratet habe«, sagte Alice bisweilen lachend, wenn Leute sich angesichts der beiden kleinen Mädchen über ihr jugendliches Aussehen äußerten. Man hatte sie mehr als einmal für das Au-pair-Mädchen ihrer eigenen Kinder gehalten.

Christina besaß noch einen zweiten Beweis dafür, dass sie das leibliche Kind ihrer Eltern war. Dabei spielte ein kleiner Geburtsfehler an ihrem Ohrläppchen eine Rolle – ein Knoten, den Christina von klein auf als ihr »Knötchen« bezeichnet hatte. Es war nicht viel größer als ein Mückenstich, aber sein Vorhandensein von Geburt an wurde durch einen Stapel Fotos bezeugt. Da Joe unendlich viele Aufnahmen gemacht hatte, darunter auch einige von der Geburt selbst, war das Knötchen zwangsläufig häufig zu sehen, rosig an ihrem brandneuen linken Ohrläppchen schimmernd.

Als sie noch ein ganz kleines Mädchen war, hatte Christina mit Vorliebe den Ablauf der Geburt vorgeführt, um vor ihrer Schwester aufzutrumpfen. Sie pflegte dabei unter den Rock ihrer Mutter zu tauchen und Alice mit gebieterischer, durch den Stoff gedämpfter Stimme Sätze vorzusprechen:

»Jetzt musst du sagen: ›Huch, ich muss mich hinlegen, weil mein Baby gleich auf die Welt kommt.‹«

»Huch«, sagte Alice dann entgegenkommend. »Mensch, Pam! Ich muss mich jetzt aber wirklich hinlegen, weil mein liebes süßes kleines Baby gleich auf die Welt kommen wird.«

Alice war immer entgegenkommend. Wenn Christina auf diese frühen Kindertage zurückblickte, sah sie ihre Mutter stets in rosiger Stimmung. Sie war blond und trug immer ein Lächeln im Gesicht. Damals war noch nichts von ihrer spitzen Zunge zu merken. Die stellte sich erst einige Jahre später ein. Damals war sie so von Joe bezaubert, dass der Alltag wie ein Tanz war. Es kam ihr vor, als wäre eine höhere Macht erschienen und hätte die Zügel ihres Lebens in die Hand genommen. Joe war wie ein Wirbelwind aufgetaucht und hatte alle ihre Prioritäten fortgeblasen – einschließlich eines genau in jene Zeit fallenden, tiefen Kummers. Denn sie trauerte damals um den Verlust ihrer engsten Freundin, Jem McCrail, und ließ lange Zeit niemanden an sich heran.

Dann waren, beinahe auf einen Schlag, nicht nur Joe, sondern auch die beiden kleinen Mädchen gekommen, die lächerlicherweise fast gleichaltrig waren. Sie waren wie ein wunderschönes neues Hobby; eine unterhaltsame Beigabe – vor allem, da Joe sofort die gute Elisabeth eingestellt hatte, damit sie die viele schwere Arbeit nicht allein bewältigen musste.

Sie lebte, als wäre das Leben ein neues Spiel. Es hatte sich so plötzlich verändert, dass sie das Neue noch immer deutlich spürte. Eben noch war sie eine Studentin in England gewesen, ein englisches Mädchen, das Zehnpennymünzen für den Stromzähler sparte und sich von Nescafé und Toast ernährte, und auf einmal war sie mit Joe am Riverside Drive. Eben noch war sie ganz von ihrem Verlust erfüllt gewesen und hatte sich pflichtschuldig bemüht, in ihrem Innern eine Regung – eine »normale« Gefühlsregung – zu entdecken für die beiden, oder zumindest einen der beiden, netten, aber belanglosen jungen Männer, die mit großer Beharrlichkeit um ihre Zuneigung warben, für die sie aber merkwürdigerweise nicht das Geringste empfand. Und dann war Joe da – Meisterkoch, Büchermensch, Geliebter und Draufgänger – und hatte sie und ihre gesamte Existenz gekapert.

Es war eine Leidenschaft, die sie am Anfang zugleich abstieß und verlockte. Sie wusste noch, wie sie einmal voll Entsetzen zugeschaut hatte, wie er einem lebendigen Hummer mit dem Messer zu Leibe gerückt war, ihn aufgeschlitzt, mit noch leise zuckendem Schwanz gebacken und sein Fleisch anschließend zu einer Sauce für ihre Spaghetti zerstampft hatte.

»Ich möchte«, hatte sie gesagt, »dass du mir versprichst, so etwas nie, nie wieder zu tun.« Aber schon damals war ihr klar, dass seine Anziehungskraft untrennbar mit seinem Talent zum Übermaß verbunden war.

Die Wohnung, in der sie an der Upper West Side lebten, hatte schon vor Alices Ankunft existiert, aber Alice war von ihr so begeistert wie von allem anderen. Sie pflegte im Scherz zu sagen, dass sie aussah, als hätte Bernini hier als Innenarchitekt gearbeitet. Die Atmosphäre von Wandteppichen, Altarbildern und dunklem, reich verziertem Holz überflutete einen. Im Schlafzimmer hing ein vergoldetes umbrisches Kruzifix über ihrem Kopf, und an der Wand gegenüber spielten zwei flatternde Stuckengel Blockflöte. Sie war Welten entfernt von dem durch und durch profanen und eher minimalistischen Domizil ihrer Eltern in Surrey.

Folglich schwebte Alice auf Wolken. Die Mädchen wuchsen in einer aufregenden, wenn auch merkwürdig intensiven häuslichen Atmosphäre auf – in jeder Hinsicht aufregender als die, in der andere Kinder lebten; die Kinder, bei denen Pam und Christina spielten, deren Mütter lediglich ihre gewöhnlichen Vorortshader aushaderten und am Ende langer gewöhnlicher Nachmittage mit durch und durch gewöhnlichen Kindern ihre ganz gewöhnlichen Frustrationen hinausschrien.

»Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um deine Drecksklamotten hinter dir herzuräumen, Maria. Mach, dass du wieder ins Badezimmer kommst, sofort!«

Manchmal, vor allem bei ihren sommerlichen Besuchen in England, wenn sie bei Alices Mutter wohnten, die sie Granny P nannten, hatten Pam und Christina Leute erlebt – ganz normale Menschen in Läden und Zügen –, deren Nörgelvokabular sie in seiner Kleinlichkeit zutiefst erstaunte.

»Kinder mit’m Willn kriegn eins auf die Brilln.« – »Dafür gibts bis Freitag nichts Süßes, Jason.« Einmal, in der Bäckerei bei der Großmutter um die Ecke, wo sie Pam eine Geburtstagstorte kaufen wollten, hatte der Verkäufer gesagt: »Na, was kriegst du denn zum Geburtstag?« Und weil Pam zu schüchtern war, um schnell mit einer Antwort herauszukommen, plärrte er auch schon los: »Zu viel, auf jeden Fall zu viel. Diese Kinder heutzutage!«

Das Leben der Mädchen hatte also eine Menge für sich. Es war turbulent und großzügig. Nach den Maßstäben der meisten Leute war es wie alle Tage Weihnachten. Aber irgendetwas in der Luft machte Christina kribbelig. Irgendwas machte sie kratzbürstig und bissig.

»Es heißt nicht ›liebes süßes kleines Baby‹«, korrigierte sie ärgerlich, noch immer unter Alices Rock, wo sie ihre Geburt spielte. »Es heißt: ›Ob sie wohl mit dem Knötchen am Ohr geboren wird?‹«

Pam hatte kein Knötchen, und sie spielte auch nicht Geborenwerden, weil sie nicht auf dem gleichen Weg auf die Welt gekommen war. In Wahrheit war, jedenfalls in Christinas Augen, Pams Herkunft unendlich viel aufregender. Pam war einige Wochen vor dem Ende des neunten Monats aus dem Bauch ihrer sterbenden Mutter geholt worden. Joe hatte den Mädchen erklärt, dass man schon bei den alten Persern genau die gleiche Operation durchgeführt hatte und dass auch Julius Caesar so ins Leben geholt worden war. Christina wusste, dass Pam, als ihre Mutter im Sterben lag, herausoperiert und gerettet worden war.

