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Spielerisch Kontakt aufnehmen - mit Puppen kann das leichter gelingen. Doch wie lassen sich Puppen spielerisch in der Betreuung bettlägeriger Senioren einsetzen? Oder in der Kleingruppe mit dem Schwerpunkt Biografiearbeit? Alles Wissenswerte rund um die "kleinen Helfer" finden Betreuungskräfte in diesem Handbuch für erfahrene Puppenspieler wie für Einsteiger. Mit grundlegenden Infos zum Einsatz von Klappmaulpuppen, zum Erlernen des Puppenspiels, praktischen Übungsideen und vielen Beispielen für die Alltagsbegleitung. Ablaufpläne, zahlreiche Praxistipps und beispielhafte Dialoge geben Sicherheit und ermutigen zum Puppenspiel.
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Sabine Meyer
Julchen –Mit Handpuppen aktivieren
Menschen mit Demenz begegnen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Sämtliche Angaben und Darstellungen in diesem Buch entsprechen dem aktuellen Stand des Wissens und sind bestmöglich aufbereitet.
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© VINCENTZ NETWORK, Hannover 2018
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E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmund, www.readbox.net
Foto Titelseite: Max Ciolek
Fotos Innenteil: Max Ciolek
Die Freigabe der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung von LIVING PUPPETS.
E-Book ISBN 978-3-86630-765-0
Sabine Meyer
Julchen –Mit Handpuppen aktivieren
Menschen mit Demenz begegnen
Inhalt
Das Spiel beginnt hier
Wissenswertes rund um das Buch
Ziel und Handhabung des Buches
Meine erste Erfahrung mit der Puppe
Demenz und Kommunikation
Demenz
Kommunikation in der Demenz
Basics des Puppenspiels
Eine Sache der Haltung – Die Spielhaltung
Die Haltung des Spielers
Die lebendige Grundhaltung der Puppe
Schau mir in die Augen – Blickkontakt der Puppe
Sprechen – Mit Hand und Fuß
Die Stimme der Puppe
Die Klappe, die Mimik und die Gestik der Puppe
Wer bin ich und wer bist du? – Die Rolle des Puppenspielers
Die Qual der Wahl – Welche Puppe gehört zu mir?
Romeo und Julia fällt heute aus – Die Puppenbiografie
Waschmaschine Ahoi – Die Puppenpflege und Aufbewahrung
Aktivierungsmethode: Puppenspiel
Überblick: Einsatzmöglichkeiten
Zielgruppe: Aufbau und Auswahl
Ein „Nein“ zur Puppe?
Spielort
Aktivierungsdauer
Aufbau einer Aktivierungseinheit
Ablauf einer zielgerichteten Aktivierungseinheit
Ablauf einer unterhaltenden Aktivierungseinheit
Praxisbeispiele
Zielgerichtete Einzelaktivierungen
Motorische Einzelaktivierung
Kognitive Einzelaktivierung
Verbale Einzelaktivierung
Psychosoziale Einzelaktivierung
Einzelaktivierung bei schwerer Demenz
Einzelaktivierung bei Bettlägerigen
Zielgerichtete Kleingruppenaktivierung
Besondere Aktivierungseinheiten
Aktivierung mit Schwerpunkt Biografiearbeit
Aktivierung mit Schwerpunkt Requisiteneinsatz
Der Puppenkaffeeklatsch (Aktivierung mit mehreren Spielpuppen)
Über die Autorin
Literaturverzeichnis
Danksagung, Schluss und weiter
Anhang
Aktivierung mit Klappmaulpuppen: Erhebungsbogen Ist-Analyse
Aktivierung mit Klappmaulpuppen: Ergebnisbogen
Das Spiel beginnt hier
Die meisten Bücher haben ein Vorwort, in dem erklärt wird, warum und wieso, wie und wann die Idee zu dem vorliegenden Buch entstanden ist. Doch dieses Buch ist anders. Es fängt auch anders an, nämlich mit einer Puppe. Mit einer besonderen Puppe.
