Josef Albers. Interaction of Color -  - E-Book

Josef Albers. Interaction of Color E-Book

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Beschreibung

»Wenn jemand ›Rot‹ sagt (als Bezeichnung einer Farbe) und wenn 50 Personen zuhören, darf man erwarten, dass 50 verschiedene Rot in ihrem Bewusstsein auftauchen. Man darf sicher sein, dass all diese Rot verschieden sind.« Bereits an diesen beiden ersten Sätzen, mit dem das Meisterwerk der Kunsterziehung Interaction of Color beginnt, wird deutlich, wie komplex die Wirkung von Farbe sowie deren visuelle Wahrnehmung sein kann. Erstmals 1963 bei Yale University Press als limitierte Siebdruckausgabe mit 150 Farbtafeln erschienen, ging dieser Text ab 1971 als Taschenbuch mit wenigen Farbtafeln in Druck. Seither wurden mehr als eine Viertelmillion Exemplare in verschiedenen Ausgaben verkauft. Dieses einflussreiche Handbuch und Lehrmittel für Künstler, Dozenten und Studenten erscheint nun in einer aktualisierten Übersetzung und deutlich erweiterten Ausgabe, inklusive 14 ausklappbaren Seiten. Neu eingeleitet von Heinz Liesbrock sind zudem rund 60 illustrierende Farbstudien abgebildet, mit denen Albers wichtige Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten der Farbe und ihrer Wirkung demonstriert. Dieses Handbuch bietet nach wie vor ein unentbehrliches Wissen für alle, die sich mit visueller Kommunikation beschäftigen. JOSEF ALBERS (1888, Bottrop–1976, New Heaven, Connecticut) war als Künstler, Pädagoge und Farbtheoretiker ein Pionier der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Er ist bekannt für seine umfassende Werkserie Homage to the Square (1950–1976). Albers lehrte am Bauhaus, am Black Mountain College und an der Yale University.  HEINZ LIESBROCK (*1953) war langjähriger Direktor des Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop und hat vielfach zu Albers publiziert.

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Seitenzahl: 143

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Josef Albers Museum Quadrat Bottrop

Herausgegeben von Heinz Liesbrock

Josef Albers Interaction of Color

Grundlegung einer Didaktik des Sehens

Inhalt

Zwischen den Farben. Josef Albers und Interaction of ColorHeinz Liesbrock

Einleitung

I Farberinnerung – visuelles Gedächtnis

II Farbenlesen und Farbgefüge

III Warum Farbpapiere – anstatt Pulver- und Malfarben?

