Julia Best of Band 250 - Tess Gerritsen - E-Book

Julia Best of Band 250 E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

BESCHÜTZT VON STARKEN ARMEN
Zweimal rettet der Cop Sam der Krankenschwester Nina das Leben. Er sieht die Angst in ihren Augen und verliebt sich in Nina. Aber solange er nicht weiß, wo ihr grausamer Feind lauert, darf er sich nicht zu seinen Gefühlen bekennen!

EIN DIEB UND GENTLEMAN
Jordan Tavistock ist sich nicht sicher, ob er Clea trauen soll. Angeblich ermittelt sie in einem Versicherungsbetrug und ist daher auf der Suche nach dem "Auge von Kaschmir", einem legendären Dolch. Aber muss sie dafür nachts in ein fremdes Schlafzimmer eindringen?

GEFÄHRLICHE BEWEISE
Brisantes Material über illegale Forschungen bringt Cathy Weaver in Lebensgefahr – nur durch seine Schuld. In Dr. Victor Holland erwacht der Beschützerinstinkt für die Frau, die er liebt …

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Seitenzahl: 614

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Tess Gerritsen

JULIA BEST OF BAND 250

IMPRESSUM

JULIA BEST OF erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe JULIA BEST OF, Band 250 3/2022

© 1996 by Terry Gerritsen Originaltitel: „Keeper of the Bride“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Emma Lux Deutsche Erstausgabe 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY DUO, Band 126

© 1995 by Terry Gerritsen Originaltitel: „Thief of Hearts“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Patrick Hansen Deutsche Erstausgabe 2001 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY DUO, Band 139

© 1992 by Terry Gerritsen Originaltitel: „Whistleblower“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: M. R. Heinze Deutsche Erstausgabe 1993 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA SECRET, Band 143

Abbildungen: Harlequin Books S.A., MarkD800 / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 3/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751511667

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Beschützt von starken Armen

1. KAPITEL

Die Hochzeit war geplatzt. Abgeblasen. Nina Cormier, die im Nebenraum der Kirche vor dem Ankleidespiegel saß, schaute sich an und fragte sich, warum sie nicht weinen konnte. Sie wusste, dass der Schmerz da war, aber sie fühlte ihn nicht. Noch nicht. Sie konnte nur mit trockenen Augen dasitzen und ihr Spiegelbild anstarren. Die perfekte Braut. Ein hauchzarter Schleier umrahmte ihr Gesicht. Das mit Staubperlen besetzte Oberteil ihres elfenbeinfarbenen Satinkleids gab bezaubernd die Schultern frei. Ihr langes schwarzes Haar war im Nacken zu einem weichen Knoten zusammengefasst. Jeder, der sie heute Morgen hier im Ankleideraum gesehen hatte – ihre Mutter, ihre Schwester Wendy, ihre Stiefmutter Daniella –, hatte seiner Begeisterung darüber, was für eine wunderschöne Braut sie war, Ausdruck verliehen.

Und sie wäre es gewesen. Wenn nur der Bräutigam aufgetaucht wäre.

Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, es ihr persönlich zu sagen. Nach sechs Monaten, in denen sie geplant und geträumt hatte, hatte sie seine Nachricht knapp zwanzig Minuten vor Beginn der Trauung erhalten. Von seinem Trauzeugen.

Nina,

ich brauche noch Zeit, um nachzudenken. Es tut mir sehr Leid. Wirklich. Ich fahre für ein paar Tage weg. Ich rufe dich bald an.

Robert.

Sie zwang sich, das Schreiben noch einmal zu lesen.

Ich brauche Zeit … ich brauche Zeit …

Wie viel Zeit braucht ein Mann?, fragte sie sich und starrte regungslos auf den Zettel in ihrer Hand.

Vor einem Jahr war sie mit Robert Bledsoe zusammengezogen. Der einzige Weg, um herauszufinden, ob sie zusammenpassten oder nicht, hatte er gesagt, und sie hatte ihm geglaubt. Die Ehe war so eine große Verantwortung, eine dauernde Verantwortung, und er wollte keinen Fehler machen. Mit seinen 41 Jahren hatte Robert schon einige Katastrophenbeziehungen hinter sich, und er war wild entschlossen, nicht noch mehr Fehler zu machen. Er hatte sich absolut sicher sein wollen, dass Nina auch wirklich die Frau war, mit der er sein ganzes restliches Leben verbringen wollte.