Dies gab ihr das Gefühl, Pam habe ihr die Schau gestohlen. Sie wusste nicht nur, dass Pams Mutter ein blendendes, ungeheuer begabtes Mädchen gewesen war, eine sehr vielversprechende junge Frau, und die meistgeliebte, aufregendste und intelligenteste Schulfreundin von Alice, sondern auch, dass Pams Geburt ihre Eltern – da sie vollkommen unterschiedliche Verbindungen zu ihr hatten – zusammengeführt hatte. Ohne Pam hätten sie sich nie kennengelernt, aber so waren sie am Bett von Pams sterbender Mutter zusammengekommen: Alice, weil sie von einem herzzerreißenden Brief alarmiert worden war, und Joe, weil er der Verleger des ersten Romans der sterbenden Frau war.

Christina wusste, dass sich ihre Eltern bei der ersten Begegnung alles andere als gemocht, sondern sich erbittert bekämpft und gestritten hatten – über das Baby und alles Übrige. In ihrem Kopf hatten sich alle Berichte über diese Phase der Bekanntschaft zwischen ihren Eltern mit dem Sommernachtstraum aus Lambs Shakespeare-Geschichtenbuch verquickt, aus dem Joe ihnen abends vor dem Schlafengehen vorlas. Sie wusste, dass der König und die Königin der Elfen sich bitter um den schönen dunklen Knaben gestritten hatten und dass der König Titania einen Wundersaft in die Augen geträufelt hatte. Und sie wusste auch, dass sie hinterher in einem Elfengarten gelegen und einen Traum geträumt hatten, in dem es immer Mittsommer war.

Manchmal überredeten die Mädchen ihre Mutter, ihnen dies alles anstelle der Gutenachtgeschichte zu erzählen. Alice wurde dabei immer ein wenig verlegen und senkte den Blick. Und in ihrer Stimme schwang stets ein Lachen mit.

»Na ja«, sagte sie, »ich fand, dass euer Papa der unangenehmste Mensch war, der mir je im Leben begegnet war. Er war mir richtig zuwider.« Und dann schilderte sie, wie aufdringlich er gewesen war, wie sehr er versucht hatte, sie zu gängeln. »Und hässlich fand ich ihn auch«, sagte sie. »Aber da hatte ich mich natürlich getäuscht.« Sie erzählte, wie er eines Tages im Spätsommer mit Geschenken und Blumen gekommen war, um sie zu einem Picknick einzuladen, und wie er sie im New Forest nicht weit von ihrem Elternhaus nach allen Regeln der Kunst bewirtet hatte.

»Mit Speisen, die so köstlich waren, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief«, sagte sie. »Und er hatte alles selbst zubereitet.«

»Und dann?«, fragte Christina.

»Und«, fuhr Alice fort, »ehe ich michs versah, war ich in ihn verliebt. Er war der einzige Mensch in meinem Leben, der so atemberaubend war wie Pams Mutter. Plötzlich war mir klar, dass ich ihn mehr liebte als jeden andern auf der Welt.«

»Außer Pam«, sagte Christina streitlustig.

»Ja, natürlich«, sagte Alice und strich ihnen die Steppdecken glatt. »Außer Pam.«

»Er muss einen Zaubersaft gehabt haben, Mama«, sagte Christina.

»Wahrscheinlich«, lachte Alice.

»Was gab es zu essen?«, fragten die Mädchen, obwohl sie die Antwort längst kannten. Christina stellte sich immer gern reife, saftstrotzende Melonen und Toast mit Butter vor, der aus Bäumen mit krummen menschlichen Fingern tropfte.

»Tintenfisch«, sagte Alice, »und Kalbsmagen.«

Die Mädchen quietschten vor Lachen und wanden sich unter ihren Steppdecken.

»Igitt!«, riefen sie. »Pfui. Bäh. Tintenfisch! Bloooß nicht!«

Alice gab den Mädchen einen Gutenachtkuss. Dann ging sie zur Tür und knipste das Licht aus.

»Ihr hättet aber keinen Tintenfisch essen sollen«, sagte Christina streng. »Ihr hättet Kentucky Fried Chicken essen sollen.«

Ihre Mutter warf ihr einen Kuss zu. »Ein andermal.«

Christina blinzelte im Dunkeln. Ein andermal. Aber wie sollte es denn je ein anderes Mal geben können? Vielleicht war das der Moment, als Christina ein merkwürdiger Drang ergriff, sich vor der Anziehungskraft dieser verführerischen Iss-mich-trink-mich-Atmosphäre, dieser luxuriösen, verwöhnten Kinderstube – dort im siebten Stock über dem Riverside Drive – zu schützen, einem Drang, der anhielt und zu einem Bestandteil ihres Wesens wurde. Sie merkte nicht, wie er sich in ihr festsetzte, und sie verstand ihn niemals wirklich. Aber er führte unter anderem dazu, dass sie kein Fleisch mehr aß.

Für Christina war ihre Schwester ein Elfenkind, gemacht aus Feenstaub, während sie selbst im Staub des Alltags lebte. Pams Rolle in der Beziehung ihrer Eltern hatte etwas Beunruhigendes. Die Dinge waren auf den Kopf gestellt. Es erschien ihr nicht richtig, dass Pam schon da gewesen war, bevor ihre Eltern zusammenkamen. An der Chronologie war etwas faul. Es machte ihr auf ähnliche Weise zu schaffen wie das, was sie an der Chronologie Gottes und seiner gebenedeiten Mutter störte.

Es fiel Christina nicht leicht, mit der Vorstellung fertigzuwerden, dass Gott vor seiner Mutter da gewesen sein sollte; dass er schon vor der Erschaffung der Welt geplant haben sollte, sie zu seiner Mutter zu machen. Wie konnte überhaupt jemand, dachte sie, und sei es auch der liebe Gott, vor seiner eigenen Mutter da gewesen sein?

Mrs del Nevo war die Erste, die Christina als »Skeptikerin« bezeichnete. Allerdings fügte sie, um die Pille zu versüßen, gleich hinzu, dass der Herr den Skeptikern eine besondere Rolle zugedacht habe, und führte als Beispiel den ungläubigen Thomas an. Mrs del Nevo holte die Kinder jeden Sonntag nach der Lesung aus der Heiligen Schrift aus dem Gottesdienst und verteilte Bilder zum Anmalen. Normalerweise waren es Gestalten aus der Bibel, aber eines schönen Sonntags hatte Mrs del Nevo ein mit Zirkeln gezeichnetes Muster aus drei sich schneidenden Kreisen ausgeteilt. Es stelle die Dreifaltigkeit dar, sagte sie, und das Stück in der Mitte, wo sich alle drei Kreise überlappten, habe mit Gott als drei Personen und Gott in einer Person zu tun. Sie hatte Pam erlaubt, diesen wichtigen zentralen Bereich mit ihrem goldenen Filzstift für besondere Anlässe anzumalen, weil man sich darauf verlassen konnte, dass Pam stets sorgfältig und ordentlich damit umging.

In späteren Jahren fragte sich Christina manchmal, ob ihr von Geburt an ein Teil ihres Gehirns gefehlt hatte oder ob es schlicht dem Einfluss von Granny Ps bodenständigem Materialismus zu verdanken gewesen war, dass sie schon so früh im Leben zur Bilderstürmerin der Sonntagsschule geworden war. Damals hatte sie Ohrenrauschen bekommen. Sie hatte alle drei Kreise mit braunen Augen und gelben Haaren versehen, und fertig war die Heilige Familie. Joseph, Maria und das Kind.

»Wir haben da ein kleines Problem«, hatte Mrs del Nevo hinterher gesagt, als sie Joe und Alice auf dem Platz vor der Kirche ansprach.