IV Eine Farbe hat viele Gesichter – die Relativität der Farbe

V Heller und/oder dunkler – Lichtintensität, Helligkeit

Graustufen – in neuen Darstellungen

Farbintensität – Farbigkeit

VI Eine Farbe erscheint wie zwei – wie umgekehrte Hintergründe aussehend

VII Zwei verschiedene Farben erscheinen gleich – Subtraktion von Farbe

VIII Warum Farbtäuschungen? – Nachbilder, Simultankontrast

IX Farbmischungen in Papier – Scheinwirkung von Transparenz

X Faktische Mischungen – additiv und subtraktiv

XI Transparenz und Raumillusion – Farbgrenzen und plastische Wirkung

XII Optische Mischung – Simultankontrast revidiert

XIII Der Bezold-Effekt

XIV Farbintervalle und Transformation

XV Nochmals Mittenmischung – Farbdurchdringung

XVI Farbzusammenstellung – Harmonie – Quantität

XVII Filmfarbe und Volumenfarbe – zwei natürliche Effekte

XVIII Freie Übungen – eine Herausforderung der Phantasie

Streifen – eingeschränkte Kombinationen

Herbstlaub-Studien – eine amerikanische Entdeckung

XIX Die Meister – Farbinstrumentierung

XX Das Weber-Fechnersche Gesetz – das Maß in der Mischung

XXI Über Farbtemperaturen und trockene wie feuchte Farbe

XXII Flimmernde Trennlinien – betonte Farbgrenzen

XXIII Gleicher Helligkeitswert – Verflüchtigung trennender Grenzen

XXIV Farbtheorien und Farbsysteme

XXV Über das Lehren von Farbe – einige Fachbegriffe aus dem Bereich Farbe

Erläuterung der Fachbegriffe

Varianten gegen Vielfalt

XXVI Anstelle einer Bibliografie

Farbtafeln

Editorische NotizJochen Stremmel

Zwischen den Farben.Josef Albers und Interaction of Color

»Ich habe niemals Kunst unterrichtet. Anstatt Kunst habe ich Philosophie gelehrt. Auch wenn die Technik für mich ein großes Thema ist, habe ich doch nie Malerei unterrichtet. Mein ganzes Bestreben war es, die Menschen zum Sehen zu führen.«1J. Albers

Josef Albers war der wohl bedeutendste Kunstlehrer des 20. Jahr-hunderts, und Interaction of Color ist das primäre Zeugnis seines Unterrichts. Dieses Werk, das er 1963 veröffentlichte, als er in seinem 75. Lebensjahr stand, legt die Ergebnisse seiner Forschung zur Wirklichkeit der Farbe und ihrer Pädagogik dar, die sich über Jahrzehnte herausgebildet hatten. Es kann in seinem Rang nicht hoch genug veranschlagt werden, weil es gegenüber älteren Analysen der Farbe und ihrer Wahrnehmung tatsächlich Neuland eröffnet. Albers hat damit die wahrscheinlich wichtigste Farblehre seit Goethe geschaffen, weil sich hier empirische Genauigkeit der Untersuchung und eine poetische Imagination in der Deutung der Phänomene verbinden. Wer als Künstler und Gestalter die Ausdrucksmöglichkeiten der Farbe zu seinem Arbeitsfeld gemacht hat, wird dazu bis heute keine bessere Referenz finden. Dabei wendet sich Interaction of Color aber auch an den interessierten Laien, stützt sich die Schrift doch vor allem auf Arbeitsbeispiele der Studenten im sogenannten Farbkurs, den Albers über viele Jahre in Amerika unterrichtete. Tatsächlich haben diese Übungen Grundlagencharakter und nichts von einem forcierten Spezialistentum. Keineswegs alle der Studenten hatten ausdrückliche künstlerische Ambitionen, sondern befanden sich in einer propädeutischen Studienphase der generellen Orientierung. So gehen viele der Beispiele von scheinbar einfachen Problemstellungen aus, um dann durch deren Untersuchung zu Ergebnissen zu gelangen, deren sinnliche Komplexität immer wieder überrascht.

Albers war ein in der Wolle gefärbter Pädagoge, der sich der Arbeit mit jungen Menschen mit großer Hingabe widmete. Geboren als Sohn eines Malermeisters, der aus dem Sauerland in die prosperierende Industriestadt Bottrop im nördlichen Ruhrgebiet zugewandert war, begann er früh eine Ausbildung zum Volksschullehrer und ließ als Erster den über Generationen reichenden handwerklichen Horizont der Familie zurück. Sein beruflicher Weg führte ihn zunächst an Schulen in Bottrop und im Münsterland, bis er sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entschloss, seinen eigentlichen künstlerischen Ambitionen nachzugehen, um 1920 als Student in das gerade eröffnete Bauhaus einzutreten, wo er bald zu einem der profiliertesten Lehrer wurde. Insbesondere der wichtige Vorkurs, dessen Besuch für alle Studenten obligatorisch war, verdankt Albers wesentliche Impulse. Das Ziel war dabei eine »Schöpferische Erziehung«, so der Titel eines Vortrags, den er 1928 gehalten hatte, in dem es um einen besonderen Bildungsanspruch ging: die künstlerische Ausbildung verband sich mit dem umfassenden Ziel einer allgemeinen Menschenbildung der Studenten.2

Bereits im November 1933 emigrierte Albers gemeinsam mit seiner Frau Anni in die USA, kurz nachdem sich das Bauhaus unter dem Druck des neuen nationalsozialistischen Regimes im Sommer zuvor aufgelöst hatte. In Amerika unterrichtete er zunächst am Black Mountain College in North Carolina; schließlich wurde er 1950 zum Direktor des Department of Design der Yale University berufen. Albers war hier bis zu seiner Pensionierung 1958 tätig, und in dieser Zeit wurde sein Ansehen als Lehrer legendär. Dabei war seine Tätigkeit besonders mit dem sogenannten Farbkurs verknüpft. Hier vor allem verband sich die Lehrtätigkeit auf das Innigste mit der eigenen künstlerischen Praxis.