Sie war sich sicher gewesen, dass Robert der Mann war, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. So sicher, dass sie an jenem Tag, an dem er ihr vorgeschlagen hatte, zu ihm zu ziehen, sofort nach Hause gefahren war und ihre Sachen gepackt …

„Nina? Nina, mach auf!“ Ihre Schwester Wendy rüttelte an der Türklinke. „Bitte, lass mich rein.“

Nina ließ den Kopf in die Hände fallen. „Ich will jetzt niemand sehen.“

„Du brauchst aber jemand.“

„Lass mich, ich will einfach nur allein sein.“

„Schau, die Gäste sind schon alle weg. Ich bin die Einzige, die noch da ist.“

„Ich will aber mit niemand sprechen. Fahr jetzt einfach, okay? Bitte, geh.“

Vor der Tür blieb es lange still. Dann sagte Wendy: „Und wie willst du dann nach Hause kommen?“

„Ich rufe mir ein Taxi. Oder Reverend Sullivan fährt mich.“

„Du bist dir wirklich sicher, dass du nicht reden willst?“

„Ja. Ich ruf dich später an, okay?“

„Wenn du es wirklich willst.“ Wendy machte eine Pause, dann fügte sie mit einer Spur von Gehässigkeit, die man sogar durch die Tür hören konnte, hinzu: „Robert ist wirklich ein Armleuchter, weißt du. Das hätte ich dir gleich sagen können. Ich habe es immer gedacht.“

Nina antwortete nicht. Sie saß mit dem Kopf in den Händen zusammengesunken da und wollte weinen, aber sie konnte es nicht. Sie hörte, wie Wendys Schritte sich entfernten, dann wurde es still. Die Tränen weigerten sich immer noch zu kommen. Sie konnte jetzt nicht über Robert nachdenken und darüber, wie ihr Leben ohne ihn nach der abgesagten Hochzeit weitergehen sollte. Stattdessen schien ihr Gehirn eigensinnig darauf zu beharren, über die praktischen Auswirkungen einer geplatzten Hochzeit nachzudenken. Die für die Feier angemieteten Räume und all das Essen. Die Geschenke, die sie zurückgeben musste. Die Flugtickets nach St. John Islands, die man nicht zurückgeben konnte. Vielleicht sollte sie allein auf Hochzeitsreise gehen und Dr. Robert Bledsoe vergessen. Jawohl, sie würde allein fliegen, nur sie und ihr Bikini. Sie würde diese ganze jämmerliche Geschichte einfach hinter sich lassen und zumindest schön braun gebrannt zurückkommen. Wäre das nicht eine Alternative?

Sie hob langsam den Kopf und schaute auf ihr Spiegelbild. So eine schöne Braut war sie auch wieder nicht. Ihr Lippenstift war verschmiert, und ihr Knoten ging auf. Sie befand sich in einem Stadium der Auflösung.

In plötzlicher Wut riss sie sich den Schleier herunter. Haarnadeln spritzten in alle Himmelsrichtungen auseinander und gaben eine wilde schwarze Mähne frei. Zum Teufel mit dem Schleier! Sie feuerte ihn in den Papierkorb. Dann schnappte sie sich ihren Brautstrauß aus weißen Lilien und rosa Rosen und stopfte ihn ebenfalls in den Müll. Es war eine Erleichterung. Ihr Zorn rauschte ihr wie ein Brennstoff durch die Adern, der sie von ihrem Stuhl aufspringen ließ.

Sie verließ, ihre Schleppe hinter sich herziehend, den Raum und betrat das Mittelschiff.

Die Bankreihen waren leer. Die Gänge und der Altar waren mit Blumen geschmückt. Die Bühne war für eine Hochzeit bereitet, die nicht stattfinden würde. Doch Nina bemerkte die Früchte, die die harte Arbeit der Floristin getragen hatte, kaum, als sie zielstrebig den Mittelgang hinunterging. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf das Portal gerichtet. Auf ihr Entkommen. Selbst die besorgte Stimme von Reverend Sullivan konnte sie nicht veranlassen, ihre Schritte zu verlangsamen. Sie ging an den blumigen Erinnerungen an das Fiasko des heutigen Tages vorbei durch die schweren Doppeltüren.

In der Mitte der Treppe blieb sie stehen. Die Julisonne blendete sie, und sie war sich mit plötzlicher Schärfe bewusst, wie sehr eine Frau allein in einem Brautkleid auffallen musste, die versuchte, sich ein Taxi heranzuwinken. Erst in diesem Moment, in dem sie im grellen Licht des Nachmittags gefangen war, spürte sie die Tränen kommen.

Oh nein, Gott, nein. Gleich würde sie hier mitten auf der Treppe zusammenbrechen und weinen. Und jeder, der auf der Forest Avenue vorbeifuhr, würde es sehen.

„Nina? Nina, Liebe.“

Sie drehte sich um. Reverend Sullivan stand ein paar Stufen über ihr und schaute sie mit einem Ausdruck von Besorgnis auf dem freundlichen Gesicht an.

„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte er. „Wenn Sie möchten, können wir hineingehen und reden. Ich würde Ihnen gern helfen.“

Sie schüttelte unglücklich den Kopf. „Ich möchte nur weg von hier. Bitte, ich will einfach nur weg.“

„Aber natürlich.“ Er nahm sanft ihren Arm. „Ich fahre Sie nach Hause.“

Reverend Sullivan führte sie die Treppe nach unten und um die Kirche herum auf den Parkplatz. Nina griff nach ihrer Schleppe, die ganz schmutzig war, und stieg in seinen Wagen. Dort saß sie dann mit einem riesigen Satinknäuel auf dem Schoß da und starrte schweigend vor sich hin.