Mit
Julchen
„Hallo, ich bin Julchen! Und ich will dir etwas erzählen. Etwas Wichtiges. Etwas sehr Wichtiges. Ich bin nämlich schon fünf Jahre alt und weiß, viel Wichtiges zu erzählen. Aber du darfst es nicht weitererzählen. Versprich es mir! Nicht weitererzählen.
Ok. Dann kann ich es dir sagen: Ich gehe arbeiten! Das ist Kinderarbeit und voll verboten!
Das sagt der Lucas. Der ist schon acht und geht in die Schule. Der weiß alles. Der ist ja schon groß. Manchmal darf ich mit ihm Fußball spielen. Die Mama sagt aber, dass Lucas Quatsch redet. Das, was ich mache, ist keine Arbeit, sagt die Mama. Nicht für mich. Denn eigentlich bin ich ja kein Kind, sondern eine Puppe. Und Puppen dürfen arbeiten.
Und mir macht meine Arbeit richtig Spaß. Wenn Mama und ich morgens losfahren, bin ich schon immer ganz aufgeregt, weil es gleich losgeht. Und dann steigen wir aus dem Auto und Mama trägt mich in ein großes Haus. Davor steht auf einem Schild „Alteneinrichtung“. Das hat mir die Mama vorgelesen. Ich kann ja noch nicht lesen. Ich finde auf dem Schild soll etwas anderes dran stehen. „Oma-Opa-Zuhause“ finde ich viel besser, denn in dem Haus wohnen alle meine Omas und Opas.
Kinder haben immer nur zwei Omas und Opas. Aber ich, ich bin ja eine Puppe. Puppen haben ganz viele Omas und Opas. Und ich habe ganz tolle Omas und Opas. Denn die haben immer Zeit für mich und spielen mit mir. Wir lachen zusammen.
Manchmal erzählen wir Geschichten oder was wir später mal werden wollen, wenn wir groß sind, und welche Zahl nach Vier kommt. Manchmal singen wir auch oder sitzen einfach und schauen gemeinsam aus dem Fenster. Doch das Schönste für mich ist immer, wenn ich bei meinen Omas und Opas auf dem Schoß sitzen darf.
Und davon will ich dir erzählen. Ich will dir erzählen von meinen Omas und Opas. Und ich will dir erzählen vom Lachen und Kuscheln, vom Reden und Staunen, vom Zählen und von Prinzessinnenkronen. Also komm mit und blättere die Buchseiten um. Das Spiel beginnt.“
Ein Vorwort kommt selten allein
Halt, stopp, Julchen, ein bisschen musst du noch mit dem Spielen warten. Denn bevor es losgeht, möchte ich noch etwas sagen.
„Och. Wenn es denn sein muss.“
Julchen mault und dreht gelangweilt die kleine, gelbe Blume auf ihren Flip-Flops. So wie sie es immer macht, wenn ihr langweilig ist.
So ist sie nun mal, die Kleine, immer zu Späßen aufgelegt, fordernd und manchmal sogar ein bisschen frech. Aber das Wichtigste, man muss sie einfach liebhaben so wie ihre große Schwester Emma. Und mit Emma begann die ganze Geschichte.
Schon seit über 10 Jahren arbeite ich als Erzählerin bundesweit in Alteneinrichtungen mit Menschen mit Demenz. Auf Basis des Forschungsprojektes „Märchenstube – ressourcenaktivierende Arbeit mit Märchen für Menschen mit Demenz“1 entwickelte ich 2008 die ressourcenaktivierende Märchenarbeit. Meine Erfahrungen habe ich in vielen Workshops, Fort- und Weiterbildungen weitergegeben.
Eines Tages kam die Fachbereichsleiterin einer Bildungseinrichtung auf mich zu. Sie fragte mich: „Liebe Frau Meyer, Sie unterrichten ja das Thema „Märchen“, können Sie nicht auch das Thema „Klappmaulpuppen“ übernehmen?“
Ich war völlig überrumpelt. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie in meinem Leben eine solche Puppe in der Hand gehabt, geschweige denn mit ihr gearbeitet. Jetzt sollte ich das Ganze auch noch pädagogisch nachhaltig vermitteln? Ein großes Fragezeichen für mich. Ich bat mir ein paar Tage Bedenkzeit aus.