Albers hatte mit dem Eintritt in das Bauhaus die eigene Malerei zurückgelassen und nahm sie erst nach der Emigration wieder auf. Nicht zuletzt kann man dabei den großen Maßstab der Landschaft und Vegetation in den USA und ebenso die Begegnung mit den Farben und der alten Kunst Mexikos, das er und seine Frau seit 1935 vielfach bereisten, als Quelle der künstlerischen Inspiration festmachen. Angesichts des sich in Amerika eröffnenden Erfahrungshorizonts erfand sich Albers auch künstlerisch neu. Dabei wurde ihm die Farbe im Lauf der Vierzigerjahre zum zentralen Medium, deren besondere Ausdrucksmöglichkeiten er systematisch erforschte.

Mit der großen Serie Homage to the Square, deren erstes Gemälde im Sommer 1950 entsteht, wird die Farbe dann zur alleinigen Wirklichkeit des Bildes. Eine elaborierte Kompositionsvorstellung und jeder gestische Ausdruck treten zurück; stattdessen rücken eine Ökonomie des künstlerischen Vorgehens und Sparsamkeit der Form in den Mittelpunkt, um der Farbe und ihrer Entfaltung ungestörte Aufmerksamkeit zu sichern. Das Gerüst des Quadrats selbst tritt dabei – auch wenn es der gesamten Serie von mehr als 2000 Gemälden den Namen gibt – in den Hintergrund. Albers formulierte das scheinbare künstlerische Paradox einmal prägnant: »Ich huldige nicht einem Quadrat. Es ist nur ein Geschirr, auf dem ich meine Verzückung durch die Farbe ausbreite.« 3

Insbesondere durch Homage to the Square wurde Albers’ Kunst seit 1960 auch zur wichtigen Orientierung für eine jüngere Generation amerikanischer Künstler, die sich von den leer gelaufenen Pathosformeln des dominierenden Abstrakten Expressionismus zu befreien suchte, der in den USA und international in hohem Ansehen stand. Die Minimal und die auf ihr basierende Conceptual Art, als die sie später bekannt wurde, strebten jedoch nicht nach solcher Spontaneität und emotionalem Überschwang, ihr Werkverständnis war vielmehr von der Reduktion der Form, der Regelmäßigkeit des Verfahrens und einem Bewusstsein für die genuinen Eigenschaften von Materialien geprägt. Auch die Idee der Farbe, wie sie für Albers im Mittelpunkt stand, war hier von besonderem Belang. Künstler und Künstlerinnen wie Robert Irwin, Donald Judd, Ellsworth Kelly, Sol LeWitt, Agnes Martin oder Ad Reinhardt waren nie direkte Schüler von Albers gewesen, doch hatten sie seine Kunst genau studiert und daraus wichtige Hinweise für die Entwicklung ihres eigenen Werks gezogen. Nicht zuletzt war ihnen auch das künstlerische Ethos von Albers Vorbild: seine persönliche Zurückhaltung, die jeder lauten Geste abhold ist, und die Bescheidenheit einer Kunst, die ihre Mittel handwerklich sparsam einsetzt und sich jeder wohlfeilen Botschaft im Sinn des vermeintlichen Zeitgeists enthält.4 Diese außerordentliche Wirkung von Albers’ Kunst auf jüngere Künstler ist bis heute zu beobachten.

