Jugendliebe - O.W. Stevens - E-Book

Jugendliebe E-Book

O.W. Stevens

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Beschreibung

Ein einziger Augenblick kann den Lauf eines Lebens grundlegend ändern. Er kann die Zukunft rosig aussehen lassen oder schwarz wie eine mondlose Nacht, er kann himmelhochjauchzende Pläne schmieden oder diese zunichtemachen. Urs hat das am eigenen Leib erfahren, mehrfach, in beiden Ausprägungen. Die Ernüchterung über die Launenhaftigkeit des Zufalls hat ihn eine Zeit lang verzweifeln lassen und ihn Demut geleert, es aber nicht vermocht, ihm seinen Lebensmut zu nehmen. Anderen Menschen in seinem Umfeld gelang das nicht. Mara entschied sich zum Beispiel dafür, ihn nie wiedersehen zu wollen. Nie wiedersehen… Welch schweres Wort, insbesondere für Urs, denn nie wiedersehen wird er Laura, seine Jugendliebe. Immerhin verschwand sie über Nacht. Spurlos. Irgendwohin. Ohne Anhaltspunkte, die einen Kontakt zu ihr ermöglichen könnten, blieb ihm nichts anderes übrig, als die drei wundervollen Jahre mit ihr tief in seinem Herzen einzuschließen – wie den Ring in sein blausamtenes Etui, in welchem er noch immer darauf wartet, an Lauras Finger gesteckt zu werden. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und manche Gefühle vergehen eben nie. Andere wiederum überfallen einen so plötzlich, dass man geneigt ist, entweder an Wunder zu glauben oder an seinem Verstand zu zweifeln – denn wann hat die Erde jemals ihre Drehrichtung gewechselt? Urs kommt es jedenfalls so vor, als er eines Tages unverhofft dem Mädchen Eleonora gegenübersteht und seinen Augen nicht traut…

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Seitenzahl: 803

Veröffentlichungsjahr: 2025

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O.W.Stevens

Begegnungen

Jugendliebe – Die Gefühle vergehen nie

O.W.Stevens

Jugendliebe – Die Gefühle vergehen nie

Roman

Begegnungen

Auch als e-book auf: owstevens.de

Impressum

Texte: © 2025 Copyright by O.W.Stevens

Umschlag:© 2025 Copyright by O.W.Stevens

Verantwortlich

für den Inhalt:S. Otto

Königsberger Str. 5

49744 Geeste

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Titelbild:von Nile auf www.pixabay.com

Erinnerung

Ein flüchtiger Blick in dein Gesicht riss mich aus der Gegenwart und katapultierte mich zurück in meine Jugend.

Du siehst ihr ähnlich wie ein Zwilling und lachst sogar wie sie.

Ich würde dich für ihre Schwester halten, wenn ich nicht mit Sicherheit wüsste, dass sie keine hatte, als ich sie zum ersten Mal küsste.

Seither habe ich so vieles erlebt…

… und so vieles davon wieder vergessen.

Doch ihre Liebe vergaß ich nie.

Ruhestörung

Der laue Ostwind, der seit einer Woche als Sommerwind bezeichnet werden darf, denn die kürzeste Nacht des Jahres hat den längsten Tag vor genau einer Woche abgelöst, streicht über das kurzgeschorene Feld, das nach zwei nährstoffzehrenden Ernten eine Ruhepause nötig hatte. Der Bauer gönnte ihm diese, indem er nach dem letzten Nachtfrost keinen Mais aussäte oder Kartoffeln oder Rüben steckte, sondern einer bunten Blumenwiese den Vorrang gab, die im warmen und regenreichen April und dem nachfolgenden sonnigen Mai prächtig gedieh. Kurz vor den Osterfeiertagen nutzte er das anhaltend trockene Wetter dafür, die hochgeschossene Wiese zu mähen und zu heuen, anschließend zu Ballen zu pressen und diese in einer Ecke des Feldes übereinander zu schichten, wo sein Vater, als er den Hof von seinem Großvater übernahm, eine nach Norden und Osten offene Miete errichtet hatte. Der Bauer erinnert sich gern an dieses Ereignis, denn es war der erste feststehende Bau, an dem er als Jugendlicher in seinen Sommerferien eigenhändig mitgewirkt hatte – eine Investition, die sich noch heute auszahlt. Heu verkauft sich seit jeher gut, denn es gibt zwei Tierheime und mehrere Pferdeställe in der näheren Umgebung, und den Eigenbedarf für die Tiere auf seinem Hof und die Kaninchen seiner Enkel kann er bis zur nächsten Mahd damit ebenfalls decken. Daher lohnt es sich für ihn, seinen Äckern aller paar Jahre reihum eine Erholung zu gewähren und dadurch die Umwelt zu schonen, denn das Gemähte besteht nicht nur aus einer einzigen dicht wachsenden Grassorte. Hauptbestandteile des bunt gemischten Saatguts bilden allerlei insektenfreundliche Blumen und Kräuter. Vor allem Hummeln, Bienen und Schmetterlinge und natürlich seine Enkel, die zu gern über die duftende, bunte Wiese tollen und Blütenkränze flechten, mögen die bunte Vielfalt, die bereits auf die nächste Mahd wartet.

Spaziergänger, die, der Stadt entflohen, dem an die Wiese angrenzenden Wald zustreben, halten oft am Feldrain inne und erfreuen sich an dem blütenreichen Anblick. Nicht wenige ermahnen ihre Begleiter, ganz still zu sein und auf das Summen, Brummen und Sirren zu lauschen, das die Luft über den sich im Wind wiegenden Halmen erfüllt. An manchen Tagen, wenn der Wind günstig steht, ist es so laut, dass es bis in den angrenzenden alten Mischwald hinein zu hören ist. Erst, wenn er sich nach und nach zur Ruhe legt, wird es stiller über dem Blütenmeer und ein anderes Geräusch gewinnt die Oberhand - das leise Rauschen der Blätter in den ausladenden Kronen des Waldes, der sich einige Kilometer weit bis hin zum nächsten Vorort erstreckt.

Der Sonnenuntergang über den grünen Häuptern der hölzernen Riesen beendet den heutigen Reigen geschäftiger Bienen, vor Trunkenheit torkelnder Hummeln und im letzten Sonnenlicht des Tages tanzender Mückenschwärme. Die Nektar sammelnden Schwirrflügler ziehen sich in ihre Nester oder Bienenstöcke zurück, die übrigen Insekten verstecken sich zum Schutz für die Nacht, so gut es geht, im Gras, wo sie sich an gleich oder ähnlich gefärbte Halme, Blüten und Blätter schmiegen, um so unauffällig wie möglich zu sein – denn nur so können sie überleben.

Von seinen Fressfeinden nicht gesehen zu werden, gelingt nicht jedem, zumal, wenn man kein Insekt ist. Eine Maus, die mit Beginn der Dämmerung ihren unterirdischen Bau verlassen hat und nach Körnern sucht, die bei der Mahd und beim nachfolgenden Heuwenden aus den dünnen Ähren der Wildgräser gefallen sind, ist für ihren Schutz vor allem auf ihre Fellfärbung angewiesen, während sie zwischen den dichten Grasstoppeln hindurchwuselt. Geschäftig erschnüffelt ihre feine Nase Leckerbissen um Leckerbissen. Die Maus verzehrt nicht jeden davon auf der Stelle, sondern stopft die meisten in ihre Backentaschen, um sie später in ihrer Vorratskammer zu horten. Dass ihr leises, für darauf geschulte Ohren nichtsdestotrotz hörbares Tun nicht unbeobachtet bleibt, ahnt sie nicht und sie bekommt auch keine Gelegenheit mehr, ihre Unauffälligkeit zu vervollkommnen. Zwei scharfe Krallenfüße bohren sich in ihren Leib und ein Schnabelhieb in ihren Nacken macht ihr den Garaus.

Der Waldkauz, der sie seit einer halben Minute von einer Buche am Waldrand beobachtet hatte, trägt seinen ersten Fang der heutigen Nacht zu dem mit seinem Weibchen verabredeten Übergabeplatz. Ein kurzer Ruf reicht aus und es kommt herangeschwebt – lautlos, wie Eulen es gemeinhin tun. Der Kauz überlässt seiner Partnerin die reglose Maus, berührt kurz ihren Schnabel und lässt sich buchstäblich vom Ast fallen, seine Schwingen ausbreitend und auf einem seit Wochen eingeübten Weg durch das dichte Laub davonsegelnd, darauf bedacht, wie sein Weibchen lautlos zu bleiben und damit seiner potentiellen Beute möglichst nicht aufzufallen. Am Waldrand baumt er auf, diesmal auf einer Eiche, einige Bäume östlich seines letzten Spähpostens. Er kennt sein Revier. Seine Partnerin und er bejagen es seit vielen Jahren.

Zwei Stunden später gönnt er sich eine Jagdpause und verspeist seinen letzten Fang – eine Ratte – selbst. Seine Jungen und die Hüterin seines Nachwuchses sind vorläufig versorgt. Er hatte ihnen seine vorletzte Beute gebracht, die aus drei Mäusen bestand, die er in rascher Folge an derselben Stelle fangen konnte – ein Glück, das ihm nicht jede Nacht hold ist. Während er das tote Tier – eine junge, unerfahrene Ratte - zwischen seinen Krallen kröpft, entsteht Bewegung auf dem mittlerweile stockdunklen Wanderweg, der Feld und Wald voneinander trennt. Zwei Jugendliche nähern sich, leise miteinander flüsternd, der Stelle, an der der Kauz sitzt. Als sie ihm zu nah kommen, streicht er, den Rest seiner Beute in seinen Fängen mitnehmend, von den beiden unbemerkt, sicherheitshalber ab und landet in der Nähe seines Übergabeplatzes, der tiefer im Wald liegt. Diesmal ruft er nicht, sondern lauscht eine Weile in die Nacht, ehe er seinen Hunger weiter stillt.

