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Beschreibung

Die Bewahrung der Schöpfung gilt als eine der Aufgaben, die Gott den Menschen übertragen hat, allerdings gilt der Mensch dabei als die Krone der Schöpfung, und er darf sich die Erde untertan machen. Zugleich aber ist ein behutsamer Umgang mit Pflanzen und Tieren ein zentraler Teil der Schöpfungsgeschichte.

Dieser Almanach versucht eine Annäherung an ein sensibles Thema, denn in den zweitausend Jahren der Diaspora wurden Juden vielfach als wurzellos und entfremdet von der Natur beschrieben. Umso wichtiger wurde die Verortung der Juden im städtischen Raum seit der Einrichtung des ersten Ghettos in Venedig im Jahr 1516.

Eine bedeutende Rolle spielt auch die Sehnsucht nach der Landschaft der Heimat für diejenigen jüdischen Naturbegeisterten, die Europa auf der Flucht vor Ausgrenzung und Antisemitismus verlassen mussten. Deshalb gehörte in Israel der Naturschutz von Anbeginn an zu den wichtigsten Pfeilern des zionistischen Projekts.

Mit Beiträgen von: Michael Brenner, Nicolas Berg, Avirama Golan, Ellen Presser, Meir Shalev, Robert Schindel u. a.

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Seitenzahl: 259

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Titel

JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

Natur

Erkundungen aus der jüdischen Welt

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Zu diesem Almanach

Michael Brenner

:

Deutsch-jüdische Landschaften

Nicolas Berg

:

Erde und Luft: Naturmetaphern und Zugehörigkeit im modernen jüdischen Selbstverständnis

»Erde« und »Bodenständigkeit« im völkischen Denken

Diaspora-Verteidigungen von »Luft« und »Luftmenschen«

Karl Löwiths Versuch, Natur jenseits von Natur zu denken

Robert Schindel

:

Friedvoll nebeneinander: Die Juden und die Alpen

1

2

3

4

Arnd Bohm

:

Landschaften des Exils: Paul Celans

Gespräch im Gebirg

Patricia Schon

:

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher wird mir Hilfe kommen?

Julian Voloj

:

Zur Erholung in die Catskills

Yael Kupferberg

:

Zum Naturverständnis des Judentums

Mensch & Natur

Schabbat & Landwirtschaft

Kaschrut

Feiertage

Goldene Regel

Jeremy Benstein

:

Jüdische Quellen für unsere Verantwortung für die Welt

Genesis 1: Herr und Meister – die Anforderungen an Herrschaft

Genesis 2: Dienen und Bewahren – die Verantwortung der Haushalterschaft

Zwischen Affen und Engeln: (K)ein Teil davon zu sein

Ellen Presser

:

Tiere in der Bibel

Yuval Jobani

:

Die Natur als heilige Stätte: A. ‌D. Gordons

Mensch und Natur

neu betrachtet

Tal Alon-Mozes

:

Der Landschaftsarchitekt Haim Latte – Garten und Landschaft

Avirama Golan

:

Mit dem Rücken zum Meer?

Yael Zerubavel

:

Die Wüste in der israelischen Kultur: Erinnerung, Ideologie und symbolische Landschaften

Hizky Shoham

:

Die kaum bekannten christlichen Wurzeln des Tu Bischwat in Nebraska

Netta Ahituv

:

Die Natur um Vergebung bitten – der Agamon-HaHula-Park

Irus Braverman

:

Der Jüdische Nationalfonds, Bäume und Öko-Zionismus

Na'ama Sheffi und Anat First

:

Heimat auf israelischen Banknoten und Münzen

Uriel Kashi

:

Faszinierende Pflanzenvielfalt in Israel: Sträucher, Kräuter und jede Menge andere Gewächse

Meir Shalev

:

Jahreszeiten

Tamar Hermann

:

Der Israel-Trail als Zufluchtsort

Die »Biografie« des Trails

Der Israel-Trail als Zufluchtsort

Sharon Weiser-Ferguson und Eran Lederman

:

Einsame Stühle: Breslaver Chassidim und modernes Design

Zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweise

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Zu diesem Almanach

»Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch.«

Paul Celan

Der vorliegende Almanach versucht eine Annäherung an ein sensibles Thema, denn in den zweitausend Jahren der Diaspora wurden Juden vielfach als wurzellos und entfremdet von der Natur beschrieben. Das Bild vom großstädtischen Juden gehört dabei zu den gängigen Stereotypen deutsch-jüdischer Geschichte. Wobei Juden selbst ihren Teil zu seiner Entstehung beigetragen haben. In seinem Eröffnungsbeitrag über dieses ambivalente Verhältnis erinnert Michael Brenner an Friedrich Torberg, der den Spruch von Rudi Thomas, dem stellvertretenden Chefredakteur des Prager Tagblatts, unvergesslich gemacht hat: »Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe.« Doch dies, so Brenner, könne nicht verdecken, dass Juden noch hundert Jahre vorher vor allem in Dörfern und Kleinstädten gelebt hatten und dass auch während der Weimarer Republik Großstadtkritik und Naturbegeisterung unter den deutschen Juden stark ausgeprägt waren. Über Verwurzelungsdebatten, zum Teil auch als Antwort auf antisemitische Räsonnements, schreibt im Anschluss Nicolas Berg. Sein Beitrag geht dabei auf Elementarbilder und Naturmetaphern ein, wie sie in den jüdischen Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen sind. Zu jenen wiederum ganz konkreten geografischen Orten, die bis heute eine große Anziehungskraft ausüben, gehören die Alpen. Die Juden der Jahrhundertwende seien »alle ständig in den Zerklüftungen« gewesen, erzählt Robert Schindel in einem Essay über deren Liebe zu den Bergen. Seine eigene hat er erst spät – im österreichischen Altaussee – entdeckt, Jahre nachdem seine Eltern ihn als Kind zu seinem Glück hatten zwingen wollen. Im August 1959 entstand Paul Celans Gespräch im Gebirg, eines seiner wenigen Prosawerke. Es beschreibt eine versäumte Begegnung in den Schweizer Alpen mit Theodor W. Adorno. Arnd Bohm versucht zu entschlüsseln, was uns der Dichter mit seiner kryptischen Erzählung vor dem Hintergrund der Berge sagen wollte. Die Schweizer Alpen sind seit Jahren auch ein beliebtes Ausflugsziel orthodoxer Juden. Patricia Schon ist mit dem Fotografen Michael Melcer zu ihnen nach Davos gereist, um zu verstehen, warum es an manchen Wochenenden tausende von ihnen dorthin zieht. Danach führt uns Julian Voloj auf die andere Seite des Atlantiks und erzählt von den Catskills, einem Naherholungsgebiet im Bundesstaat New York, wohin viele Manhattaner Juden – auch oder besonders – im vorigen Corona-Jahr in die Natur entflohen waren.

Die zentralen Lehren des Judentums enthalten eine Vielzahl von Weisungen und Geboten, die sich direkt oder indirekt mit dem Verhältnis des Menschen zu Umwelt und Natur beschäftigen. Auf diese Traditionen, die auch die Gestaltung des neuen jüdischen Gartens in Berlin-Marzahn mitgeprägt haben, geht Yael Kupferberg in ihrem Beitrag ein. Dass in jüdischen Quellen die Rede davon ist, »sich die Erde untertan« zu machen, hat immer wieder Fragen aufgeworfen, wobei dies nichts anderes bedeuten soll, als dass der Mensch die Erde gebrauchen, aber nicht missbrauchen darf. Mit den ökologischen Aspekten der Schöpfungsgeschichte und der Frage, wie sich diese mit dem 21. Jahrhundert in Einklang bringen lassen, beschäftigt sich Jeremy Benstein. Ellen Presser richtet danach den Fokus auf Tiere, die ja ebenfalls Teil der Natur sind und auch in der Bibel zahlreich vorkommen.

Szenenwechsel nach Israel. Die hebräische Kultur im frühen 20. Jahrhundert verband die Rückkehr der Juden in ihr Mutterland mit der Rückkehr zur Natur. Von Kindheit an gestaltete und befruchtete die Natur auch die Gedankenwelt von Aharon David Gordon. Über die frühe ökologische Weitsicht des berühmten zionistischen Denkers und Träumers, nach dem in Israel viele Straßen benannt sind, schreibt Yuval Jobani. Anschließend würdigt Tal Alon-Mozes mit einem Porträt von Chaim Latte eine weitere Figur, die das Land mitgeprägt hat, auch wenn deren Name kaum bekannt ist. Der Gärtner, Landschaftsarchitekt, Ausbilder und Autor, der in den 1920er Jahren aus Deutschland in das damalige Palästina übersiedelte, hat bis zu seinem Tod 1988 die Gestaltung von Gärten und Landschaft wesentlich beeinflusst. Dabei wandelte sich seine modernistische Auffassung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte, zu einer, die den Menschen als Teil der ihn umgebenden Landschaft betrachtete.

Zur israelischen Landschaft gehört unweigerlich auch das Meer, genauer das blaue Mittelmeer. Avirama Golan versucht in ihrem Essay die Frage zu beantworten, ob allein die Geografie Israel damit auch schon zu einem mediterranen Land macht, das im westlichen Bewusstsein ja noch mit einer ganzen Reihe anderer Merkmale assoziiert wird. Als die ersten zionistischen Pioniere ins Land kamen, trafen sie auf viel Sand und Wüste, die man zum Blühen zu bringen gedachte. In ihrem Beitrag untersucht Yael Zerubavel die vielfältigen und teils widersprüchlichen Bedeutungen der Wüste in der hebräischen Kultur, von den späten Jahren des Osmanischen Reiches über die britische Mandatszeit bis zur Staatsgründung 1948 und weiter bis heute.