Wie also lässt sich Albers’ Verständnis der Farbe genauer fassen, und welche sind die konkreten Hinsichten, die in den Übungen zur Interaction of Color dargelegt werden? Schon in seiner Einleitung zum Kommentarband des Werks postuliert Albers nachdrücklich seine Grundüberzeugung, aus der sich alles Weitere herleitet: Farbe, so stellt er fest, hat keine feststehende Identität, sie bietet unserem Sehen keinerlei verlässlichen Referenzpunkt. Dies aber versteht Albers nicht als einen Malus, sondern er sieht in der vermeintlichen Einschränkung eine besondere Potenzialität. Tatsächlich ist es die Wandelbarkeit der Farbe, ihr fluider Charakter in unserer Wahrnehmung, der ihn fasziniert. Gleich zu Beginn stellt er fest: »In visueller Wahrnehmung wird eine Farbe beinahe niemals als das gesehen, was sie wirklich ist, das heißt als das, was sie physikalisch ist. Dadurch wird die Farbe zum relativsten Mittel der Kunst.«5 Wer diese Relativität nicht versteht, sitzt einem Missverständnis auf, und dessen Wahrnehmung führt in die Irre.

Wir sehen eine einzelne Farbe niemals ›rein‹, absolut, sondern nur in Abhängigkeit von anderen Farben. Eine Farbe ändert sich permanent durch ihre unterschiedlichen Nachbarschaften. Albers zeigt dies besonders am Beispiel des sogenannten ›Simultankontrasts‹: Hell und Dunkel nebeneinandergesetzt werden in ihrer Differenz jeweils verstärkt; die helle Farbe wirkt heller und die dunkle noch dunkler. Und wenn zwei Farben in direkter Nachbarschaft sind, so verschieben sich die Farbwerte hin zu den ›komplementären‹ Kontrasten: Rot verstärkt sich in seiner Wirkung gegenüber Grün, dasselbe gilt für Orange und Blau sowie für Gelb und Violett. Dieser Effekt der komplementären Kontraste war Wissenschaftlern und Künstlern schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt; besonders ist hier der französische Chemiker Michel Eugène Chevreul zu nennen, der als Erster dieses Phänomen entdeckt und beschreibt.6 Auch Albers führt Chevreul an, aber er macht den Simultankontrast in ganz eigener Weise fruchtbar. Denn die Verwandlung der Farben durch den Kontrast versteht er nicht als Abweichung von der eigentlichen Realität einer Farbe, sondern als die wirkliche Farbe, nämlich wie sie in unserem wahrnehmenden Auge erscheint. Diese Scheinhaftigkeit ist der wirkliche Reichtum der Farbe, nicht aber das, was sie objektiv messbar darstellt. »Nur der Schein trügt nicht«, hat Albers einmal dieses Paradox lakonisch beschrieben. Denn alles verändert sich im Moment, je nachdem, wie wir unseren Blick einstellen. Diese grundsätzliche Einsicht in die Bedingungen unserer Wahrnehmung beschreibt auch die bekannte, von Albers formulierte Dichotomie von ›factual fact‹ und ›actual fact‹, nämlich dem, was physikalisch gemessen werden kann, und dem, was wir tatsächlich sehen und das sich deshalb objektiver Definition entzieht. Dieses Spannungsverhältnis hat Albers durch sein gesamtes Werk hindurch fruchtbar gemacht. Die Wandlungen der Phänomene im Sehen sind das eigentliche Energiezentrum, um das herum sich seine Kunst und Lehre bewegen.

Den täuschenden Charakter der Farbe, wie er sich in der Differenz zwischen ›factual fact‹ und ›actual fact‹ entfaltet, nimmt Interaction of Color in einer Reihe von Versuchsanordnungen in den Blick, sodass sich Schritt für Schritt der Reichtum des Phänomens Farbe offenbart. Betrachten wir die Themen einmal kursorisch. Beginnen wir mit einer vermeintlich einfachen Fragestellung, die aber unsere Wahrnehmungsfähigkeit bereits auf eine erhebliche Probe stellt: sie richtet sich auf die unterschiedliche Helligkeit von Farben und auf die verschiedenen Grade der Farbintensität eines Tons. Um die Abstufungen von Hell und Dunkel und der spezifischen Leuchtkraft einer Farbe zu entdecken, brauchen wir Geduld und Genauigkeit, um den Blick so einzustellen, dass sich ihm die feinen Differenzen offenbaren (Kap. V). In diesem Zusammenhang gibt es dann auch Übungen zur regelmäßigen Abstufung einer Farbe von hell zu dunkel und umgekehrt.