Das Mädchen und der Junge haben unterdessen die Miete erreicht und klettern auf die Heuballen hinauf. Sie kennen sich noch nicht so lange wie der Kauz und sein Weibchen, doch in den drei Jahren seit ihrem ersten zaghaften Wortwechsel haben sie viel gemeinsam unternommen und ebenso viel voneinander gelernt – vor allem, sich gegenseitig zu achten, zu verstehen, ehrlich zueinander zu sein und aufeinander neugierig sein zu dürfen. Insbesondere Letzteres haben die zwei heute vor - ihre Neugier zu stillen, die Neugier auf etwas ganz Besonderes, etwas, das ihnen nur ein einziges Mal in ihrem Leben vergönnt ist. Aus eben diesem Grund haben sie sich aus ihren Elternhäusern davongeschlichen und sich einen Platz ausgesucht, an dem sie für dieses Besondere ungestört sein werden. So kann der Kauz, der nach seinem Mahl und einigen weiteren erfolgreichen Jagdzügen zu seinem Beobachtungsplatz auf dem weit über den Weg hinaus ausladenden Ast der Buche zurückkehrt, von dem Pärchen nichts mehr sehen. Sie haben es sich im Heu gemütlich gemacht und erforschen Neuland.

Nachdem der gefiederte Jäger eine geraume Zeit gesichert hat, erlauschen seine wachsamen Ohren die nächste Maus. Sie wohnt an der Nordostecke der Miete und profitiert wie ihre nicht mehr lebende Nachbarin davon, dass mit dem Nachtrocknen der Heuballen regelmäßig Samenkörner, die sich bislang in den Rispen und Dolden gehalten hatten, zu Boden fallen. Auch sie sammelt fleißig alles ein, was sie finden kann, und wird nicht gewahr, dass sich in ihrem Rücken ein lautloser Schatten aus der Buchenkrone löst und im Schein des Halbmondes schnell näherkommt. Ihr Schicksal scheint besiegelt, denn der Kauz ist ein erfahrener Beutegreifer.

Aber die Maus hat Glück, denn in diesem Augenblick durchbrechen ein kurzes Stöhnen und ein leiser Schrei die Stille der Nacht. Instinktiv lässt die Maus von ihrer Suche ab und flitzt in den nächstliegenden Eingang ihres schützenden Baus. Dass der dunkle Schatten nicht wegen ihres Verschwindens, sondern infolge der plötzlichen und zudem ungewohnten Geräusche seine Richtung ändert und zum Waldrand zurückfliegt, bemerkt sie nicht.

Der Kauz, dem selten ein anvisiertes Opfer entgeht, kehrt unverrichteter Dinge zu seinem Beobachtungsposten zurück und späht zu der Silhouette des hölzernen Gebäudes hinüber, von wo er die ungewohnten Laute vernommen hatte. Seine auf kleinste Bewegungen trainierten großen Augen suchen vergeblich nach der Ursache für die Störung während seines Anflugs. Nichts regt sich unter dem breiten Satteldach. Lediglich einige weitere seltsame Laute dringen von dort an sein feines Ohr. Als diese scheinbar nicht enden wollen, gibt er seinen Platz auf, streicht ab und verlagert seine Jagd auf die Nordseite des Waldes. Das Rübenfeld dort ist zwar längst nicht so ergiebig wie die Wiese, doch da er bereits erfolgreich gejagt hat, wird es für den Rest der Nacht ausreichen.

Erst drei Stunden später kehrt er zu der Buche zurück - zum richtigen Zeitpunkt, um zu beobachten, dass die zwei jungen Menschen das Heulager eng umschlungen verlassen und auf die Stadt zu schlendern, über deren Skyline sich der neue Morgen mit einem schmalen orangegelben Streifen am Horizont ankündigt.

Vielleicht beim nächsten Mal

„Guten Morgen, Nora“, begrüßt die Inhaberin der Buchhandlung ihre junge Mitarbeiterin.

„Guten Morgen, Rebecca“, grüßt Nora freundlich zurück, schenkt ihrer Chefin ein Lächeln und frohlockt: „Das Wetter spielt uns in die Hände! Die Stadt wird heute voll sein, zumal am Montag Feiertag ist und wegen des langen Wochenendes sicher viele Touristen in der Stadt sein werden. Ich habe auf dem Weg über die Ringstraße eine ganze Reihe Autokennzeichen gesehen, die nicht aus den umliegenden Landkreisen stammen.“

„Ja“, stimmt ihre Chefin ihr zu. „Ich vorhin auf der Bundesstraße auch. Warten wir’s ab, Nora, wie viele davon sich tatsächlich in der Stadt aufhalten werden, geschweige denn, in unseren Laden verirren.“

„Immerhin sind wir die einzige Buchhandlung im Stadtzentrum – und ein bisschen Optimismus schadet nicht!“, widerspricht Nora ihr und hat Erfolg damit.

„Der schadet in der Tat nicht“, pflichtet Rebecca Korn ihr bei. „Hilfst du mir bei den Tischen?“

Das lässt sich Nora nicht zweimal fragen. „Na, klar!“, ruft sie aus dem Büro, wo sie ihre Tasche abgestellt und ihre Jacke aufgehängt hat. „Komme schon.“

Pünktlich zur Öffnungszeit stehen die zwei Tische mit den zum kostenfreien Mitnehmen gedachten Büchern vor der Eingangstür. Während ihre Chefin je einen Blick zu beiden Seiten der von Fußgängern noch spärlich frequentierten Einkaufsstraße wirft, ordnet Nora die letzten Neuausgaben im Regal rechterhand der Tür. Eines dieser Bücher kennt sie in und auswendig. Die Autorin ist stadtbekannt und es ist nicht ihr erstes Werk, das in diesem Regal auf den Namen Lea Neldes aufmerksam macht. Die drei dicken Stapel, die Anfang letzter Woche auf der Ablage vor dem Regal thronten, sind auf einen halben zusammengeschrumpft. Zwischen dem untersten und dem zweituntersten Buch liegt, vorerst noch unsichtbar, ein Blatt Papier, auf dem mit fetten Buchstaben vermerkt ist, dass die Nachlieferung weiterer Exemplare bereits ausgelöst wurde. Nora selbst hatte den Hinweis ausgedruckt und in den Stapel eingefügt, nachdem die Druckbestätigung des Verlages im Computer eingetroffen war. So macht sie das, seit sie in der Buchhandlung arbeitet, mit jedem Buch, das sich gut verkauft.

Rebecca Korn war anfangs skeptisch gewesen, ob sich der Aufwand lohnen und dieses Stück Papier die Verkaufszahlen steigern würde, gab ihrer jungen Mitarbeiterin aber dessen ungeachtet die Chance, es auszuprobieren - und fand bald heraus, dass es besser war, wenn potentielle Kunden proaktiv darüber informiert wurden, dass der Nachschub unterwegs ist. Sie gewann zudem den Eindruck, dass diese Methode die Neugier der Leser steigerte – und nichts anderes hatte Nora beabsichtigt gehabt. Aus dem gleichen Grund bestückt diese einmal pro Woche das Regal neu und dekoriert das gegenüberliegende Schaufenster um, jeweils zwei oder drei Bücher gegen Neuerscheinungen austauschend, die in der Regel mittwochs oder donnerstags aus den Verlagen eintreffen.

Für den heutigen Freitag rechnet Nora mit einem lebhaften Arbeitstag, an dem sie kaum Zeit dafür haben wird, gelieferte Bücher auszupacken. Sie hält sich lieber im Laden auf und berät Kunden – etwas, was ihr schon bei ihren Schulpraktika und während ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau Spaß gemacht hatte. Dass sie sich letztendlich in der Buchhandlung um eine freiwerdende Stelle bewarb, beruhte nicht nur darauf, dass sie bei ihrem letzten Praktikum zufällig ein Gespräch einer Kundin mit Rebecca Korn aufschnappte, aus dem hervorging, dass die langjährige Kollegin ihrer Chefin in Rente gehen würde, sondern hauptsächlich auf ihrer eigenen Leidenschaft, Bücher zu lesen. Sie versuchte ihr Glück und es war ihr hold. „Dich nehme ich gern“, sagte Rebecca Korn ihr mündlich zu, bevor Nora die Gelegenheit bekam, eine schriftliche Bewerbung einzureichen. „Bei dir brauche ich keine Experimente machen. Man merkt dir an, dass dir die Kunden wichtig sind – und genau davon lebt die Leseratte.“

Nora lächelt vor sich hin. Diesen Tag wird sie nicht vergessen, und erst recht nicht jenen, an dem sie die Buchhandlung mit dem witzigen Namen das erste Mal betrat, um als Vierzehnjährige zu üben, wie es ist, den ganzen Tag hinter einem Ladentisch zu stehen, statt in die Schule zu gehen. Es fühlte sich gut für sie an, wegen der Bücher und wegen Rebecca Korn, deren umgängliches Wesen ihr den Praktikumsalltag immens erleichterte, denn anfangs lief keineswegs alles rund. Bei mauligen oder ungeduldigen Käufern, die nichts Besseres zu tun hatten, als sie im Laden herum zu scheuchen, unterstützte die Inhaberin sie persönlich, indem sie die Kunden mit ihr gemeinsam betreute und ihr dabei, ohne den erhobenen Zeigefinger benutzen zu müssen, zeigte, wie man mit solchen Menschen umgeht – mit Geduld und Freundlichkeit. Nora staunte nicht schlecht, als sie es am dritten Tag selbst auf diese Art und Weise probierte und es ihr gelang, einem älteren Mann, der sich bei ihr mit brummiger Stimme nach einem technischen Buch erkundigte, nach welchem er zuvor mehrere Minuten lang selbst vergeblich gesucht hatte, ein dankbares Lächeln beim Abschied abzuringen, obwohl das von ihm gewünschte Buch im Laden nicht vorrätig war und sie es erst nach längerer Recherche im Computer fand. Da sie sich während ihrer Nachforschungen mit ihm unterhielt und sich dafür interessierte, ob er das Buch für ein Hobby oder seinen Beruf brauchen würde, willigte der Mann sogar ein, nachdem sie es für ihn bestellt hatte, dass sie ihm eine SMS senden könne, wenn es eingetroffen sei.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er dir seine Mobilfunknummer geben würde“, staunte Rebecca Korn in der Mittagspause, die sie gemeinsam mit Nora im benachbarten Tagescafé verbrachte, wo sie ihrer Praktikantin als Lohn für ihr Fingerspitzengefühl das Mittagessen spendierte. „Du hast Talent, mit Leuten umzugehen“, lobte sie Nora obendrein. „Bewahre dir das. Es wird dir in deinem Beruf helfen.“

Diesen Rat nahm sich Nora zu Herzen, wie die vielen anderen auch, die sie in den Folgejahren von ihrer Mentorin bekam, wann immer sie in der Leseratte praktizierte oder – als Ferienjob – arbeitete.