Noch auf dem Rückweg beschloss ich in der Osnabrücker Innenstadt eine Klappmaulpuppe zu kaufen, um die Spielweise der Puppen auszuprobieren. Und so trat ich kurze Zeit später in einen kleinen Laden. Dort saßen in hölzernen Regalen viele Klappmaulpuppen. Oben saß ein kleines Mädchen mit roten zotteligen Haare, einer lila Hose und orangefarbenen Kleidchen.
Emma hat strubbelige rote Haare.
„Hallo! Ich bin Emma. Holst du mich runter?Mir ist hier oben so langweilig.“
Ich angelte die Puppe vom hohen Regal und schlüpfte mit meinen Händen in den Puppenkopf und in die Puppenhand. Sogleich plapperte Emma drauf los, dass sie schon so lange da oben gesessen und keiner sie mitgenommen habe.
Als Emma in kürzester Zeit sämtlichen Kunden im Laden ihre Lebensgeschichte erzählte, Tipps beim Aussuchen diverser Gegenstände gab und einige Verabredungen zum Kekse essen traf, war mir klar, diese Puppe muss mit nach Hause.
Die nette Verkäuferin in dem Laden wollte Emma in eine große Tüte stecken.„Das geht ja gar nicht! Da bekomme ich ja keine Luft!“ Emma war entsetzt. Und so kam es, dass ich mit Emma auf dem Arm durch die Osnabrücker Innenstadt zum Parkhaus lief. Und weil Emma den Weg zum Parkhaus nicht kannte, quatschte sie einfach einen Passanten an, wo denn das Auto der Mama stehe. Der gute Herr war erstaunt, wies Emma und mir aber freundlich den Weg zur nächsten Tiefgarage, vor dessen Eingangstür wir standen. „Vielleicht suchst du Mamas Auto mal dort?“, sagte er lachend und zwinkerte mir zu.
Kaum waren Emma und ich zu Hause angekommen, spielten wir miteinander. Erst als mein Mann zur gewohnten Zeit die Wohnungstür aufschloss, wurde mir klar, dass fast der ganze Tag vergangen war. Emma eilte natürlich zur Tür, um den Neuankömmling zu begrüßen. Noch in der Tür tauschten mein Mann und Emma ihre Lebensgeschichte aus. Ihre war freilich etwas kürzer als die meines Mannes.
Am nächsten Tag rief ich bei einer Freundin an, die den Begleitenden Sozialen Dienst in einer Alteneinrichtung leitet und vereinbarte einen Termine mit einer Gruppe Bewohnerinnen und Bewohner. Bei diesem Termin bekam Emma von einem Bewohner ihren ersten Heiratsantrag, auch wenn sie noch warten müssen, bis Emma groß genung ist. Wir haben viel gelacht. Auf diesen Termin folgten noch viele andere Termine in unterschiedlichen Einrichtungen, ein Konzept für einen Workshop und diverse Fortbildungen bis hin zu einem neunmonatigen Einsatzprojekt in dem Seniorenheim Haus Dorette, Frauenheim zu Osnabrück, in dem ich viele praktische Erfahrungen sammeln konnte. Von diesem Projekt, von Emma, Julchen und ihren vielen Geschwistern werden Sie im Verlauf des Buches noch einiges lesen können.
Doch jetzt kann das Spiel beginnen.Sabine Meyer, 2018
„Au fein!“
1 Vgl. Meyer, Sabine und Rethschulte, Dr. Antje: Kurzbericht zum Forschungsprojekt „Die Märchenstube – ressourcenaktivierende Arbeit mit Märchen mit Demenzerkrankten“ im Küpper-Menke-Stift, Osnabrück, 2009 sowie Meyer, Sabine: Die Märchenstube – Aktivierung leicht gemacht, Mühlheim an der Ruhr, Verlag an der Ruhr, 2018
Wissenswertes rund um das Buch
Ziel und Handhabung des Buches
Dieses Buch ist ein Handbuch. Es ist in verschiedene Bereiche unterteilt. Im ersten Teil „Wissenswertes rund um das Buch“ werden grundlegende Informationen über das Buch und seine Handhabung gegeben. Der zweite Teil „Basics des Puppenspiels“ befasst sich mit dem Erlernen des Puppenspiels und im dritten Teil „Aktivierungseinsatz“ finden Sie Beispiele für mögliche Aktivierungseinheiten für Menschen mit Demenz aus der Praxis für die Praxis.