Wenn man Granny P fragte, konnte von einem »Problem« keine Rede sein. Für sie war das alles Mumpitz. Sie verstehe nicht, sagte sie, wie ›Mami‹ an einen solchen Blödsinn glauben könne. Offenbar machte sie der Gedanke, dass ein Mann daran glaubte, besonders ärgerlich, während es für ›alte Muttchen‹, die nichts Besseres zu tun hätten, in Ordnung sei. Es war nicht zu übersehen, dass Granny P immer reichlich zu tun hatte. Sie hatte in ihrem Heimatstädtchen jahrelang ein kleines blühendes Unternehmen geführt, und sie war vollkommen unermüdlich, wenn es um das Einkaufen und ihren Garten ging.

Granny P ließ keine Gelegenheit aus, ihren Spott über ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu ergießen. Einmal, so erinnerte sich Christina, hatte sie ihnen ein Foto aus ihrer Lokalzeitung hingehalten, auf dem eine Mutter mit kleinen Drillingen in identischen automatischen Rollstühlen neben einem schnurrbärtigen Würdenträger der Stadt zu sehen war, der einen Scheck in der Größe einer Monopolyschachtel hochhielt.

»Und ich nehme an«, sagte Granny P, »eure Kirche hat eine Erklärung dafür, weshalb es Gott in seiner Weisheit einfällt, dieser armen Frau drei spastische Kinder zu schenken? Nicht etwa eines, wohlbemerkt, sondern drei?«

»Keine Ahnung, Valerie«, schoss Joe scharf zurück. »Wahrscheinlich hat der Vatikan nicht genug Forschungskapazitäten für künstliche Befruchtung.«

Granny P hatte die Bemerkung ignoriert und war zu einer Geschichte über einen Bettler übergegangen, den sie vor längerer Zeit in Goa auf dem Vorplatz der Kathedrale gesehen hatte und der jedem zum Beweis gereicht hätte, sagte sie, dass es keinen Gott geben könne. Er hatte, schien es, weder Arme noch Beine gehabt, abgesehen von einem kleinen Stumpf, den er ihr flehentlich entgegenzustrecken versucht hatte. Granny P hätte ihm am liebsten ihr ganzes Kleingeld gegeben, sagte sie, aber es habe sie »viel zu sehr gegrault«, als dass sie ihm ihr Geld auf den Stumpf hätte legen können.

Dabei müsse Alice es doch wirklich besser wissen, meinte sie, da sie keine »arme irische Hinterwäldlerin« sei, sondern eine diplomierte Oxfordstudentin. Sie habe den ganzen faulen Zauber schlicht mitgeheiratet, als sie Mr Svengali zum Manne genommen habe. Sozusagen als Pauschalangebot.

Granny P hatte ihren Schwiegersohn nicht nur im Verdacht, immer einen Rosenkranz in der Hosentasche zu haben, sie versuchte auch immer wieder ihre Tochter nach anderen, die Einhaltung dieses Glaubenshokuspokus betreffenden Dingen auszuhorchen. So hatte sie zum Beispiel versucht herauszufinden, ob Alice in ihrer Freizeit bisweilen Votivkerzenwachs von alten Eisenleuchtern kratze. Oder ob sie Altartücher stopfe und stärke? Oder wie dieses weiße nachthemdartige Gewand hieß, das die Priester unter ihrem Sonntagsstaat trugen.

»Das ist die Alba«, sagte Alice, ohne allerdings je die Fragen ihrer Mutter zu beantworten. Sie saß nur da und lächelte wie jemand, der Fliegenpilze gegessen hatte.

»Mir tun nur die Kinder leid«, sagte Granny P, »dass sie diesen ganzen faulen Zauber mitmachen müssen.«

Pam hielt nichts von diesen Gesprächen. Sie kletterte für gewöhnlich auf Joes oder Alices Schoß und steckte den Daumen in den Mund. Ihr Herz zerfloss vor Mitleid für den Bettler ohne Beine. Sie betete darum, dass jedermann verstehen möge, dass er – wie die Drillinge im Rollstuhl und alle anderen Krüppel und Aussätzigen und alle Verabscheuten und Verabscheuungswürdigen, alle Opfer und alle Missetäter –, dass sie, dass er, dass wir alle Glieder des Leibes Christi sind.

Christina, die bei Streit und Spannungen aufblühte, genoss alle Gelegenheiten, bei denen sie für ihre Großmutter Partei ergreifen konnte, weil das ihren Vater so wunderbar ärgerte, auch wenn er den Gleichgültigen spielte.

Eines Sonntags, als sie ihrer Großmutter in den letzten Sekunden, bevor die Eltern mit ihr zur Messe aufbrechen wollten, zwei Polo-Pfefferminzbonbons aus der Handtasche geluchst hatte, war es ihr – allerdings nur durch hartnäckiges Schmatzen – gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

»Ich muss schon sagen«, bemerkte Granny P verächtlich. »Ein erwachsener Mann. So viel Palaver um einen kleinen Pfefferminzbonbon. Nicht größer als ein Penny –«

»Mama«, sagte Alice, »Joe ist der Ansicht, dass Chrissie sich enthalten sollte.«

»– und noch dazu mit einem Loch in der Mitte«, vollendete Granny P.

»Na prima«, entgegnete Joe. »Danke für die Aufklärung, Valerie. Jetzt musst du nur noch eine Möglichkeit finden, wie du meiner Tochter das Loch ohne das Drumherum anbieten kannst, und ich bin mehr als glücklich.«

»Joe –«, sagte Alice.

»Und bis dahin«, fuhr er fort, »wäre ich noch glücklicher, wenn du aufhören würdest, meine Kinder zu verziehen.«

»Joe –«, sagte Alice.

»Deine Kinder?«, sagte Granny P spitz. »Verziehen?«

Später – Joe hatte seiner Schwiegermutter einen in eine duftige Schleierkrautwolke gebundenen Strauß Prachtlilien überreicht – hatten sie sich zu einem beklommenen Sonntagsmahl niedergelassen, bei dem er sich befleißigt hatte, den Braten und die Sauce und die Kartoffeln und die Bohnen zu loben, und, ganz besonders, Granny Ps Dessert.

»Meine Güte«, sagte er. »Schaut euch das an, Kinder. Eine Zitronenschaumtorte. Ist das nicht der exquisiteste Nachtisch, den ihr je gesehen habt?«

»Joe«, sagte Alice, als ihre Mutter in die Küche gegangen war, um die Sahne zu holen, »lass gut sein, mein Schatz.«

»Was soll ich gut sein lassen?«

»Du brauchst nicht so tun, als wäre der Nachtisch im Himmel gemacht.«

Die Mädchen kicherten. »Papa ist in die Zitronenschaumtorte verliebt«, sagte Christina. »Er denkt, die Schaumtorte ist seine Freundin. Er will sie küssen. Los, Papa, sei nicht so schüchtern.«

»Und was hab ich jetzt wieder getan?«, fragte Granny P steif, als sie wiederkam. »Oder hab ich Eischnee im Gesicht?« Sie nahm betont würdevoll Platz und stellte den Sahnetopf vor sich auf den Tisch.

»Ach, bitte, Mama, es ist nichts«, sagte Alice. »Nur Chrissie. Sie hat dummes Zeug geredet, das ist alles.«

»Papa will nämlich die Zitronenschaumtorte heiraten«, sagte Christina, »aber das geht nicht, weil er Mama schon hat.«

Granny Ps Stimmung wurde durch das Nachdenken über diese Mitteilung nicht besser. Sie hüllte sich in Schweigen, während die Mädchen weiter zusammen kicherten.

»Chrissie verdient keinen Nachtisch«, sagte Joe. Prompt stellte sich Granny P wie eine Löwin vor die jüngere ihrer Enkeltöchter.