„Sie beide sind zweifellos die Versager des Jahres.“

Sam Navarro, Polizeidetective aus Portland, der dem offensichtlich aufgebrachten Norm Liddell gegenübersaß, zuckte mit keiner Wimper. Sie saßen zu fünft in einem Besprechungsraum der Polizeistation, und Sam dachte gar nicht daran, dieser Primadonna von Bezirksstaatsanwalt die Genugtuung zu verschaffen, dass er zusammenzuckte. Genauso wenig aber hatte er die Absicht, sich zu verteidigen, denn sie hatten es vermasselt. Er und Gillis hatten die Sache vermasselt, und jetzt war ein Polizist tot. Ein Idiot zwar, aber dennoch ein Polizist. Einer von ihnen.

„Wir müssen allerdings zu unserer Verteidigung sagen“, ergriff Sams Partner Gordon Gillis das Wort, „dass wir Marty Pickett keine Erlaubnis gegeben haben, das Gelände zu betreten. Wir wussten nicht, dass er hinter die Absperrung …“

„Sie hatten die Verantwortung“, unterbrach ihn Liddell.

„Halt, Moment mal“, widersprach Gillis. „Officer Pickett trifft auch ein Teil der Schuld.“

„Pickett war ein Grünschnabel.“

„Er hätte sich an die Vorschriften halten müssen. Wenn er …“

„Klappe, Gillis“, sagte Sam.

Gillis schaute seinen Partner an. „Sam, ich versuche nur, etwas richtig zu stellen.“

„Da wir offensichtlich als Sündenböcke herhalten sollen, hilft uns das rein gar nichts.“ Sam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute Liddell über den Konferenztisch hinweg an. „Was fordern Sie, Herr Staatsanwalt? Eine öffentliche Tracht Prügel? Unsere Entlassung?“

„Kein Mensch fordert Ihre Entlassung“, gab Liddell zurück. „Aber wir haben einen toten Polizisten …“

„Glauben Sie, das weiß ich nicht?“, brauste jetzt Chief Coopersmith auf. „Schließlich bin ich es, der sich den Fragen der Witwe stellen muss. Ganz zu schweigen von diesen blutsaugenden Reportern. Kommen Sie mir nicht mit diesem Wir- und Uns-Mist, Herr Staatsanwalt. Es war einer von uns, der hier umgekommen ist. Ein Polizist. Kein Anwalt.“

Sam schaute seinen Vorgesetzten überrascht an. Coopersmith auf seiner Seite zu haben war eine neue Erfahrung. Der Abe Coopersmith, den er kannte, war normalerweise sehr sparsam mit Worten, und nur wenige davon waren schmeichelhaft. Jetzt legte er sich für sie ins Zeug, weil ihnen allen das, was Liddell sagte, gegen den Strich ging. Unter Beschuss hielt die Polizei zusammen.

„Kommen wir wieder zur Sache“, sagte Coopersmith. „Wir haben einen Bombenleger in der Stadt. Und unseren ersten Toten. Was wissen wir bis jetzt?“ Er schaute auf Sam, den Einsatzleiter der kürzlich wieder zusammengestellten Bombeneinsatztruppe. „Navarro?“

„Bis jetzt noch nicht sehr viel“, räumte Sam ein. Er öffnete eine Unterlagenmappe und nahm einen Stapel Blätter heraus. Er verteilte die Kopien unter den anderen vier Männern, die um den Tisch saßen – Liddell, Chief Coopersmith, Gillis und Ernie Takeda, der Sprengstoffexperte aus dem Labor des Bundesstaates Maine. „Die erste Explosion ereignete sich um 2:15 morgens. Die zweite um 2:30. Bei der zweiten Explosion ging die R.S.-Hancock-Lagerhalle hoch. Sie hat auch bei zwei angrenzenden Gebäuden geringfügigen Schaden angerichtet. Ein Wachmann hatte die Bombe zufällig entdeckt und alarmierte um 1:30 die Polizei. Gillis war um 1:50 dort, ich um 2:00. Wir hatten das Gelände gerade weiträumig abgesperrt und wollten uns eben an die Arbeit machen, als die erste Bombe hochging. Dann, fünfzehn Minuten später, noch ehe wir dazu kamen, das Gebäude zu durchsuchen, explodierte die zweite. Und tötete Officer Pickett.“ Sam schaute Liddell an, aber dieses Mal hielt sich der Staatsanwalt mit einem Kommentar zurück. „Es handelte sich um Dynamit.“

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann fragte Coopersmith: „Aber es stammt nicht aus derselben Serie wie die beiden Bomben vom letzten Jahr?“