„Wo finde ich die Bücher für Kleinstkinder?“, wird sie gefragt und verdrängt die Erinnerungen. Die Leseratte beginnt sich wie von ihr erwartet zu füllen und die junge Frau, die, offensichtlich hochschwanger, vor ihr steht, benötigt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Zeige ich Ihnen“, reagiert Nora und weist auf ein Regal, das ein wenig versteckt hinter einer tragenden Säule steht. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“

Die Schwangere nimmt das Angebot an und Nora befragt sie in den nächsten Minuten nach ihren Vorlieben und Wünschen. Am Ende verlässt die werdende Mutter mit zwei Büchern, auf denen ein Kleinstkind auch mal herumkauen kann, das Geschäft. Sie tut es mit der Gewissheit, dass die ihr von Nora empfohlenen Bücher zum einen umweltverträglich hergestellt wurden und zum anderen frei von Schadstoffen und Weichmachern sind.

Nora blickt der Käuferin hinterher, bis sie den Laden verlassen hat, und widmet sich im Anschluss der nächsten Kundin. „Darf ich Ihnen helfen?“

So vergeht der Vormittag wie im Flug und die zwei Stunden nach dem Mittagessen nicht minder schnell. Erst gegen drei Uhr wird es ruhiger in der Leseratte. Typisch für Freitagnachmittage. Die meisten Passanten sind um diese Tageszeit weniger auf Kultur aus, als auf die Erledigung ihrer Wochenendeinkäufe, und strömen daher in die umliegenden Kaufhäuser und Supermärkte. Zeit für Nora, Ordnung zu schaffen, die infolge der Neugier der Kundschaft hin und wieder heftig durcheinandergerät. Nach einer Viertelstunde hat sie alle Bücher, die von Kunden aus einem Regal gezogen oder von einem der Stapel aufgenommen und später irgendwo achtlos abgelegt wurden, auf ihren Ursprungsplatz zurückgestellt oder gelegt. Sie ist froh darüber, dass sie dafür nur fünfzehn Minuten brauchte, denn es gab Tage, da dauerte dieser Vorgang wesentlich länger.

Zufrieden betrachtet sie mit einem Rundblick ihr Werk und überlegt, was sie als Nächstes tun könnte. Sie entdeckt eine Kundin, die ein Lea-Neldes-Buch in der Hand hält, und geht zu ihr hinüber, um es ihr zu empfehlen. Auf dem Weg, der sie in Richtung Tür führt, kommt ihr ein junger Mann entgegen, den sie nicht zum ersten Mal im Laden zu Gesicht bekommt. Ihr Blick kreuzt sich für eine Sekunde mit seinem, bevor er sein Gesicht abwendet und der Fantasy-Abteilung zustrebt.

Nora beißt sich nachdenklich auf ihre Unterlippe, denn einmal mehr beschleicht sie der Verdacht, dass der Blickkontakt von ihm bewusst hergestellt wurde. Außerdem meint sie, das Gesicht des jungen Mannes von irgendwoher zu kennen.

Aber woher…?

Sie schaut ihm nach. Außer seiner offensichtlich athletischen Figur, seiner dunklen Haare und der Tatsache, dass er einen knappen Kopf größer ist als sie selbst, fällt ihr nichts Besonderes an ihm auf – jedenfalls nichts Auffälliges, was ihr verraten würde, aus welchem Grund er ihr bekannt vorkommen könnte. Mit geschürzten Lippen setzt sie ihren Weg fort und widmet sich der Lea-Neldes-Interessentin. Als diese das Buch in ihrer Hand ein paar Minuten später gekauft hat, ist der Junge mit den dunklen Haaren verschwunden.

So sehr Nora nach ihm sucht, er hat die Buchhandlung verlassen.

Hm.

Woher kommt er mir bekannt vor?

Diese Mundpartie und diese dichten Augenbrauen…

Verdammte Hacke!

Er muss hier in der Stadt wohnen, denn er schaut ab und zu mal rein.

Hat er überhaupt schon ein Buch gekauft?

Hm?

Hat er! Den ersten Band der Elfensaga!

Wollte er heute den zweiten kaufen?

Hätte ich ihn statt der anderen Kundin beraten sollen?

Hm. Teilen kann ich mich nicht.

Leider.

Vielleicht beim nächsten Mal…

Sie zuckt mit ihren Achseln und blickt sich erneut prüfend in der Leseratte um. Einige Interessenten blättern in ausliegenden Exemplaren, deren Titel oder Einband sie angesprochen hat, andere schweifen scheinbar ziellos durch das Geschäft, manche mustern in ihrer Lieblingsabteilung aufmerksam die schmalen hohen oder weniger hohen, dafür breiten Buchrücken in der Hoffnung, ein lange gesuchtes Exemplar einer aussterbenden Buchreihe zu finden, damit sie zuhause voller Stolz behaupten können, sie hätten die Serie vollständig. Ein Käufer, der dieser Spezies allem Anschein nach nicht angehört, vermutet Nora, beugt sich in der Reiseabteilung über ein schulterhohes, auf Rollen stehendes und deswegen verschiebbares Metallregal, in dem Atlanten, Klappkarten und Reiseberichte ausliegen. Obgleich es ihr lieber wäre, sie würde einen gewissen jungen Mann in der Fantasy-Abteilung beraten können, entschließt sie sich, zu dem Reiselustigen hinüberzugehen und ihm zur Seite zu stehen.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, spricht sie den Mann an, der mit dem Rücken zu ihr steht.

Der letzte Sonnenaufgang

Das Surren des schweren Elektromotors, der den Hauslift bewegt, holt Semjon Koreljov aus dem Schlaf. Er gähnt lautstark, streckt sich über die ganze Länge des Hotelbetts und blinzelt in den frühen Morgen, der sich jenseits der Fensterscheiben seines Zimmers mit einem orangegelben Streifen am Osthorizont ankündigt. Die oberste Hoteletage gewährt ihm einen unverstellten Blick über die Dächer der umgebenden Gebäude und auf den Fluss, der, zwei Häuserreihen und ein Terrassenufer entfernt, die Stadt durchquert, sowie eine hervorragende Aussicht auf den Sonnenaufgang über dem dicht bebauten gegenüberliegenden Ufer. Gestern war Semjon das farbenfrohe Phänomen durch die Lappen gegangen. Aber gestern war es ihm weniger wichtig gewesen.

Gestern…

Bei dem Gedanken an die vorletzte Nacht breitet sich ein warmes Gefühl in ihm aus und er lächelt. Ein offenes, helles Gesicht kommt ihm in den Sinn, umrahmt von dunklen, fast schwarzen, schulterlangen Haaren, mit großen Augen und stahlblauen Pupillen, in denen sich, als er den dazugehörigen weichen Körper unter seinen Händen spürte, das Licht der Straßenbeleuchtung spiegelte. Diese Nacht und all jene davor, in denen er der Frau, der seit Monaten seine Liebe gehört, bar jeder Hülle wie Adam und Eva begegnete, wird er sein Lebtag nicht vergessen. Sie hatte seine Liebe bislang nicht nur mit jeder Faser ihres aphroditischen Körpers erwidert, sondern vor allem mit ihrem Herzen, mit ihrem weiten Herzen, in dem er sich ausbreiten durfte, seit sie sich am Strand auf Usedom begegnet waren.

Ihr erstes zaghaftes Lächeln, das ihm durch Mark und Bein ging, ihr Augenaufschlag dabei, der ihm beinahe die Luft nahm, und ihr Gang, den er als unbeschwert bezeichnen würde, bewirkten, dass es augenblicklich um ihn geschehen war – Widerstand zwecklos. Als sie von der Strandpromenade auf die Seebrücke von Binz abbog, folgte er ihr mit ein paar Schritten Abstand bis zu deren Ende, als wäre er durch eine unsichtbare Schnur mit ihr verbunden. Der ablandige Wind spielte mit ihren Haaren und wehte ihr buntes Kleid um ihren schlanken Körper und ihre nicht minder schlanken Beine. Ihre gebräunte Haut und ihr dunkler Haarschopf bildeten einen wundervollen Kontrast zu dem pastellfarbenen Muster des Stoffes. Sie kam ihm wie ein Engel vor – ungeachtet dessen, dass sie wegen der fehlenden blonden Locken der landläufigen Vorstellung nicht in Gänze entsprach. Es war das Gesamtbild, dass ihn wie magisch anzog und ihn ermutigte, sie am seeseitigen Ende des hölzernen Stegs anzusprechen.