»Mein Engelchen!«, zwitscherte sie. »Mein Häschen, aber natürlich musst du deinen Nachtisch bekommen! Komm zu deinem Omilein, mein Schatz, und hilf mir beim Aufgeben.«

»Ach herrje«, stöhnte Joe. Aber das war alles, was er sagte, als Christina selbstzufrieden zu ihrer Großmutter hüpfte und es sich auf ihrem Schoß bequem machte. Er sah zu, wie sie das große Silbermesser und den Tortenheber in die Hand nahm. Er war Alice zuliebe entschlossen, den Frieden zu bewahren.

Friede sei mit uns.

Pam war kein ungläubiger Thomas. Sie hieß mit zweitem Namen Mary. Ihre Taufnamen waren Pamina Mary. Sie war nach der weiblichen Hauptfigur einer Oper benannt, und sie war an Mariä Himmelfahrt geboren. Sie konnte wunderschön singen und hatte immer schon jeden Ton getroffen. Für Joe war das »Pams besondere Gabe«, und da er extravagante Gesten ebenso liebte wie große Reisen, hatte er eines Sommers, als die Familie Venedig besuchte, eigens die Mädchen in ein Konzert im Ospedale della Pietà geführt, wo Vivaldi seinen Chor der Waisenmädchen ausgebildet hatte.

Die Schwestern waren hingerissen gewesen, und hinterher hatte sich herausgestellt, dass Pam ganze Abschnitte von Vivaldis Gloria auswendig singen konnte, obwohl sie es nur dieses eine Mal gehört hatte. Als Christina hörte, wie Pams Stimme den klaren, melodiösen Kurs durch die unzähligen Träller der Zeile propter magnam gloriam tuam steuerte, musste sie wieder einmal denken, wie schön, wie beneidenswert es wäre, wenn man entdeckte, dass man ein Waisenkind wäre, eine sechsjährige, musikalische orfana.

Der Konzertbesuch hatte unmittelbar vor ihrem alljährlichen Englandaufenthalt im Juli bei Granny P stattgefunden, wo Christina unter Alices noch vorhandenen Kinderbüchern eine Geschichte über ein kleines Mädchen fand, das sie sofort für ein Waisenkind hielt. Das Kind war eine kleine Pariserin. Das war klar, weil sie auf den Bildern am Eiffelturm spazieren ging und an der Notre-Dame und an der ganzen Seine entlang.

Christina identifizierte sich sofort mit der Heldin aus dem Bilderbuch, da diese, wie sie selbst, nicht nur klein für ihr Alter und kess war und zwei kleine Zöpfe hatte, sondern auch pfiffig, vorlaut und vom Pech verfolgt. Sie schlief mit elf anderen kleinen Mädchen in einem Schlafsaal, und sie spazierten mit einer freundlichen Nonne, die den Gendarm dazu veranlasste, die Autos für sie anzuhalten, zu zweit nebeneinander durch die Straßen.

»Ah«, sagte ihre Großmutter im Vorbeigehen. »Du hast Madeleine gefunden. Wie schön. Das war immer eins von Mamis Lieblingsbüchern.«

»Was heißt Waise auf Französisch?«, fragte Christina.

»Ach, du je«, sagte Granny P, »orpheline, glaub ich.«

Christina war hingerissen – so sehr, dass sie, als Joe abends – er hatte tagsüber Verleger in London besucht – nach Hause kam, noch immer in die Seiten vertieft war.

»Hallo, Chrissie«, sagte er, »wie gehts?«

»Ich bin nicht Chrissie. Du musst Madeleine zu mir sagen.«

»Madeleine«, sagte Joe. »Kein Problem. Wie gehts dir, Madeleine?«

»Du musst mich auf Französisch fragen«, sagte Christina, »weil ich eine Französin bin.«

»Aha, eine Französin also.«

Joe war sich deutlich bewusst, dass seine jüngere Tochter ihn herausfordern wollte. Sein Französisch war nicht sehr gut, und er wusste, dass Christina es wusste. Sie wusste es von einem Restaurantbesuch in Paris, bei dem er auf gewisse Schwierigkeiten gestoßen war, als er sich dem Kellner verständlich zu machen versucht hatte. Er hatte dem Kellner erklären wollen, dass Christina kein Fleisch aß.

»Ma fille n’aime pas manger la carne«, sagte Joe.

»Laviande«, verbesserte Alice. »Joe, er versteht dich nicht.«

»Was zum Teufel hast du an carne auszusetzen?«

»Gar nichts«, sagte Alice. »Nur dass es Fahrkarte heißt. Du weißt schon. Carnet. Ein Fahrkartenheft für die Metro. Du hast ihm erklärt, dass deine Tochter keine Fahrkarten isst.«

Es war ein vollkommen logischer Fehler gewesen, fand er, vor allem für jemanden, der Italienisch sprach, aber dank Alice waren die Mädchen so unerträglich albern geworden, dass er sich mit Gewalt hatte durchsetzen müssen.

»Mmm, lecker«, hatte Christina ein ums andere Mal wiederholt und dabei so getan, als wollte sie in ihre Serviette beißen. »Mmm, le-ecker. Fahrscheine, Fahrscheine.«

»Von heute an, Chrissie«, sagte er, »wirst du essen, was ich dir vorsetze.« Er hatte keine Ahnung, dass ihre Stimmung plötzlich in tiefen Ernst umgeschlagen war, weil ihr der Anblick von Tintenfisch und Kalbsmagen vor ihrem geistigen Auge zu schaffen machte.

»Madeleine versteht nur richtiges Französisch«, sagte Christina zu ihm. »Du musst richtig sprechen.«

»Gut, richtiges Französisch«, sagte Joe. »Comment ça va, ma petite Madeleine?«

»Ist das richtiges Französisch?«, fragte Christina.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte er. »Möchtest du, dass ich dich auf Französisch windelweich schlage, Madeleine?«

»Ich bin eine orpheline«, gab sie zur Antwort. »Ich wohn mit vielen anderen orphelines zusammen in Paris. Ich wohn überhaupt nicht mehr bei dir.«

»Wie schade«, sagte Joe. »Das ist wirklich ein Jammer.«

»Nein«, sagte Christina, »es ist schön. Guck mal.«

Joe nahm das Buch und erklärte sich bereit, ihr die Geschichte vorzulesen, wobei sich herausstellte, dass Madeleine gar keine orpheline war. Sie war nur im Internat, das war alles. Und bei der freundlichen Nonne handelte es sich um eine gewisse Miss Clavel, die nur wie eine Nonne aussah, weil sie eine Kopfbedeckung im Stil einer Lazarettschwester des Ersten Weltkriegs oder einer Nanny zur Zeit von König Edward VII. trug. Und am Ende der Geschichte tauchte Madeleines Vater auf und besuchte sie im Krankenzimmer des Internats.

»Siehst du, sie ist nicht im Waisenhaus. Sie ist im Internat«, sagte Joe. »Das ist eine Schule, in der man nachts auch schläft. Man kommt nur in den Ferien nach Hause.«

»Dann will ich in ein Internat«, sagte Christina. »Wie Madeleine.«

»Mal sehen«, sagte Joe. »Das entscheiden wir, wenn du älter bist.«

Aus der Tatsache, dass Pams Verhältnis zu Erwachsenen stets weniger spannungsgeladen war, hatte Christina den Schluss gezogen, dass Erwachsene Pam lieber hatten – selbst die zartfühlenden Erwachsenen, die, wie sie glaubte, nur so taten, als wären sie unparteiisch. Das war nur allzu verständlich, denn Pam besaß nicht nur eine aufregende Herkunft und offensichtliche Begabungen, sie war auch hübsch und nett und niemals lästig. Sie war rücksichtsvoll und tierlieb und mitfühlend. Auf dem Land rettete sie Spinnen aus Regenpfützen und bat ihren Vater ruhig und vernünftig, die Mäuse nicht zu vergiften.