Das Buch ist ein Buch für alle, auch und besonders für diejenigen, die noch keine Erfahrung im Puppenspiel haben. Der Teil der Grundlagen zum Puppenspiel führt Sie von Anfang an in kleinen Schritten in das Puppenspiel ein. Sollten Sie bereits den Puppenvirus in sich tragen und planen Sie den Kauf einer Klappmaulpuppe, so empfehle ich Ihnen, vor dem Kauf das Kapitel 5 „Qual der Wahl“ zuerst zu lesen.
Bitte bedenken Sie, das Spiel mit den Klappmaulpuppen ist nicht durch das Lesen eines Buches zu lernen. Es ist viel wichtiger, das Spiel selbst auszuprobieren. Deswegen zeigt Ihnen dieses Buch auch viele Übungsideen.
Das Buch ist mit einem Leitsystem ausgestattet. Unter bestimmten Fotos und Symbolen finden Sie bestimmte Inhalte wieder.
ÜBUNGSAUFGABE
Dies ist nur eine Übung.
MERKSATZ
Dies ist nur ein Merksatz.
TIPP
Dies ist nur ein Tipp.
Beispiele aus der Praxis, die zum Teil von Julchen selbst erzählt werden, finden Sie in den hervorgehobenen Kästen.
Meine erste Erfahrung mit der Puppe
Ganz am Anfang des Buches habe ich Ihnen von der ersten Begegnung mit meiner Klappmaulpuppe Emma in dem Osnabrücker Geschäft und dem ersten Eindruck des Spiels mit Emma vor und mit Menschen mit Demenz berichtet. Danach begann ich, in einer Osnabrücker Tagespflegeeinrichtung regelmäßig mit Emma vorbeizuschauen. Und Emma blieb nicht lange alleine, bald kamen Pelle, ein kleiner blonder Junge in grüner Latzhose, Timmi, ein kleiner Rotschopf, und Julchen zu meiner, damals noch kleinen Puppenfamilie.
In der Tagespflegeeinrichtung gab es zwar eine feste Gästegruppe, die regelmäßig kam, aber es waren auch immer mal wieder neue Gesichter dabei. Eine Dame, Frau Ruhig1, war regelmäßig in der Gruppe. Sie war auch bei Emmas erstem Besuch in der Einrichtung dabei.
Emma und ich waren sehr aufgeregt, weil alles für uns beide noch so neu war. Die Gäste saßen nach dem Kaffee in gemütlichen Sesseln in der Runde im Wohnzimmer. Es waren Männer und Frauen dabei. Frau Ruhig saß in einem großen rostroten Sessel. Zu der damaligen Zeit war ihre Demenz schon sehr weit fortgeschritten. Frau Ruhig kam gebürtig nicht aus Deutschland, sondern aus Spanien. Im Laufe ihrer Demenzerkrankung hatte sie zuerst die deutsche Sprache verloren. Das passiert bei Menschen mit Migrationshintergrund oft, da die deutsche Sprache später als die Muttersprache erlernt wird. Doch mit fortschreitender Demenz verlor Frau Ruhig auch ihre Muttersprache, die spanische Sprache. Sie konnte die Worte nicht finden, sprach sie unvollständig und unverständlich. Die Alltagsbegleiterinnen waren nicht mehr in der Lage, mit Frau Ruhig zu kommunizieren. So war Frau Ruhig sehr still, schaute meistens traurig zu Boden. Sie war sehr in sich gekehrt.