Das Piepen seines Weckers reißt ihn aus seinem Tagtraum von dieser unverhofften, dafür umso schöneren und vielversprechenden Begegnung, die den Beginn jener märchenhaften Zeit bildete, die er seitdem durchleben durfte. Von jenem Tag an trafen sie sich in regelmäßigen Abständen – mal in seiner Stadt, mal in ihrer – und erkundeten diese und deren Umgebungen, sprachen viel miteinander über ihre bisherigen Leben und über jenes, welches sie möglicherweise gemeinsam gestalten könnten, wenn es ihm gelingen würde, einen Arbeitgeber in der Nähe ihrer Wohnung zu finden. Die Suche danach dauerte einige Monate und zeitigte schließlich Erfolg. Der Hotelaufenthalt von gestern auf heute beendet seine letzte Dienstreise für seinen aktuellen Arbeitgeber, denn Ende der vorigen Woche lag sein neuer Arbeitsvertrag im Briefkasten. Endlich. Ab dem nächsten Monatsbeginn wird er seinen Resturlaub dafür nutzen, seinen Umzug in die Wege zu leiten und in die Tat umzusetzen. So viel steht fest.

Er schlägt die Bettdecke zurück, erhebt sich und schlurft in die enge Duschkabine hinüber, in der, wie in den Zimmern der meisten Hotels mit weniger als fünf Sternen, kaum zwei Menschen, selbst, wenn sie noch so schlank wären, gemeinsam Platz finden würden, ohne sich gegenseitig in ihren Handlungen zu behindern. Nach seiner üblichen Morgentoilette sucht er aus seinem Koffer, den er bei einer einzigen Übernachtung wie jener, die er gerade beendet hat, nie auspackt, frische Unterwäsche und das zweite Hemd heraus, kleidet sich an und kämmt abschließend seinen dichten, blonden Haarschopf durch. Dabei mustert er im Spiegel das Lächeln um seine Mundwinkel, das dort erscheint, weil er erneut an das bunte Sommerkleid denken muss. „Ich liebe dich“, spricht er in das blanke Glas und meint damit nicht sich selbst, sondern die Frau, die dieses Kleid trug. „Nächste Woche sehen wir uns – für immer.“ Mit Mühe kehrt er ins Hier und Jetzt zurück, schließt sein Reisenecessaire, legt es mitsamt der gebrauchten Wäsche neben seinen Koffer und schlüpft in seine Schuhe. Frühstückszeit. Tasche packen kann er im Nachgang.

Er schaltet das Deckenlicht aus und zieht den Schlüssel, den er über Nacht von innen ins Türschloss gesteckt hatte, ab. Der messingfarbige Anhänger mit der eingravierten Zimmernummer wiegt schwer in seiner Hand. Mit einem letzten Blick zum Fenster, der ihm vergewissert, dass es geschlossen ist, tritt er auf den spärlich beleuchteten Flur hinaus. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Nach kurzer Orientierung wendet er sich nach links, wo ein Schild auf das Treppenhaus hinweist. Um den Frühstücksraum im Parterre zu erreichen, benötigt er keinen Lift. Ein bisschen Bewegung am frühen Morgen hat noch keinem geschadet.

Die Tür zum Treppenhaus klemmt ein wenig und knarrt hinter seinem Rücken beim gemächlichen Schließen, ehe sie kurz vor dem Ende des Vorgangs mit einem Ruck zuschnappt und laut ins Schloss knallt, dass es bis in den Keller hinab zu hören ist. Offenbar ist die Automatik in die Jahre gekommen oder die Scharniere müssten mal geölt werden. Semjon Koreljov kümmert es nicht. Es gehört nicht zu seinem Aufgabenbereich, sich um eine defekte Türmechanik zu kümmern. Er ist hier Gast.

Beschwingt steigt er die Stufen hinab, zwischendurch aus den hohen Fenstern, welche das Morgenlicht ins Treppenhaus hereinlassen, auf die Siedlung vor dem Fluss blickend, in welchem sich der orangefarbene Sonnenaufgangshimmel spiegelt und ihn durch eine Häuserlücke hindurch blendet. Er hält auf dem Absatz zwischen der dritten und zweiten Etage inne, um das Bild in sich aufzunehmen, angelt dabei sein vibrierendes Firmenhandy aus seiner Hosentasche und überfliegt auf dem kleinen Schwarzweiß-Display, das kaum größer ist als zwei nebeneinander geklebte Briefmarken, die über Nacht eingetroffenen Informationen. Beim Lesen der einzigen Nachricht, die ihn am frühen Morgen wirklich interessiert, betritt er mit seinem rechten Fuß die erste Stufe der nächsten Treppe und verlagert sein volles Körpergewicht darauf, wobei er nicht darauf achtet, dass er dabei nur die Hacke auf der Kante der Stufe platziert hat.

Das rächt sich. Er rutscht nach vorn über die Kante ab und noch ehe er das Geländer zu fassen bekommt, geschweige denn begreift, was gerade schiefläuft, stürzt er in die Tiefe. Er überschlägt sich mehrfach und kommt vor der Tür zur zweiten Etage zu liegen. Das zersplitterte Display seines Telefons sehen seine Augen nicht mehr, und dass der Zimmerschlüssel nebst Anhänger seiner Hand entglitten ist und zwei letzte Stufen hinabrutscht, ebenfalls nicht.

Ein unerwarteter Fund

Das reich verzierte Längsschiff der Stadtkirche spendet den wenigen Menschen, die sich am frühen Nachmittag im Inneren des über fünf Jahrhunderte alten Gemäuers aufhalten, angenehme Kühle. Die Erhabenheit der Gemälde, Skulpturen und Altäre und die hohen, bunten Fenster, von denen jedes einen anderen Ausschnitt aus der Bibelgeschichte darstellt, führen wie die geschwungenen Bögen des Kreuzgewölbes bei fast allen Besuchern, die sie näher in Augenschein nehmen, dazu, stehenzubleiben und sie gemeinsam mit der Stille in diesem Gebäude auf sich wirken zu lassen – die einen staunend, andere bewundernd, manche wissend.

Urs sitzt seit mehr als einer halben Stunde in einer der hölzernen, dunkel gebeizten und mit gedrechselten Handläufen versehenen Bänke und lauscht dieser Stille nach. Sie in sich aufzunehmen, das Laute des Alltags durch sie zu ersetzen, Eile gegen Verweilen einzutauschen und damit die hastige Aufeinanderfolge von Terminen und Ereignissen durch Innehalten und Nichtstun zu unterbrechen, fällt ihm nicht schwer. Kirchengebäude haben diese entschleunigende Wirkung seit eh und je auf ihn, und sie haben ihn gelehrt, dass das Einlegen von Pausen im Alltag unabdingbar ist. Auf seinen zahlreichen Dienstreisen hat er viele dieser Sakralbauten gesehen, kleine und große, schlichte und prunkvolle, steinerne und hölzerne, intakte, im Krieg zerstörte, verfallene und in Renovierung befindliche. Jede einzelne faszinierte ihn auf ihre eigene Weise. Der Kölner Dom und das Ulmer Münster taten dies allein durch ihre schiere Größe, die Dresdner Frauenkirche durch ihre Historie und ihre Pracht, die sie nach ihrer Auferstehung aus den Kriegstrümmern heute wieder ausstrahlt. Andere, wie die beiden Holzkirchen, die er im Harz besuchte, oder jene achteckige Kirche in Seiffen, die, den Bergleuten des Erzgebirges gewidmet, von deren unermüdlichem Fleiß und ihrer Liebe zu ihrer Heimat zeugt, rangen ihm Hochachtung vor ihren Erbauern ab.

Darüber hinaus fuhr er, damals noch mit dem Motorrad, eines Tages an einer Feldsteinkirche in der Altmark vorbei, sie beim Abbiegen flüchtig wahrnehmend, und kehrte einen Kilometer weiter zu ihr um, weil der Schnappschuss, den seine Augen aufgenommen hatten, nicht durch sein Gehirn gerauscht war, um sofort wieder vergessen zu werden. Er hatte eine ganz besondere Saite in ihm zum Klingen gebracht – die der Schlichtheit und der Ästhetik ihres Baustils. Im Grundriss kaum größer als ein gewöhnliches Doppelhaus und aus dem erschaffen, was jeden Landwirt zur Verzweiflung bringt, wenn er seine Felder pflügt, schmeichelte sie mit ihren hellen, sorgsam ineinander gefügten runden und ovalen Steinen seinem Sinn für etwas Besonderes. Leider war dieses Kleinod der ländlichen Baukunst ausschließlich zu Gottesdienstzeiten geöffnet, sodass er nach einer kompletten Umrundung des Gebäudes unverrichteter Dinge weiterfahren musste – mit dem festen Vorhaben, eines schönen Tages ihr Inneres zu begutachten.

Die Stadtkirche, in der Urs stille Andacht hält, ist jeden Tag für die Öffentlichkeit zugänglich. Seit er vor drei Monaten vorübergehend einen Teil des Vertriebsgebiets eines jungen Kollegen übernommen hatte, der anlässlich der Geburt seiner Zwillinge in Elternzeit gegangen war, hatte er sich mehrfach in ihr aufgehalten - und das nicht nur der Kühle und der beruhigenden Wirkung der Stille wegen, die er beide darin vorfindet. Er nutzt die Ruhe in der Kirche zur Besinnung - für sich selbst und für Mara, Leif und Corinna. Mit jedem der drei verbinden ihn zahlreiche Erinnerungen, gemeinsame und private, gute und weniger gute. In diesen kann er am besten schwelgen, wenn er die Zeit und Muße dafür hat. Das Gotteshaus ist trefflich dafür geeignet. Da sein örtlicher Kunde ihn um die Mittagszeit eher als erwartet aus seiner Verantwortung entließ, weil er kurzfristig einen wichtigen Termin wahrnehmen musste, bleibt Urs heute dafür mehr Zeit als üblich, bis sein Zug, der ihn nach Hause bringen wird, abfährt.