„Sehr wahrscheinlich doch“, gab Sam zurück. „Weil es der einzige große Dynamitdiebstahl war, den wir in den vergangenen Jahren hier zu verzeichnen haben.“

„Aber diese Bombenanschläge wurden aufgeklärt“, mischte sich Liddell ein. „Und wir wissen, dass Victor Spectre tot ist. Wer also hat diese Bomben hier gebastelt?“

„Vielleicht haben wir es ja mit jemandem zu tun, der bei Spectre in die Lehre gegangen ist. Jemand, der nicht nur die Technik des Meisters übernommen hat, sondern auch Zugang zu dessen Dynamitvorräten hat. Die wir, wenn ich daran erinnern darf, nie entdeckt haben.“

„Bis jetzt steht nicht fest, dass das Dynamit aus derselben Quelle stammt“, sagte Liddell. „Vielleicht gibt es ja gar keinen Zusammenhang mit den Spectre-Bomben.“

„Ich fürchte, dass unsere Beweise eine andere Sprache sprechen“, erwiderte Sam. „Und das wird Ihnen gar nicht gefallen.“ Er schaute Ernie Takeda an. „Du bist dran, Ernie.“

Takeda, der sich immer unbehaglich fühlte, wenn er vor Publikum reden musste, hielt den Laborbericht vor sich und führte in schmucklosen Worten seine Untersuchungsergebnisse aus. „Basierend auf dem Material, das wir am Tatort zusammengetragen haben, können wir eine vorläufige Vermutung über die Bauart der Bombe anstellen. Wir glauben, dass es sich um denselben Zeitzünder handelt, den Victor Spectre letztes Jahr benutzt hat. Es scheint dasselbe Schaltsystem zu sein, durch das das Dynamit entzündet wurde. Die Stäbe waren mit zwei Zoll breitem grünen Isolierband zusammengebunden.“

Liddell schaute auf Sam. „Dasselbe Schaltsystem, dieselbe Serie? Was, zum Teufel, geht hier vor?“

„Offensichtlich hat Victor Spectre vor seinem Tod ein paar seiner Kenntnisse weitergegeben“, sagte Gillis. „Jetzt haben wir es mit einer zweiten Generation von Bombenlegern zu tun.“

„Was uns jetzt noch fehlt, ist das psychologische Profil dieses Neueinsteigers“, sagte Sam. „Spectre hat aus reiner Geldgier gehandelt. Er hat sich kaufen lassen und seine Jobs kaltblütig erledigt. Bei diesem neuen Bombenleger müssen wir erst noch ein Motivationsmuster herausfiltern.“

„Heißt das, Sie gehen davon aus, dass er wieder zuschlägt?“, fragte Liddell.

Sam nickte müde. „Leider ja.“

Es klopfte an der Tür. Eine Polizistin steckte den Kopf durch den Türspalt. „Entschuldigen Sie, aber hier ist ein Anruf für Navarro und Gillis.“

„Ich gehe“, sagte Gillis. Er stand schwerfällig auf und trabte zum Telefon.

Liddell konzentrierte sich immer noch auf Sam. „Dann ist das also alles, womit Portlands Eliteeinheit aufwarten kann? Wir warten auf den nächsten Bombenanschlag, damit wir ein Motivationsmuster herausfiltern können? Und erst dann werden wir vielleicht, aber nur ganz vielleicht eine Idee bekommen, was, zum Teufel, wir tun können?“

„Ein Bombenanschlag ist eine feige Tat, Mr. Liddell“, erklärte Sam ruhig. „Es handelt sich um Gewalt in Abwesenheit des Täters. Ich wiederhole das Wort – Abwesenheit. Wir haben keinerlei wie auch immer gearteten Hinweise, keine Fingerabdrücke, keine Zeugen, keine …“

„He, Chief“, mischte sich Gillis ein. „Eben wurde ein weiterer Bombenanschlag gemeldet.“

„Was?“, ächzte Coopersmith.

Sam war bereits auf den Beinen und ging mit großen Schritten zur Tür.

„Was war es denn diesmal?“, fragte Liddell. „Wieder eine Lagerhalle?“

„Nein“, sagte Gillis. „Eine Kirche.“

Die Polizei hatte die Gegend bereits weiträumig abgesperrt, als Sam und Gillis bei der Good Shepherd Church ankamen. Auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Drei Streifenwagen, zwei Feuerwehrautos und ein Krankenwagen parkten auf der Forest Avenue. Der Truck des Bombenentschärfungsteams stand vor dem Kirchenportal – oder dem, was davon noch übrig war. Die schwere Doppeltür aus Holz war aus den Angeln gerissen worden und lag jetzt auf der Treppe. Der Wind trieb Gesangbuchseiten wie tote Blätter auf dem Bürgersteig vor sich her. Gillis fluchte. „Mein lieber Scholli.“

Als sie sich dem Polizeiwagen näherten, drehte sich der Einsatzleiter mit einem Ausdruck von Erleichterung zu ihnen um. „Navarro! Freut mich, dass Sie es noch zu der Party geschafft haben!“

„Irgendwelche Verletzte?“, fragte Sam.