Sie las Bücher darüber, wie man bei Vögeln ein gebrochenes Bein schiente, und bei einem Weihnachtsfest, als Joes Mutter, Grandma Angie, ihnen in Seidenpapier verpackte Puppen und einen Schrank voller kleiner Kleider schenkte, wurde Pam die Puppenmutter – nicht dann und wann für ein paar Minuten hier oder da, sondern für die nächsten Wochen und Monate und Jahre. Sie nähte für die Puppen und ging mit ihnen spazieren und las ihnen Geschichten vor und ließ sie bei den Mahlzeiten abwechselnd neben sich am Tisch sitzen.

Diese Weiblichkeit Pams bezauberte Joe geradezu, und wenn er kochte, wie sonnabends und sonntags und an Feiertagen immer, ließ er es sich nicht nehmen, für die Puppen exquisite kulinarische Leckerbissen en miniature zuzubereiten. Wenn die Familie sich also zu scaloppine an den Tisch setzte – und Christina es vorzog, stattdessen halbherzig in einem halben Dutzend Limabohnen aus der Dose herumzustochern, die sie zu einem Löffel grünen Tomatenrelish aß –, bekamen die Puppen ihre Kalbsschnitzel auf Espressountertassen.

Gelegentlich spürte Joe für die Puppen im Supermarkt Miniaturmaiskolben und -zucchinis auf, und die mousse au chocolat mit Rum servierte er ihnen mit einem winzigen Klecks Sahne in kristallenen Likörgläsern mit Stiel. Christina entsann sich noch, wie ihr Vater einmal, an Pams Geburtstag – und ein Geburtstagsfrühstück war immer etwas ganz Besonderes –, jedem von ihnen ein Ei en cocotte gemacht hatte, nur dass er für die Puppen zwei kleine Wachteleier aufgeschlagen hatte, während die Familie Hühnereier aß; zwei exquisite Miniatureier mit knopfgroßen Dottern, die unter einem durchsichtigen Schleier aus warmer Sahnesauce leuchteten.

Das Problem dabei war, dass dieser Anblick Christinas Magensäfte zwar in Bewegung setzte, aber in ihr nicht den Wunsch weckte, mit den Puppen zu spielen. Und als Joe sie später am selben Tag bat, ihm beim Pfannkuchenbacken zu assistieren, weigerte sie sich, obwohl sie nichts lieber hatte, als von ihm ein riesiges Geschirrtuch umgebunden zu bekommen und auf einen Stuhl gestellt zu werden, damit sie den Teig in die Pfanne geben konnte.

»Ach, warum denn nicht«, sagte Joe. »Meine beste Pfannkuchenassistentin? Ich brauche deine Hilfe. Sag mal, bist du sauer, Chrissie? Weshalb denn?«

»Deine Pfannkuchen scheinen mir nicht zu schmecken«, sagte Christina. »Das ist alles.«

»Sie ›scheinen‹ dir nicht zu schmecken. Was soll das denn heißen? Du isst Pfannkuchen für dein Leben gern.«

»Ja, aber deine Pfannkuchen scheinen mir nicht zu schmecken«, sagte Christina.

Joe stieß ein wissendes, skeptisches Lachen aus. »He«, sagte er, »was ist los?«

»Nichts. Außer dass mir deine Pfannkuchen irgendwie nicht zu schmecken scheinen.«

»Aha. Und wessen Pfannkuchen ›scheinen‹ dir besser zu schmecken?«

Christina überlegte einen Augenblick. Es gab nur einen Menschen, dessen Nennung ihm ernsthaft wehtun würde, und das war Granny P, die ihn von Anfang an aufrichtig verabscheut hatte und der es bis heute schwerfiel, ihre Abneigung zu verbergen.

»Ich mag nur Granny Ps Pfannkuchen«, sagte sie. »Weißt du, sie macht ihre nicht mit diesem schlabbrigen Zeug.«

Sie meinte Ricotta. Ihr Vater pflegte seine Pfannkuchen um kleine mit Zimt und Zucker angemachte Ricottaberge zu falten.

»Kein Problem«, sagte Joe mit zusammengebissenen Zähnen und sah aus, als wäre er kurz davor, mit dem Schöpfteil seines Holzlöffels auf sie loszugehen. »Tu dir keinen Zwang an, Chrissie, ich gönn dir deine Vorlieben, weshalb auch immer. Das ist für mich wirklich nicht das geringste Problem.«

Dann und wann spielte Christina auch mit Puppen, aber nur unter der Bedingung, dass Pam sich darauf einließ, Krankenhaus oder Schule zu spielen. Bei diesen Anlässen sprang sie wunderbar tyrannisch mit den Puppen um und machte eine der beiden konsequent zum Opfer der Exempel, die sie statuierte.

Während Pam kleine Schulbücher bastelte und die Laken in den Puppenbetten glattzog, entschied Christina über Leben, Tod und Strafen.

»Suzanne ist tot«, verkündete sie bestimmt, »Sie ist am Fieber gestorben.«

Die Leichenhalle befand sich hinter dem Bücherregal. Wenn eine Puppe starb, stopfte Christina sie hinter das Regal. Wenn sie Schule spielten, lag dort der Karzer. Wenn eine Puppe sich in der Schule schlecht betrug, schüttelte Christina sie durch, ohrfeigte sie und stopfte sie anschließend hinter das Regal.

»Woher hat sie diese diktatorische Ader?«, fragte Joe. »Wenn sie bestimmen darf, benimmt sie sich wie ein Hauptfeldwebel.«

»Das hat sie von dir«, sagte Alice und gab ihm einen Kuss.

»Sag mal, Chrissie«, sagte Joe. »Es stimmt doch. Wenn eine deiner Patientinnen stirbt, schiebst du sie hinter das Bücherregal, oder? Das Bücherregal ist der Friedhof.«

»Na und«, sagte Christina.

»Und wenn eine deiner Schülerinnen sich vor der Arbeit drückt, schlägst du sie und schiebst sie anschließend hinter das Bücherregal. Stimmt’s?«

»Das geht dich gar nichts an«, sagte Christina.

»Richtig«, sagte er. »Es geht mich nichts an. Ich stelle lediglich fest, dass es offenbar besser ist, aus dem Leben zu scheiden, als sich um die Arbeit zu drücken. Ich hoffe, du behältst das im Kopf, Chrissie, jetzt wo du selbst zur Schule gehst.«

»Zieh sie nicht auf, Joe«, sagte Alice.

Aber er liebte es, sie aufzuziehen, weil sie es ihm immer so schön heimzahlte. Zum Beispiel bei der Sache mit den Namensheiligen.

Die Mädchen waren kürzlich in die erste Klasse gekommen, und eines Tages schickte ihre Lehrerin sie mit dem Auftrag nach Hause, alles, was sie konnten, über ihre Namensheiligen herauszufinden. Joe hatte ihre verniedlichenden, unzulänglichen kleinen Texte mit einer großen Geste beiseite gefegt und sein Exemplar von Butlers Leben der Heiligen aus dem Regal geholt.

»Dann lasst uns mal schauen, was wir bei ›Christina‹ finden.«

Die Heilige Christina war allem Anschein nach eine Art Obdachlose des zwölften Jahrhunderts gewesen, die über besondere Kräfte verfügte, da sie während des Agnus Dei ihrer eigenen Requiemsmesse plötzlich aus ihrem Sarg empor und bis an die Deckenbalken geschwebt war. Dort war sie sitzengeblieben und hatte sich trotz der ernsten Ermahnungen des Gemeindepriesters geweigert, wieder herunterzukommen, weil sie dem Gestank der sündigen Menschheit entfliehen wollte.

Nach ihrer Auferstehung hatte die Heilige Christina beim Beten immer gern auf einer Gartenpforte balanciert oder sich wie ein Igel zu einem Ball zusammengekugelt. Da sie offensichtlich völlig übergeschnappt war, hatte man sie immer wieder in Ketten gelegt, aber sie konnte nicht nur die Schwerkraft überwinden, sie war auch eine versierte Entfesselungskünstlerin. Sie hatte bis in ein sehr hohes Alter gelebt, und selbst der König hatte sie aufgesucht, um ihr als heiliger Frau seine Ehrerbietung zu erweisen.