Der nächste Stundenschlag der Turmuhr – er hatte mit dem Verklingen des vorherigen in der hölzernen Bank Platz genommen - holt ihn in die Gegenwart zurück. Aufatmend erhebt er sich und verlässt die Kirche. Der dritte und letzte Schlag teilt ihm mit, dass ihm ausreichend Zeit für einen Stadtbummel bleibt, bis sein Zug an Gleis 4 abfahren wird. Zwei Stunden bis dahin sollten genügen, um die Innenstadt mit ihren schönen Fachwerkhäusern ein weiteres Mal zu erkunden. Er bummelt gern durch den historischen Stadtkern, der durch schmale und breite, flache und hohe bunte Fassaden geprägt ist. Seit seiner ersten Dienstreise hierher, die ihn seitdem aller paar Wochen in die Stadt führt, pilgert er durch die engen Straßen und Gassen, in denen es – im Gegensatz zu manch anderer Altstadt – noch viele kleine Geschäfte gibt, die seit Generationen in Familienbesitz sind.

Er hat den Ausgang der efeuüberwucherten Natursteinmauer, die das Kirchengelände vom umgebenden Park trennt, fast erreicht, als ihm ein Strauß Rosen auffällt, der dem, den er gestern vor Reiseantritt am Grab seines Freundes abgestellt hatte, täuschend ähnlichsieht. Er verhält seinen Schritt und begutachtet das Gebinde. Die Blumen sind nicht mehr ganz frisch, doch werden sie seiner Meinung nach noch eine Woche halten. Freilandrosen sind hart im Nehmen und daher dankbare Friedhofsblumen, vor allem, wenn das Wetter so ist wie in den letzten Tagen: trocken, tagsüber nicht zu warm, nachts nicht zu kalt. Spätfrühling eben. Die heißen Sommertage kommen erst noch.

Mit zufriedener Miene passiert er das Tor in der Steinwand und biegt auf den kürzesten Weg ab, der ihn in Richtung Zentrum führt. Während er den Streifen üppigen Grüns durchquert, der ihn von der Altstadt trennt, lässt er seine Gedanken zu der Grabplatte auf dem Friedhof seiner Heimatstadt zurückschweifen. Leif war ihm viele Jahre lang ein guter Freund gewesen, beginnend in der Jugendzeit, als sie sich in einer Motorradwerkstatt zufällig kennenlernten und gegenseitig ihre Bikes lobten. Dass auf dem einen ein anderes Logo prangte als auf dem anderen, war dabei nicht von Belang. Beide Maschinen waren als Tourer breit und bequem gebaut, großvolumig motorisiert, chromglänzend und gut gepflegt und mussten zufällig zeitgleich zur alljährlichen Inspektion. Um die Wartezeit zu verkürzen, unterhielten sie sich beim Kaffee am Stehtisch zwanglos über Themen, die unter Motorradfahrern üblich sind: über jene Sorte Autofahrer, die keine Rücksicht darauf nehmen, dass Motorräder keine Airbags haben, über das langweiligste, was einem Biker begegnen kann - schnurgerade Landstraßen - und über das blanke Gegenteil davon: geschwungene Serpentinen, wie denen im Kyffhäuser oder im Thüringer Wald, wo beide bereits mehrfach das herrliche Feeling genossen hatten, kilometerlang von einer Seite auf die andere zu kippen und dabei die Gesetze von Fliehkraft, Schwerkraft und Rollreibung bis an ihre Grenzen auszukosten. Sie verstanden sich auf Anhieb und waren sich schnell darin einig, dass ihr Zusammentreffen nicht das letzte sein würde. Noch an Ort und Stelle verabredeten sie sich zur ersten ihrer vielen nachfolgenden kurzen und langen gemeinsamen Touren. Die längste führte sie, bis unter die Nasenspitze mit Gepäck beladen, während eines Sommerurlaubs bis zum Nordkap und von dort im Uhrzeigersinn um die Ostsee herum zurück nach Hause. Wäre Leif ein Mädchen gewesen, hätte Urs vermutlich von Liebe auf den ersten Blick gesprochen, so gut mochte er ihn leiden.

Leifs Lebensgefährtin Corinna - die zwei hatten nicht geheiratet – hatte Urs zuletzt am Sonntagabend besucht, und sie empfing ihn wie bei jeder seiner vorherigen Stippvisiten mit offenen Armen. Müsste sie montags nicht arbeiten, so beteuerte sie, als er am späten Abend ihre Wohnung verließ, wäre sie mit ihm zum Friedhof gegangen, woraufhin Urs sie beruhigte: „Das passt nun mal nicht immer mit deinem Dienstplan zusammen, wenn ich hier bin, Co. Beim nächsten Mal rufe ich dich vorher an, okay?“

Dem stimmte sie lächelnd zu und verabschiedete ihn wie in alten Zeiten mit einem freundschaftlichen Wangenkuss. In der Anfangszeit ihrer Treffen hatte sie ihrem Kuss regelmäßig angefügt: „Sag Mara liebe Grüße, wenn du sie besuchst.“, worauf Urs jedes Mal entgegnete: „Wenn sie ansprechbar ist, gern…“

Diese Zeit ist lange her. Lange elf Jahre. Geblieben sind ihm die zwei wichtigen Tage in Leifs Leben, an denen er die letzte Ruhestätte seines Freundes entweder allein oder an Corinnas Seite besucht. Manchmal schaffte er es auch zwischendurch, am Friedhof anzuhalten, wenn er auf dem Weg von oder zu seinen Eltern ausreichend Zeit zur Verfügung hatte.

Urs atmet tief durch. An die schönen Erlebnisse seiner Motorradzeit, die untrennbar mit der Trauer um Leif und um Maras Schicksal verbunden sind, denkt er vorwiegend in Zeiten wie diesen, wenn er den Kopf nicht mit Arbeit voll hat - oder wenn er Corinna aufsucht. Der berufsbedingte Umzug nach dem Abschluss seiner Berufsausbildung und die damit verbundenen Geschäftsreisen, die ihn durchs halbe Land führen, standen nie zur Diskussion, denn die Alternative Arbeitslosigkeit kam für ihn erst recht nicht in Frage. Stattdessen nahm er gern in Kauf, dass ihn ein Besuch in der alten Heimat – bei seinen Eltern oder Corinna - einen halben Tag Anfahrt kostete und die Rückfahrt ihn regelmäßig wehmütig werden ließ. Das hinderte ihn mitnichten daran, einmal pro Quartal oder, wenn er es einrichten konnte, öfter die heimischen Gefilde aufzusuchen.

Das „Ding-Dong“ einer Fahrradklingel lässt ihn zusammenzucken. Ohne es zu merken, hatte er seine Schritte auf einen kombinierten Rad- und Fußweg gelenkt. Er blickt über seine linke Schulter und weicht an den äußersten rechten Rand des Weges aus. Der Radfahrer bedankt sich, als er überholt, und Urs ruft ihm ein „Gerne!“ hinterher.

Wer rechtzeitig klingelt…

Zehn Meter weiter biegt der Radler auf die für ihn reservierte Spur längs der Straße ab. Urs orientiert sich und folgt ihm nach links, wo er eine Ampel weiß, die es ihm ermöglicht, den vierspurigen Innenstadtring gefahrlos zu überqueren. Wenige Minuten später verebbt der Lärm des Autoverkehrs in seinen Ohren, denn er hat das alte Stadttor passiert. Die aus dem Mittelalter stammende Mauer zu beiden Seiten dieses wuchtigen, zehn Meter dicken und fast doppelt so hohen Bauwerks schirmt die Verkehrsgeräusche zuverlässig ab. Der historische Stadtkern besteht aus einer einzigen verkehrsberuhigten Zone. Ausschließlich Anwohner und Lieferfahrzeuge sind hier zugelassen – und selbst die müssen im Schritttempo fahren.

Urs kennt sich in den engen Gassen und Gässchen mittlerweile ganz gut aus, denn im letzten Vierteljahr hat sich nicht allzu viel am Stadtbild verändert. Die meisten Häuser stehen unter Denkmalschutz und wurden in den letzten Jahrzehnten nach und nach restauriert und renoviert. Die damit verbundenen Bautätigkeiten sind längst Geschichte. Er schlendert gemütlich dahin und betrachtet sich die vielen schönen Fachwerkbauten, deren aufwendige und oft schmuckvolle Holzkonstruktionen ihn seit seiner Kindheit faszinieren, in welcher er im Urlaub mit seinen Eltern nicht selten durch ähnliche Innenstädte spazierte. Ab und zu verweilt er vor einer Schaufensterauslage oder einer Skulptur, von denen es in den drei miteinander verbundenen Fußgängerzonen einige gibt.

An einer Tiefbaustelle, die seinen geplanten Weg versperrt, hält er an und blickt neugierig in das schlammige Loch hinab. In einer Pfütze schmutzigen Wassers spiegelt sich die Sonne. Bei seinem letzten Besuch gab es die Grube noch nicht. Er prüft, wie er die Baustelle umgehen kann, und folgt der Ausschilderung rechterhand. Achtzig Meter weiter könnte er auf seinen ursprünglichen Weg durch eine quer verlaufende Gasse zurückkehren, wenn er nicht direkt gegenüber die Buchhandlung gesichtet hätte, in der er bei seiner ersten Erkundung des Stadtzentrums nach Lesenswertem stöberte und dabei von der Eigentümerin sehr freundlich und kompetent beraten wurde. Die Zeiger seiner Armbanduhr sagen ihm, dass er ausreichend Zeit hat, mal wieder in die Leseratte hineinzuschauen. Er wendet sich von der trüben Wasserlache ab, lässt die Gasse links liegen und überquert die Straße.

Vielleicht haben sie hier den Almanach über Sri Lanka…

Das Geschäft hat sich genauso wenig verändert wie der Rest der Stadt. Es sieht, verglichen mit seinem letzten Besuch, noch so aus, als hätte er es erst vor fünf Minuten verlassen. Ein wenig heller kommt es ihm allenthalben vor, aber das kann täuschen. Die mit Büchern aller Größen vollgestopften Regale an den Wänden, holzfarben und mit abgerundeten Kanten, sind jedenfalls dieselben geblieben.