Eine wichtige Aufgabe besteht auch darin, unterschiedliche Farben in ihrer Veränderung durch entsprechend abgestimmte Hintergrundtöne zu beobachten: Wie kann etwa eine einzelne Farbe wie zwei unterschiedliche erscheinen, wenn man den richtigen Fonds dafür wählt? »Deshalb wird die wahre Farbe der 2 mittleren Quadrate unkenntlich, weil sie ihre Identität verliert« (Kap. VI). Umgekehrt beobachten wir, dass zwei verschiedene Farben wie eine einzige wirken können, wenn ihre Beziehung zu einem geeigneten Hintergrund es erlaubt. Albers nennt dies eine »Farbsubtraktion« (Kap. VII). Weiterhin geht es um die scheinbare Transparenz von Farben und um deren räumlich-plastische Wirkung. Albers: »Wenn bei den Transparenzübungen eine Farbe über oder unter einer anderen zu liegen scheint, stößt man auf eine dritte optische Täuschung – die Raumillusion« (Kap. XI).

Auch die sogenannte »Mittenmischung« wird vorgestellt, also die gegenseitige Durchdringung von zwei Farben. »Eine genaue Mittenmischung erkennt man daran, dass sie in Helligkeit und Farbton von jedem der beiden Mischpartner (Eltern) gleich weit entfernt ist.« Wie hoch ist der jeweilige Anteil der beiden Ausgangsfarben an der Mischfarbe? Albers betont hier – wie mehrmals auch an anderer Stelle – die Schwierigkeit der Aufgabe für unsere Wahrnehmung und zeigt zugleich einen Weg auf, wie »selbst ein ungeübtes Auge […] ihren jeweiligen Anteil an der Mischung erkennen kann« (Kap. XV).

Ein weiterer wichtiger Punkt der Analyse bezieht sich auf die genaue Grenze zwischen benachbarten Farben. Wie begegnen sich in unserer Wahrnehmung zwei Farben, wenn sie auf einer Fläche direkt nebeneinander ausgebreitet sind? Gibt es eine betonte Grenzlinie zwischen ihnen, oder zeigt sie sich unscharf, wie flimmernd angedeutet ohne Trennschärfe, nämlich »bei Farben, die im Farbton zwar kontrastieren, deren Helligkeitswerte aber benachbart sind« (Kap. XXII).

Beim Studium dieser und weiterer Übungen, die alle in Wort und Bild genau beschrieben sind, erfahren wir, wie sich die unterschiedlichen Farbwirkungen – als Übereinstimmung oder Kontrast, je nachdem – in unserem tatsächlichen Sehen manifestieren. Sie erscheinen nicht außerhalb von uns als tatsächliche empirische Formen, sie sind nicht ein abgeschlossenes, fixiertes Produkt; vielmehr haben sie ihren Ort in einem Erfahrungsraum, den unser Sehen eröffnet. Angesichts dieser eigentlich schwebenden Sphäre ohne klar definierte Koordinaten findet unsere Wahrnehmung zu sich selbst.

Ähnlich wie beim Erlernen einer Sprache der Worte, deren Grammatik, Syntax und Wortschatz wir uns durch regelmäßiges Üben anzueignen versuchen, geht es auch im Feld der Farbe um eine dauernde Praxis des vergleichenden Sehens. Eine gute Beobachtungsgabe und die Entwicklung unseres Unterscheidungsvermögens sind wichtig. So wird unsere Wahrnehmung geschärft für subtile Unterschiede verschiedener Farbtöne, ihrer Wirkung und ihres Zusammenspiels. Dadurch kommen wir auch den täuschenden Effekten der Farbe auf die Spur. Hingabe und Geduld sind gefordert, ein Untersuchen, das dem Prinzip von ›Versuch und Irrtum‹ und einem immer wieder neuen Ansetzen folgt.