„Soweit wir wissen, nicht. Die Kirche war zum Zeitpunkt der Explosion leer. Reines Glück. Um zwei hätte eigentlich eine Hochzeit stattfinden sollen, aber sie wurde in letzter Minute abgeblasen.“

„Wessen Hochzeit?“

„Irgendein Arzt. Die Braut sitzt dort drüben in dem Streifenwagen. Sie und der Pfarrer haben die Explosion vom Parkplatz aus gesehen.“

„Ich rede später mit ihr“, sagte Sam. „Passen Sie auf, dass sie nicht verschwindet. Und der Pfarrer auch nicht. Ich gehe jetzt in die Kirche und überzeuge mich davon, dass es nicht noch irgendwo eine zweite Bombe gibt.“

„Besser Sie als ich.“

Nachdem er nichts gefunden hatte, kehrte Sam an den Rand der Absperrung zurück, wo Gillis wartete. Dort zog er sich die Schutzkleidung aus und sagte: „Alles klar. Ist die Spurensicherung schon eingetroffen?“

Gillis deutete auf sechs Männer, die neben dem Truck des Bombenentschärfungsteams warteten. Jeder von ihnen hielt eine Beweistüte in der Hand. „Sie warten nur auf das Okay.“

„Lass erst einmal die Fotografen rein. Der Krater ist vorn in der Mitte.“

„Dynamit?“

Sam nickte. „Falls ich meiner Nase trauen kann.“ Er drehte sich um und ließ seinen Blick über die neugierige Menge schweifen. „Ich rede jetzt mit den Zeugen. Wo ist der Pfarrer?“

„Sie haben ihn gerade in die Notaufnahme gebracht. Starke Schmerzen in der Brust. Die ganze Aufregung.“

Sam stöhnte auf. „Hat irgendwer mit ihm gesprochen?“

„Ein Streifenpolizist. Die Aussage ist protokolliert.“

„Gut“, sagte Sam. „Dann bleibt mir wohl jetzt nur noch die Braut.“

„Sie wartet im Streifenwagen. Ihr Name ist Nina Cormier.“

„Cormier. Alles klar.“ Sam duckte sich unter dem gelben Absperrband durch und bahnte sich seinen Weg durch die gaffende Menge. Die Frau in dem Streifenwagen bewegte sich nicht, als er näher kam, sondern starrte wie eine Schaufensterpuppe in einem Brautausstattungsgeschäft geradeaus vor sich hin. Er beugte sich vor und klopfte an die Scheibe.

Jetzt wandte sie den Kopf. Große dunkle Augen schauten ihn durch das Glas an. Trotz der verschmierten Wimperntusche war das sanft gerundete Gesicht unbestreitbar hübsch. Sam forderte sie mit einer Handbewegung auf, das Fenster herunterzulassen. Sie gehorchte.

„Miss Cormier? Ich bin Detective Sam Navarro.“

„Ich will nach Hause“, sagte sie. „Ich habe doch schon mit so vielen Polizisten gesprochen. Bitte, kann ich nicht einfach nur nach Hause?“

„Vorher muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“

„Nur ein paar?“

„Na ja, besser gesagt, eine ganze Menge.“

Sie seufzte. Erst jetzt sah er die Müdigkeit in ihrem Gesicht. „Und wenn ich alle Ihre Fragen beantwortet habe, darf ich dann nach Hause, Officer?“

„Versprochen.“

„Und halten Sie Ihre Versprechen auch?“

Er nickte ernst. „Immer.“

Sie schaute auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. „Aber ganz bestimmt“, murmelte sie. „Männer und ihre Versprechungen.“

„Wie bitte?“

„Oh, nichts.“

Er ging um das Auto herum, öffnete die Tür und rutschte hinters Steuer. Die Frau neben ihm sagte nichts; sie saß einfach nur in sich zusammengesunken da. Sie schien fast in diesem wogenden Meer aus weißem Satin zu ertrinken. Nicht nur die Wimperntusche, sondern auch ihr Lippenstift war verschmiert, und das lange schwarze Haar fiel ihr zerzaust über die Schultern. Nicht gerade eine glückstrahlende Braut, dachte er. Sie wirkte wie betäubt und sehr einsam.

Wo, zum Teufel, war der Bräutigam?

Er unterdrückte sein Mitgefühl, griff nach seinem Notizbuch und schlug eine leere Seite auf. „Können Sie mir bitte Ihren vollen Namen und Ihre Adresse nennen?“

Die Antwort war nicht mehr als ein Flüstern. „Nina Margaret Cormier, 318 Ocean View Drive.“

Er schrieb es auf. Dann schaute er sie an. Sie hielt den Blick immer noch gesenkt. „Schön, Miss Cormier“, sagte er. „Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?“

Sie wollte nach Hause. Sie saß nun schon seit anderthalb Stunden in diesem Streifenwagen und hatte mit drei verschiedenen Polizisten gesprochen, hatte alle ihre Fragen beantwortet. Ihre Hochzeit war ein Scherbenhaufen, sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen, und diese Leute auf der Straße gafften sie an, als ob sie einem Monstrositätenkabinett entsprungen wäre.

