So einfach ist das - O.W. Stevens - E-Book

So einfach ist das E-Book

O.W. Stevens

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Beschreibung

So einfach ist das. Oberflächlich gesehen, verbirgt sich hinter diesen vier Worten nicht viel. Wenn man jedoch tiefer blickt, steckt in ihnen oft mehr, als sie sich den Anschein geben. Christoph Aumann vermutet, dass es auf seine Frage, wieso der junge Bewerber, der ihn nicht nur mit seinem Auftreten beeindruckt hat, sondern ihm darüber hinaus merkwürdig ähnelt, eine einfache Antwort gibt. Aber ist sie tatsächlich so einfach? Und falls ja, was hätte sie für Folgen? Petra Keller macht sich seit Jahren Vorwürfe, dass sie Cassandra nicht retten konnte. Die Umstände ließen es damals nicht zu, es sei denn, sie hätte ihre Überzeugungen auf Gedeih und Verderb durchgesetzt. Jetzt hat sie Inga in ihrer Obhut und würde sich diesmal gern anders entscheiden. Aber geht das so einfach? Bei Timo sieht das ganz anders aus. Ihm erscheint seit dem Tod seiner Mutter gar nichts mehr einfach. Um seine Wahlschwester zu retten, hätte er vor sieben Jahren sein Leben aufgeben müssen. Jetzt liegt sie im Krankenhaus und ringt um das ihre. Kommt seine Reue zu spät? War alles umsonst - seine Besuche bei ihr unter der Brücke, all die Nächte, in denen er sie im Arm hielt und wärmte? Bekommt er noch eine Chance, es besser zu machen? Seine Hoffnung liegt auf seiner neuen Familie, die ihm deutlich macht, dass das, was er für undurchführbar hielt, ganz einfach sein kann, wenn man nicht allein kämpfen muss. Denn in dieser Familie hat jeder sein Päckchen zu tragen. Deswegen zählt nur eins: Jeder hilft jedem. Wirklich jeder wirklich jedem. Funktioniert das auch in seinem Fall so einfach?

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Seitenzahl: 698

Veröffentlichungsjahr: 2023

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O.W.Stevens

Begegnungen

So einfach ist das

O.W.Stevens

So einfach ist das

Roman

Begegnungen

Auch als e-book auf: owstevens.de

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by O.W.Stevens

Umschlag:© 2023 Copyright by O.W.Stevens

Verantwortlich

für den Inhalt:S. Otto

Königsberger Str. 5

49744 Geeste

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Titelbild:von Ambady Sasi auf www.pixabay.com

Über dem Kamm des Mittelgebirges, welches das Tal im Nordosten begrenzt, spielen die Reste einer Schlechtwetterfront Blitzetauschen. Das Unwetter hat die Stadt am Fluss am frühen Abend mit starkem Wind und lautem Donnergrollen heimgesucht und dabei mit reichlich Nass beglückt. Straßen und Wege glänzen, Pfützen stieben hoch auf, wenn Autoreifen hindurchfahren, Menschen hasten, mit Regenschirmen bewaffnet, durch die Straßen, allenthalben tropft es von Bäumen, Hausdächern und Laternen. Das nachträgliche Wetterleuchten erhellt die anthrazitfarbene Unterseite der Wolken, die sich am Gebirge aufgestaut haben, und malt gespenstisch anmutende Schatten und Figuren darauf. Das Gewitter legt sich, bevor es den Kamm überquert, ein letztes Mal ins Zeug, um ein eindrucksvolles Schauspiel abzuliefern. Dass die Menschen in den Ortschaften, die es dabei flutet, Stoßgebete in den Himmel schicken, ist ihm gleich. Seine Wolken lassen alles Wasser, das sie jenseits des Flusses und im Tal nicht losgeworden sind, fallen. So mancher Bach, der in den vergangenen heißen Tagen zu einem Rinnsal geschrumpft war, schwillt innerhalb weniger Minuten an und wird zum reißenden Strom. Das mit den Blitzen verbundene Grummeln ist trotz der Entfernung zu den Bergen noch immer bis in die Stadt zu hören, wo es nun, da das Schlimmste überstanden scheint, von den meisten Menschen ignoriert wird. Sie haben sich in die schützenden vier Wände ihrer Behausungen oder in Bars und Kneipen zurückgezogen, wo sie sich vor den Unbilden der ungestümen Natur sicher fühlen.

Einige wenige haben dieses Privileg nicht. Unter einer vom Bombenhagel des letzten Krieges verschont gebliebenen alten, gemauerten Brücke, die einen Radweg über einen Bach führt, liegt eine Frau, der man ihr wahres Alter nicht ansieht, in unruhigem Schlaf. Ihre strohigen Haare, die, wenn sie aufrecht steht, bis weit über ihre Schultern herabhängen, liegen im Staub. Ihr Kopf ruht auf einem harten Kissen, das sie im Schutze einer mondlosen Nacht aus einem Sperrmüllhaufen stibitzt hat. Der Stoff ist alt und abgewetzt. Einen Überzug gibt es nicht. Sie hat sich eine verschlissene Decke über ihren mageren Körper geworfen, obwohl sie deren Wärmewirkung nicht benötigen würde. Die Nacht ist lau und, da das Unwetter die Stadtgrenze hinter sich gelassen hat, mittlerweile windstill. Die Umgebungsgeräusche der City dringen an ihre Ohren, wecken sie jedoch längst nicht mehr auf – zu lange haust sie schon unter dem Brückenbogen. Selbst das durchdringende Ta-tü-ta-ta eines Rettungswagens oder eines Polizeiautos würde ihr entgehen, wenn das Auto nicht direkt auf der Brücke über ihrem Kopf anhalten würde.

Die Frau träumt. „Also frage ich sie, Frau Margarete Bruns: Wollen Sie den hier anwesenden Thomas Becher zu Ihrem Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, an seiner Seite das Schöne im Leben genießen und mit ihm gemeinsam alle Schwierigkeiten meistern? So antworten Sie mit: Ja, ich will.“

„Ja, ich will…“, hört sie ihre eigenen Worte in ihren Ohren wie in einem Tunnel widerhallen.

„Wollen Sie, Thomas Becher, die hier anwesende Serina Kolchewskaja zu Ihrer Ehefrau nehmen, sie lieben… sie lieben… sie lieben…“

Der Traum ändert sich abrupt. Wo Weiß war, wird es grau, wo Bunt war, schwarz. „Verschwinde endlich!“, hört sie den Mann, dem sie ihr Eheversprechen gab, brüllen. Gleich darauf fühlt sie sich am Arm gepackt und eine Treppe hinabgestoßen. Sie fällt schwer und schmerzhaft. Gegenstände und eine Tasche schlagen neben ihr auf, ein Buch trifft sie am Kopf. Für einen Moment sieht sie Sterne. Eine Tür knallt ins Schloss. Das Geräusch kommt ihr wie eine Explosion vor. Sie blickt die vielstufige Treppe hinauf, über der eine dünne Sommerjacke wie ein Gespenst auf sie zu schwebt. Sie greift danach, aber weit daneben. Sekunden später erbricht sie sich…

Erneut ändert sich der Traum. Ziellos irrt sie durch die Straßen der Stadt. Egal, wohin sie schaut, alles – der Fußweg, die Häuserwände, die parkenden Autos, die Menschen, denen sie begegnet – wölben sich ihr entgegen, als würden sie sich aufblähen und ihr den Weg versperren wollen. Sie bleibt an einem Baum stehen und stützt sich daran ab. Ihr Atem geht keuchend. Ihr ist wieder übel, wenngleich nicht so stark wie damals, vor zwei Jahren, am Fuße der Treppe.

Sie verschnauft ein paar Herzschläge lang. Sie zählt sie nicht.

Die Übelkeit soll verschwinden. Sie tut es nicht.

Stattdessen fühlt sie sich unvermittelt untergehakt, gehalten, beruhigt. Ein Arm um ihre Schulter gibt ihr Stütze, eine Hand teilt ihre Wärme mit ihrer eigenen und eine sanfte Stimme spendet ihr Trost. Irgendjemand führt sie in eine Seitenstraße, eine von vielen Schuhen abgewetzte steinerne Treppe hinauf, eine weitere Straße entlang und an deren Ende in eine Gartenhütte, die sich in einer Ecke eines verwilderten Grundstücks unter riesige Rhododendren duckt. Der Jemand ist ein Mädchen. Es hat ein freundliches Gesicht und redet beruhigend auf sie ein.

Margarete Bruns nimmt das Gerede auf, allein, ihr Gehirn kann es nicht verarbeiten. Die Anstrengung war zu viel für sie. Sie sinkt erschöpft zu Boden…

„Ach, Püppi“, hört sie sich gleich darauf sagen und schaut sich in dem Wald, in dem sie nach dürrem Brennholz sucht, nach ihrer Begleiterin um. „Wenn du doch aufhören könntest mit diesem Zeug. Ich würde alles dafür geben.“

Das Mädchen winkt ab und hebt zwei vom Wind zu Boden geschleuderte armstarke Äste auf. Es bricht das trockene Holz über seinem schmalen Knie entzwei, legt es auf den klapprigen Handwagen, den es die ganze Zeit hinter sich herzieht, und schaut nach oben in die Wipfel der Kiefern und Buchen, wo sich der Himmel verdüstert. Und obwohl sich die Wipfel der Bäume nicht bewegen, wird ein Rauschen hörbar, erst leise, dann immer lauter.

Merkwürdig, findet Margarete Bruns – und erwacht.

Das Rauschen verlässt ihren Traum und wird real - und es klingt bedrohlich. Sehr bedrohlich. Bedrohlich nah. Sie hebt ihren Kopf an und starrt in die Dunkelheit. Der Bach, den sie im Liegen normalerweise nicht sehen, sondern nur hören kann, ist angeschwollen. Er leckt bereits, keine drei Meter von ihr entfernt, an der oberen Betonkante des Brückenfundaments und wird in wenigen Augenblicken über das Ufer treten.