»O Mann«, sagte Joe, als er das Buch senkte. »Davon habe ich nichts gewusst. Wusstest du das? Was für eine raffinierte und erfinderische Frau.«

»Joe«, sagte Alice, »nimm sie nicht auf den Arm.«

»Das macht ihr doch nichts aus«, sagte Joe. »Stimmt’s, Chrissie? Dir macht es doch nichts aus, wenn ich dich auf den Arm nehme?«

»Joe«, sagte Alice, »sie ist ein kleines Mädchen.«

Christina hatte sich Zeit gelassen, bis sie ihre Würde wiedergefunden hatte. »Ich roll mich nicht zusammen, um zu beten«, sagte sie. »Und ich stell mich nicht zum Beten auf ’ne Pforte. Die Heilige will ich nicht haben. Ich hasse sie.«

Joe war begeistert. »Eine Heilige kann man nicht hassen«, sagte er.

»Doch«, sagte Christina. »Ich kann jeden hassen, den ich will. Ich kann alle Menschen hassen.«

Ihre Lehrerin hieß Mrs Alfieri. Während sie in Joes und Alices Augen eine unvergleichlich gute Lehrerin für ABC-Schützen war, hatte Christina sie von Anfang an als Provokation empfunden. Sie brachte den ganzen ersten Teil des Vormittags vor der Milch- und Kekspause damit zu, die Buchstaben und die Zahlen als kleine Personen vorzustellen.

»Unser Freund Mister Fünf hat eine imposante Figur«, trompetete sie mit künstlich jovialer Baritonstimme. »Sein Rücken ist schön gerade, und sein Bauch ist d-i-i-ick und rund.« An dieser Stelle hielt sie inne, um zunächst eine fast senkrechte Linie an die Tafel zu zeichnen und dann weit auszuholen und im Uhrzeigersinn nach unten ein kreisförmiges Anhängsel anzufügen, so dass die ganze Figur aussah wie ein auf den Kopf gestellter Tassenhenkel.

»Und zum Schluss«, sagte sie mit ganz und gar überflüssigem Enthusiasmus, »bekommt er noch einen hübschen kleinen Hut.«

»Aber er hat gar keinen Kopf«, sagte Christina laut.

Dann musste die Klasse viele Reihen feiner, dickbäuchiger Mister Fünf malen, die alle in Reih und Glied von links nach rechts marschierten. Manchmal machten Christinas Fünfen unerklärlicherweise eine Kehrtwendung und standen ihren Nachbarn plötzlich Auge in Auge, Bauch an Bauch gegenüber. Und als einer ihrer Tischnachbarn sie aus Versehen anstieß, so dass der Bleistift von der unteren Hälfte des kugelrunden Bauches unseres Freundes in einem großen Bogen über das Papier rutschte, schlug Christina sofort Kapital daraus.

»Mein Mister Fünf hat in die Hose gemacht«, sagte sie. Ihre Bewunderer kicherten.

Christina hatte viele Bewunderer unter ihren Klassenkameraden, während Pam ausgesprochen wenige besaß. In dieser Hinsicht hatte die Schule das Gleichgewicht zwischen ihnen verschoben. In der Schule war Christina diejenige, die die Massen anzog. Sie fiel von Natur aus in die Rolle desjenigen, der die Regeln aufstellte. Wer keine Schnallen an den Schuhen hatte, durfte nicht im Sandkasten spielen. Wer kein Blau am Körper trug, hatte kein Anrecht auf die Staffeleien. Bewundernde kleine Mädchen suchten ihre Kleider ängstlich nach blauen Farbpünktchen ab oder jammerten zu Hause nach neuen Schuhen. Sie beeilten sich, ihre Forderungen zu erfüllen, und drängelten sich darum, in der Vorlesestunde neben ihr sitzen zu dürfen.

Trotzdem schien Mrs Alfieri nicht recht mit ihr zufrieden zu sein, denn Christina hatte eines Nachmittags ein Gespräch zwischen ihr und Joe belauscht.

»Sie ist ein liebes kleines Mädchen«, begann die Pädagogin. »Aber ich habe von Anfang an einen gewissen Widerspruchsgeist gespürt. Christina ist ein Trotzköpfchen, lieber Mr Angeletti. Gibt es irgendetwas aus ihrer frühen Kindheit, von dem Sie mir berichten möchten?« Sie saßen sich auf kleinen geraden Erstklässlerstühlen gegenüber. Joe fand die Frage ungehörig. Er reagierte abwehrend. Und als Christina seine Antwort hörte, durchlief sie ein freudiges Kribbeln; die Freude, in ihm einen Verbündeten zu haben gegen diese hausbackene Freundin des dickbäuchigen Mister Fünf, die einem immer nur Bastelscheren mit stumpfen Spitzen andrehte.

»Ich habe selbst einen gewissen Widerspruchsgeist, Mrs Alfieri«, sagte er. »Vermutlich hat sie das von mir.«

In den Augen von Kindern hatte Pam nichts Himmlisches. Diese Wahrnehmung ihrer Person war den Erwachsenen Vorbehalten. Von Erwachsenen wurde sie in der Tat so bevorzugt, dass ihr dies zuweilen bei ihren Altersgenossinnen schadete.

»Ein bemerkenswertes Kind«, murmelte die Lehrerschaft unter sich. »Ein außergewöhnliches Kind. So beherrscht. So begabt.« Doch die ältliche Schwester Antony, in vieler Hinsicht eine der wenigen Überlebenden der alten Schule, war dazu ausersehen, ihr die größten Schwierigkeiten zu bereiten.

»Sie ist ein Kind Gottes«, sagte sie andächtig. »Sie würde eine ausgezeichnete Nonne abgeben.« Die Bemerkung war für Mrs Alfieris Ohren bestimmt, war aber von gut einem Drittel der Klasse deutlich zu hören.

Am Abend, als es dunkel war und die Mädchen allein in dem Zimmer lagen, das sie noch freiwillig gemeinsam bewohnten, hörte Christina zu ihrem Erstaunen, dass ihre Schwester weinte.

»Ich will keine Nonne werden«, schluchzte Pam. »Ich will eine Mami werden.«

Christina kletterte zu ihr ins Bett. »Und ich will Jongleur werden«, verkündete sie.

In Christinas Kopf tauchte das Bild des Jongleurs häufig auf, sehr klar, aber immer mit einer Klarheit, die eher von gleißendem Licht erfüllt als wirklich war. In Christinas Erinnerung war der Jongleur mit dem Vergehen des Sommers überirdisch schön geworden. Er war größer geworden als die Länge zwischen seinen nackten Sohlen und der Spitze seines Zauberhutes. Größer und exotischer, geschickter und strahlender. Er ragte vertikal auf wie eine Kathedrale; wie ein Schloss in einem Traum.

Er hatte in Granny Ps Heimatstadt auf den Stufen des Kriegerdenkmals gestanden. Das war wenige Wochen vor Christinas viertem Geburtstag. Er ließ kleine Bälle in der Luft kreisen, so dass sie um seinen Kopf zu stehen schienen wie die Sterne um das Haupt der Himmelskönigin.

»Wie macht er das?«, fragte Christina, aber ihre Großmutter zog sie nur weiter Richtung Auto.

»Aber wie macht er das?«, fragte Christina wieder. »Was macht er mit den Bällen?«

»Ach, er ist ein armer, dummer Bursche«, sagte ihre Großmutter. Sie küsste Christina auf die Wange und legte ihr den Sitzgurt an. »So, kleine Dame. Wer hat denn heute schöne neue Schuhe bekommen?«

Christina schlug die Spitzen ihrer neuen schwarzen Lackschuhe aneinander. Englische Start-Rites mit kleinen ausgeschnittenen Blümchen und einem Riemchen, das auf dem Spann durch eine Schlaufe lief.