Und dieser Mann, dieser Polizist mit der Wärme eines Stockfischs, erwartete von ihr, das alles noch einmal durchzumachen?

„Miss Cormier“, seufzte er. „Je schneller wir es hinter uns bringen, desto schneller können Sie nach Hause. Was genau ist also passiert?“

„Sie ist hochgegangen“, sagte sie. „Kann ich jetzt gehen?“

„Was meinen Sie mit hochgegangen?“

„Da war ein lauter Knall. Riesige Rauchschwaden und zerborstene Fensterscheiben. Ich würde sagen, es war eine typische Gebäudeexplosion.“

„Sie haben Rauch erwähnt. Welche Farbe hatte der Rauch?“

„Was?“

„War er schwarz? Weiß?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Beantworten Sie bitte einfach nur die Frage.“

Sie stieß einen verzweifelten Seufzer aus. „Er war weiß, glaube ich wenigstens.“

„Glauben Sie?“

„Also gut, ich bin sicher.“ Sie drehte sich zu ihm um. Zum ersten Mal schaute sie ihn richtig an. Wenn er gelächelt hätte, wenn da auch nur eine Spur von Wärme gewesen wäre, hätte es ein Vergnügen bedeutet, in dieses Gesicht zu schauen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein Haar, das wieder einmal einen Friseur brauchen konnte, war dunkelbraun, sein Gesicht schmal, die Zähne waren perfekt, und seine tief liegenden grünen Augen hatten den eindringlichen Blick eines Polizisten aus einem Romantikthriller. Nur dass dieser hier kein Polizist aus dem Kino war. Er war ein Polizist aus dem wahren Leben und kein bisschen charmant. Er musterte sie mit unbewegtem Gesichtsausdruck, als ob er versuche, ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin einzuschätzen.

Sie erwiderte seinen Blick und dachte: Hier bin ich, die verschmähte Braut. Er fragt sich wahrscheinlich, was mit mir nicht stimmt. Was für schreckliche Mängel ich habe, dass man mich einfach vor dem Traualtar stehen lässt.

Sie vergrub ihre Fäuste in dem Berg aus weißem Satin, der sich auf ihrem Schoß türmte. „Ich bin mir sicher, dass der Rauch weiß war“, sagte sie fest. „Worin auch immer der Unterschied bestehen mag.“

„Es gibt einen Unterschied. Weißer Rauch bedeutet eine relative Abwesenheit von Karbon.“

„Aha. Ich verstehe.“ Was immer das ihm auch sagen mochte.

„Haben Sie Flammen gesehen?“

„Nein. Keine Flammen.“

„Haben Sie etwas gerochen?“

„Sie meinen Gas?“

„Irgendetwas?“

Sie überlegte. „Nicht, dass ich wüsste. Aber ich war ja auch außerhalb des Gebäudes.“

„Wo genau?“

„Reverend Sullivan und ich saßen im Auto. Auf dem Parkplatz hinter der Kirche. Deshalb hätte ich das Gas wahrscheinlich ohnehin nicht gerochen. Aber davon abgesehen ist Erdgas doch sowieso geruchlos, oder?“

„Es kann schwierig sein, es zu identifizieren.“

„Dann heißt es nichts. Dass ich es nicht gerochen habe.“

„Haben Sie vor der Explosion irgendjemand in der Nähe der Kirche gesehen?“

„Nein, nur Reverend Sullivan.“

„Was ist mit Fremden? Irgendjemand, den Sie nicht kannten?“

„Als es passierte, war niemand drin.“

„Ich rede über die Zeit vor der Explosion, Miss Cormier.“

„Davor?“

Sie starrte ihn an. Er starrte zurück, seine grünen Augen waren absolut ruhig. „Sie meinen … Sie denken …“

Er sagte nichts.

„Es war keine undichte Gasleitung?“, fragte sie leise.