Die Fruchtbarkeit der Erde zu würdigen, lernen die Kinder heute schon früh, wenn sie am Neujahrsfest der Bäume, also an Tu Bischwat, mit ihren Schulklassen ausziehen, um Samen zu setzen und Stecklinge einzupflanzen. Hizky Shoham erzählt, dass diese inzwischen fest verankerte Tradition eigentlich von christlichen Bräuchen im amerikanischen Nebraska inspiriert wurde. Relativ spät – erst 1964 – war es in Israel zur Verabschiedung eines »Gesetzes über die Nationalparks und Naturschutzgebiete« gekommen, das Hula-Reservat wurde damals feierlich als erstes Gebiet ausgewählt. Netta Ahituv erzählt, wie sich der Park zu einer der weltweit wichtigsten Vogelbeobachtungsstationen entwickelt hat. Über die ideologische Bedeutung einer bestimmten Baumsorte, der Kiefer, reflektiert Irus Braverman anschließend in ihrem Beitrag über den Jüdischen Nationalfond Israels, dessen berühmte blaue Büchse für die Aufforstung des Landes steht. Die Bedeutung typischer Bilder heimischer Landschaften und Natur für das zionistische Aufbauwerk erkannte der Ausschuss für Banknoten und Münzen der Israelischen Zentralbank bereits bei seinem ersten Zusammentreten im Herbst 1955. Na'ama Sheffi und Anat First beschreiben, wie Fauna und Flora über die Jahre ihren Weg auf verschiedene Zahlungsmittel fanden. Für die Pflanzen, Blumen und anderen Gewächse begeistert sich auch Uriel Kashi – aus der Perspektive eines Reiseführers. In seinem Beitrag erzählt er von der außergewöhnlichen Sortenvielfalt, wie sie in Israel anzutreffen ist. Um die Bandbreite an Klimazonen und Bodensorten ebenso wie um die Möglichkeit, in zwei bis drei Stunden von Wald zu Wüste, von Schnee zu Sand, von der Höhe zur Tiefe zu gelangen, weil Israel an der Schnittstelle dreier Kontinente liegt, geht es anschließend in Meir Shalevs Essay über den Wechsel der Jahreszeiten.

Für immer mehr Israelis sind die heimischen Landschaften in den letzten Jahren auch zum Rückzugsraum geworden. Sie wandern auf dem Israel-Trail, der über rund tausend Kilometer vom Norden bis in den Süden durchs Land verläuft. Tamar Hermann erzählt die Biografie dieses Weges, der Abschirmung verspricht, weitab von dem alltäglichen »sozio-politischen Lärm«. Eine andere Art von Abgeschiedenheit suchen wiederum die Breslaver Chassidim, wenn sie sich zur »Isolierung« auf einen Stuhl in den israelischen Wäldern setzen. Eine Ausstellung im Jerusalemer Israel Museum widmete sich diesem Brauch, kurz bevor das Coronavirus dann die gesamte Bevölkerung in die Isolation schickte. Die Kuratoren erzählen von ihrer Ausstellung und den ungewöhnlichen Umständen, die dazu geführt haben, dass die Besucher vor und nach der Pandemie nicht mehr dieselben waren.

Das Bild auf dem Umschlag, aufgenommen von Eran Lederman, ist der Ausstellung entnommen.

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv

Michael Brenner

Deutsch-jüdische Landschaften

Das Bild vom naturfernen, großstädtischen Juden gehört zu den gängigen Stereotypen deutsch-jüdischer Geschichte. Deutschsprachige Juden haben selbst ihren Teil zu seiner Entstehung beigetragen. Friedrich Torberg hat den Spruch von Rudi Thomas, dem stellvertretenden Chefredakteur des Prager Tagblatts, »Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe«, unvergesslich gemacht.1 Und in einem seiner frühen Filme spielte Ernst Lubitsch jenen »Meyer aus Berlin«, der sich, in bayerische Trachten verkleidet, zu einem Ausflug in die Alpen aufmacht, doch statt Berggipfeln lieber Frauenherzen erobert. Mit unverkennbar jüdischer Physiognomie ausgestattet ist Salli Meyer, der Großstädter par excellence, der in der Berglandschaft eine urkomische Figur abgibt. Für das Publikum, das 1919 noch unbeschwert über den von einem jüdischen Regisseur mit allen antisemitischen Klischees gezeichneten Protagonisten lachen konnte, war die Botschaft des Films klar verständlich: Ein großstädtischer Jude passt in die Natur wie die Faust aufs Auge.2

Die Fakten schienen den gängigen Bildern vom Großstadtjuden Recht zu geben. Um 1930 lebte fast jeder dritte deutsche Jude in Berlin und jeder zweite in einer der sieben größten Städte des Reichs. In Österreich wohnten gar 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Hauptstadt Wien. Unverkennbar waren die deutschsprachigen Juden eine mittelständische urbane Gesellschaft geworden. Doch kann dies nicht verdecken, dass sie noch hundert Jahre vorher vor allem in Dörfern und Kleinstädten gelebt hatten und dass auch während der Weimarer Republik Großstadtkritik und Naturbegeisterung unter den deutschen Juden ausgeprägt waren.