»Danke, Granny. Ich find die Schuhe toll«, sagte sie.

Granny P gab ihr noch einen Kuss. Sie schnallte sich an. Dann holte sie eine Tüte Devon-Toffees aus dem Handschuhfach.

»Bonbon, Schatz?«, fragte sie und kniff Christina in die Wange.

Christina lutschte und kaute. Granny P war, wie ihr schon damals bewusst war, nicht die aufregendste Gesellschaft, aber es war schön, sich so umwerben zu lassen. Ihre Großmutter mütterlicherseits war die einzige Erwachsene, dachte sie, die sie ihrer Schwester unumwunden vorzog; die Einzige, die mit ihr Ausflüge machte, während Alice und Pam zu Hause blieben. Zugegebenermaßen, Christina und Granny P hatten dieses Faible für Konsum, das Pam und Alice nun mal nicht teilten, doch schien Granny Ps Vorliebe tiefer zu gehen.

Granny P fuhr in einem Halbkreis um das Kriegerdenkmal und blieb an der Ampel stehen. Dann bog sie ab und fuhr bergauf. Oben auf dem Hügel war eine Baustelle, die sie veranlasste, einen kurzen Umweg durch die Vororte zu wählen.

»Guck, da ist das kleine Haus, das dein Opi gebaut hat«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Vor seinem Tod.« Opa P, der Vater von Alice, war Bauunternehmer gewesen. »Damals hatte Mami einen netten jungen Mann«, fuhr Granny P fort. »Der wohnte in dem kleinen Haus. Dein Opi hat ihn da wohnen lassen, weil wir ihn alle so gern hatten.«

Christina, die in Gedanken noch ganz bei dem Jongleur war, hatte keine rechte Möglichkeit, die Information über den Netten Jungen Mann zu verarbeiten, von dem sie bis dahin noch nie etwas gehört hatte.

»Natürlich wohnt er heutzutage in einem viel größeren Haus«, sagte Granny P. »Er hat es weit gebracht in der Welt.« Sie holte die große Tüte mit den Toffees abermals hervor und hielt sie ihrer Enkeltochter hin. Christina nahm zwei anstatt einen, da Granny P so offensichtlich weich gestimmt war.

»Mami hätte ihn beinahe geheiratet«, sagte Granny P. »Sie waren eine Zeit lang unzertrennlich. Ach ja, das Leben geht seltsame Wege.«

Christina senkte die Zähne tief in die Toffeemasse. Sie hatte sie beide gleichzeitig in den Mund gesteckt und rechts und links auf die unteren Backenzähne geklebt, wie zwei saftige Deckel. Sie konnte die Bedeutung dessen, was ihre Großmutter da erzählte, nicht einschätzen und gab sich stattdessen der Phantasie hin, dass es der Jongleur gewesen sei, den ihre Mutter beinahe geheiratet hätte. Sie fand es aufregend, sich eine solche Nähe zu dem wunderbaren Talent des Jongleurs vorzustellen.

Granny P schaltete mit einem kaum hörbaren Seufzer in einen anderen Gang. Sie hing innerlich ihrem unversöhnten Bedauern nach. Wenn Alice nur in England geblieben wäre, dachte sie. Wenn Alice nur ihren netten, vertrauten jungen Mann geheiratet hätte. Wenn es Pams unseliger Mutter nur nicht so zur Unzeit eingefallen wäre, zu sterben und dadurch dafür zu sorgen, dass Alice so überstürzt an ihr Totenbett eilte, wo sie nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als sich diesem überspannten Fremden in die Arme zu werfen! Granny P hatte die Mutter des Kindes nie gemocht, ihr nie über den Weg getraut. Und jetzt, seit ihrem Tod, gab es »diesen Mann«. Er war in ihr Leben getreten wie der geistige Erbe dieser Person. Er war aus demselben Holz geschnitzt. Übergeschnappt, alle beide. Weder er noch sie je richtig normal. Beide zu viel Phantasie, zu viele Rosinen im Kopf. Nichts als ein Feuerwerk aus Wörtern.

Es war nicht sonderlich gerecht; es war nicht besonders nett, aber Granny P konnte dem Kind der Toten – diesem dunkeläugigen Waisenkind, das dazu beigetragen hatte, den Bund zwischen Alice und diesem Mann zu festigen – schlicht nicht vergeben. Sie drehte sich trostsuchend mit einem Lächeln zur lieben kleinen Chrissie um, deren ganze Erscheinung, so klein, so blond, so süße Grübchen, Alice so beruhigend ähnlich war. Es gab Augenblicke, in denen ihr die Tatsache, dass Christina kaum sieben Monate nach Alices erster Begegnung mit »diesem Mann« zur Welt gekommen war, eine außerordentliche Genugtuung bereitete. Es war für sie immer sonnenklar gewesen, dass Christina keine Frühgeburt war. Das war die Erklärung, die Alice abgegeben hatte, aber es musste schon ein sehr merkwürdiges Frühchen sein, dachte sie, das bei der Geburt fast sieben Pfund wog.

Als Christina später am selben Tag wieder in die Stadt lief, war sie überrascht, wie lange sie brauchte. Sie war noch nie zu Fuß in die Stadt gegangen, und im Auto war man in null Komma nichts am Ziel. Da sie nicht mit einer so weiten Wanderung gerechnet hatte, war sie bei der Großmutter schlicht zur Haustür hinausgeschlüpft und durch den kleinen Vordergarten, wo sie ihrer Großmutter in diesem wie im letzten Sommer so begeistert geholfen hatte, Beete mit Lupinen und Rittersporn anzulegen, auf die Straße hinausgetreten.

Nun, da sie die Gartenpforte hinter sich gelassen hatte, marschierte sie erst durch Straßen mit Häusern, die dem ihrer Großmutter ähnelten, und dann durch Straßen, in denen die Häuser dicht gedrängt bis an den Bürgersteig standen.

Als sie an die Ampel kam, blieb sie stehen und wartete auf den Piepton. Ein roter Bus hielt und blieb höflich stehen, bis sie auf der anderen Seite war. Dann kam sie an die große Straße, die zum Kriegerdenkmal führte.

Es war schon fast Zeit zum Abendessen, als sie endlich vor dem Jongleur stand. Er hatte gerade beschlossen, Feierabend zu machen, und angefangen, sein Geld zu zählen. Als er damit fertig war, schaufelte er die Münzen in seine Manteltasche und stopfte die Bälle obendrauf. Sie machten eine dicke Beule, wie eine Backe, dachte Christina, die zu sehr mit Kuchen vollgestopft war.

»Entschuldigung«, sagte sie, »wie machst du das mit den Bällen?«

Der Jongleur war ausgesprochen liebenswürdig. Seine Bewegungen hatten etwas Ungewöhnliches, das an das Innere eines alten Uhrwerks erinnerte. Er schien fast zu ticken und zu surren.

»Ich will mir grade ein Tässchen Tee genehmigen«, sagte er. »Weil ich all das viele Geld hab.«

»Ich komm mit«, sagte Christina. »Wenn ich darf.«

Sie trippelte neben ihm her, während er lang ausschritt, hoch und vertikal in seinem spitzen Zauberhut. Von Zeit zu Zeit machte er halt, um die Abfallkörbe an der Straße zu inspizieren, und dann blieb Christina ebenfalls stehen.

Das Café lag in einer Seitenstraße. Es war winzig, wie eine Kapelle, und drinnen standen mehrere Reihen Bänke mit hohen Rückenlehnen wie Kirchengestühl im rechten Winkel zum Mittelgang. An den Fenstern liefen Kondenstropfen herunter.

Der Jongleur bestellte zwei Tassen Tee und zweimal Würstchen, Spiegelei und Pommes frites. »Aber ich mag keine Würstchen«, sagte Christina. »Ich mag überhaupt kein Fleisch.«

»Ist gut«, sagte der Jongleur. »Bestellen wir zweimal Spiegelei mit Pommes. Nimm dir Zucker. Nimm so viel, wie du magst. Da.«

»Danke«, sagte Christina. Der Zucker stand in einer großen Dose auf dem Tresen, und der Löffel hing an einem Bindfaden.