Sie rappelt sich auf und betrachtet sich das Schauspiel. Vom Schlaf benommen, kann sie nicht wirklich begreifen, was da zu ihren Füßen geschieht. So hoch stand das Wasser noch nie unter der Brücke.

Ein martialisches Brechen und Knirschen rechter Hand verkündet ihr, dass sich ein sperriges Stück einer stark verästelten Baumkrone aus dem Tunnel quetscht, aus dem der Bach in einem dicken Strahl hervorsprudelt. Die Straßenlaterne auf der Brücke beleuchtet das aus purer Wassergewalt und sich entgegenstemmendem Holz bestehende Schauspiel. Wie in Zeitlupe löst sich die Krone schließlich von dem Tunnelauslass und treibt auf die Brücke zu, gefolgt von einem kniehohen Schwall Wasser und einem wirren Haufen abgebrochener Äste, die wild durcheinanderwirbeln, das verrostete Gitter, das den Ausgang bislang verschloss und dem gewaltigen Wasserdruck nicht mehr standhalten konnte, mit sich reißend.

Das Bild der Zerstörung löst in der Frau etwas aus, worüber sie bislang mit niemandem gesprochen hatte. Nicht einmal mit Püppi. Das hier ist die Gelegenheit, auf die sie lange gewartet hat. Genau jetzt ist sie da. Sie schätzt die Entfernung bis zu dem sich heranwälzenden, im Wasser überschlagenden Baum-Ast-Gitter-Gewirr, tritt ans Ufer, schließt ihre Augen und macht einen Schritt vorwärts.

Ihr Fuß schafft es nicht, die Wasseroberfläche zu berühren. Zwei schlanke Mädchenhände, die ihre Schultern mit der Kraft der Verzweiflung gepackt haben, ziehen sie vom Wasser weg. Der Zugriff kommt so unerwartet, dass sie ihr Gleichgewicht verliert und zur Seite taumelt. Ihr Oberkörper schlägt neben dem ihrer Retterin auf dem stoppeligen Rasen auf, der höher als das Fundament liegt und daher noch nicht überflutet ist. Sie entwindet sich den packenden Händen und schreit sich ihren Frust von ihrer Seele. Ihr Schrei geht unmittelbar in ein gewimmertes „Oh, Püppi! Warum hast du mich nicht gelassen…“ über und danach in einen langanhaltenden Weinkrampf. Selbst die tröstenden Hände des Mädchens mit dem ungewöhnlichen Kosenamen können daran nichts ändern.

***

„Guten Morgen, Frau Weller“, grüßt Christoph Aumann seine Sekretärin freundlich wie jeden Tag, stellt mit geübtem Schwung seine Notebooktasche in seinem frisch gelüfteten Büro ab, dessen Tür wegen des Luftaustauschs offensteht, und kehrt in das Vorzimmer zurück.

„Guten Morgen, Herr Aumann“, bekommt er dort zur Antwort. „Ihr Kaffee ist in drei Minuten durch.“

Der Firmeninhaber wirft einen Blick auf die dampfende Kaffeemaschine. „Pünktlich wie jeden Tag. Perfekt“, freut er sich und legt mit einem hintergründigen Lächeln zwei Konzertkarten neben Rabea Wellers Tastatur. „Sie wollten doch gern mal Vivaldi hören, wenn ich mich nicht täusche, oder?“

Die Sekretärin blickt überrascht auf die Karten. „Äh, ja“, stammelt sie, nachdem sie ihre Überraschung überwunden hat. „Wie komm‘ ich denn dazu?“

„Lassen Sie mich überlegen, Rabea: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Sonnenschein, Morgenkaffee, lauer Wind, Geburtstag nächste Woche, blauer Himmel, strahlendes Lächeln…“, zählt Christoph Aumann wie nebenher auf und blickt dabei scheinbar unbeteiligt an die helle Zimmerdecke.

Seine Sekretärin lacht angesichts seiner bunten Aufzählung und seines Tonfalls und erhebt sich, um ihm ihre Hand zu reichen und sich bei ihm zu bedanken. Ihr „Das wäre nicht nötig gewesen.“ lässt ihr Chef nicht gelten.

„Nicht nötig? Mag sein“, stimmt er ihr zu, „aber längst überfällig. Sie schwärmen so oft von klassischer Musik, dass ich nicht widerstehen konnte, als ich vorgestern das Programm unseres Theaters las. Das Konzert findet zwar am Abend vor ihrem Geburtstag statt, aber wann gastieren schon mal die Berliner Philharmoniker in unserer Stadt…?!“

Dieser Begründung kann sie nichts entgegnen und bedankt sich ein zweites Mal: „Ich freue mich sehr darüber und mein Mann wird genauso begeistert sein wie ich.“

„Gern.“ Damit lässt er ihre Hand los und wendet sich zum Kaffeeautomaten um, der soeben vermeldet, dass die Thermoskanne gefüllt sei. Er nimmt sie aus der Halterung, schraubt sie zu und kehrt gut gelaunt in sein Büro zurück, auf dessen Tisch bereits die Unterlagen für den heutigen Tag liegen. Er blättert diese kurz durch, um sich einen Überblick zu verschaffen.

„Ist Elvira schon im Haus?“, erkundigt er sich durch die offene Tür, nachdem er den Stapel gesichtet hat.

„Kommt normalerweise in ein paar Minuten“, wird ihm von dort verkündet. „Soll ich sie gleich zu Ihnen durchleiten?“

„Ja, das wäre gut.“

„Mach ich!“ Rabea Weller tippt die Kurzruftaste für die Rezeption und hinterlässt dort für ihre Personalleiterin die entsprechende Information. Gerade rechtzeitig, denn Elvira Ortner betritt keine zwei Minuten später das Foyer. An der Personenschleuse, die aus drei nebeneinanderstehenden Drehkreuzen gebildet wird, welche man ausschließlich mit einem gültigen Firmenausweis passieren kann, nimmt sie Rabea Wellers Nachricht entgegen.

„Alles klar“, bedeutet sie der Rezeptionistin. „Danke.“

Die junge Frau hinter der Theke, die unter anderem für die Kontrolle der Ausweise und der Auftragsformulare firmenfremder Personen zuständig ist, erwidert freundlich „Keine Ursache!“ und nickt gleich darauf dem nächsten Mitarbeiter zu, der nach Elvira Ortner das Drehkreuz passiert. Er arbeitet in der Buchhaltung der Maschinenfabrik und bewältigt seinen täglichen Arbeitsweg mit der Straßenbahn, im Gegensatz zu seiner Personalchefin, die dafür entweder ihren Firmenwagen oder ihr schickes, privates Cabrio benutzt.

Er folgt ihr in den Lift, den ihr Knopfdruck aus der vierten Etage herbeigerufen hatte, grüßt sie höflich, als sich ihre Blicke begegnen, und steigt im dritten Obergeschoss aus, nachdem er ihr einen schönen Arbeitstag gewünscht hat. Elvira Ortner wünscht ihm dasselbe und verlässt den Lift wenig später in der siebten Etage. Sie legt ihre persönlichen Dinge in ihrem Büro ab, grüßt Rabea Weller, als sie direkt im Anschluss das Vorzimmer ihres Chefs betritt, nimmt dankend die Tasse Tee entgegen, die diese ihr entgegenhält, und klopft an der offenen Tür des Geschäftsführerbüros an.

„Hallo, Elvira!“, ruft er ihr entgegen. „Komm rein.“

Elvira Ortner grüßt zurück, tut, wie ihr geheißen, und schließt die Tür hinter sich.

„Ich wollte mit dir die Bewerbungsschreiben durchgehen und festlegen“, verkündet er ihr nach einigen Sätzen Smalltalk, „wie wir die Termine dafür auf diese und nächste Woche aufteilen. Hast du deine Termine im Kopf?“

„Im Kopf nicht alle, aber auf jeden Fall im Computer“, versichert sie ihrem Chef und nimmt auf dem Stuhl Platz, den sie stets belegt, wenn sie sich mit ihm in seinem Büro bespricht.

Christoph Aumann nimmt es zur Kenntnis und hebt das Bündel Briefumschläge auf, um es zu dem Besprechungstisch hinüberzutragen. Mit zwei Fingern der anderen Hand tippt er auf seiner Tastatur eine Kombination und das Bild wechselt von seinem Notebook auf das große Wanddisplay, das sie vom Besprechungstisch aus beide einsehen können. „Fünf Bewerber“, stenografiert er, was ihr bereits bekannt ist. „Ich habe diese Woche nur an zwei Tagen ausreichend Zeit. Kriegen wir die an beiden Tagen durch?“

Elvira Ortner, die die Bewerbungsschreiben bei deren Eintreffen in den vergangenen Tagen grob gesichtet hatte, nickt beruhigend. „Das ist kein Problem. Ich habe diese Woche keine größeren Meetings mit Betriebsrat oder Auszubildendenvertretung, und persönliche Gespräche sind momentan ebenfalls keine angemeldet. Also ist mein Kalender recht variabel.“

„Okay“, freut sich Christoph Aumann. „Aus meiner Sicht könnten wir morgen früh neun Uhr beginnen und drei Bewerber im Zwei-Stunden-Takt sichten. Neun und elf und nach der Mittagspause vierzehn Uhr?“

„Ja, das passt bei mir. Und die restlichen beiden laden wir am Mittwoch zu neun und elf Uhr ein?“

„Donnerstag neun Uhr und Freitag neun Uhr“, wehrt der Geschäftsführer ab. „Im Gegensatz zu deinem ist mein Kalender am Mittwoch komplett dicht und am Donnerstag ab elf. Notfalls müssen wir in die nächste Woche verschieben.“

„Brauchen wir nicht. Donnerstag und Freitagmorgen wäre für mich in Ordnung. Damit hätte ich bis Freitagmittag noch ausreichend Zeit, die Zu- und Absagen auszustellen.“

„Perfekt.“, pflichtet Christoph Aumann ihr bei und zieht die Unterlagen aus dem ersten Umschlag. „Das hier ist die erste…“, beginnt er, nachdem er das Bewerbungsschreiben der jungen Frau auf den Wandbildschirm zur Anzeige gebracht hat, und fügt hintenan: „Eine Bewerberin hatten wir lange nicht…“

„Nein“, bestätigt Elvira Ortner. „Umso besser – falls sie geeignet ist.“ Sie beugt sich zu ihm hinüber und beide studieren gemeinsam Anschreiben und Lebenslauf. „Fünfunddreißig, zwei Kinder, Mann berufstätig…“, murmelt sie bei den entsprechenden Textpassagen. „Mehrere Zertifikate… Liest sich gut für mich. Zusammen mit den Formulierungen im Bewerbungstext...“

„Ja, die sollten wir uns näher ansehen. Gleich morgen?“, schlägt er vor.