Albers war davon überzeugt, dass seine Schüler eine Problemlösung nur durch eigene konkrete Untersuchung finden konnten. Ein Lehrer, so sein Verständnis, richtet sich nach den Fähigkeiten und Interessen der Studenten und konfrontiert sie nicht im Frontalunterricht mit kodifiziertem Buchwissen und dessen mechanischer Anwendung. Es sei wichtig, die richtigen Fragen zu formulieren, an deren Erforschung Lehrer und Schüler dann gemeinsam arbeiten. Denn die fruchtbarsten Fragen sind jene, so hat er bemerkt, deren Antwort auch der Lehrer selbst noch nicht kennt. Deshalb kamen in seinem Kursus auch keine Farbsysteme vor, wie sie sich in der Tradition ausgebildet hatten. Vielmehr standen differenzierte, klar definierte Übungen im Mittelpunkt, die mit ebensolcher Genauigkeit bearbeitet werden mussten und kein persönliches Abschweifen erlaubten. Es gehe nicht, so Albers, um eine vage Vorstellung künstlerischer Originalität, nicht um ›Selbstausdruck‹. Gerade aber in der konzentrierten Beschäftigung mit einer einzelnen Aufgabe eröffne sich eine besondere Freiheit, die jedoch der persönlichen Entwicklung nicht im Weg stehe.

Farbe könne man nicht theoretisch durch ein Studium aus Büchern begreifen, davon war Albers überzeugt. Denn auch Tanzen lerne man nicht, wenn man nur darüber lese. Farbe verstehen, heißt, sie durch eigene Untersuchung, durch Phantasie, Entdecken und Geschmack unmittelbar zu erfahren. Nur die selbst entdeckte Problemlösung wird als Erkenntnis von Dauer sein.

Wenn sich ein Schüler dem Studium der Farbe mit wirklichem Engagement widmet, betrifft ihn dies auch in seiner persönlichen Entwicklung. Er macht sich frei von erlernten Harmonieregeln und erkennt, dass tatsächlich jede Farbe potenziell mit jeder anderen ›geht‹. Denn neben der Harmonie hat auch die Dissonanz ihren Anteil an einer Idee von Schönheit. Wer engagiert mit Farben umgeht, entdeckt auch die eigenen Vorlieben und Abneigungen gegenüber bestimmten Tönen. Albers interessiert nicht, wie diese Neigungen zu oder gegen bestimmte Farben entstanden sind. Er empfiehlt, sich gerade mit jenen Farben auseinanderzusetzen, die zunächst nicht gefallen. Das Ergebnis wirkt überraschend: »Die bewusste Anstrengung, Farben zu benutzen, die man nicht gern hat, endet gewöhnlich damit, sich in sie zu verlieben.« 7

So atmet auch dieser Farbkursus den Geist der Reformpädagogik, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelte, als Albers selbst zum Volksschullehrer ausgebildet wurde: das selbstständige Lernen der Schüler steht im Mittelpunkt und wird durch geeignete Übungen gefördert. In seiner eigenen Praxis an Schulen in der westfälischen Provinz, wo es oft darum ging, mehrere Jahrgänge von Schülern in einem einzigen Klassenraum zu unterrichten, holte er sich das Rüstzeug für einen erfolgreichen Unterricht.

»Ich will eure Augen öffnen (To make open the eyes)«,8 rief Albers seinen amerikanischen Studenten am Black Mountain College zu, als er ihnen im Winter 1933, gerade in den USA angekommen und kaum des Englischen mächtig, erstmals gegenübertrat. Dieser Satz hat etwas vom Duktus des Propheten, dem es um eine Verwandlung des Schülers in seinem Verhältnis zur Welt geht. Die Augen zu öffnen, heißt, genau hinzusehen und, in weiterer Konsequenz, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Man muss dieser Stimme folgen, ermutigte Albers seine Schüler, und daraus ein persönliches Selbstbewusstsein entwickeln. In den kommenden Jahrzehnten sollte er diesen Satz in immer neuen Varianten wiederholen, um seine Überzeugung zu verdeutlichen, dass es beim Unterrichten von Kunst nicht um Regeln, Techniken und ein kodifiziertes Wissen geht, sondern um die Schulung bewusster Wahrnehmung und letztlich der Menschenbildung. Diese genaue Wahrnehmungsfähigkeit, das Sehen im Besonderen, bedeutete für Albers auch die Grundlage aller künstlerischen Tätigkeit. Die Kunst selbst aber konkret zu lehren, dazu sah er keine Möglichkeit: sie war in seinen Augen nicht planbar, und wenn Kunst sich tatsächlich ereignete, war sie ein Geschenk.