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Zu einer Wanderung durch Natur und Geschichte Juists lädt dieses Buch ein. Es führt den Leser zu Landschaften und Stätten der Insel, die Zeugnis vom wechselhaften Schicksal ablegen, welches die Friesen im Ringen mit dem Meer, aber auch inneren und äußeren politischen Mächten immer wieder erfahren haben. Zugleich berichtet es vom Vermächtnis zweier großer Pädagogen, für die Bildung ein Natur, Körper und Geist allumfassendes Gut war, nicht ein Mittel zur Aufrechterhaltung von Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit.
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Seitenzahl: 96
Veröffentlichungsjahr: 2020
Vorwort
Von der Inselbahn zum verlandenden Hafen
Der letzte Splitter von Burcana
Als Juist ein Teil Jakutiens war
Nur dem Kaiser untertan
Juist in der Zerreißprobe
Lernen von der Insel
Seehunde am Sandmeer
Leeges lebendiges Denkmal
Zeitraffer der Dünen
Lernen vom Wind
Neuland am Abgrund
Leben am Strand
Leben mit dem Salz
Danksagung
Literaturhinweise
Lang und schmal, nur wenige Kilometer vor unserer heimischen Nordseeküste, liegt Juist da. Gerade einmal 16 km2 groß, umfasst die Insel nichts desto trotz ein schillerndes Panorama der unterschiedlichsten Landschaften. Saftige grüne Salzwiesen mit unzähligen bunten Tupfern, Buschland mit weithin leuchtenden Blüten und Beeren, unter dem stetig steifen Wind sich duckende Wälder, ein von goldenem Schilf umrahmter See, ein sich dem gesamten Eiland anschmiegender Stand, der an den Inselenden in endlose Sandwüsten überzugehen scheint. Zudem darf sie sich zweier bemerkenswerter Begleiter rühmen, der Insel Memmert, welche fast ausschließlich den Vögeln gehört sowie der Kachelotplate, auf der die Seehunde während der Ebbe es sich bequem machen. Doch trotz aller Schönheit – hätte nicht meine schon lange zuvor vom Meer begeisterte Lebensgefährtin Martina mich mit an die Nordsee gebracht, hätte ich die Insel vielleicht niemals kennengelernt.
Natürlich haben wir im Laufe der Jahre auch die anderen ostfriesischen Eilande besucht, von denen einige ebenfalls kurz in diesem Buch Erwähnung finden. Sie alle haben, auch wenn das Wattenmeer ihre große gemeinsame Klammer bildet, jeweils ihr eigenes Gepräge. So finden sich zwar viele der im folgenden anhand von Juist geschilderten historischen und naturkundlichen Aspekte in ähnlicher Weise auch auf den anderen Inseln wieder. Dennoch hat jede ihre eigene Entwicklung durchlaufen und stellt für sich einen besonderen Lebensraum dar, welcher sich deutlich von seinem Nachbarn unterscheidet.
Für meine Partnerin und mich besteht kein Zweifel, dass Juist die größte Vielfalt unter den sieben bewohnten ostfriesischen Inseln darbietet. Es ist daher für mich auch kein Zufall, dass gerade dieses Eiland Heimat eines ganz besonderen, über Generationen sich erstreckenden Engagements für die Natur und zugleich Schauplatz eines ebenso bemerkenswerten pädagogischen Vermächtnisses geworden ist.
Zwar verfügt Juist über einen Flugplatz, doch in der Regel setzt der Anreisende mit der Fähre von Norddeich aus auf das Eiland über. Das Schiff nähert sich dabei seinem Ziel nicht direkt, sondern steuert zunächst auf den Nachbarn Norderney zu, wobei es gelegentlich schon fast mit den Pricken in Berührung kommt, welche die schmale Fahrrinne markieren. Passierbar ist diese Route durch das Wattenmeer nur zur Zeit der Flut, so dass sich zumeist nur eine Gelegenheit pro Tag zur Überfahrt bietet. Dadurch aber bleibt das Eiland auch während der Ferienzeit ruhig, denn nur wenn das Tidehochwasser auf die Morgen- und Abendstunden fällt, kommen auch Tagesausflügler. Während der Passage durch das Kalfamergat kann man einen ersten faszinierenden Blick auf Juist erheischen, denn seine Ostspitze mit den weiten, ebenfalls gerne von den Seehunden aufgesuchten Sandbänken kommt schier zum Greifen nahe.