„Eher Donnerstag oder Freitag. Als Mutter muss sie gegebenenfalls eine Betreuung für ihre Kinder organisieren, zumindest für das jüngste“, gibt Elvira Ortner zu bedenken. „Das Mädchen ist erst fünf…“

„Du hast recht. Daran denkt man nicht mehr, wenn die eigene Tochter fast erwachsen ist“, entschuldigt sich der Geschäftsführer. „Einverstanden.“

Elvira Ortner lächelt nachsichtig und macht sich eine Notiz, sammelt alle Blätter der Bewerberin ein, schiebt sie nebst Umschlag beiseite und begutachtet anschließend die Unterlagen des zweiten Bewerbers, eines gestandenen Mittvierzigers, der, seinen eigenen Worten nach, auf der Suche nach neuen Herausforderungen ist.

Eine Stunde später haben sie alle Anschreiben, Lebensläufe und Ausbildungsnachweise, darunter die einer Berufsanfängerin, die kürzlich in die Stadt gezogen war, gesichtet und Rabea Weller beauftragt, die Termine mit den Betreffenden abzustimmen. Elvira Ortner kehrt in ihr Büro zurück und widmet sich dem Tagesgeschäft.

Ihr Chef erledigt einen Toilettengang und schließt, nachdem er von dort zurückgekehrt ist, die Tür seines Büros hinter sich.

Seine Sekretärin registriert es mit leichter Verwunderung, denn normalerweise lässt er diese, wenn er nicht in einem Meeting ist oder telefoniert, den ganzen Tag offen. Sie denkt jedoch nicht lange darüber nach, sondern versucht, die Bewerberin mit den Kindern zu erreichen, um mit ihr zu klären, ob Donnerstag oder Freitag für sie der geeignetere Tag wäre. Im Anschluss wird sie die verbleibenden vier Gesprächstermine arrangieren.

Christoph Aumann hat sich unterdessen hinter seinem Schreibtisch niedergelassen und betrachtet sich auf dem großen Display an der Wand das Foto des letzten, jungen Bewerbers. Er spürt seinen erhöhten Puls an seiner Schläfe. Seine Hände zittern, als er seine Notebooktasche aus dem Regal herauszieht, sein Portemonnaie daraus hervorholt und in einem dessen innerer Fächer, in dem er diverse Fotos seiner Frau, seiner Tochter und von sich selbst aufbewahrt, nach einem ganz bestimmten Bild sucht. Als er es gefunden hat und in Augenhöhe neben das Bild auf dem Monitor hält, atmet er tief durch.

„Das kann nicht wahr sein…“

***

Das Taxi hält vor dem Wohnblock in der Stadtrandsiedlung und die junge Frau, die im Fond auf der Beifahrerseite sitzt, blickt durch die Fensterscheibe an der Fassade nach oben. „Alles dunkel. Keiner zuhause bei dir?“, stichelt sie.

„Ha, ha!“, erwidert ihr Begleiter grinsend und liest nebenher die Zahl auf dem Display des Taxameters ab. Er zieht zwei Scheine aus seinem Portemonnaie und reicht sie dem Fahrer. „Stimmt so“, weist er ihn an, sich das Wechselgeld als Trinkgeld gutzuschreiben, und der Fahrer bedankt sich. Er wünscht, als seine Insassen aussteigen, beiden freundlich eine gute Nacht, und nimmt, nachdem die Autotüren ins Schloss gefallen sind, den nächsten Auftrag von seiner Zentrale entgegen.

Das Pärchen schaut ihm nicht hinterher, als er davonfährt. Sie haben anderes zu tun. Der Baum, unter dem sie vorübergehend Zuflucht suchen, spendet ausreichend Schatten gegen die nahe Straßenlaterne, und dieser Schatten wiederum genügend Schutz gegen allzu neugierige Blicke, die erhaschen könnten, dass sich zwei, die sich vor einigen Wochen eher zufällig kennenlernten, inzwischen heiß und innig lieben. Ihr Kuss bleibt im Verborgenen, nicht aber ihre ineinander liegenden Hände, während sie unter dem Baum hervor und in den ersten Aufgang des nächsten Hauses huschen. Ein Passant, der zufällig auf der anderen Straßenseite entlanggeht, und ein neugieriger Nachbar, der es sich angewöhnt hat, vor dem Schlafengehen eine Viertelstunde lang aus dem Küchenfenster zu schauen, bemerken den Vorgang zwar, können jedoch beide nicht erkennen, um wen es sich bei dem Paar handelt.

Den zweien ist das gleich, zumal sie die neugierigen Blicke ihrer Beobachter genauso wenig mitbekommen, wie das Einparken einer dunklen Limousine an der Straßenecke. Sie steigen, nur auf sich fixiert, die lange Treppe ins dritte Obergeschoss hinauf. Die Häuser in dieser Gegend der Vorstadt haben keine Aufzüge. Es sind einfache, billige Wohnungen für Leute mit geringen Ansprüchen, die sich zumeist aus deren niedrigen Gehältern ergeben oder aus ihrer Herkunft, sei sie sozial oder regional begründet. Dementsprechend sind die Wohnungen nicht besonders groß, geschweige denn, hypermodern ausgestattet. Das ist den beiden Verliebten allerdings schnurz. Für sie ist heute nur noch eins wichtig: die Nacht gemeinsam zu verbringen. Kaum, dass sie die Wohnungstür hinter sich gelassen haben, liegen sie sich in den Armen und streifen sich gegenseitig Kleidungsstück für Kleidungsstück von ihren nach Lust gierenden Körpern, sich dabei unablässig küssend.

Am nächsten Morgen klingelt ein Wecker, dessen Position auf dem Nachttisch von dem Wirbelsturm, der um Mitternacht durch das Doppelbett tobte, wie durch ein Wunder unverändert geblieben war. Die kleine Stehlampe, die neben ihm stand, hatte nicht so viel Glück. Sie landete auf dem Teppich und ihre Glühbirne nahm den Aufprall übel. Sie wird ersetzt werden müssen – durch ein sturzfesteres Leuchtmittel. Halb so wild. Es wurde eh Zeit, sie durch etwas energiesparenderes zu ersetzen.

Dem Geweckten ist das alles nicht bewusst, als er den Klingelton abstellt - der weiche Frauenkörper, den sein linker Arm festhält, hingegen schon. Zwei ebenso weiche Lippen legen sich auf seinen Mund und eine sanfte Hand schleicht sich auf seinem Bauch gen Süden.

„Hm, Marlene“, schnurrt er. „Ich muss zur Arbeit…“

„Ich weiß, Chris“, antwortet sie liebevoll und zieht ihre neugierige Hand zurück. Deren Bewegung stoppt erst in seinem Nacken, wo ihre Finger einen Moment innehalten, bevor sie die kurzen Haare, die sich dort bei ihrer Berührung aufrichten, kraulen. „Ich koch‘ uns einen Kaffee“, schlägt sie vor, als er ihre Hand festhält. Er muss, ob er will oder nicht, das warme Bett verlassen.

Sie zieht ihre Hand zurück, entlässt ihn nach einem letzten Kuss aus ihrer Umarmung, steigt aus seinem Bett, klaubt die wenigen Teile ihrer Kleidung vom Fußboden auf und geht ins Badezimmer hinüber. Der Blick, den sie dort in den Spiegel wirft, teilt ihr mit, dass es Tage gab, an denen sie besser aussah, aber auch schon schlechter. Sie gibt sich damit vorerst zufrieden. Insgeheim beschließt sie, gleich nachher, wenn sie in ihre Wohnung zurückgekehrt ist, ihre Haare zu waschen. Die muss sie von Berufs wegen offen tragen und daher verschmutzen sie sehr schnell. Außerdem fetten sie nach kurzer Zeit durch und das macht auf ihre Kunden keinen guten Eindruck. Das weiß sie seit langem.

Sie wäscht sich ihr Gesicht, kämmt ihre Haare einmal durch, kleidet sich an und kocht anschließend in der Küche Tee für sich und Kaffee für ihn. Im Kühlschrank findet sie an der gewohnten Stelle Toastbrot und Kaffeesahne. Sie übernachtet nicht das erste Mal hier. Vor sich hin summend, steckt sie zwei Scheiben in den Toaster, legt Teller und Messer auf den Tisch und stellt die Tassen daneben. Kaffeesahne, Honig und Marmelade vollenden das Bild.