„Nein“, gab er zurück. „Es war eine Bombe.“

Sie sank mit einem entsetzten Keuchen zurück. Es war kein Zufall, dachte sie. Es war überhaupt kein Zufall …

„Miss Cormier?“

Wortlos schaute sie ihn an. Irgendetwas an der Art, wie er sie anschaute, dieser unbewegte Blick, jagte ihr Angst ein.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen die nächste Frage stellen muss“, sagte er. „Aber Sie müssen verstehen, dass es etwas ist, das ich verfolgen muss.“

Sie schluckte. „Was … was für eine Frage?“

„Wissen Sie von jemandem, der Ihren Tod will?“

2. KAPITEL

„Das ist verrückt“, sagte Nina. „Das ist Wahnsinn.“

„Ich muss dieser Möglichkeit nachgehen.“

„Was für einer Möglichkeit? Dass diese Bombe für mich bestimmt war?“

„Ihre Trauung war für zwei Uhr angesetzt. Die Bombe explodierte um 2:40. Sie war in der Nähe des Altars deponiert. Der Wucht der Explosion nach zu urteilen besteht kein Zweifel, dass Sie und Ihre sämtlichen Gäste getötet worden wären. Oder zumindest ernsthaft verletzt. Wir sprechen von einer Bombe, Miss Cormier. Nicht von einer undichten Gasleitung. Und auch nicht von einem Unfall. Eine Bombe. Sie war dafür bestimmt, jemanden zu töten. Was ich herausfinden muss, ist, wer das Ziel war.“

Sie sagte nichts. Dies alles war zu entsetzlich, um es sich auch nur auszumalen.

„Fangen wir mit Ihnen an“, sagte Sam.

Benommen schüttelte sie den Kopf. „Ich … ich war es nicht. Ich kann es nicht sein.“

„Warum nicht?“

„Es ist unmöglich.“

„Warum sind Sie sich so sicher?“

„Weil es niemand gibt, der mir den Tod wünscht!“

Ihr Ausbruch schien ihn zu überraschen. Für einen Moment schwieg er. Draußen auf der Straße wandte ein uniformierter Polizist den Kopf und schaute sie an. Sam winkte ihm beruhigend zu, und der Mann drehte sich wieder um.

Nina ballte den zerknitterten Stoff ihres Kleides im Schoß zusammen. Dieser Mann war schrecklich. Sam Spade ohne die geringste Spur menschlicher Wärme. Obwohl es im Auto zunehmend heißer wurde, merkte sie, dass sie fröstelte.

„Können wir das ein bisschen genauer untersuchen?“, fragte er eindringlich.

Sie sagte nichts.

„Haben Sie irgendwelche Exfreunde, Miss Cormier? Irgendwer, der über Ihre Heirat unglücklich sein könnte?“

„Nein“, flüsterte sie.

„Gar keine Exfreunde?“

„Nicht … nicht im letzten Jahr.“

„Sind Sie so lange mit Ihrem Verlobten zusammen? Ein Jahr?“

„Ja.“

„Geben Sie mir auch seinen vollen Namen und seine Adresse, bitte.“

„Dr. Robert David Bledsoe, 318 Ocean View Drive.“

„Dieselbe Adresse?“

„Wir leben zusammen.“

„Warum wurde die Hochzeit abgesagt?“

„Das müssen Sie Robert fragen.“

„Dann war es also seine Entscheidung? Die Hochzeit zu verschieben?“

„Wenn der Eindruck nicht täuscht, hat er mich vor dem Traualtar stehen gelassen.“

„Wissen Sie, warum?“

Sie lachte bitter auf. „Ich bin inzwischen zu der bahnbrechenden Erkenntnis gelangt, dass mir Männer ein totales Rätsel sind, Detective Navarro.“

„Er hat Sie in keiner Weise vorgewarnt?“

„Es war genauso unerwartet wie diese …“, sie schluckte. „Wie diese Bombe. Genau das war es.“

„Um welche Uhrzeit wurde die Hochzeit abgesagt?“

„Gegen halb zwei. Ich kam eben hier an, im Hochzeitskleid und allem. Dann tauchte Jeremy – Roberts Trauzeuge – mit dem Brief auf. Robert hatte nicht einmal genug Mumm, um es mir ins Gesicht zu sagen.“ Sie schüttelte angewidert den Kopf.

„Was stand in dem Brief?“

„Dass er mehr Zeit braucht. Und dass er für eine Weile wegfährt. Das ist alles.“

„Ist es denkbar, dass Robert etwas …“

„Nein, das ist nicht denkbar!“ Sie schaute ihm direkt in die Augen. „Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass Robert etwas damit zu tun haben könnte?“

„Ich muss nun einmal alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, Miss Cormier.“

„Robert ist wirklich zu keiner Gewalt fähig. Er ist Arzt, um Himmels willen!“

„Na schön. Lassen wir das fürs Erste. Wenden wir uns anderen Möglichkeiten zu. Ich nehme an, Sie sind berufstätig?“

„Ich bin Krankenschwester im Maine Medical Center.“

„Auf welcher Station?“

„In der Notaufnahme.“

„Gab es dort irgendwelche Probleme? Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten?“

„Nein. Wir kommen alle gut miteinander aus.“

„Irgendwelche Drohungen? Von Patienten vielleicht?“

Sie gab einen Laut der Verzweiflung von sich. „Bitte, Detective, würde ich es nicht wissen, wenn ich Feinde hätte?“

„Nicht unbedingt.“

„Sie tun Ihr Bestes, damit ich Verfolgungswahn bekomme.“

„Ich bitte Sie nur, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf Ihr Leben zu werfen. Denken Sie an alle Leute, die Sie nicht mögen könnten.“

Nina sank in ihren Sitz zurück. Alle Leute, die mich nicht mögen. Sie dachte an ihre Familie. An ihre ältere Schwester Wendy, mit der sie nie viel verbunden hatte. An ihre Mutter Lydia, die mit einem reichen Snob verheiratet war. Ihren Vater George, der inzwischen bei seiner vierten Frau angelangt war, einer blonden Trophäe, die die Nachkommenschaft ihres Ehemanns als ein Ärgernis betrachtete. Es war eine große, kaputte Familie, aber es waren bestimmt keine Mörder darunter.