An diesem Nachmittag kamen Emma und ich zum ersten Mal zu Besuch. Ich setzte mich mit Emma vor Frau Ruhig auf den Boden. Und Emma gab Frau Ruhig die Hand. „Ich bin Emma! Und wer bist du?“ Frau Ruhig antwortete nicht, doch schaute sie Emma an. Emma wiederholte: „Ich bin Emma! Guten Tag. Wie heißt du denn?“ Doch Frau Ruhig antwortete wieder nicht. Schließlich legte Emma ganz vorsichtig ihre kleine, weiche Puppenhand auf Frau Ruhigs Knie. „Ich bin Emma! Darf ich auf deinen Schoß?“ Frau Ruhig ließ das kleine Puppenmädchen nicht aus den Augen und nickte. Sie hatte Emmas Frage verstanden. Emma kletterte auf ihren Schoß und schmiegte sich in Frau Ruhigs Arm. „Ich bin Emma!“ Frau Ruhig streichelte die weiche Puppenhand und begann zu singen. „Guten Abend, gute Nacht“, sang Frau Ruhig leise auf Deutsch.
Im anschließenden Reflexionsgespräch mit den Begleiterinnen waren alle über Frau Ruhigs unerwartete Reaktion sehr erstaunt. So lange hatte Frau Ruhig kein spanisches Wort gesprochen und noch viel länger war es her, dass sie Deutsch gesprochen hatte. In der folgenden Woche kam ich wieder, dieses Mal hatte ich Pelle, den kleinen Jungen, dabei. Auch Pelle ging zu Frau Ruhig, die stumm in ihrem rostroten Sessel saß. „Ich bin Pelle. Wer bist du?“ Frau Ruhig schaute Pelle an, doch sie sagte nichts. Sie schaute nur. Pelle fragte nach einiger Zeit: „Ich bin Pelle, darf ich auf deinen Schoß?“ Frau Ruhig nickte. Pelle kletterte auf ihren Schoß und schmiegte sich in Frau Ruhigs Arme. „Guten Abend, gute Nacht“, sang Frau Ruhig leise auf Deutsch.
In den darauffolgenden Wochen kam ich immer wieder zu Frau Ruhig, mal mit Emma, mal mit Pelle, mal mit Julchen oder mit Timmi. Es waren immer wieder sehr ähnliche Situationen: Stand die Puppe vor Frau Ruhig, blickte die Puppe Frau Ruhig an und gab ihr die Hand zur Begrüßung, konnte Frau Ruhig nur den Blickkontakt halten. Kletterte die Puppe aber auf ihren Schoß, begann Frau Ruhig auf Deutsch zu singen.
Frau Ruhigs Fähigkeit, auf Deutsch zu singen, hielt nicht lange an. War die Puppe fort, war auch die Sprache wieder fort. Aber sie kam immer wieder zurück, wenn eine Puppe wieder auf Frau Ruhigs Schoß saß. Frau Ruhig wurde über die Wochen, in denen sie Kontakt mit den Puppen hatte, agiler. Sie schlief nicht mehr so viel, sie schaute interessiert um sich und lächelte häufiger als vorher, berichteten die Begleiterinnen.
Demenz und Kommunikation
Über das Thema „Demenz“ sind schon viele Bücher geschrieben worden. Das vorliegende Buch hat nicht die Aufgabe, die vorhandenen Kenntnisse über Demenz zu erweitern oder vorzustellen. Dennoch ist es an dieser Stelle wichtig, den Zusammenhang der Demenzerkrankung, der Demenzstufen, der Kommunikation und dem Puppenspiel zu betrachten.
In der Regel ist das Spiel mit Klappmaulpuppen für Orientierte und Menschen mit Demenz, für Erwachsene und Kinder, für Frauen und Männer attraktiv. Sicherlich reagieren Menschen individuell auf das Puppenspiel. Der größte Teil findet einen Bezug zum Spiel, ein wesentlich geringerer Teil findet keinen Bezug zum Spiel. Die Gestaltung des Spiels ist dabei stark von der Zielgruppe abhängig.
Demenz
Kurzdefinition Demenz
Die Erkrankung der Demenz ist als Prozess zu verstehen. Betroffene haben meistens über längere Zeit Möglichkeiten, die durch die Krankheit entstehenden Einschränkungen und Verluste zu kompensieren. Für Außenstehende ist oftmals die Erkrankung in diesem Stadium kaum zu erkennen. Im Verlauf der Erkrankungen treten die Symptome der Krankheit deutlicher hervor.