Urs umrundet zwei mit Bücherstapeln bis zum Rand belegte Tische im Eingangsbereich, überfliegt die Titel auf einem weiteren, der die Theke zu den Auslagen hin begrenzt, und passiert einen schmalen Durchgang, um in den hinteren Bereich zu gelangen, in dem er die Neuerscheinungen seines Lieblingsgenres weiß: Reiseberichte. Als Kind und als Jugendlicher las er sehr gern Fantasy-Geschichten oder utopische Romane und verschlang Bücher dieser Art reihenweise. Seine Mutter nannte ihn deswegen scherzhaft einen Bücherwurm. Seit er beruflich viel unterwegs ist und mit Arbeitskollegen oder allein durch die Welt reist, fehlt ihm oft die Zeit zum Lesen. Zudem haben sich seine Interessen verlagert. Die Realität ist ihm inzwischen lieber als Erdachtes – mag es noch so interessant und fesselnd geschrieben sein. Vor dem breiten Regal in der Ecke bleibt er stehen und studiert Reihe für Reihe die Titel auf den bebilderten Frontseiten. Unten angekommen, zuckt er hilflos mit seinen Schultern, denn das, was er zu finden hoffte, liegt oder steht nicht im Regal.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, spricht ihn eine Mädchenstimme hinter seinem Rücken an, als er just seine Suche aufgibt und sich aufrichtet.

Urs zuckt zusammen. Diese Stimme kennt er. Ganz bestimmt! Allerdings dürfte er sie hier und jetzt gar nicht hören, denn sie ist Vergangenheit, weit entfernte Vergangenheit.

Oder doch nicht?

Langsam, beinahe zaghaft dreht er sich um – und erstarrt verzugslos zur Salzsäule. Seine Pupillen weiten sich, sein Mund bleibt ihm offenstehen und ein paar Herzschläge lang vergisst er zu atmen.

Laura…

Da steht Laura!

Direkt vor mir… die leibhaftige, vierzehnjährige Laura, meine Jugendliebe aus der Schule.

Das war wirklich ihre Stimme!

Ohne, dass er es steuern kann, startet vor seinem inneren Auge ein Film, in dem eine Szene die nächste jagt: Laura in hautengen Jeans, Laura mit Zipfelmütze auf dem Weihnachtsmarkt, Laura beim Biologie-Referat, Laura neben ihm im Chor, Laura mit ihm im Schwimmbad, er mit Laura im Kino, Laura…

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragt das Mädchen besorgt, als es sein fassungsloses Erstaunen bemerkt. Dabei kneift es seine Augen zusammen und studiert aufmerksam sein Gesicht, als hätte es etwas darin entdeckt, was es schon einmal irgendwo gesehen hat.

Die Anteilnahme der jungen Verkäuferin holt Urs in den Laden zurück. Er schüttelt sich, klappt seinen Mund zu und verneint mit kratziger Stimme: „Äh…, ja. Danke.“

„Ganz bestimmt?“, versichert sich das Mädchen besorgt.

„Ja, alles gut. Ich hatte nur…“ Urs bricht ab, weil ihm just aufgeht, dass sie ihn, würde er ihr seinen Tagtraum schildern, glattweg für einen Stalker halten könnte.

Andererseits…

„Äh, also, äh…“, entschließt er sich, weiter zu stammeln. „Die Sache ist die…“ Er atmet einmal tief durch und gesteht ihr: „Ich hatte eben ein Déjà-vu.“ Als sie ihre Stirn runzelt, fügt er schnell hinzu: „Ich kannte in meiner Schulzeit ein Mädchen, Laura, das ich aus tiefstem Herzen geliebt habe. Sie“, er mustert die junge Verkäuferin von oben bis unten, „sprechen mit derselben Stimme wie sie und sehen ihr so ähnlich, dass Sie ihre Zwillingsschwester sein könnten.“

Das Mädchen beginnt für ihn ziemlich überraschend zu lächeln. „Laura?“, vergewissert sie sich, dass sie den Namen richtig verstanden hat.

„Ja. Laura. Laura Reichelt.“

In ihre Miene mischt sich für den Bruchteil einer Sekunde ein leiser Zweifel. Der Familienname, den er nannte, passt ihrer Meinung nach nicht. Trotzdem kommt er ihr nicht unbekannt vor. Sie durchforstet ihr Gedächtnis und findet darin den Fetzen eines Gesprächs mit ihrer Mutter, in welchem diese ihr einst sagte, sie wäre unter diesem Familiennamen geboren worden. Das und die von ihm erwähnte Zwillingsähnlichkeit lassen sie ihre Zweifel über Bord werfen und sie bestätigt Urs indirekt, dass er dieselbe Laura meint, indem sie nachhakt: „Laura Eleonora Antonia Reichelt?“

Sein Gesicht nimmt den gleichen verblüfften Ausdruck wie eben an. Dass das Mädchen sogar den zweiten und dritten Vornamen jener Laura Reichelt kennt, von der er sprach, haut ihn fast um. „Sie kennen sie tatsächlich…“, haucht er entrückt und stützt sich an dem Regal mit den Almanachen ab, das zum Glück ausreichend Eigengewicht besitzt, um davon nicht umzukippen oder wegzurollen.

„Ja“, bekommt er zur Antwort. „Meine Mama hieß früher Reichelt.“

„Mama…?“

„Ja, Mama.“

„Ich fass‘ es nicht!“, haucht Urs und legt beide Hände vor seinen Mund. „Laura ist…?“

„Ja!“, lacht das Mädchen und ergänzt überflüssigerweise: „Ich bin ihre Tochter.“ Dabei legt sie ihren Kopf schräg und studiert seine Gesichtszüge eingehender, denn die kommen ihr nun, da klar ist, dass er ihre Mutter kennt, bekannter vor als zu Beginn dieser unerwarteten Begegnung, und – was sie am meisten erstaunt - sogar bekannter als die des geheimnisvollen Besuchers der Fantasy-Abteilung. Sie gräbt noch ein wenig tiefer in ihren Erinnerungen und findet schließlich das, was ihre Augen das erste Mal vor sechs Jahren auf einem Foto gesehen hatten, und eine damit zusammenhängende Verbindung zu einem Namen, der sich ihr eingeprägt hatte. Das veranlasst sie zu ihrer nächsten Frage: „Und wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie Urs Mensing?“

Urs befällt das untrügliche Gefühl, dass die Erdrotation ausgesetzt haben muss. „Sie… kennen… meinen Namen?“, stottert er ungeachtet seiner sonstigen Wortgewandtheit.

„Ja, von meiner Mama“, verrät sie ihm, inzwischen sichtlich amüsiert über sein verdutztes Gesicht. „Sie hat von Ihnen gesprochen, als wir uns gemeinsam ihr Fotoalbum angeschaut haben. Urs ist kein alltäglicher Name. Daher habe ich ihn mir wohl gemerkt.“

Dass sie damit den überwiegenden Teil der Wahrheit für sich behält, würde Urs, wüsste er es, kaum heftiger treffen als ihre Offenbarung, Laura Reichelts Tochter zu sein. Er ist heilfroh, dass die Erde weiterrotiert - obwohl er sich unsicher ist, ob sie nicht vielleicht ihre Pole vertauscht und die Drehrichtung gewechselt haben könnte. Die Mischung aus all den überraschenden Eindrücken der letzten halben Minute macht ihn sprachlos. Er benötigt mehrere Atemzüge, bis er sich gefasst hat.

„U… und wie heißen Sie, wenn ich das fragen darf?“, traut er sich schließlich, ein Stück seines Wissensdurstes zu stillen.

„Ich heiße Nora. In meiner Geburtsurkunde steht Eleonora, Mamas zweiter Vorname, aber die meisten meiner Freunde nennen mich Nora. Ein paar auch Elli…“

Urs denkt mitnichten daran, ihren Namen abzukürzen. „Eleonora“, spricht er ihn leise nach. „Wunderschön. Immer noch…“

Unvermittelt überzieht ein Hauch Röte Noras Gesicht, die nicht einordnen kann, worauf sich seine Worte bezogen – auf ihren Namen oder auf sie selbst. Dementsprechend klingt ihr „Dankeschön“ reichlich belegt.

„Eleonora, Tochter von Laura“, sinniert Urs weiter und taucht dabei in die Vergangenheit ab. Der Klang der zwei Namen erinnert ihn an ferne Zeiten und an diejenige, die beide trug – und jenen dritten, den Nora ihm zu Beginn nannte.

Laura Eleonora Antonia…

Eine Idee durchzuckt ihn. „Haben Sie vielleicht noch eine Schwester, die Antonia heißt, oder einen Bruder namens Anton?“, tippt er ins Blaue.

Ein Schatten fällt auf Noras Gesicht und sie nickt verhalten. Dabei atmet sie tief durch, als müsste sie sich von der Befangenheit befreien, die sie während dieser Namensnennungen befiel. Um das unangenehme Gefühl loszuwerden, wiederholt sie ihre anfängliche Frage, auf die Bücher neben ihm zeigend: „Und, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Urs“, schlägt Urs vor, ehe er ihr antwortet. „Für die Tochter meiner Jugendliebe bitte nur Urs.“

Ihre Gesichtsfarbe dunkelt ein wenig nach. Dass er ihre Mutter als seine Jugendliebe betitelt, trifft sie tief – tief in ihrem Herzen, denn allein durch dieses eine Wort versteht sie schlagartig, wieso diese bei der Betrachtung des Albums, in welchem sie sein Gesicht das erste Mal erblickte, Tränen in den Augen hatte. „Gern. Du darfst auch Nora oder Elli sagen“, bietet sie ihm an.