»Ich mag ihn gern sehr süß«, sagte Christina.

»Ich auch«, sagte der Jongleur. »Eins, zwei, drei und einen vierten für das Glück.«

Sie setzten sich und tranken ihren Tee. Auf dem Tisch standen eine rote Plastiktomate und eine braune Plastiktomate, beide ziemlich klebrig. In der Bank vor ihnen saß ein alter Mann ohne Zähne, der am Rand seiner Teetasse nuckelte. An der Wand über dem Tresen hingen zwei Holzschilder, die Christina nicht lesen konnte, aber sie konnte erkennen, dass es sich bei beiden um Scheiben von Baumstämmen handelte, noch mit der Rinde drumherum.

»Was steht da drauf«, fragte sie, »auf den beiden Schildern da?«

Der Jongleur las sie ihr vor, eins nach dem andern.

»›Wir bitten unsere Gäste, auf den Verzehr eigener Speisen zu verzichten.‹ Das steht auf dem einen.«

»Was heißt Verzehr?«, fragte Christina.

»Das heißt essen«, sagte er.

»Und warum dürfen wir nicht unsere eigenen Speisen essen? Müssen wir die von jemand andern essen?«

»Weißt du was«, sagte der Jongleur. »Wenn unser Essen kommt, tauschen wir einfach die Teller.«

Christina kicherte entzückt angesichts der Vorstellung, da sie beide dasselbe bestellt hatten. Zweimal Spiegelei mit Pommes frites.

»Zweimal Spiegelei mit Pommes frites«, rief die Frau hinter dem Tresen, und der Jongleur holte die Teller.

»Soll ich dir sagen, was auf dem andern Schild steht?«, fragte er. Er hatte kurz geschwiegen und sich mit der stumpfen Seite seines Messers rote und braune Sauce auf den Teller gestrichen. »Da steht: ›Aus Rücksicht auf unsere Kunden können wir keinen Kredit gewähren.‹«

»Das macht keinen Sinn«, sagte Christina.

»Stimmt«, sagte der Jongleur. »Da hast du Recht.«

»Aber du hast auch keinen Kredit bestellt, oder?«, sagte Christina voll Bewunderung. »Da bin ich froh.« Sie glaubte, dass es sich bei »Kredit« wohl um das hiesige Wort für crudités handeln müsse, die es gelegentlich bei ihrem Vater gab, zusammen mit seiner selbst gemachten Mayonnaise – an der bedauerlicherweise nie genug Essig war. Der Jongleur, schloss sie, hatte einen ausgezeichneten Geschmack und war deshalb nicht auf die Idee gekommen, welche zu bestellen.

»Du hast Spiegelei mit Pommes bestellt«, sagte Christina.

»Zweimal«, sagte der Jongleur stolz.

»Ja«, sagte Christina. »Zweimal. Du kannst mein Beinahe-Vater sein, wenn du willst.« Der Jongleur zeigte ihr sein breites liebenswürdiges Lächeln. »Pam hat beinahe zwei Väter«, vertraute sie ihm an, »aber den einen kennt sie gar nicht. Das kommt, weil ihre Mutter gestorben ist und die ihn eigentlich auch nicht richtig kannte.«

Der Jongleur deutete mit dem Messer gastfreundlich auf die Plastiktomate. »Nimm dir noch Ketchup, wenn du magst«, sagte er. »Komm schon, es ist reichlich da.«

»Nein danke«, sagte Christina. »Aber kann ich bitte ein paar von den Bällen haben?«

»Leider nicht«, sagte der Jongleur, »ich habe selbst schon zu viele verloren. Deshalb jongliere ich mit meinen Strümpfen.« Er holte einen der Bälle hervor und zog sie auseinander, um ihr zu zeigen, dass er nichts als ein geschickt aufgerollter Strumpf war, der obendrein nicht sehr sauber war.

»Aber wie machst du das?«, fragte Christina. »Mit all den Bällen?«

Der Jongleur grub zwei seiner Bälle aus und legte sie ihr in die linke Hand. Dann rollte er den Strumpf wieder zum Ball zusammen und legte ihr diesen in die rechte. »Du musst immer mit der Hand werfen, in der zwei sind«, sagte er. »Und immer mit der rechten weitergeben.« Er machte es ihr zweimal vor, indem er ihre Hände mit den Bällen wie ein Marionettenspieler bewegte. Dann nahm er die beiden Bälle wieder und steckte sie in die Tasche.

»Meinen Strumpf kannst du behalten«, sagte er. »Und ich kann dir deine Söckchen aufrollen. Wie wär das für den Anfang?«

Christina machte die Schnallen an ihren neuen Schuhen auf. Sie zog die Söckchen aus und legte sie auf den Tisch. Danach machte sie die Schuhe wieder zu, während der Jongleur ihre Socken zu Bällen aufrollte. Dann schlüpfte sie von der Bank und gab dem Jongleur einen Kuss auf die Wange.

»Ich glaube, ich muss jetzt gehen«, sagte sie. Sie marschierte den Gang entlang zum Ausgang. Dann drehte sie sich um.

»Ich komme morgen wieder«, sagte sie. Das Letzte, was sie vom Jongleur sah, war ein munteres Gabelschwenken. Sie empfand es als Ehre, dass er sie so hoch in die Luft hielt.

Als Christina müde und barfuß zur Tür hereinspazierte, brach zu Hause die Hölle los. Joe war vor wenigen Minuten mit dem Zug aus London gekommen und hatte feststellen müssen, dass seine Frau und seine Schwiegermutter vor Sorge außer sich waren. Die Frauen hatten alle möglichen Nachforschungen angestellt, aber ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben. Die kleine Christina war und blieb verschwunden.

Joe fuhr der Schreck in die Glieder. »Ruft um Gottes willen die Polizei an«, sagte er wütend. »Worauf wartet ihr?«

Und da, als Granny P gerade ans Telefon gehen wollte, öffnete sich die Haustür leise und fiel wieder ins Schloss, und alle drei atmeten erleichtert auf.

»Da bist du ja, mein Schatz«, sagte Alice. »Mein Häschen. Oh, Chrissie, meine Süße!« Sie nahm Christina fest in ihre tröstenden Arme und benetzte ihr Haupt mit ein paar Tränen.

»Ich hab schon mit dem Jongleur gegessen«, sagte Christina. »Ich brauch kein Abendessen mehr.«

»Ach du heiliger Strohsack!«, stöhnte Granny P mit beklommener, kraftloser Stimme. »Sie meint diesen Schwachkopf vom Denkmal. Sie muss bis in die Stadt gelaufen sein.« Granny P hielt inne und betrachtete die eng umschlungenen Gestalten zu ihren Füßen. »Und wo hast du deine Schuhe, mein Schätzchen?«, fragte sie, nichts als sanfte Fürsorge in der Stimme.

»Ich hab sie ausgezogen, aber ich konnte sie nicht in die Hand nehmen, weil ich jonglieren musste. Sie taten mir weh, weil ich meine Söckchen nicht anziehen konnte und weil ich den ganzen Weg nach Hause laufen musste.«

»Ohne Söckchen?«, fragte Granny P.

»Ich musste mit meinen Söckchen jonglieren«, sagte Christina. »Aber dann wurde mir das zu schwer.«

»Und wo sind deine Söckchen jetzt, mein Engel?«, fragte Granny P. »Waren das nicht deine allerschönsten weißen Spitzensöckchen?«

In dem Moment blickte Christina auf und sah, dass ihr Vater sie unverwandt anstarrte.

»Valerie«, sagte er, »wenn du erlaubst, unterbreche ich diese anrührende Szene der Sorge um die Schuhe meiner Tochter …« Er sagte es in einem Ton, der nur knapp die Höflichkeit wahrte. »Chrissie, komm mal her.«