„Oh, danke“, freut sich Christoph Aumann, als er in die Küche kommt. „Du warst fleißig.“

„Gern doch“, schnurrt sie, geht auf ihn zu und schmiegt sich an ihn. „Ich habe super geschlafen und bin putzmunter.“

„Ersteres ich auch, letzteres ich nicht“, erwidert er. „Aber das macht nichts“, beruhigt er sie, weil sich ihre Stirn kräuselt. „Hauptsache, du bist bei mir.“

Sie nickt und gibt ihm einen Kuss. „Lass uns frühstücken, sonst verpasst du deine Bahn.“

„Gute Idee“, gibt er ihr recht. „Mein Lehrmeister wäre wenig erfreut, wenn ich zu spät kommen würde, erst recht so knapp vor dem Finale.“

„Genau.“

Sie setzen sich beide an den Tisch und lassen es sich schmecken. Wie sie das nach einer gemeinsamen Nacht für gewöhnlich tun, besprechen sie dabei, wann sie sich das nächste Mal treffen können, er schmiert sich nebenher eine Stulle für seine Frühstückspause und hin und wieder necken sie sich noch ein wenig. Dafür ist heute allerdings kaum Zeit. Die Straßenbahn wartet nicht auf Bummler. Im Geschwindschritt steigen sie die vierundvierzig Stufen ins Erdgeschoss hinab und hasten durch den Hinterhof und den kleinen Park, durch den ein Bach fließt, der in den nahen Fluss mündet. Auf der Ostseite des Parks befindet sich die Haltestelle, von welcher beide an ihre Ziele gelangen können – er mit Linie 7 ins Industriegebiet an der Autobahn und sie mit Linie 3 ins Zentrum. Sie schaffen es noch, sich mit einem Kuss zu verabschieden, als seine Bahn bereits ihre Türen öffnet. „Bis bald“, haucht er ihr zu und steigt ein.

Sie winkt stumm zurück, denn die Türen schließen sich direkt hinter seinem Rücken. Er würde sie nicht mehr hören. Mit lautem Klingeln entfernt sich die Straßenbahn um die nächste Kurve – weg vom Park, weg von seiner gemütlichen Wohnung, weg von ihr. Das liebevolle Lächeln in ihrem Gesicht erlischt. Es wird erst wieder aufflammen, wenn sie ihn wiedersieht. Ein anderes wird es ersetzen, eins, das nicht mit ihrem Herzen verbunden ist, ein aufgesetztes, berufsbedingtes.

***

„Ja, Herr Berger, das war sehr eindrucksvoll“, lobt Christoph Aumann den Bewerber, der ihm, Elvira Ortner und seinem potenziellen Mentor, Manfred Leistner, in den letzten eineinhalb Stunden Rede und Antwort stand und dabei ein gesundes Selbstbewusstsein präsentierte. „Ausgehend von dem, was Sie uns über sich und Ihre Vorstellungen, die Sie mit einer Einstellung bei uns verbinden, vermittelt haben, dürfen Sie sich gute Chancen ausrechnen, dass wir Sie einstellen werden. Wir müssen lediglich ein paar Formalien prüfen, die insbesondere damit zusammenhängen, dass Sie nicht der einzige Bewerber sind, mit dem wir in dieser Woche gesprochen haben. Frau Ortner wird sich auf jeden Fall noch heute bei Ihnen melden.“

Timo Berger nickt erfreut. „Das wäre nett“, bedankt er sich. Die Aufregung, dieses für ihn und Inga so wichtige Gespräch mit einem ersten positiven Feedback gemeistert zu haben, ist ihm anzusehen. Sein Gesicht ist leicht gerötet und sein Puls schlägt schneller als normal. Dass seine Hände verschwitzt sind, nimmt er erst wahr, als er sich von seinen drei Gegenüber verabschiedet. „Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende“, sagt er dabei und verlässt den Raum in Richtung des Sekretariats, von wo er, bis Rabea Weller ihn in Empfang nimmt und bis zur Rezeption begleitet, einen Blick zurück in das Büro des Geschäftsführers riskiert. Seine Kinnpartie und seine Augen kamen ihm, als er ihm vorhin gegenübertrat, auf Anhieb bekannt vor. Merkwürdig bekannt. Woher bloß…?

Der Lift öffnet im Foyer seine Türen und er gibt das Grübeln auf. Mit einem freundlichen Lächeln wünscht er am Drehkreuz auch Rabea Weller ein schönes Wochenende.

Sie erwidert: „Danke, Herr Berger. Das wünsche ich Ihnen ebenfalls.“ und schaut ihm, bis er das Gebäude verlassen hat, sinnend hinterher.

Irgendwem, den ich kenne, sieht er ähnlich. Dieses Gesicht…

Sie rätselt, bis sie ihr Vorzimmer erreicht hat. Dort gibt sie es auf. Ihr Telefon klingelt, die Arbeit ruft.

Sie ist nicht die Einzige, die mehr als einen Gedanken auf den Bewerber Timo Berger verwendet. Im Büro ihres Chefs sitzen sich Elvira Ortner und Manfred Leistner, der Abteilungsleiter der Endmontage, an dem kleinen Konferenztisch gegenüber, um eine abschließende Auswahl zu treffen. Beide haben Timo beim Verlassen des Zimmers hinterhergeschaut und waren, ohne es voneinander zu wissen, der Meinung, dass der selbstbewusst auftretende Bewerber ihnen irgendwoher bekannt vorkommt. Viel Zeit, um dieses Gefühl genauer zu analysieren, blieb ihnen jedoch nicht, denn Christoph Aumann, der zwischenzeitlich zur Toilette gegangen war, fordert ihre ganze Aufmerksamkeit. Es dauert nicht lange, bis sich alle drei einig sind, dass sie drei der fünf Bewerber einen positiven Bescheid geben werden.

„…und das junge Mädchen war von allen die Beeindruckendste“, bemerkt der Geschäftsführer am Ende der Besprechung.

Manfred Leistner, der sich an das gute erste Gespräch am Dienstagmorgen erinnert, lobt die Bewerberin ebenfalls. „Ja, die hatte Drive und war sehr gut vorbereitet. Dafür, dass sie kaum ein Jahr Berufserfahrung mitbringt, wusste sie erstaunlich viel von dem, worauf es in einer Branche wie der unseren ankommt. Sie war gut auf das Gespräch vorbereitet. Und der Junge von eben hat mir auch richtig gut gefallen. Dem traue ich mit seinem technischen Sachverstand einiges zu. Man merkt, dass er in zwei anderen Firmen Erfahrungen gesammelt hat. Er würde mit Vita, Verhalten und Knowhow gut in mein Team passen, denke ich. Vermutlich könnte er sogar in der Entwicklung tätig werden, denn pfiffig ist er zweifellos.“

Beidem kann Christoph Aumann bedenkenlos zustimmen. Die Einschätzung seines Abteilungsleiters aus der Endfertigung stimmt mit seiner eigenen ziemlich gut überein. Mit dem Ergebnis der Gespräche zufrieden, entlässt er seinen erfahrenen Kollegen und seine Personalchefin aus seinem Büro und öffnet das Fenster hinter sich, um die verbrauchte Luft gegen unverbrauchte auszutauschen. Es ist allerdings weniger die frische Luft, die er benötigt. Die Ablenkung, die ihm der Ausblick ins Freie bietet, ist mindestens genauso wichtig. Das Bürogebäude steht am Kanal, der einige Kilometer weiter südlich vom Fluss abzweigt und quer durch das langgestreckte Industriegebiet bis zum innerstädtischen Hafen führt, wo tagtäglich Stück- und Schüttgutfrachter be- und entladen werden. Die meisten Maschinen, die hier im Werk gebaut wurden, haben über diesen Wasserweg ihren weiten Weg in die Welt angetreten.

Ablenkung…

Wer ist Timo Berger?

Diese Ähnlichkeit kann zufällig sein. Kann.

Kann auch nicht…

Er ist vor drei Wochen Vierundzwanzig geworden. Die Zeitspanne würde stimmen.

Und sein Nachname…?

Hieß Marlene so?

Hm.

Haben wir jemals über ihren Familiennamen gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern…

Annie wird austicken, wenn ich ihr erzähle, dass er möglicherweise…

Nein, das kann ich ihr nicht erzählen, solange ich keine Klarheit habe. Sie würde es nicht verstehen. Ich verstehe ja selbst noch nicht alles, was damals passiert ist.

Damals…

Nachdenklich reibt er sich über die zweite Rippe unterhalb seines Herzens.

Fünfundzwanzig Jahre ist das her…

„Hey, herzlichen Glückwunsch!“, ertönt Marlenes Stimme in seinem Kopf. „Du hast es geschafft!“

„Ja, endlich!“, jubelt er und drückt sie an sich. „Und deswegen gehen wir jetzt feiern!“

Sie zieht ihren Kopf zurück und blickt ihn fragend an. „Gehen?“

„Ja, oder wir fahren mit der Bahn in die Stadt. Irgendein Restaurant wird wohl einen Tisch für zwei Personen frei haben.“

„Ich würde lieber zu zweit und nur mit dir feiern, hier oder von mir aus unten am Fluss im Mondschein. Die Stadt mit ihrem Lärm brauche ich heute nicht mehr…“, bittet sie nicht ohne Hintergedanken.

Christoph Aumann schmunzelt und gibt ihr einen Kuss auf ihre Stirn. „Okay, du Süße. Überredet. Lass uns fix in den Supermarkt fahren und Wegzehrung holen. Ich habe nämlich nix mehr im Haus. Und danach gehen wir zum Fluss runter.“

„Supi!“, lacht sie, froh, ihn von der City abgebracht zu haben. „Picknick am Fluss ist sowieso billiger und viel romantischer.“ Sie zieht ihn in den Flur, wo sie in ihre Sandalen schlüpft, und wartet in der offenen Wohnungstür auf ihn, bis er eine dünne Decke und sein Portemonnaie in seinen Einkaufsrucksack gesteckt und diesen locker über seine linke Schulter geworfen hat. Dann hüpft sie vor ihm wie ein junges Reh beschwingt die Stufen hinab und hängt sich in seinen Arm ein, sobald sie im Freien sind. „Und? Hast du dich gleich bei den fünf Firmen beworben, die du dir ausgesucht hattest?“, erkundigt sie sich auf dem Weg durch den Innenhof.

„Bei allen!“, bejaht er lächelnd. Ihre Ausgelassenheit macht ihn froh, ihre Neugier glücklich, denn sie interessiert sich für sein Leben. Jeden Tag, den sie bei ihm ist, spiegelt sie ihm, dass sie ihn liebt und dass das, was er tut, ihr nicht egal ist, dass sie mit ihm fühlt - sich mit ihm ärgert, wenn ihm etwas schief gegangen ist, und sich mit ihm freut, wenn er einen Erfolg für sich verbuchen kann, so wie heute seinen Lehrabschluss zum Mechatroniker.