Nach etwa anderthalb Stunden legt die Fähre im Hafen an, welcher noch recht jungen Datums ist. Er wurde erst 1981-1982 errichtet und entspricht keineswegs den ursprünglichen Bedingungen des Inselwatts. Denn die eigentliche Rinne biegt, nachdem man den Kalfamer hinter sich gelassen und schon eine ganze Weile die Südseite des Eilands entlanggefahren ist, keineswegs zum Hafen hin ab. In die Juister Balje einmündend, schreitet sie vielmehr geradeaus weiter, setzt unbeirrt ihren Weg parallel zur Insel fort. Geschickt schlüpft sie schließlich zwischen Memmert, der Kachelotplate und der Westspitze Juists, dem Billriff hindurch und stößt als Haaksgat endlich in die offene Nordsee vor.
Ohne ein natürliches Hafenbecken gestaltete sich die Ankunft der ersten Feriengäste, welche ab Mitte des 19.Jh. nach Juist kamen, alles andere als bequem, wie Nolte (1998) berichtet. Sie wurden auf Fischerschaluppen (kleinen Booten mit Mast und einem Segel) halbwegs in die Nähe des Ufers gebracht, wo sie auf tief im Wasser stehende Pferdekarren, die sogenannten Wattwagen umsteigen mussten. Um die steigende Anzahl von Besuchern bewältigen zu können, wurde 1871 die Dampfschiffsreederei Norden gegründet. Sie vereinigte sich 1909 mit der Neuen Dampfschiffsreederei Frisia zur bis heute den Fährbetrieb unterhaltenden Frisia-Norden.
Mit den neuen Dampfschiffen war zwar auch bei Flaute die Anreise zur Insel möglich, doch wurde das Anlanden noch schwieriger. Die Schiffe konnten wegen ihres größeren Tiefgangs nicht so nahe an das Ufer heranfahren wie die Segler, so dass die Reisenden zunächst auf kleine Boote gehen mussten, bevor sie von den Wattwagen in Empfang genommen werden konnten. Um dieses zusätzliche Ausbooten zu vermeiden, wurde 1896 eine 300 Meter lange hölzerne Landungsbrücke im Watt errichtet. Von dort aus gelangten die Gäste zunächst weiterhin mit den Pferdefuhrwerken an ihr Endziel.
Doch schon zwei Jahre später verband man, wie Nolte (1998) weiter schildert, den Anleger mit dem Inseldorf durch eine Schienenstrecke, wozu man hölzerne Gestelle in das Watt rammte. Die Juister Inselbahn war geboren, auch wenn die Wagen noch immer von Pferden statt einer Lokomotive gezogen wurden. Betrieben wurde sie wie die Schifffahrt von der Reederei Norden.
Nur wenige Monate nach der Eröffnung drohte der Bahn schon das Aus, im Herbst 1898 fiel die Gleistrasse einem Sturm zum Opfer. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde sie jedoch wieder aufgebaut, wobei die Insulaner eine äußerst moderne Entscheidung trafen. Anstatt auf Dampfbetrieb umzustellen, entschieden sie sich für Benzinloks mit 4-Takt Otto-Motor. Damit wurde Juist zu einem frühen Wegbereiter der Fahrzeugentwicklung, denn schließlich fiel das Ja zum Benzinantrieb nur wenige Jahre nach der Erfindung des Verbrennungsmotors. Die Lokomotiven der ersten Generation blieben bis in die 1930er Jahre im Einsatz, dann wurden sie allmählich von Dieselloks abgelöst.