„Auch Eleonora?“

Als wäre ein Licht eingeschaltet worden, hellt sich ihre Miene auf. Niemand, von ihrer Mutter abgesehen, hat sie je bei ihrem vollen Vornamen gerufen. Jetzt tut es ein Fremder, der vorgibt, diese zu kennen und der seinen Worten nach einst mit ihr liiert war. Das hätte sie nicht erwartet. Umso mehr tut es ihr gut und sie weiß instinktiv, dass sie diesen unbekannten Mann mag. Dass er sie mit der Erwähnung ihrer Halbschwester in Traurigkeit versetzt hatte, ist nebensächlich geworden.

„Auch das. Natürlich“, erlaubt sie ihm.

„Gefällt mir nämlich“, begründet Urs, dem ihr Stimmungswechsel nicht entgangen war, versonnen seine Wahl. „Gefiel mir damals schon…“ Mühsam reißt er sich zusammen und schnauft: „So kommen wir aber nicht weiter.“

„Nein“, lacht sie abermals und diesmal ist es ein befreites, helles Lachen. „So nicht.“

Urs würde sie dafür am liebsten auf der Stelle umarmen, denn dieses Lachen hallt aus der Vergangenheit herüber, obwohl es Realität ist. Er muss sich arg beherrschen, nicht in den nächsten Tagtraum zu verfallen. „Okay!“, ruft er sich endgültig zur Ordnung. „Ich suche einen Reisebericht über Sri Lanka. Das wollte ich nämlich im Herbst oder Winter mal besuchen.“

„Oh, schön!“, entfährt es Nora und sie überfliegt in aller Eile die ausliegende Ware im Regal vor sich. „Hier hab‘ ich keinen stehen“, teilt sie ihm danach mit, was er selbst herausgefunden hatte, „also muss ich wohl oder übel im Computer blättern. Aber keine Bange“, fügt sie an, weil sich über seiner Nase einige Falten bilden. „Bislang habe ich so ziemlich jedes Buch gefunden und bestellen können.“

Angesichts dieser Aussicht glättet sich Urs‘ Stirn und er folgt ihr zur Theke, wo, wie er annimmt, besagter Computer stehen könnte. Er behält recht. Keine Minute später hat sie zwei Almanache ermittelt und dreht den Monitor soweit zur Seite, dass er die Bilder sehen kann, die sie ihm zeigt. „Der hier“, erklärt sie ihm zum zweiten, „ist zwar teurer, hat dafür aber neben den üblichen Fotos mit zweizeiligen Unterschriften zusätzliche Informationen zur Geschichte der Insel zu bieten sowie eine Übersichtskarte mit allen Sehenswürdigkeiten, Adressen von Hotels, Wanderrouten und einiges mehr. Da ich bereits ähnlich gestaltete Reiseberichte anderer Regionen, die durch diesen Verlag gedruckt wurden, verkauft habe und die meisten Käufer uns gespiegelt haben, dass sie damit sehr zufrieden wären, würde ich dir diesen empfehlen.“

Urs muss nicht lange nachdenken. „Nehm‘ ich. Danke“, entscheidet er zu Noras Freude, die die Bestellung sofort eintippt. „Willst du das Buch hier abholen oder soll ich es dir zuschicken?“, fragt sie mittendrin.

„Phh!“, macht Urs unschlüssig. „Wie lange dauert das?“

„Na, so… zwei, drei Wochen, schätze ich?“

„Dann würde ich es mir hier im Laden abholen. Ich bin, wenn keine anderen Termine dazwischenkommen, eh aller zwei Wochen in der Stadt.“

„Ja?“

„Ja. Ich habe einen Kunden, den ich regelmäßig betreue, draußen im Industriegebiet Süd.“

„Schön“, lächelt sie. „Ich lege es für dich zurück. Welche Telefonnummer soll ich hinterlegen?“

„Meine“, sagt er bewusst provokativ und Nora lacht über seine völlig korrekte, aber wenig hilfreiche Angabe.

Eben das hatte Urs erreichen wollen. Dieses Lachen wollte er noch einmal hören. Als er sie dabei schmunzelnd anschaut, verstummt sie rasch.

„Und die wäre?“, unternimmt sie sichtlich verlegen einen zweiten Versuch, die Nummer in Erfahrung zu bringen.

Urs schaltet wegen ihres veränderten Gesichtsausdrucks um. „Entschuldige bitte, Eleonora. Ich wollte dir nicht zu nahetreten, aber du hast gerade so herzlich gelacht, wie ich das von deiner Mutter kannte. Vorhin schon…“ Er deutet zu dem Regal an der gegenüberliegenden Wand hinüber.

„Ja, ich weiß. Meine Oma ist auch der Meinung, dass ich wie Mama lache…“ Sie entspannt sich und beruhigt ihn: „Ist okay für mich.“

„Danke“, freut sich Urs und diktiert ihr die elf Ziffern, die sie angefragt hatte.

Nora notiert diese in ihrem Computer. „Perfekt. So kann ich dir Bescheid sagen, falls sich die Lieferung verzögert. Kommt manchmal vor“, begründet sie, „weil Reisealmanache nicht allzu oft gekauft werden. Die meisten Verlage drucken sie on demand - wobei“, flicht sie ein, „ich nicht garantieren kann, dass das bei diesem Almanach so ist.“

„Alles klar. Werden wir ja merken. Aber…“, zögert er gleich darauf, „vielleicht könntest du mir mit meiner Telefonnummer noch eine kleine Bitte erfüllen?“

„Ich geb‘ sie meiner Mama“, errät sie seinen unausgesprochenen Wunsch.

Urs lächelt. „Du bist ein Schatz, Eleonora“, verwendet er erneut ganz bewusst ihren vollen Vornamen. „Und das ist mein voller Ernst.“

Nora schlägt kurz ihre Augen nieder und kann nicht verhindern, dass das Rosa ihrer Wangen nachdunkelt. „Ich find‘ dich auch gut“, bedankt sie sich bei ihm.

Urs muss schlucken und sich erst räuspern, bevor er ihr Kompliment mit einem „Dankeschön, Eleonora.“ annehmen kann. Im Stillen staunt er nicht schlecht, dass dieses junge Mädchen, das er auf achtzehn, höchstens zwanzig Jahre schätzt, mit einem derart ausgeprägten Selbstbewusstsein auf ihn zugeht, obwohl sie sich vor weniger als fünf Minuten das erste Mal begegnet sind.

Ob Laura ihr von mir mehr als nur meinen Namen mitgeteilt hat und sie deshalb…?

Er gibt die Rätselei auf, denn sie schaut ihn erwartungsvoll an, als wollte sie von ihm wissen, ob er weitere Wünsche habe. Also kommt er noch einmal auf den Almanach zurück: „Muss ich sofort bezahlen oder erst bei Abholung?“

„Bei Abholung reicht. Wer weiß, was bis dahin alles dazwischen kommt…“, erwidert sie nachdenklich und schaut ihn dabei mit zusammengekniffenen Lippen an. „Und wo soll’s heute noch hingehen?“, befreit sie sich aus dem klammen Gefühl, das sie während ihrer eigenen Andeutung befiel.

Urs hat ihren neuerlichen Stimmungsumschwung ebenso bemerkt wie den ersten und erwägt kurzzeitig, ob er sie nach dem Grund dafür befragen soll, verwirft sein Ansinnen jedoch, weil es ihm unhöflich erscheint, mir nichts, dir nichts in ihre Gefühlswelt einzudringen. Also entgegnet er möglichst unbefangen: „Nach Hause. Mein Zug fährt in ungefähr einer Stunde und ich muss noch zum Bahnhof zurücklaufen und mein Gepäck aus dem Schließfach holen.“

Nora überschlägt im Kopf die Entfernung bis zum Bahnhof. „Schaffst du locker“, beruhigt sie ihn.

„Denke ich auch.“

Für ein paar Augenblicke schweigen beide.

Urs nutzt die Pause, um sich von ihr zu verabschieden. „Danke, Eleonora. Es war schön, dir so… völlig unverhofft über den Weg zu laufen“, bekennt er freundlich und reicht ihr an der Kasse vorbei seine Hand. „Grüß deine Mama bitte von mir.“

Nora nickt dankend, doch nach alldem, was eben zwischen ihnen beiden geschehen war, ist ihr ein Abschied auf Distanz zu wenig. Sie umrundet das offene Ende der Theke und geht auf ihn zu.

Wieder hat Urs das Gefühl, dass es Laura wäre, die ihm entgegenkommt, erst recht, als er ihre Hand in der seinen spürt - und ein weiteres Mal muss er das Verlangen unterdrücken, sie zu umarmen. „Hat mich auch gefreut, Urs“, vernimmt er ihre weiche Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursacht. „Ich richte Mama gleich nach Feierabend deine Grüße aus und gebe ihr deine Nummer. Sie wird sich sicher bei dir melden.“

„Meinst du?“, will die Hoffnung in ihm unbedingt wissen.

„Meine ich“, versichert sie ihm und ein Leuchten in ihren Augen unterstreicht, dass sie das keinesfalls als Scherz formuliert hat.

„Das wäre schön“, dankt er ihr ein letztes Mal und gibt ihre Hand frei. Mit einer letzten Musterung ihres – Lauras - Gesichts wendet er sich blendend gelaunt ab und verlässt das Geschäft.

Kaum, dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, kommt Bewegung in Nora. Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, folgt sie seinem Weg, den er quer durch den Laden genommen hatte, bis zur Ladentür, öffnet diese nach kurzem Zögern und tritt auf die sonnenüberflutete Straße hinaus, auf der sich inzwischen zahlreiche Passanten tummeln. Sie braucht ein paar Sekunden, bis sie seinen Kopf zwischen den vielen anderen wiedergefunden hat, und ein Lächeln überzieht ihr Gesicht.

Urs Mensing…

Der Junge aus Mamas Fotoalbum.

Was sie wohl sagen wird, wenn ich ihr erzähle, was eben passiert ist?

Er ist so natürlich, nett, ehrlich. Versteckt sich nicht hinter einer Maske…

Schön…

Nora atmet tief durch.