Julia Haberstroh, Johannes Pantel und Katharina Neumeyer stellen in dem Buch „Kommunikation bei Demenz“2 die Aspekte der Demenzerkrankung wie folgt zusammen:
– depressive Symptome,
– Reizüberflutung,
– Heimweh,
– Verlust der Selbstständigkeit,
– Kommunikationsschwierigkeiten,
– Lebensthemen.
Demenzstufen
In der Praxis werden unterschiedliche Stufen der Erkrankung zugeordnet. Ich unterteile in meiner Arbeit in drei Gruppen.
Menschen mit leichter Demenz
Diese Gruppe umfasst Menschen, die an Demenz erkrankt sind, aber noch in der Lage sind, die Symptome der Krankheit zu kompensieren. Sie sind noch nah bei uns, leiden in der Regel nicht bzw. nur an leichten Kommunikationsproblemen oder Orientierungsverlusten. Das Vergessen setzt jedoch bereits ein.
Menschen mit mittlerer Demenz
Diese Gruppe umfasst Menschen, bei denen die Symptome der Demenz bereits deutlich zu erkennen sind. Beginnende Wortfindungsstörungen, Artikulationsprobleme treten auf. Die betroffenen Menschen können einer Unterhaltung nur noch bedingt folgen, da das Kurzgedächtnis oft vergisst, was gerade passiert ist. Motorische Einschränkungen treten auf. Oft gehen die Zunahme der Symptome und der Verlust der eigenen Fähigkeiten mit Trauer und Schamgefühl einher. Unsicherheiten treten auf und führen nicht selten zu depressiven Stimmungen oder auch zu aggressiven Stimmungen. Die vielen Reize, die auf die Betroffenen einströmen, sind für sie nicht mehr zu filtern. Sie fühlen sich oftmals überfordert. Hinlauftendenz kann ausgeprägt sein.
Menschen mit schwerer Demenz
Die Gruppe umfasst Menschen, bei denen die Symptome der Demenz dazu führen, dass sie nicht mehr ansprechbar scheinen. Die Worte sind ihnen verloren gegangen. Die verbale Kommunikation ist zum Erliegen gekommen. Oftmals sind die mimischen und gestischen Reaktionen ebenfalls eingeschränkt. Die motorischen Fähigkeiten sind sehr stark eingeschränkt. Oftmals sitzen diese Menschen in Rollstühlen oder sind bettlägerig. Sie scheinen innerlich isoliert, gänzlich zurückgezogen und sehr fern von dieser Welt zu sein. Diese Phase geht bis zur Bettlägerigkeit und dem „Vergessen“ einfacher körperlicher Prozesse, wie Schlucken. Diese Phase endet mit dem Tod der Betroffenen.
Kommunikation in der Demenz
Generell gilt im Laufe der zunehmenden Demenz, dass die Möglichkeiten der verbalen Kommunikation zurückgehen. Die nonverbalen Kommunikationsmöglichkeiten aber bleiben lange Zeit erhalten. Um dieses Geschehen besser zu verstehen, ist es erforderlich, einen Blick auf unsere Kommunikationsmöglichkeiten zu werfen.
MERKSATZ
Verbale Kommunikationist die Kommunikation über Sprache, über Worte.
Nonverbale Kommunikationist die Kommunikation über Mimik, Gestik, aber auch über die Stimmmodulation und über Emotionen.
Da in der Demenz die Worte verloren gehen, geht auch die verbale Kommunikation verloren, aber die nonverbale Kommunikation, vor allem die Kommunikation über Emotionen bleibt erhalten. „Ausgerechnet Kommunikation und soziale Aktivitäten sind es aber, aus denen Menschen mit Demenz maßgeblich ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität schöpfen.“3
Die nonverbale Kommunikation ist vielfältig und sie erreicht einen wesentlich höheren Anteil an unseren Kommunikationsmöglichkeiten, als wir uns oftmals bewusst sind. Vor allem das Übereinstimmen der verbalen Kommunikation mit der nonverbalen Kommunikation ist wichtig.
„Sag mal ‚Ja.’