Im 19. Jahrhundert waren deutsche Juden allein schon durch ihre Lebensweise sehr eng mit der Natur ihrer Umgebung verbunden. Die Viehhändler kannten nicht nur die Tiere ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern waren auch mit der sie umgebenden Landschaft vertraut. Sie besuchten zahlreiche Nachbarorte, um ihre Geschäfte durchzuführen. Wie die Bauern erledigten auch sie einen Großteil ihrer Arbeit im Freien. Die Hausierer zogen während der Woche über Land und kehrten nur am Schabbat zu ihrer Familie zurück. Dabei lernten sie die Natur oft anders kennen als ihre christlichen Nachbarn. Auf sogenannten Judenwegen bewegten sie sich abseits der allgemeinen Verkehrswege durch wenig frequentierte Wälder, Äcker und Wiesen.3 Ab dem 16. Jahrhundert besitzen wir Zeugnis von speziellen Judenwegen; allein in Bayern konnten über 300 solcher Wege ermittelt werden. Besonders in Gebieten mit zahlreichen jüdischen Gemeinden, wie in Unterfranken, findet man sie häufig. Was sie gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass es sich um kleinere, nicht befahrbare Pfade handelte, die an den Ortschaften vorbeiführten und zudem gleichzeitig als Wege zu den meist abgelegenen jüdischen Friedhöfen dienten. Manchmal waren auch Schabbeswege darunter – halachisch erlaubte Wegstrecken für den Schabbatspaziergang4, die die Eruwgrenze von 1000 Ellen nicht überschritten. Häufig dienten diese Wege auch der Umgehung der Zollstätten für den teilweise noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Juden zu zahlenden Leibzoll, wenn sie die Grenzen eines Territoriums überschritten. Zudem wollte man damit auch den Gefahren von Übergriffen ausweichen, die auf den stark befahrenen Straßen auf Juden warteten. In jedem Fall zeigen die Judenwege ein enges Verhältnis zur und eine hervorragende Kenntnis der natürlichen Umgebung, in der sie während der Frühen Neuzeit lebten.

Das ländliche Leben im südwestdeutschen Raum erhielt seinen bekanntesten literarischen Ausdruck in den Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold Auerbach. Kein anderer deutschsprachiger Autor hat mit dem Genre der Dorfgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts so viel Erfolg gehabt wie der aus dem schwäbischen Nordstetten stammende jüdische Schriftsteller. Das Dorf und seine natürliche Umgebung sind die Bühne für zahlreiche Erzählungen über seine christlichen und gelegentlich auch jüdischen Bewohner.

Doch nicht nur für die im ländlichen Raum aufgewachsenen Juden spielte die deutsche Landschaft eine wichtige Rolle. Der aus Düsseldorf stammende Heinrich Heine, gewiss ein Stadtmensch, setzte als Student in Göttingen dieser Natur in seinen Reisebildern vom Harz bis an die Nordsee ein unvergleichliches Denkmal. Die Harzreise begründete seinen literarischen Erfolg und ist voller Landschafts- und Naturbeschreibungen wie dieser zu Anfang seiner Wanderung von Göttingen zum Brocken:

Die Berge wurden hier noch steiler, die Tannenwälder wogten unten wie ein grünes Meer, und am blauen Himmel oben schifften die weißen Wolken. Die Wildheit der Gegend war durch ihre Einheit und Einfachheit gleichsam gezähmt. Wie ein guter Dichter liebt die Natur keine schroffen Übergänge. Die Wolken, so bizarr gestaltet sie auch zuweilen erscheinen, tragen ein weißes oder doch ein mildes, mit dem blauen Himmel und der grünen Erde harmonisch korrespondierendes Kolorit, so daß alle Farben einer Gegend wie leise Musik in einander schmelzen, und jeder Naturanblick krampfstillend und gemütberuhigend wirkt.

Gegen Ende dann beschreibt Heine seine Gefühlslage inmitten der blühenden Natur: »Unendlich selig ist das Gefühl, wenn die Erscheinungswelt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt, und grüne Bäume, Gedanken, Vögelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich in süßen Arabesken verschlingen.«5

Kaum ein anderes Gedicht über ein deutsches Naturdenkmal ist jemals so populär geworden wie Heines »Märchen aus alten Zeiten« über den Schieferfelsen Loreley am Rheinufer. Als er dann viele Jahre später aus dem französischen Exil zu Besuch nach Deutschland zurückkehrt, ergreift ihn in der vertrauten Landschaft trotz der politischen Missstände ein besonderes Heimatgefühl:

Seit ich auf deutsche Erde trat

Durchströmen mich Zaubersäfte –

Der Riese hat wieder die Mutter berührt,

Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

Bei aller Liebe zur deutschen Landschaft: Heine hätte sich wohl kaum ein Spottgedicht auf jene Nachgeborenen erspart, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre politischen Gesinnungen mit ihrer Wanderlust verbanden. Die deutsche Jugendbewegung vereinte ihre Liebe zur Natur mit einem erstarkten Nationalgefühl und einem zunehmenden Antisemitismus. So entstanden auch jüdische Jugendbewegungen, deren Aktivitäten sich freilich wenig von dem Wandervogel und ähnlichen Organisationen unterschieden. Auch die Zionisten schufen mit dem Jugendbund Blau-Weiß eine Organisation, die das Wandern zur Ideologie stilisierte. Einer ihrer führenden Funktionäre, Moses Calvary, betonte in einem Referat auf dem Blau-Weiß-Tag 1916:

Gegenüber der jüdischen Zweckbestimmtheit bildet ein wundervolles Gegengewicht die Ungebundenheit des Wanderns, die sich in freier Lust der Schönheit der Natur ergibt; die im Umherstreifen in Wald und Feld reine Jugendfreude erzielt. Der Hang zu reiner Theorie kann im Wandern gemildert werden, das notwendig das Gefühlsmäßige und Willensmäßige in den jungen Menschen entwickelt. Es erzieht die Sinne zu geschärftem Sehen und Hören, es ergreift das Gefühl in der Schönheit der Natur, es entwickelt die freiwillige Unterordnung unter die Forderungen der Gemeinschaft und erzwingt lebendige Aktivität gegenüber dem Zwang einer augenblicklichen Lage. So dient das Wandern der Regeneration des einzelnen Juden […]; wir wandern zu dem Zwecke, das jüdische Gemeinschaftsgefühl zu vertiefen, wir wandern, um die Juden tüchtig und kräftig zu machen, damit wir in ihnen später wertvolle Menschen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft haben.6

Heine lebte zu dieser Zeit nicht mehr. Aber an seiner statt ließ sich ein junger Gerhard Scholem an der jüdischen Jugendbewegung und ihrer Liebe zur deutschen Natur aus, die einer ganzheitlichen Umorientierung der Werte und der Auswanderung nach Palästina im Weg stehe und die aus seiner Sicht nur als Vorwand für das Ausharren in der gewohnten Umgebung diente.7

Die Idealisierung der Natur und die damit einhergehende Romantisierung der verschwindenden Landgemeinden war aber nicht nur Sache der Jugendbewegten, sondern drang in die führenden Kreise des deutsch-jüdischen Establishments ein. Der selbst im kleinstädtisch-traditionellen jüdischen Milieu des Posen'schen Städtchens Lissa aufgewachsene Rabbiner Leo Baeck kritisierte von der Metropole Berlin aus in seinem Essay »Gemeinde in der Großstadt« die Entfernung von der Natur und der »bäuerlichen Bodengemeinschaft«: »Aus dem baal habbajis ist in der Großgemeinde der Steuerzahler geworden. Das Persönliche wird durch das Statistische zurückgedrängt und schließlich ersetzt«, schreibt er hier ganz im Sinne einer neoromantischen Kritik an der Moderne, die zahlreiche Juden und Christen teilten.8

Um dem Vorwurf des wurzellosen Großstädters zu entgegnen, hatten deutsche Juden bereits im 19. Jahrhundert mehrere Einrichtungen gegründet, um ihre Nähe zum Boden und zu landwirtschaftlichen Berufen auszudrücken. Darunter waren die 1893 begründete Israelitische Gartenbauschule Ahlem bei Hannover und der 1898 ins Leben gerufene »Verein zur Förderung der Bodenkultur unter den Juden in Deutschland«.9 Nach dem Ersten Weltkrieg trieben die deutschen Zionisten auf dem Lande die Einrichtung von Hachschara-Lehrgütern voran, die Auswanderungswillige auf die Landarbeit in Palästina vorbereiten sollten, allerdings erst nach 1933 die breiteren Massen erreichten. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten konzipierte in den zwanziger Jahren mehrere landwirtschaftliche Projekte für die an den deutschen Boden gebundenen nationaldeutschen Juden, erreichte damit trotz großer Anstrengungen zunächst ebenso nur begrenzte Erfolge.10

Wenn die deutschen Juden sich nicht zur Berufsumsiedlung und zum Leben auf landwirtschaftlichen Gütern entschließen konnten, so waren sie sich doch in ihrer Verbundenheit zur heimatlichen Landschaft einig. Die Berliner Juden liebten den märkischen Sand und die Ostsee, die bayerischen Juden ihre Seen und Berge. Wie in vielen anderen Angelegenheiten, stießen sie auch hier unter der nichtjüdischen Bevölkerung nicht immer auf Gegenliebe. So wie im Wandervogel bereits vor dem Ersten Weltkrieg antisemitische Tendenzen sichtbar geworden waren, so schloss der Alpenverein 1924 seine jüdischen Mitglieder aus. Nun konnten die deutschen Juden nicht mehr in den Berghütten des Alpenvereins übernachten, genauso wie die jüdischen Sommerfrischler in Österreich oft vor verschlossenen Türen in antisemitisch geführten Kurbetrieben standen. Was die Seebäder betraf, so gab es hier ebenfalls dezidiert antisemitische Inseln wie Borkum, während die Nachbarinsel Norderney ein beliebtes jüdisches Reiseziel war.11 Auch die deutsche Landschaft schien eingeteilt in abweisende und willkommen heißende Segmente.

Der schon im 19. Jahrhundert einsetzende Kurbäderantisemitismus und die antisemitische Politik des Alpenvereins bildeten das Vorspiel für den allgemeinen Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben nach 1933. Die Nationalsozialisten legten besonderen Wert darauf, die Juden von der von ihnen verklärten »deutschen Scholle« fernzuhalten. Sie definierten nun in ihrer rassistischen Auslegung des Naturschutzes Wald und Wiese als arisch und malten die Gefahr an die Wand, dass diese von jüdischen Besuchern kontaminiert werden würden. In ihrer Blut-und-Boden-Ideologie wurden die Juden als Schädlinge aus der auch von ihnen geliebten Landschaft verbannt.12 Jene, die emigrieren konnten, sehnten sich oft voller Wehmut nach der verlorenen Natur zurück, wie etwa Friedrich Torberg in seinem Gedicht »Sehnsucht nach Altaussee«, geschrieben 1942 in Kalifornien, von dem hier nur ein Vers wiedergegeben sei:

Gelten noch die alten Strecken?