Mama. Du wirst dich freuen, und zwar sowas von…

Als Urs die nächste Querstraße erreicht, die er vorhin wegen der Baustelle verlassen musste, verlangsamt er seinen Schritt, hält am Ende an und wendet seinen Blick zur Leseratte zurück, von der er aus der Ferne lediglich noch das breite Namensschild über Tür und Schaufenster erkennen kann, da der zunehmende Passantenstrom ihm die Sicht versperrt. Dass Nora ihn nach wie vor beobachtet, kann er daher nicht sehen, und selbst bei freier Sicht wäre es ihm kaum gelungen, denn sie hatte sich, als er sich anschickte, sich umzudrehen, in den Türbereich zurückgezogen und lugt nur knapp am Türrahmen vorbei. Wüsste er das, würde er ihr vermutlich zuwinken. So biegt er schließlich in die Querstraße ein und entschwindet damit Noras Sichtfeld.

„Laura“, murmelt er vor sich hin, nachdem er sich orientiert hat, um sicher zu gehen, dass er nicht die falsche Richtung eingeschlagen hat.

„Laura Reichelt… Ich fasse es nicht. Der helle Wahnsinn!“

Seine gute Laune trägt ihn auf leichten Füßen bis zum Bahnhof und hält noch an, als er in den Zug eingestiegen ist und sich seinen reservierten Sitzplatz sucht. Sobald er sich darauf niedergelassen hat, steckt er sein Headset ins Ohr und wählt auf seinem Smartphone einen Kontakt, dessen Bezeichnung vier Buchstaben und zwei Silben hat. „Hallo, Mama“, beginnt er, als seine Mutter sich meldet. Nachdem er sich nach dem Befinden seiner Altvorderen erkundigt hat, fragt er: „Seid ihr am Wochenende zuhause?“

„Ja, sind wir. Wieso?“

„Ich muss euch etwas Wichtiges erzählen.“

„Du machst mich neugierig, Urs…“

„Ja, ich weiß. Das wirst du wohl oder übel bis zum Freitagabend bleiben müssen, Mama. Ich bin so gegen zwanzig Uhr da, wenn das für euch okay ist.“

„Du kannst komische Fragen stellen“, scherzt Juliana Mensing. „Wir freuen uns doch immer auf dich. Hast du einen besonderen Essenswunsch?“

„Du kannst komische Fragen stellen“, verwendet Urs für seine Antwort absichtlich die gleichen Worte und den gleichen Tonfall.

Seine Mutter honoriert es entsprechend mit einem herzhaften Lachen. „Okay, ich sehe schon. Dir geht’s gut.“

„Ja, tut es, Mama. Bis Freitag.“ Er legt auf, nimmt das Headset ab, schaltet es aus und verstaut es in dem Etui, das einen akkugestützten Ladeadapter enthält, der gewährleistet, dass sich das Gerät über Nacht auflädt und er es morgen wieder den ganzen Tag verwenden kann. Mit einem Aufatmen lehnt er sich in die Ecke am Fenster. Dass sich der Zug in derselben Sekunde in Bewegung setzt und mit wachsender Geschwindigkeit den Bahnhof verlässt, ist ihm gleichgültig. Seine Sinne nehmen es nicht bewusst wahr. Sie konzentrieren sich auf das, was vor einer reichlichen Stunde in der Leseratte passiert war.

Laura Reichelt.

Laura Eleonora Antonia Reichelt vom Pablo-Neruda-Gymnasium.

Laura…

Was für eine hübsche Tochter du hast, du liebes Mädchen… oder zwei?

Antonia? Oder einen Sohn Anton?

Eleonora ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten! Ich dachte, ich wäre…

Moment mal. Habe ich überhaupt irgendwas gedacht?

Nein. Ich war schlichtweg baff - erst recht, als Eleonora mir deinen Namen nannte.

Und noch mehr, als sie mich mit meinem ansprach…!

Wow!

Laura Reichelt.

Ich habe dich wiedergefunden – oder zumindest weiß ich, wo ich jemanden finde, der deine Adresse kennt.

Oder…?

Nix oder!

Ich gehe davon aus, dass du mich anrufen wirst.

Wirst du?

Sicher.

Sicher…?

Die Abteiltür öffnet sich und Urs wird abgelenkt. Zwei Männer in Eleonoras Alter fragen ihn, ob die freien Plätze belegt wären, und er verneint. Die Jungs freut’s. Sie wuchten ihre Rucksäcke in die Gepäckablagen über seinem Kopf und lassen sich an der Tür einander gegenüber nieder.

Urs‘ Gedanken kehren zu ihm selbst zurück.

Sie ist sicher verheiratet. Immerhin hat sie Kinder.

Na gut. Sie könnte Single geblieben sein und Eleonora allein großgezogen haben.

Würde ihr aber nicht ähnlichsehen…

Nein, würde es nicht.

Sie sprach in unserer ersten - jener denkwürdigen - Nacht davon, dass sie gern Kinder haben wolle, am liebsten mit mir.

Urs nickt unmerklich.

Ja, ich auch mit dir, du Süße. Dazu ist es leider nicht gekommen, weil…

Eine Klammer legt sich um sein Herz und Ärger und Wut steigen in ihm hoch.

Weil… weil…!

Er schnieft und zückt sein Taschentuch, um auszuschnauben, mehr der Wut und der Traurigkeit als einer verstopften Nase wegen. Seinen Mitreisenden ist es egal. Sie diskutieren über die Planung des bevorstehenden Wochenendes. Das Wort Studentenclub wird dabei mehrfach erwähnt.

Wirst du mich anrufen, du liebes Mädchen?

Wenn Eleonora dir genauso enthusiastisch von mir berichtet, wie sie mir versprochen hat, dass sie dir sofort nach Feierabend meine Telefonnummer geben wird, stehen die Chancen nicht schlecht, denke ich…

Wirst du?

Wenn ja, was wirst du sagen? Was mich fragen?

Wirst du mich wiedersehen wollen? So wie ich dich?

Verspreche ich mir zu viel von diesem Zufallstreffen mit Eleonora?

Würden wir noch zusammenpassen – du mit deinem und ich mit meinem Lebensrucksack?

Wie ist es dir ergangen, liebste Laura?

Hoffentlich besser als mir.

Muss, weil… schlimmer geht kaum.

Mal sehen…

Wiedersehen wollen würde ich dich so oder so gern – allein, um deine weiche Stimme zu hören, dir gegenüberzustehen und dich anschauen zu dürfen – wie damals am Bus.

Ob du immer noch so hübsch bist?

Mist! Ich hätte Eleonora fragen können, ob sie ein Bild von dir dabeihat.

Grrr.

Egal. Zu spät.

Mit Sicherheit bist du es, ohne Frage.

Wenn ich an deine Mutter denke, die damals ungefähr so alt war, wie wir beide es jetzt sind, kann es gar nicht anders sein.

Du bist noch so hübsch… und sicher noch genauso lieb.

Laura…

Bitte ruf mich an!

Die Zeit verfliegt so schnell

Die Tür des Wartezimmers öffnet sich zur Hälfte und die Arzthelferin ruft: „Frau Heider, bitte!“

Als Mara, die der Tür gegenüber Platz genommen hatte, sich von ihrem Stuhl erhebt, fügt die Angestellte hinzu: „Zimmer 3.“

Mara nimmt es zur Kenntnis und folgt ihr an der Rezeption vorbei in den langen Flur, der zu den Behandlungszimmern der Gemeinschaftspraxis führt. Die junge Frau im weißen Kittel weist durch eine Tür und Mara geht in das Zimmer hinein, wo sie sich auf einen der beiden Stühle setzt, von dem aus sie das geschäftige Treiben vor den Fensterscheiben verfolgen kann. Das Therapiezentrum liegt am Rand der Innenstadt, nicht weit vom Busbahnhof entfernt. Das kommt Mara zugute, da sie wegen der Medikamente, die sie einnehmen muss, seit Jahren kein Auto fahren darf. Der Nahverkehr bringt sie seither mehr oder minder zuverlässig an ihre Ziele, zu denen unter anderem die Praxis gehört. Theoretisch könnte sie mit dem Fahrrad fahren und wenn sie sich entsprechend fühlt, tut sie das auch. Bei Terminen wie dem heutigen verzichtet sie bewusst darauf. Die Erfahrungen jahrelanger Behandlungen haben sie gelehrt, dass es Tage geben kann, an denen die Therapie so aufreibend und anstrengend ist, dass sie nicht einmal mehr zum Radfahren fähig ist, wenn sie das Gebäude verlässt.

Unter den Menschen, die draußen auf dem Fußweg vorbeihasten, beobachtet sie einen dunkelhaarigen Passanten, dessen Silhouette der eines anderen, ihr mittlerweile wohl bekannten Mannes stark ähnelt. Ihr Gesicht hellt sich auf.

Tom.

Dich zu treffen war ein Glücksfall, ein wahrer Glücksfall.

Wenn ich es richtig bedenke, war es mehr als das…

„So, Frau Heider“, unterbricht die Stimme ihres Therapeuten ihren kurzen Traum und sie zuckt zusammen. Dass sich die Tür hinter ihrem Rücken geöffnet hatte, war ihr komplett entgangen.

„Oh, habe ich Sie erschreckt?“, erkundigt sich der Therapeut infolge ihrer Reaktion besorgt.

„Nein, geht schon“, wiegelt Mara ab und ergreift die ihr dargebotene Hand, um sie kurz zu drücken.

„Wie fühlen Sie sich, Mara?“, geht der Mediziner nach der Begrüßung in die zwischen ihm und seiner Patientin übliche Redeweise über, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nimmt. „Halt, antworten Sie nicht!“, bittet er, als Mara ihren Mund öffnet. „Ich sehe es Ihnen an. Sie fühlen sich gut. Sie lächeln…“

Maras Mundwinkel ziehen sich noch weiter in die Breite. „Ja, ich fühle mich gut“, bestätigt sie ihm seine Beobachtung.