Er lenkt seine und ihre Schritte durch die schmale Häuserlücke hindurch, biegt dahinter rechts ab und zwei Querstraßen weiter erneut rechts. Der Supermarkt kommt in Sicht und sie stürzen sich ins Getümmel. Der Feierabendeinkauf hat eingesetzt und sie müssen sich an der Kasse einige Minuten gedulden. Als die vergangen sind, schlendern sie weiter zum Park und durchqueren diesen in südlicher Richtung, wo er direkt bis an den Fluss heranreicht. Ein schmaler Grünstreifen, der durch die Stadtgärtnerei freigehalten wird, verhindert, dass die Kronen der Bäume über die Ufer hängen. Stattdessen beschatten sie das Grün und laden zum Verweilen ein. Daher ist dieses Stück Ufer ein beliebter Treffpunkt für Verliebte – und darauf hatte Marlene spekuliert.

Sie nimmt ihm seinen Rucksack ab, zieht die Decke heraus und breitet sie unter dem weit ausladenden Blätterdach einer Buche aus, das erst bei Sonnenuntergang keinen Schatten mehr auf diesen Flecken werfen wird – ideal für einen romantischen Abend zu zweit. Er hilft ihr beim Glattziehen der Decke, stellt die beiden Wassergläser aus seinem Küchenschrank und die Flasche Sekt, die sie im Supermarkt erstanden hatten, ins Gras und setzt sich neben sie. „Schönes Plätzchen“, murmelt er, sich umschauend. „Hier war ich noch nie…“

„Nein?“

„Nein.“

„Du wohnst doch schon drei Jahre hier…“

„Ja. Bloß hatte ich unter der Woche keine Zeit, mich abends irgendwo ins Grüne zu setzen – und am Wochenende bin ich, bevor wir uns begegnet sind, meistens zu meinen Eltern gefahren.“

„Okay…“ Sie stützt sich mit ihren Armen hinter ihrem Rücken ab und blickt ihn von der Seite her an. „Wenn es dir gefällt, freue ich mich. Ich habe früher gern hier gesessen. Meine Eltern besaßen nicht weit von hier einen Schrebergarten.“ Sie deutet an seiner Brust vorbei den Fluss abwärts, wo eine ganze Reihe Nobelhäuser zu sehen ist, deren Veranden aufs Wasser ausgerichtet sind. „Die Stadt löste eines Tages die Pachten auf und alle Gärten wurden platt gemacht. Heutzutage stehen da diese Prunkhütten…“ Ihre Stimme ist bei jedem Wort trauriger geworden und ihre Miene hat sich parallel dazu verdüstert.

„Schade.“, nimmt er Anteil und legt seinen Arm um ihre Schulter. „Wie alt warst du da?“

„Elf.“ Sie schnieft leise. „Ich habe hier von Klein auf Enten und Schwäne gefüttert. Nachdem der Garten weg war, waren wir nie wieder hier – bis heute nicht.“

„Du bist heute das erste Mal wieder hier?“, staunt er, obwohl sie genau das eben aussprach.

Sie nickt stumm.

Christoph Aumann lässt seinen Blick über den Fluss schweifen. „Muss schön gewesen sein.“

„Ist es nach wie vor“, bejaht sie, sichtlich bedrückt. „Leider ohne Enten und Schwäne. Die sind komplett verschwunden, zumindest hier am Fluss. Entweder sind sie in den Tierpark umgezogen oder weggeflogen.“

Ihre Niedergeschlagenheit kann er nachvollziehen, denn so weit sein Auge reicht, kann er keinen einzigen Wasservogel entdecken.

Ehe er etwas dazu sagen kann, reißt sie sich selbst aus dem Tief, in das sie abgesackt war. „Das soll nicht unser Thema sein“, sagt sie betont fröhlich, um ihre eigene Laune aufzubessern. „Wir haben was zu feiern: Deinen Facharbeiterbrief!“

„Ja!“, stimmt er ihr zu und greift nach dem Sekt. Mit einem gehörigen Plopp lässt er den Korken nahezu senkrecht in die Höhe schnellen, sodass er knapp neben seinem rechten Bein ins Gras plumpst, schenkt beide Gläser, die sie ihm entgegenhält, halbvoll und steckt den Korken stramm in den Flaschenhals zurück.

Sie prostet ihm zu, nippt wie er an dem süffigen Getränk und gibt ihm anschließend einen Kuss. „Herzlichen Glückwunsch, Chris, und viel Glück bei der Jobsuche. Ich hoffe, dass eine der Firmen einen so schlauen Menschen wie dich braucht.“

„Schlau? Ich? Ich bin bestenfalls durchschnittlich, Marlene.“

„Aha!“, äfft sie. „Und mit welchem überdurchschnittlichen Durchschnitt hast du abgeschlossen?“

„Du gibst nicht auf, oder?“, kichert er.

„Niemals!“, behauptet sie lachend, verstummt jedoch rasch, ihren Kopf dabei von ihm abwendend. In ihrer jüngsten Vergangenheit gab es sehr wohl den einen oder anderen Zeitpunkt, in dem sie, wäre sie nicht mit ihm liiert, am liebsten in den Fluss gesprungen wäre. Das ist jetzt irrelevant. Bei ihm kann sie stark tun – vor allem heute Abend, an dem es nicht um sie geht. Es ist sein Abend. Sie holt das Lächeln in ihre Miene zurück, stößt erneut mit ihrem Glas an seines und küsst ihn ein weiteres Mal, bevor sie einen Schluck Sekt trinkt.

Ein langgezogener, tiefer Hupton lässt beide zusammenzucken. Hinter den Büschen, die den grünen Uferstreifen flussaufwärts begrenzen, schiebt sich der Bug eines Schüttgutfrachters ins Blickfeld. Der Kapitän fand es offenbar lustig, den Lauten zu machen, denn ein triftiger Grund für sein Hupen ist für die zwei Erschrockenen nirgendwo erkennbar.

„Musste das sein?!“, ruft Christoph Aumann und blickt zweifelnd zu dem Kahn hinüber.

„Ich habe mich auch erschreckt“, bekennt sie und flachst: „Da bleibt einem ja der Herzschrittmacher stehen!“ Sie nippt abermals an ihrem Sekt. „Und bei welcher deiner fünf Bewerbungen rechnest du dir die größten Chancen aus?“, schaltet sie von Schalk auf Interesse zurück.

Er runzelt seine Stirn, wägt ein paar Sekunden lang die Aussagen in den Anzeigen der betreffenden Unternehmen gegeneinander ab und antwortet bewusst im Konjunktiv: „Ich denke, dass ich bei zwei Firmen gute Aussichten haben könnte. Sie fangen gerade an, Roboter zu bauen, die stumpfsinnige und gesundheitsschädigende Arbeiten übernehmen. Bei denen könnte mir mein Computerkurs zugutekommen, den ich im zweiten Lehrjahr zusätzlich besucht habe.“

„Ja, schön wär’s“, pflichtet sie ihm bei. „Sind das die beiden Firmen, die hier in der Nähe sind?“

„Leider nicht“, bedauert er und wirft ihr einen vorsichtig-prüfenden Blick zu.

Den hatte sie erwartet. „Das macht nichts“, wiegelt sie kopfschüttelnd ab und spitzt ihre Lippen, um seinen nächsten Kuss zu empfangen. „Ich würde mit dir überall hingehen.“

„Ich auch“, bestätigt er ihr froh und trinkt einen Schluck, zieht sie an sich heran und legt seinen Arm um sie. Der Sonnenuntergang kann beginnen…

Am nächsten Morgen schreckt ihn der Lärm quietschender Reifen auf der Straße, die unter dem Fenster seiner Wohnung vorbeiführt, aus dem Schlaf. Nachdem das Quietschen verstummt ist, tastet er um sich. Seine suchende Hand erspürt dabei deutlich Körperwärme, die die Matratze neben ihm über Nacht aufgenommen hat. Er reibt sich den Schlaf aus seinen Augen, schaut zur Seite und stellt fest, dass Marlene nicht mehr neben ihm liegt. Angespannt lauscht er auf die Geräuschkulisse, die zusammen mit dem Gestank verbrannten Gummis durch das offene Fenster hereindringt. Es ist wieder nahezu still draußen. Der Verkehr auf der Straße hält sich am Samstagmorgen in Grenzen. Nur wenige Autos fahren hin und her, denn die meisten Mieter der benachbarten Wohnblöcke gehen entweder zu Fuß zum Bäcker um die Ecke oder sie fahren mit dem Fahrrad, um eine der anderen Bäckereien oder Supermärkte in erreichbarer Entfernung aufzusuchen.

Warum da eben jemand mit radierenden Reifen losfahren musste, ist ihm ein Rätsel. Er grübelt nicht lange darüber nach, erhebt sich und schlurft ins Badezimmer, wo er sich sein Gesicht kalt abwäscht, um endgültig munter zu werden. Als er in den Spiegel schaut, muss er schmunzeln. „Bin Brötchen holen“, hat jemand mit Lippenstift auf die Scheibe geschrieben und ein Herzchen darunter gemalt.

Diese Handschrift kennt er…

„Ach, Süße“, schnauft er. „Ich liebe dich auch.“ Nun ist ihm klar, warum ihre Seite des Betts leer war. Gern hätte er vor dem Aufstehen noch ein Weilchen mit ihr gekuschelt, doch das ist in diesem Augenblick bedeutungslos geworden. Gleich, wenn sie zur Tür hereinkommt, wird er sie in seine Arme nehmen, sie küssen und gemütlich mit ihr frühstücken können. Es ist Wochenende…

Eine Viertelstunde später, er hat sich inzwischen angekleidet und den Küchentisch für das bevorstehende Frühstück gedeckt, blickt er zur Uhr. Jetzt müsste es jede Sekunde klingeln.

Tut es aber nicht.