Streben Gipfel noch zur Höh?

Ruht im bergumhegten Becken

Noch der Altausseer See?13

Die Wälder um Altaussee waren beliebte Ausflugsziele der Wiener Juden. Man konnte dort spazierengehend auf Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann, Sigmund Freud und Theodor Herzl, Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann treffen.14

Während der Schoa wurden deutsche und osteuropäische Wälder zu den Naturkulissen des Massenmords.15 Namen wie Buchenwald und Birkenau ordnen den Genozid in die Landschaft ein, ohne das Grauen dahinter erkennbar zu machen. Und Namen wie Föhrenwald und Feldafing stehen für die Lager danach: das vorübergehende Zuhause der jüdischen Überlebenden, der Displaced Persons in der amerikanischen und britischen Zone. Ihre Geschichte spielte sich in den schönsten Landstrichen Deutschlands ab. Viele wurden auf den Todesmärschen im Voralpenland, der bayerischen Seenlandschaft und in der Lüneburger Heide befreit. Die tragische Rückführung der Exodus-Passagiere von der Küste Haifas erfolgte 1947 an die deutsche Nordseeküste. Und die Wege der Bricha, die Einwanderer aus Osteuropa nach Palästina brachte, führten durch den Bayerischen Wald und weiter über die Alpen.

Viele Bilder der späten vierziger Jahre zeigen die jüdischen Displaced Persons in den Seen badend und in den Bergen wandernd. Sie werden Teil einer Natur, die unschuldig ist, die aber auch als stummer Zeuge der unbeschreiblichen Verbrechen wahrgenommen wird. So sehen die Überlebenden unter den wunderschönen Berge und Seen, unter dem Meeresstrand und der Dünenlandschaft immer auch die »blutbefleckte deutsche Erde«. Mendel Mann, der Redakteur der Regensburger jiddischen Zeitung Der nayer Moment, drückte kurz vor seiner Abreise nach Israel in bewegenden Worten seine ambivalente Wahrnehmung der Natur und der dort lebenden Menschen auf Jiddisch aus:

Still, gemütlich ruhen die bayerischen Dörfchen. Du glaubst, dass das menschliche Gewissen so rein ist wie der Schnee auf den Bergspitzen, und dass ihre hellen Augen so unschuldig sind wie der helle Himmel. Komm aber näher, Mensch, näher zu den Bergen. Komm im Frühling, wenn der Schnee schmilzt und die Erde sich mit ihrer Pracht öffnet. Geh über die Wege, welche in die Stadt Cham führen, durch die Dörfer, die auf den Berghängen liegen ‌… Geh die Donau entlang und du wirst die blutigen Zeichen von Deutschlands ›Unschuld‹ sehen! Erst jetzt wirst du Deutschland verstehen. Gräber von jüdischen KZlern sind verstreut über die Bergpfade, geblieben sind nur nackte Kreuze aus jungen Birkenzweigen. Durch die ›unschuldigen‹ Dörfer und die unberührten Berge hat man in den April-Tagen im Jahr 1945 Scharen von Juden getrieben ‌… Bald werde ich für immer das Land des geplanten Massenmords verlassen. Aber es quält mich die Frage: Wer ist der Deutsche wirklich? Ein verführter Verbrecher? Ein dressierter Golem? Ein gehorsamer Knecht? Ein Despot? Oder ein unschuldiger Familienmensch? Ich schaue auf die bayerischen Berge und möchte aus tiefstem Herzen schreien, dass die Berge erzittern: Mörder!!!16

Wie unterschiedlich auch von jüdischen Beobachtern die gleiche Landschaft wahrgenommen werden konnte, zeigen die Briefe des jungen Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer, der mit seinen Eltern als Jugendlicher nach Palästina emigriert war und ein Jahr nach Kriegsende mit 27 Jahren als Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen nach Deutschland zurückkehrte. Nach Ende dieser Tätigkeit lebte er zunächst als Maler, dann als Schriftsteller am Starnberger See. Aus den Briefen an seine Eltern geht hervor, dass er nach anfänglichen Zweifeln im bayerischen Voralpenland eine Heimat fand und das Leben am See genoss. Es mag nicht einer gewissen Ironie entbehren, dass er seinen Eltern in Haifa das schöne und einfache Leben inmitten seiner Freunde in Ambach anpreist, während am gegenüberliegenden Ufer des Starnberger Sees in Blickweite noch Tausende jüdischer Displaced Persons in Lagern auf ihre Ausreise nach Palästina warten. Im Gegensatz zu diesen sah Hildesheimer zu dieser Zeit noch nicht das Blut unter dem Schnee und die Mörder hinter den Bergen. Kurz bevor das DP-Lager Feldafing Ende 1951 aufgelöst wurde, schreibt er nach Haifa: »Ich bin hier jedenfalls glücklicher als jemals zuvor.«