Und dann schüttel den Kopf dabei. Siehst du – geht nicht!“
Für Menschen mit Demenz verliert die verbale Kommunikation an Bedeutung, weil sie zunehmend mit Schwierigkeiten und Misserfolg verbunden ist. Sie konzentrieren sich immer mehr auf die nonverbale Kommunikation. Zudem ist mit der Demenz verbunden, dass Reize nicht mehr gefiltert werden können und die Aufmerksamkeitspannen der Betroffenen kürzer werden. Das Kurzzeitgedächtnis speichert nicht mehr, was gerade noch gesagt wurde. Sie verlieren im Gespräch den Faden und können ihm nicht mehr folgen. Dadurch wird es für uns sehr wichtig, bewusst klar und deutlich in der Kommunikation zu sein und alle Ausdrucksmöglichkeiten der nonverbalen Kommunikation zu nutzen.
Für mich in meiner Arbeit mit Menschen mit Demenz ist es immer wieder wichtig, mich auf die Wortbedeutung von Kommunikation zu besinnen.
MERKSATZ
Kommunikationist von dem lateinischen Wort „communicare“ abgeleitet, das vielfältige Bedeutungen hat: etwas mitteilen, etwas besprechen, etwas zusammenlegen, etwas austauschen, etwas gemeinsam machen, etwas teilen.
Ich möchte Kommunikation als „etwas miteinander teilen“ verstehen, egal ob ich dabei Worte, Gesten, Gefühl oder Zeit mit meinem Gegenüber teile.
Kommunikation der Puppe
Die Klappmaulpuppen können wie wir Menschen verbal und/oder nonverbal kommunizieren. Sie können reden, mimische und gestische Elemente nutzen und Emotionen zeigen. Sie nutzen viele Sinne gleichzeitig: Sehen, Hören, Fühlen und ihre Sprache, um in Kommunikation zu treten. Sie sind ganzheitlich zu erleben und zu begreifen. Das macht die „Puppenkommunikation“ der menschlichen Kommunikation ähnlich.
Aber die Puppen haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind keine Menschen, sondern Puppen.
In der Regel nehmen auch Menschen mit Demenz wahr, dass die kleinen Helfer, die ich mitbringe, Puppen sind. Sie entdecken, dass es ein Spiel ist. Und Spielen ist einfach. Spielen ist eine Grundkommunikationsart, die wir alle schon als Kinder beherrschten. Es ist eine Kompetenz, die uns sehr vertraut ist. Daraus entsteht in der Spielsituation Sicherheit. Im Spiel ist alles möglich. Und Spielen macht Spaß, es bringt uns zum Lachen.
Meine kleinen Helfer arbeiten in ihrer Kommunikation mit dem Kindchen-Schema. Die Puppen sehen aus wie kleine Kinder. Die haben wirre Haare, mühsam in Zöpfen gebändigt. Große Augen, die je nach Lichteinfall glänzen und sich scheinbar bewegen. Sie tragen bunte Kinderkleidung und haben einen Mund, der meistens vor sich hinplappert. Sie sind klein, hilflos, niedlich und wollen immer alles wissen. Sie fordern heraus und schenken dem Gegenüber, wie es für Kinder üblich ist, volles Vertrauen. Sie wollen beschützt werden, gehalten und geführt werden. Sie ziehen denjenigen, den sie anspielen, in die Beschützerrolle. Das unterstützt das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit. Der Mensch mit Demenz wird in der vertrauten Rolle als Mutter, Vater, großer Bruder, Tante oder Ähnliches unterstützt.
Einem Kind gegenüber brauche ich einfache Worte, einfache Sätze, einfache Themen. Die Anforderungen an die Kommunikation mit einem Kind sind wesentlich geringer als mit einem Erwachsenen.
Und gleichsam ist offensichtlich, dass von den kleinen Kinderpuppen keine Gefahr ausgeht.
MERKSATZ
Wo keine Gefahr zu erkennen ist, kannFreiheitentstehen, Freiheit zum Spiel, zum Lachen und zum Reden. Das istPuppenkommunikation.
1 Alle Namen in den Beispielen wurden aus Datenschutzgründen geändert und sind frei erfunden.