Weitere fünfzehn Minuten sind vergangen, als er, an die Arbeitsplatte gelehnt, noch immer vor unbenutztem Geschirr steht. Der Kaffee auf der Warmhalteplatte kocht beinahe.

Wo bleibt sie denn?

Die nahen Kirchenglocken schlagen neunmal. Unruhe ergreift ihn. Er schaltet die Kaffeemaschine aus, füllt das dampfende Gebräu in eine Thermoskanne, schlüpft in seine Sandalen und verlässt das Haus. Die Bäckerei ist nicht weit.

Mit zügigem Schritt langt er nach zwei Minuten dort an und blickt sich im und vor dem Laden um. Keine Marlene. Er kramt das Foto von ihr, dass er stets in seinem Portemonnaie mit sich trägt, hervor und fragt die Verkäuferin, ob sie die Frau auf dem Bild heute Morgen gesehen hätte.

Die verneint.

„Sicher?“

„Ja, sicher. Ich kenne alle unsere Kunden. Ein neues Gesicht wäre mir aufgefallen“, versichert sie ihm freundlich.

„Okay, das verstehe ich“, gibt Christoph Aumann zu, steckt das Foto in seine Gesäßtasche und bedankt sich. Enttäuscht verlässt er das Geschäft und denkt, mitten auf dem Fußweg stehend, angestrengt nach, in welche Richtung Marlene gegangen sein könnte, und warum. Die letzte Frage kann er sich nicht auf Anhieb beantworten, die erste sehr wohl. Es gibt drei weitere Bäckereien in fußläufiger Entfernung.

Vielleicht hat sie hier nicht das gefunden, was sie kaufen wollte, und deshalb eine der anderen aufgesucht?

Um das herauszufinden, wird er wohl oder übel eine Bäckerei nach der anderen abklappern müssen. Gedacht, getan. Nach einer halben Stunde ist er ernüchtert. Keine Spur von Marlene.

Wo bist du?

Niedergeschlagen kehrt er in seine Wohnung zurück. Auf dem Weg durchs Treppenhaus kontrolliert er seinen Briefkasten, um nachzusehen, ob vielleicht eine Nachricht von ihr darin liegen könnte. Falsch gedacht. Der Kasten ist so leer wie die Matratze heute Morgen und sein knurrender Magen jetzt. In seiner Wohnung angekommen, öffnet er das Stubenfenster, das zum Innenhof zeigt, um frische Luft ins Zimmer zu lassen und den Gummigestank der quietschenden Reifen, der bis in die vierte Etage aufgestiegen war, zu vertreiben.

Wo bist du, Marlene? Hast du dich verlaufen?

Sein Blick fällt auf das Telefon an der Wand. Die Kontrolllampe des integrierten Anrufbeantworters leuchtet matt und ruhig vor sich hin. Angerufen hat sie während seiner Abwesenheit jedenfalls nicht.

Ist ihr unterwegs etwas passiert? Ein Unfall vielleicht?

Er lässt die Wartezeit zwischen Frühstückstisch eindecken, Haus verlassen und Bäckereien abklappern vor seinem inneren Ohr Revue passieren. Wenn ein Unfall mit Personenschaden passiert wäre, hätte er das Signal des Rettungswagens gehört, denn das schallt üblicherweise durch die ganze Siedlung und darüber hinaus. An ein solches Geräusch kann er sich jedoch nicht erinnern. Das Grummeln in seinem Bauch wird stärker. Aus der Unruhe in ihm wird Sorge.

Eine Stunde später schlägt diese in Ernüchterung um und gleich darauf in Enttäuschung.

Marlene ist weg.

Weg!

Einfach so.

Und was wäre, grübelt er weiter, wenn der gestrige Abend ein stillschweigender Abschied aus ihrer Sicht gewesen wäre und sie es mir nicht ins Gesicht sagen wollte?

Aber warum sollte sie das tun? Und wozu dann der Lippenstift auf dem Spiegel?

Er geht ins Badezimmer hinüber und liest sich den roten Schriftzug ein zweites Mal durch.

Nein, das sieht nicht danach aus – und das würde sie auch nicht tun…

Oder doch?

Sein Blick verschleiert sich.

Marlene…

Da ihm nichts mehr einfällt, was er tun könnte, setzt er sich an den Tisch, stützt seinen Kopf in seine Hände und lässt die Tränen laufen. Sie tropfen auf die helle Tischplatte.

Nach einer Stunde, die Feuchtigkeit ist längst getrocknet, rafft er sich auf und verlässt die Wohnung. Die schwache Hoffnung, sie könnte sich an einem jener Orte aufhalten, die er in den vergangenen Wochen gemeinsam mit ihr aufsuchte, treibt ihn aus der Wohnung. Ziellos schlendert er über den Innenhof, auf die Straße hinaus, an der Pizzeria vorbei, die um diese Uhrzeit ebenso geschlossen ist wie das Eiscafé, in dem sie beide mehrfach gewesen waren, und erneut bei allen Bäckereien. Ergebnislos. Einen Herzschlag lang überlegt er, ob es sich lohnen würde, sie in der City zu suchen, verwirft die Idee jedoch schnell, denn dort wäre die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden, um ein Vielfaches geringer als hier in der Siedlung am Fluss. Niedergeschlagen setzt er seinen Rundkurs fort, der ihn am Ende in den Park führt und durch diesen hindurch zum Flussufer. Er späht durch die letzten Bäume zu dem Flecken niedergedrückten Grases, wo er gestern Abend mit ihr den Sonnenuntergang beobachtete. Zögernd nähert er sich dem schmalen Grünstreifen. Zwei Schritte, bevor er den Weg, der ihn von der Wiese trennt, erreicht, trifft ihn ein Schlag im Nacken. Er fällt auf den harten Split und verliert das Bewusstsein.

Als es vor seinen Augen wieder hell wird, sind das Erste, was er wahrnimmt, die verschwommenen Gesichter seiner Eltern. Sie bleiben noch eine Weile verschwommen und die Stimmen aus den sich darin bewegenden Mündern treffen seine Ohren wie durch eine Schicht Watte. Er hört deren vertrauten Klang, kann die gesprochenen Worte jedoch nicht verstehen. Die Nachwirkungen der Narkose, aus der er soeben erwacht, lassen nur langsam nach. Erst zwei Stunden später – die meiste Zeit davon hat er verschlafen – ist er klaren Kopfes. Die vielen Fragen seiner besorgten Eltern kann er trotzdem nicht beantworten.

„Wer hat dir das angetan?“, will seine Mutter wissen.

Christoph Aumann zuckt mit seinen Schultern und verzieht umgehend sein Gesicht, denn seine komplette linke Brustseite schmerzt ihn dabei. „Was ist denn überhaupt passiert?“, stellt er die Gegenfrage.

Seine Eltern schauen sich besorgt an.

„Der Arzt sagte, du wärst zusammengeschlagen worden und man hätte dir eine gebrochene Rippe operieren müssen, da sie sonst schief zusammengewachsen wäre“, erklärt ihm sein Vater.

„Zusammengeschlagen?“

„Deinen Verletzungen nach zu urteilen, ja. Zwei spielende Jungs haben dich unten am Fluss gefunden.“

Christoph Aumann schüttelt seinen Kopf. „Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich durch den Park spaziert bin und zum Flussufer gehen wollte…“, modifiziert er das Geschehen so, dass seine Eltern sich nicht noch mehr Sorgen machen müssen, als er sie ihnen bereits von ihren Mienen ablesen kann. Dass Marlene ihn verlassen hat, verschweigt er aus diesem Grunde ebenfalls, denn von seiner Liaison mit ihr wussten seine Eltern bislang nichts.

„Du solltest Anzeige erstatten – gegen Unbekannt“, rät sein Vater.

„Meinst du?“

„Willst du den oder die Täter etwa davonkommen lassen?“

Unschlüssig schwankt er zwischen Ja und Nein. Eigentlich will er keine Anzeige erstatten, denn momentan erscheint ihm das Aufklären der Umstände um Marlenes Verschwinden als viel wichtiger. Andererseits... Seine Gedanken kommen abrupt ins Stocken.

Oder hat etwa beides miteinander zu tun?

War jemand vielleicht eifersüchtig auf mich und hat mich deshalb zusammengeschlagen?

Wenn ja, was hat er mit Marlene gemacht?

„Nein, will ich nicht“, entscheidet er. „Ich erstatte Anzeige, sobald ich hier raus bin.“

Sein Vater nickt ihm aufmunternd zu. „Ich komme mit zur Polizei, wenn du möchtest.“

„Das wäre gut.“

***

Der Portalkran, dessen Laufschienen sich an beiden Seitenwänden der Halle über deren gesamte Länge ziehen, lässt seine tonnenschwere Last langsam absinken. Timo hat sich außerhalb des Absenkbereichs so positioniert, dass er genau beobachten kann, wann sie den Punkt erreicht, an dem er dem Kranführer, der diese Seite nicht einsehen kann, das Zeichen geben muss, ob die Lage der schwebenden Baugruppe gegenüber der am Boden verankerten Grundeinheit, in die sie eingepasst werden soll, stimmt. Als der Abstand zwischen beiden Blöcken eine Unterarmlänge beträgt, hebt er beide Hände vor seinem Körper an und hält sie auf Handbreite Abstand zueinander. Der Kranführer verlangsamt daraufhin das Tempo, und als Timo klatscht, stoppt er.

Manfred Leistner, der den Vorgang wie so oft in letzter Zeit aus dem Hintergrund beobachtete, kommt hinzu und prüft gemeinsam mit seinem Schützling die Lage.

„Sieht meines Erachtens gut aus“, vernimmt er Timos bedachte Einschätzung.

„Ja, sehe ich genauso“, bestätigt er dem Neuling in seinem Team seine Wahrnehmung. „Gut gemacht, Timo. Kannst dem Kranführer zeigen, dass er weiter absenken kann. Achte auf die Markierungen“, bittet er zuletzt und Timo, stolz wegen des Lobs, nickt.