Es wäre wohl eine lohnende Aufgabe, im Rahmen eines Forschungsprojekts einmal eine Karte zur deutsch-jüdischen Geografie zu erarbeiten, in die auch die unterschiedliche Landschaftswahrnehmung einfließt. Borkum und Norderney mögen in einer solchen Karte nicht benachbarte Inseln sein, sondern Welten voneinander entfernt. Kleine Ortschaften auf dem Land wie Ichenhausen, Buttenheim oder Jebenhausen werden hier zu Metropolen, während Nürnberg, Freiburg oder Bremen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weiße Flecken sind. Orte der Verfolgung wie Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau finden in einer solchen Karte ebenso Platz wie Zentren der Wiederbelebung jüdischen Lebens wie Feldafing, Landsberg oder Ziegenhain. Nicht nur die Menschen und die von ihnen bevölkerten Orte sind Teil einer solchen Landkarte. Auch die Berge und das Meer, die Seen und die Wälder und deren Wahrnehmung müssen Teil der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung werden.17

1Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, München 1975, S. 111f.

2Siehe hierzu: Valerie Weinstein, »Antisemitism or ›Jewish Camp‹? Ernst Lubitsch's Schuhsalon Pinkus« (1916) und »Meyer aus Berlin« (1918), in German Life and Letters 59/1, 2006, S. 101-121.

3Barbara Rösch, Der Judenweg. Ein Beitrag zur Geschichte und Kulturgeschichte des ländlichen unterfränkischen Judentums aus Sicht der Flurnamenforschung, Göttingen 2009.

4Barbara Rösch, »Eruw«, in Michal Kümper, Michal, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein (Hg.), Makom – Orte und Räume im Judentum. Real. Abstrakt. Imaginär, Hildesheim 2007, S. 33-42.

5Heinrich Heine, Die Harzreise, hg. von Otto F. Lachmann, Leipzig 2008, S. 17-18, 79.

6Moses Calvary, »Erziehungsprobleme des jüdischen Jugendwanderns«, in: Blau-Weiß-Blätter. Führerzeitung 1/1, Juni 1917, S. 4-5.

7Gerhard Scholem, »Jüdische Jugendbewegung«, in Der Jude. Eine Monatsschrift, Jg. 1, Heft 12, März 1917, S. 822-825.

8Leo Baeck, »Gemeinde in der Großstadt«, in ders., Wege im Judentum, Berlin 1933, S. 294.

9Friedel Homeyer, 100 Jahre Israelitische Erziehungsanstalt – Israelitische Gartenbauschule 1893-1993, Mahn- und Gedenkstätte des Landkreises Hannover in Ahlem, Hannover 1993.

10Philipp Nielsen, Between Heimat and Hatred. Jews and the Right in Germany, 1871-1935, New York 2019, S. 130-135 und S. 179-184.

11Siehe meinen Aufsatz »Zwischen Marienbad und Norderney: Der Kurort als ›Jewish Space‹«, in Jüdischer Almanach 2002, Frankfurt am Main, S. 119-137, sowie Frank Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003 und Mirjam Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne, Göttingen 2007.

12Joachim Radkau und Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2003.

13Wolfgang Kos und Elke Krasny (Hg.), Schreibtisch mit Aussicht. Österreichische Schriftsteller auf Sommerfrische, Wien 1995, S. 222.

14Albert Lichtblau, »Die Chiffre Sommerfrische als Erinnerungstopos. Der retrospektiv-lebensgeschichtliche Blick«, in: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, hg. von Sabine Hödl und Eleonore Lappin, Berlin 2000.

15Simon Schama, Landscape and Memory, London 1996.

16Mendel Mann: »Daytshland«, in Nayvelt vom 26. ‌11. ‌1948, zitiert in Tamar Lewinsky, Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945-1951, Göttingen 2008, S. 141.

17Ein erster Schritt in diese Richtung war die im Januar 2021 vom Leo Baeck Institute Jerusalem ausgerichtete Konferenz zum Thema Nature and Jews. Approaching German-Jewish Environmental History.

Theodor Herzl in Altaussee, August 1900

Nicolas Berg

Erde und Luft: Naturmetaphern und Zugehörigkeit im modernen jüdischen Selbstverständnis

In einer Verlagsanzeige zu einem Band Chassidischer Geschichten von Martin Buber aus dem Jahr 1916 lesen wir in einer auffälligen Diktion über den Baal Schem, den jüdischen Weisen, er fühle »den Herzschlag der Natur und ist eines mit ihr; ihm flüstern die Blätter und raunen die Blumen das Geheimnis des Werdens und Vergehens zu […], mit dem Saum seines Gewandes berührt er die Erde, seine Hände reckt er in die Wolken.«1 Diese schwungvollen Werbezeilen waren kongenial zum Inhalt des Buchs, denn Buber wollte seinen Lesern in Wien und Berlin ja gerade die Innigkeit und Natürlichkeit jener Frömmigkeit vermitteln, wie sie die Chassidim im östlichen Europa bewahrt hatten. Nicht das Pathos dieser Anzeige ist es also, was einen aufhorchen lässt, wohl aber die Wortwahl: Die Naturmetaphern sind hier so dominant, dass sie selbst für die Idee eines anderen Judentums zu werben scheinen. Es ist, als stünden sie hier stellvertretend für eine kollektive Selbstvergewisserung und als stärkten sie das Plädoyer eines religiös-kulturellen Wandels.