Der grausame Nachkriegswinter 1946/47 setzte auch Juist schwer zu. Das Watt gefror, so dass die Insel vom Festland abgeschnitten wurde und von den Alliierten von der Luft aus mit dem zum Überleben Allernotwendigsten versorgt werden musste. Im März 1947 drücke ein Sturm die Eisschollen mit solcher Wucht gegen den Anleger und das Geleise, dass es zum zweiten Mal völlig zerstört wurde. Trotz des damaligen Mangels erfolgte bis 1949 der erneute Wiederaufbau.
Der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er und 1960er Jahre brachte eine nie zuvor erreichte Anzahl an Besuchern mit sich und verlangte so nach einer erheblichen Ausweitung des Fuhrparks. Für den Personenverkehr wurden nach und nach mehrere dieselbetriebene Triebwägen angeschafft, die Dieselloks schließlich nur noch für den Gütertransport eingesetzt. Juist kam dabei zugute, dass aufgrund der zunehmenden Dominanz des Straßenverkehr überall in Deutschland kleine Bahnstrecken stillgelegt wurden. So konnten die Triebwägen zu günstigeren Kosten aus nicht mehr gebrauchten Beständen erworben werden. Die Inselbahn gewann dadurch einen besonderen Charme, bekam man hier doch im täglichen Einsatz noch Bahnfahrzeuge zu sehen, welche ansonsten längst von der Bildfläche verschwunden waren.
Anfang der 1970er Jahre war der Strom an Urlaubern derart angestiegen, dass die Bahn zunehmend überlastet war. Zudem waren kaum noch zusätzliche Wägen für Schmalspurtrassen wie auf Juist verfügbar. Deshalb empfahl laut Nolte (1998) die Reederei Frisia-Norden den ortsansässigen Kommunalpolitikern, über Alternativen zu einer teuren Kompletterneuerung der Bahn nachzudenken. Angesichts hoher Kostenschätzungen von Gutachtern und der Errichtung neuer Deiche ab 1976 entschied 1979 der Gemeinderat mehrheitlich, die Küstenschutzmaßnahmen zugleich mit dem Bau eines neuen Hafens zu verbinden und so die Bahn aufzugeben.
Nicht alle Insulaner waren damit einverstanden. Sie gründeten 1980 einen „Verein zur Pflege und Erhaltung des Inselcharakters“, womit sie ihre Befürchtung zum Ausdruck brachten, dass mit einem neuen Hafen ein lauter Massentourismus mit Autoverkehr wie auf Borkum und Norderney einziehen könnte. Sie wiesen darauf hin, dass die Lebensdauer neuer Triebwägen angesichts der kurzen Trasse von nur 3 km viel höher zu veranschlagen sei als für einen normalen Bahnbetrieb auf dem Festland. Eine unter den Kurgästen durchgeführte Umfrage erbrachte ein überwältigendes Votum für die Beibehaltung der Inselbahn. Alle Versuche des Vereins, deren Ende doch noch abzuwenden – es fand sogar eine Demonstration in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover statt – blieben jedoch vergeblich. Nach der Fertigstellung des neuen Hafens stellte die Bahn ihren Betrieb ein. Der alte Anleger und die Gleise wurden abgebaut, der von der Natur angebotene Wasserweg damit ad acta gelegt.
Das Szenario einer motorisierten Ballermann-Insel traf zum Glück nicht ein. Dennoch gab es die künstlich vorgetriebene Fahrrinne keineswegs umsonst, wie z.B. der Wattenrat (2010) und Erdmann (2014) feststellten. Von Anfang an erwies sie sich als anfällig gegenüber der Ablagerung von Schlick und Sand und muss regelmäßig ausgebaggert werden, um sie für die Fähren offenzuhalten. Doch jede derartige Prozedur hat zur Folge, dass beständig Sediment nachrutscht und so die Verlandung sich sogar noch weiter beschleunigt. Zudem stellt sich die heikle Frage, wohin der unerwünschte Schlamm gebracht werden soll. Über Jahrzehnte hinweg wurde er einfach an anderer Stelle im Juister Watt wieder verklappt, was für dieses zu einer großflächigen Schädigung infolge fortschreitender Verschlickung geführt hat. Schließlich ging man dazu über, mittels Düsen das Sediment im Hafenbecken aufzuwirbeln, um es bei ablaufendem Wasser ausschwemmen zu lassen.