Dann hält er erneut beide Hände, dieses Mal zusammengelegt, vor sich, nimmt Blickkontakt mit dem Kranführer auf, der ihm Bereitschaft signalisiert, und zieht daraufhin seine Hände auf den Abstand zwischen Basiseinheit und Baugruppe auseinander. Die Baugruppe beginnt zu sinken, diesmal mit viel geringerer Geschwindigkeit als zuvor. Sanft schieben sich die Führungsbolzen in die dafür vorgesehenen Aufnahmen und die beiden hauchdünnen, senkrechten roten Linien, die auf der Hydraulikeinheit und der Baugruppe aufgezeichnet sind, nähern sich einander an – im gleichen Tempo, wie Timos Handflächen. Kurz, bevor sie eine gemeinsame Linie bilden, schlägt er seine Hände abermals zusammen. Die Abwärtsbewegung stoppt und Timo zeigt dem Kranführer einen erhobenen Daumen. Die Linie ist jetzt durchgehend. Er hatte das Stoppzeichen exakt zum richtigen Zeitpunkt gegeben. Die sogenannte Hochzeit, die jede Endmontage einleitet, ist perfekt gelaufen. Die Baugruppe hat sanft auf der Hydraulikeinheit aufgesetzt.

Der Mann in der Kanzel ist zufrieden und erwidert Timos Daumenzeichen. Der Junge hat es echt drauf, findet er. Mit ihm zu arbeiten, macht Spaß, weil er bei der Arbeit voll konzentriert ist, sich durch nichts ablenken lässt und präzise agiert, sodass es äußerst selten vorkommt, dass er als Kranführer noch einmal anheben oder die Lage nachkorrigieren muss – und das, obwohl Timo die Hochzeiten erst seit ein paar Tagen selbstständig steuert. Er sichert den Kran und nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche zu sich, während Timo und der Monteur, der den Vorgang von der durch den Kranführer einsehbaren Seite mitverfolgte, die schweren Sicherungsbolzen einschieben, anschließend beide Einheiten miteinander verschrauben und zuletzt die elektrische Kopplung herstellen. Lediglich die Radgruppen und der Steuercomputer fehlen noch, damit die selbstfahrende Plattform fertig ist und in den Probebetrieb gehen kann, bei dem sie in einer mit Hindernissen bestückten Halle zeigen muss, dass das Zusammenspiel zwischen Elektronik, Mechanik und Computer nicht nur funktioniert, sondern am Ende des Parcours perfekt eingestellt ist. Danach wird sie mit weiteren gleichartigen Plattformen zu einer größeren Einheit gekoppelt werden und den im täglichen Sprachgebrauch als Rallye bezeichneten Test im fußballfeldgroßen Freigelände antreten, wo sie sich auf den verschiedensten Untergründen und bei unterschiedlichen Neigungen im Verband bewähren muss.

Timo begleitet diese Testreihen seit seinem ersten Arbeitstag und ist immer wieder begeistert davon, wie präzise und filigran die schwere Technik, die hunderte Tonnen Gewicht bewegen kann, agiert. Auch heute folgt er der eben fertiggestellten Einheit auf ihrem Weg zur Endmontageplattform, auf welcher der Kran sie sanft absetzt. Er hilft dem zuständigen Monteur beim Anbringen der Radgruppen und steckt zuletzt den Steuercomputer in die dafür vorgesehene Aufnahmebox. Er startet ihn eigenhändig und gibt ihm auf dessen kleinem Display per Touch das Go. Ein während der Startsequenz gedämpfter, aber nichtsdestotrotz unüberhörbarer Warnton verkündet, dass die Plattform einsatzbereit ist. Timo tippt die Follow-Taste und aktiviert parallel per Fernbedienung den Öffnungsmechanismus des Hallentors. Nachdem er sich aus dem Sensorbereich der Plattform entfernt hat, streckt diese ihre Räder hydraulisch gesteuert bis zum Boden, hebt von der Plattform ab, setzt sich in Richtung Hallentor in Bewegung und folgt, sich langsam auf ihr Fahrniveau absenkend, einer doppelten, weißen Leitlinie zur Testhalle, die der Montagehalle direkt gegenüberliegt und von dieser durch einen betonierten Hof getrennt ist.

Das Tor der Testhalle öffnet sich automatisch, sobald die Plattform sich ihr bis auf zehn Meter genähert hat, zunächst jedoch nur so weit, dass diese nicht hindurchpassen, sondern dagegen stoßen würde. Die Plattform bemerkt über ihre wachsamen Umgebungssensoren das Problem, stoppt programmgemäß, hupt erneut, und schaltet ihre Warnblinkleuchten ein, die an allen Seiten und Ecken in vielfacher Ausführung angebracht sind.

Timo, der während des Huptons beide Hände an seine Ohren gelegt hatte, geht zum Display der Steuerung, quittiert die ersten beiden Testschritte – Init und Follow-Me – und den dritten – Hinderniserkennung mit Stopp - mit jeweils einem Erfüllt. Mit dem nächsten Knopfdruck öffnet er das Tor der Testhalle vollständig, sodass die Plattform weiterfahren könnte, was sie aus Sicherheitsgründen jedoch nicht selbsttätig tut. Er muss sie zuvor manuell aus dem Warnmodus reaktivieren und den Bereich ihrer Abstandssensoren verlassen. Kaum hat er sich weit genug entfernt, rollt die Einheit in die Halle, wo ein Testcomputer sie übernimmt und sie per Funk durch alle weiteren Testabläufe steuern wird, die mit dem sogenannten großen Tanz enden, bei dem sich mehrere Plattformen auf sich kreuzenden Bahnen begegnen und selbstständig aneinander vorbeimanövrieren müssen, ohne dass der Testcomputer steuernd eingreift.

Timo wird währenddessen eine kurze Pause einlegen und sich im Anschluss der Montage der Hydraulikeinheit der nächsten Plattform widmen. Obwohl das meiste davon ein Roboter erledigt, gibt es nach wie vor einige manuelle Arbeitsschritte, an denen ein Mensch beteiligt sein muss. Sind diese Arbeiten beendet, wird er zur letzten Plattform zurückkehren und die Rallye auf dem Freigelände überwachen. Dabei hat er vor allem die Aufgabe, bei Gefahr im Verzug den Notstopp auszulösen. In der Vergangenheit gab es zwei Fälle, wurde ihm berichtet, bei denen gekoppelte Einheiten infolge fehlerhafter Programmierung oder falsch gesteckter Verbindungen außer Kontrolle geraten waren und kurz davor waren, sich gegenseitig ernsthaft zu beschädigen.

Heute nimmt ihm vor dem finalen Durchlauf der Kopplungstests einer der Monteure den Überwachungsjob ab. Seine Schicht ist in einer Stunde beendet und eine weitere Hochzeit steht bis dahin nicht mehr an. Daher vertritt er Timo, der in die Geschäftsleitungsetage gerufen wurde.

Christoph Aumann, der vom Fenster seines Büros das Testfreigelände einsehen kann, hatte ihn ein paar Minuten lang bei seiner Arbeit beobachtet. Dabei waren ihm die Worte, die er gestern Vormittag mit Timos Abteilungsleiter in einer ruhigen Ecke der Cafeteria wechselte, durch seinen Kopf gegangen. „Das war ein guter Griff“, unterstützte der erfahrene Mann seine Entscheidung, Timo einzustellen. „Der Junge ist Gold wert. Er ersetzt Gunter in der Montage und beim Testen inzwischen vollwertig – und das will was heißen, wie du weißt, vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass er erst sechs Monate hier arbeitet.“

Für Christoph Aumann besaßen Manfred Leistners Worte viel Gewicht. Gunter Scholz, der im letzten Sommer seinen Ruhestand antrat, fehlte seit seinem Weggang an allen Ecken und Enden - in der Montagehalle, im Testgelände, in der Entwurfsabteilung, in der Produktionssteuerung, im Team überhaupt. Er war einer derjenigen gewesen, die nicht nur viel Fachwissen besaßen und dieses gern mit anderen teilte, sondern allein durch seine natürliche Autorität einen Zusammenhalt unter den Beschäftigten erzeugen konnte und es auch tat – ohne große Worte. Falls doch welche benutzt werden mussten, waren es treffsichere, wohlgesetzte, die er zudem stets in ruhigem Tonfall äußerte. Laut hatte ihn in all den Jahren niemand erlebt. Mitarbeiter seines Schlages gibt es nicht viele am Standort. Manfred Leistner ist einer davon. Wenn der ihm spiegelte, dass Timo sich in seiner in Kürze ablaufenden Probezeit so gut eingearbeitet hätte, dass er Gunter abschnittsweise ersetzen würde, konnte er ihm das ohne Nachfrage glauben. Ein bisschen Stolz keimte in ihm auf, als er diese Worte hörte, obwohl er sich nach wie vor nicht sicher war, ob…

Und was, wenn?

Hm…

Das Klopfen an der offenen Tür seines Büros lenkt ihn von seinen Gedanken ab. Er dreht sich um und geht seinem jungen Mitarbeiter entgegen. „Hallo, Timo“, begrüßt er ihn freundlich und deutet auf einen der Stühle am Besprechungstisch. „Nimm Platz.“

Timo dankt und setzt sich hin. „Kann ich dir einen Kaffee anbieten?“, wird er gefragt und verneint: „Ich bin kein Kaffeetrinker.“

„Wasser?“

„Wasser, ja. Danke.“

Christoph Aumann entnimmt dem in sein Büromöbel eingebauten Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser und der Vitrine nebenan ein Glas und stellt beides vor Timo auf den Tisch.

Der bedankt sich dafür und gießt sich sein Glas halbvoll.