Es mag erstaunlich klingen, aber solche Elementarbilder und Naturvergleiche sind in den Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen. Sie prägen die religiösen, politischen und kulturellen Debatten über das Judentum in der Moderne, nicht nur in diesem Beispiel und keineswegs nur in den Texten der Jüdischen Renaissance. Diese hat sie durch die ornamentale Universalsprache des Jugendstils, die der Maler und Grafiker Ephraim Moses Lilien prägte, zu ihrem Erkennungszeichen gemacht. Die Ranken und Blätter, Blumen und Dornen, Palmen und Früchte waren mit der Gründung des Jüdischen Verlags 1902 rasch zum Ausweis eines neuen Selbstbildes geworden, das dem der Bücher Bubers, der den Verlag zusammen mit Lilien gegründet hatte, entsprach. Doch die Häufung der Bezüge auf die Natur ist generell auffällig, nicht nur um 1900; auch zuvor und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein: Immer wieder gerinnen Anrufungen von Natur und Natürlichkeit zu definitorischen Formeln mit Anspruch, den Geist der Völker zu erfassen. Wir lesen von Wurzeln und Blüten, vom Gedeihen und Welken, finden aber auch Bezüge zwischen der jüdischen Existenz und der »Luft« oder dem »Wind«, und all dies nicht nur innerhalb des jüdischen Diskurses. Werner Sombart etwa übernahm in seinem zutiefst antisemitischen Räsonnement über Die Zukunft der Juden 1912 den Ausdruck »Luftmenschen« für die Juden im Osten Europas2 von Max Nordau, ganz so, als handele es sich um einen Fachbegriff oder um einen etablierten Common Sense – und wie Nordau verwendete auch der Berliner Ökonom die Metapher nicht als literarisch-ironisches Bild, wie es in den jiddischen Romanen von Scholem Alejchem geprägt worden war.3

Die Verstärkungen zwischen jüdischem Selbstbild und den Fremdbeschreibungen, wie sie die Mehrheitsgesellschaft zur gleichen Zeit betreibt, nimmt dem Bildarsenal der Natur in diesem Diskurs generell ihre Unschuld. Das Hin und Her zwischen Innen und Außen, Literatur und Politik, Ironie und Ideologie ist von starken Wertungen geprägt und widersprüchlich. Je genauer wir hinschauen, desto eher erkennen wir an vielen dieser Texte, dass sie die Nähe zur Natur deshalb reklamieren, weil Naturnähe und Natürlichkeit durch den Antisemitismus jener Zeit zu einem Politikum gemacht und den Juden abgesprochen wurden. Denn »Natürlichkeit« und »Künstlichkeit«, diese aufdringliche und nur scheinbar so einleuchtende Antinomie, ist selbst nichts Gegebenes, sondern ein Gemachtes. Dieser Gegensatz gibt nur vor, natürlich zu sein, er ist aber künstlich. Die Rhetorik entspringt einer dualen Deutung der sozialen Welt, sie wird in Politik, Kultur und Alltag um 1900 oft zum aggressiven Argument und verbündet sich mit der Ideologie des Antisemitismus und des völkischen Denkens. So entstand eine Sicht auf die Welt, die Naturvergleiche zur Waffe machen konnte, denn in der Alltagsmoral erhalten Metaphern der Natürlichkeit einen Bonus, so der Philosoph Dieter Birnbacher4; umgekehrt transportiert das Konzept »Künstlichkeit« ein Stigma, das auf sich zu ziehen, ob als Person oder als Gruppe, man mit guten Gründen vermeidet.

Ein ergreifendes Dokument für diesen Zusammenhang ist die Broschüre Wir deutsche Juden, 321-1932, die der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ein Jahr vor der Schwelle zur Katastrophe publizierte. Für dieses Heft trifft beides zu: Es war dies eine Art von Manual für jüdische Gemeinden, Institutionen und Einzelpersonen, die als Abwehrschrift gegen antisemitische Hetze diente; die Schrift enthielt ganz konkret Schutzsätze gegen alle möglichen Anfeindungen im Alltag; sie gab Gegenargumente mit auf den Weg, mit denen Leser sich und den politischen Status der Juden verteidigen konnten. Eingeleitet wurde das Heft mit dem Verweis auf die lange Dauer der jüdischen Zugehörigkeit zu Deutschland, die sich mit der Jahreszahl 321 auf das Edikt des römischen Kaisers Konstantin bezog, in dem die jüdische Gemeinde Kölns Erwähnung findet; zusätzlich führte diese Publikation auch ein Panorama an Naturnähe vor, die inzwischen zur Zurückweisung einer wiederkehrenden Unterstellung nötig geworden war. »Die deutschen Juden sind Deutsche«, so heißt es hier, »seit mehr als 1600 Jahren wurzeln sie in deutscher Erde, atmen sie deutsche Luft, sprechen sie in deutscher Sprache, lieben sie deutschen Acker, deutsche Wälder, Seen und Flüsse.«5