Die Verlandung des Hafens ist trotz alledem in den letzten Jahren in bedenklicher Weise fortgeschritten. Über die Ursachen herrscht unter Experten und Einheimischen Uneinigkeit. Der 2008 fertiggestellte Yachthafen, welcher zusätzliche Baggerarbeiten erforderlich macht, geriet ebenso ins Visier wie sich gewandelte Meeresströmungen. Ein dem Hafen besonders zusetzender Widersacher ist der Sand, der im Gegensatz zum leichten Schlick sich kaum aufwirbeln lässt.
Wie dramatisch die stetigen Veränderungen sind, denen die Nordseeküste und damit auch Juist unterliegen, wird im Küstenmuseum, welches sich im kleinen Ortsteil Loog befindet, eindrucksvoll geschildert. Seit Jahrhunderten wird die Insel von den Hauptströmungen des Windes und des Meeres Richtung Südosten geschoben. Dies und verheerende Sturmfluten haben die Einheimischen in nur wenigen Jahrhunderten wiederholt gezwungen, ihr Dorf zu verlegen.
Besonders eindringlich führt die Geschichte der Inselkirchen die unaufhörliche Bedrohung durch das Meer vor Augen. Wie noch später skizziert, erzwangen Sturmfluten in nur 4 Generationen, von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jh., nicht weniger als 4 Neubeuten. Allein die 1910 errichtete katholische Kirche sowie der Neubau der evangelischen Kirche 1964 stehen nicht mit den Naturgewalten der Küste in Verbindung. Dort wo einst die erste Kirche des Eilands stand, breitet sich schon lange die See aus.
Die Abtragung Juists im Westen vollzieht sich so rasch, dass sie sich tatsächlich schon beobachten lässt, wenn man die Insel im Laufe mehrerer Jahre immer wieder besucht. Die Meeresseite ist der Westbake, welche bei meinem ersten Aufenthalt im Jahr 2005 noch weithin von Dünen umgeben war, erschreckend nahe gerückt. Im Osten dagegen, wo der Sand wieder an die Insel angetrieben wird, hat Juist im 19. und 20. Jh. einen enormen Zuwachs erfahren. Als jüngster Teil hat sich die Ostspitze des Kalfamers erst seit 1950 herausgebildet.
Angesichts der im Vergleich zu anderen geologischen Vorgängen geradezu ungeheuren Schnelligkeit des Wandels im Wattenmeer ist es nicht einfach, den genauen Ursprung und Werdegang der Nordseeinseln zu rekonstruieren. Hier hat sich Lang (1962) sehr verdient gemacht, welcher zahlreiche historische Land- und Seekarten aus dem Gebiet zwischen Ems und Jade vor allem aus der Zeit des 16.-19. Jh. zusammengetragen und ausgewertet hat. Aus früheren Epochen sind leider keine verlässlichen graphischen Darstellungen dieser Region überliefert. Für Projekte wie Deichbau und Entwässerung wurden schon im Mittelalter Vermessungsarbeiten durchgeführt, doch wurden die Ergebnisse nur in Form von Strecken- und Flächenangaben festgehalten, nicht aber in Gestalt von Zeichnungen. Auch die klassischen griechischen und römischen Historiker und Geographen haben ihrer Erkenntnisse über die Nordseeküste nicht in Karten umgesetzt.
Als ein mögliches, aber zugleich höchst umstrittenes Szenario gilt, dass Juist, ebenso wie seine großen Nachbarn Borkum und Norderney, nach dem Zerfall einer viel größeren Insel als Sandanhäufungen neu entstanden sind. Die Vorgängerinsel soll im Mittelalter Bant und in der Antike auf lateinisch