Währenddessen setzt sich Christoph Aumann ihm gegenüber und legt einen Stapel Papier vor sich ab. Er lässt Timo nicht lange im Unklaren darüber, was der Anlass dieses Treffens ist. „Wie du selbst weißt, Timo, läuft deine Probezeit in ein paar Tagen ab“, beginnt er und Timo nickt bestätigend. Dieser Termin bereitet ihm seit wenigstens zwei Wochen sporadisch Herzklopfen – so, wie jetzt. „Ich habe Feedback zu dir von Manfred Leistner und zwei weiteren Kollegen aus deinem Team bekommen, und ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass alle drei sich mir gegenüber derart geäußert haben, dass sie weiterhin sehr gern mit dir zusammenarbeiten wollen“, vernimmt er Christoph Aumanns Lob. Sein Mienenspiel, das bei der Erwähnung des Feedbacks Anspannung ausdrückte, hellt sich auf und ein sichtliches Aufatmen hebt und senkt seinen Brustkorb.

„Ja“, setzt der Geschäftsführer, als er es bemerkt, hinzu. „Darauf kannst du stolz sein, Timo. Offenbar hast du den richtigen Beruf gewählt, denn jeder der drei hatte den Eindruck, dass du Spaß bei der Arbeit hast, umsichtig handelst, vorausschauend agierst und sie sich deswegen auf dich verlassen können. Du bringst gute Ideen ein und bist freundlich gegen jedermann. Solche Mitarbeiter brauchen wir hier bei uns.“

Timos Gesichtshaut verfärbt sich rötlich. So viel Lob muss verarbeitet werden. „Ich kenne es nicht anders“, wehrt er bescheiden ab.

„Umso besser“, freut sich Christoph Aumann. „Dann werden dir die Dinge, die du in Zukunft noch bei uns lernen wirst, nicht schwerfallen und hoffentlich ebenso viel Spaß machen wie bisher. Schön.“

„Darauf freue ich mich“, bekennt Timo und seine Gesichtsfarbe normalisiert sich.

„Wir uns ebenso“, entgegnet der Geschäftsführer. „Deswegen habe ich dir deinen unbefristeten Arbeitsvertrag mitgebracht, den du dir bitte übers kommende Wochenende in Ruhe durchliest und, wenn du damit einverstanden bist, am Montag unterschrieben bei Frau Weller abgibst. Falls du im Vertrag Punkte finden solltest, die du vor einer Unterschrift mit mir oder Frau Ortner besprechen möchtest, lass es uns gern wissen. Wir finden eine Lösung, die allen Seiten gerecht wird.“

„Mach ich. Danke“, freut sich Timo und nimmt das gebündelte Blattwerk entgegen, befeuchtet seine vor Aufregung trockenen Lippen und Stimmbänder mit einem Schluck Mineralwasser und blickt sein Gegenüber an, in Erwartung dessen, dass dieser noch mehr mit ihm besprechen möchte.

„Jetzt habe ich dir erzählt, wie wir deine Probezeit empfunden haben. Wie war sie denn für dich?“, hört er die erwartete Frage.

„Besser, als ich dachte“, bekennt Timo frank und frei. Sein Selbstbewusstsein, dass sich bei der Einladung nicht sicher war, ob es den Kopf einziehen sollte oder nicht, streckt seine Brust heraus und ergänzt: „Ich hatte sie mir nicht so bunt und so lehrreich vorgestellt - und mit nicht so viel Verantwortung.“

Christoph Aumann zieht beide Augenbrauen nach oben und blickt ihn prüfend an. „Nicht so viel Verantwortung?“

„Ja“, bekräftigt Timo mutig. „Die Kollegen verlassen sich heftig auf mich und manchmal habe ich den Eindruck, dass das leichtsinnig sein könnte, denn bei den Plattformen geht es um Millionenwerte. Wenn ich da einen Fehler mache…“

Christoph Aumann nickt verstehend. „Und was wäre, wenn einer deiner Kollegen einen Fehler machen würde?“, gibt er zu bedenken.

„Derselbe Schaden“, erkennt Timo. „Aber…“ Er verstummt, weil ihm bewusstwird, dass sein aber irrelevant ist.

„Genau“, bestätigt ihm sein Gegenüber prompt. „Wie ich zu Beginn sagte: Die Kollegen haben das Vertrauen in dich, weil sie der Meinung sind, dass du die Aufgaben, die sie dir übertragen, bewältigen kannst. Dir wird mit Sicherheit aufgefallen sein, dass zumindest am Anfang jemand in Reserve stand und dich beobachtete – Manfred zum Beispiel.“

Das war Timo in der Tat nicht entgangen, allerdings bewertete er es als übliches Vorgehen. „Ja, habe ich.“

„Das wird sicher noch ein Weilchen so bleiben, Timo, doch irgendwann wirst du allein arbeiten – eben, weil die Kollegen sich auf dich verlassen können. Leichtsinn ist das nicht.“

„Okay.“, atmet Timo auf. „Dann bin ich beruhigt.“

„Das darfst du. Arbeite so weiter, wie du es bislang getan hast, und achte nicht darauf, dass dir jemand dabei zuschaut“, schlägt ihm Christoph Aumann vor und legt eine Pause ein, bevor er sich bei Timo erkundigt: „Gibt es sonst etwas, was du mit mir besprechen möchtest?“

Timo denkt einen Moment lang nach und schüttelt seinen Kopf. „Aus meiner Sicht nichts.“

„Gut.“, freut sich der Geschäftsführer. „Melde dich, wie besprochen, wenn dir etwas einfällt.“

„Ja, mach ich“, erneuert Timo sein Versprechen.

„Sehr schön, Timo. Aus meiner Sicht sind wir am Ende dieses Treffens?“

„Ja, aus meiner Sicht auch.“

„Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend und ein schönes Wochenende und freue mich auf einen von dir unterschriebenen Vertrag am Montag.“

Timo, mehr als glücklich über den angenehmen Verlauf dieses Gesprächs, erhebt sich und verabschiedet sich von seinem Vorgesetzten mit einem „Danke, das wünsche ich Ihnen ebenso.“ Leichten Schrittes verlässt er anschließend dessen Büro.

***

Der Trucker dreht den Lautstärkeknopf seines Autoradios nach rechts. Dave Dudley muss man laut hören, erst recht, wenn man in die anbrechende Nacht hineinfährt. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn und summt die Melodie, die er auswendig kennt, inbrünstig mit. Sein Lieblingscountrysänger stimmt gerade den letzten Refrain an, als er in der Ferne einen winkenden Daumen am Straßenrand bemerkt. Er zögert nicht lange, blickt in beide Rückspiegel und bremst und blinkt gleichzeitig. Als er dem Handzeichen näherkommt, erkennt er, dass es von einer jungen Frau ausgeht, die, seinem Ermessen nach, ziemlich mitgenommen aussieht und deren Haare wirr um ihren Kopf liegen. Einen Lidschlag lang ist er deswegen versucht, Gas zu geben und weiterzufahren. Letztendlich entscheidet er sich fürs Anhalten – sicherheitshalber ein paar Meter vor ihr. Während sie auf seinen Truck zukommt, mustert er aufmerksam den Feldweg, in dessen Einmündung sie stand, die abgeernteten Äcker beidseits des Weges und der Straße, und blickt zusätzlich in beide Rückspiegel. Es soll ja bereits Überfälle auf LKWs gegeben haben…

Als ihm alles unverdächtig erscheint, lehnt er sich zur Seite und öffnet die Beifahrertür. „Wohin soll’s gehen?“

„Egal“, bekommt er zur Antwort. „Hauptsache weit weg.“

Zum zweiten Mal durchzuckt ihn der Impuls, ohne sie weiterzufahren, doch ist er erneut nicht stark genug, um in die Tat umgesetzt zu werden. Der Trucker winkt die Frau stattdessen ins Innere und beschleunigt sein Fahrzeug, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist. „Anschnallen, bitte“, fordert er, ehe er sich darauf konzentriert, die vierzig Tonnen hinter seinem Rücken in Schwung zu bringen. Während der Motor unter ihm ganze Arbeit leistet, geht ihm ihre knappe Antwort nicht aus dem Kopf. „Hauptsache weit weg“ kann vieles bedeuten – seiner Vermutung nach höchstwahrscheinlich nichts Gutes. Zehn Minuten später hat der Truck eine flache Hügelkette auf der kurvenreichen Landstraße passiert. Die Autobahn, die hinter den Hügeln liegt, kommt in Sichtweite. Als die breiten Reifen auf deren Asphalt dahinrollen, gibt er das Grübeln auf und erkundigt sich bei seinem Fahrgast: „Was ist passiert?“

Schweigen antwortet ihm und er blickt zur Seite. Die junge Frau tut so, als wäre sie eingeschlafen. Er schürzt seine Lippen.

So, so. Schauspielerin also.

Okay. Werden wir ja sehen…

Zwei Ausfahrten weiter wiederholt er seinen Seitenblick. Sie schläft noch immer, und diesmal sieht es echt aus. Ihr Kopf ist zur Seite gesunken und ihre Hände sind von ihrem Schoß gerutscht. Dadurch nimmt er die sichtbare Wölbung ihres Bauches wahr und mehrere, fast verheilte Hämatome auf der Innenseite ihres linken Unterarms. „Ach, du Scheiße!“, murmelt er vor sich hin. „Was hast du denn verbrochen, mein liebes Kind?“

…dass du verschwinden musstest, fügt er im Stillen hinzu.

Er bekommt keine Antwort, denn das „liebe Kind“ schläft in der Tat tief und fest.

Die lange Flucht durch die halbe Republik hat die werdende Mutter erschöpft und ermüdet. Der LKW, in dem sie jetzt sitzt, ist der dritte am heutigen Tag, der Wer-weiß-wievielte in den vergangenen Wochen. Der letzte war ein Viehtransporter gewesen. Er setzte sie an einem Feldweg ab, der zu einem Bauernhof führte, den er anfahren musste.

Während er sein schweres Gefährt sicher über die monotone Strecke lenkt, rätselt der Fahrer, wieso eine so hübsche junge Frau – und das ist sie trotz ihrer wirren Haare – mitten in der Nacht den Daumen in den Wind halten könnte, zumal sie offensichtlich schwanger ist. Ihm fallen einige ein, und wiederum ist kein guter dabei.