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nicht einer, Detective. Es gibt nicht einen.“

Er schwieg, dann seufzte er und klappte sein Notizbuch zu. „Also gut, Miss Cormier. Ich schätze, das war’s dann fürs Erste.“

„Fürs Erste?“

„Ich habe vielleicht noch mehr Fragen. Nachdem ich mit dem Rest der Hochzeitsgesellschaft gesprochen habe.“ Er öffnete die Autotür, stieg aus und drückte sie zu. Durch das offene Fenster sagte er: „Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das Ihnen wichtig erscheint, rufen Sie mich an.“ Er schrieb etwas in sein Notizbuch und hielt ihr die herausgerissene Seite hin, auf der sein Name und seine Telefonnummer standen.

„Dann … kann ich jetzt nach Hause?“

„Ja.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Detective Navarro?“

Er drehte sich wieder zu ihr um. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, wie groß er war. Nachdem sie ihn jetzt in voller Größe sah, fragte sie sich, wie er je auf den Sitz neben ihr gepasst hatte. „Ist noch etwas, Miss Cormier?“

„Sie haben gesagt, dass ich gehen kann.“

„Das ist richtig.“

„Ich habe kein Auto dabei.“ Sie deutete mit dem Kopf auf die zerbombte Kirche. „Und ein Telefon gibt es hier auch nicht. Könnten Sie vielleicht meine Mutter anrufen? Damit sie mich abholt? Ich gebe Ihnen die Nummer.“

„Ihre Mutter?“ Er schaute sich suchend um, dann ging er mit einem Ausdruck der Resignation um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. „Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause.“

„Hören Sie, ich habe Sie nur darum gebeten, dass Sie meine Mutter anrufen.“

„Kein Problem.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. „Ich muss ohnehin bei Ihrer Mutter vorbeifahren.“

„Bei meiner Mutter? Warum?“

„Sie war auf der Hochzeit. Ich muss mit ihr sprechen. Auf diese Weise schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.“

Wie galant, dachte sie.

Er streckte ihr immer noch die Hand hin. Sie übersah sie. Es war ein kleines Kunststück, aus dem Auto herauszukommen, weil sich ihre Schleppe um ihre Beine wickelte und sie sich freistrampeln musste. Als sie sich schließlich aus den Stofflagen herausmanövriert hatte, bemerkte sie, dass er sie amüsiert beobachtete. Sie griff nach ihrer Schleppe und rauschte mit einem wütenden Rascheln an ihm vorbei.

„Äh, Miss Cormier?“

„Was ist?“, fragte sie unfreundlich über die Schulter.

„Mein Auto steht in der anderen Richtung.“

Sie blieb stehen, ihre Wangen brannten. Mr. Detective lächelte jetzt doch tatsächlich, ein voll erblühtes Habe-gerade-den-Kanarienvogel-gefressen-Grinsen.

„Der blaue Taurus dort.“ Er streckte die Hand aus und deutete in die Richtung. „Die Tür ist offen. Ich bin gleich bei Ihnen.“ Er drehte sich um und ging auf die Polizisten zu.

Nina stürmte zu dem blauen Taurus hinüber. Dort spähte sie angewidert durch die Scheibe. In diesem Auto sollte sie mitfahren? In diesem Saustall? Sie öffnete die Tür. Ein Pappbecher kullerte ihr entgegen. Auf dem Boden des Beifahrersitzes lagen eine zerknüllte McDonald’s-Tüte, noch mehr Pappbecher und ein zwei Tage alter Portlands Press Herald. Der Rücksitz war unter noch mehr Zeitungen, Aktenordnern, einer Brieftasche, einer Anzugjacke und – zu allem Überfluss – einem alten Baseballhandschuh begraben.

Sie sammelte den Müll vom Boden des Beifahrersitzes ein, warf ihn auf den Rücksitz und stieg ein. Sie konnte nur hoffen, dass wenigstens der Sitz sauber war.

Detective Stockfisch kam auf das Auto zu. Er wirkte verschwitzt und mitgenommen. Die Hemdsärmel waren jetzt hochgekrempelt, seine Krawatte war gelockert. Selbst jetzt, wo er sich anschickte, den Ort des Geschehens zu verlassen, zogen ihn immer wieder Polizeikollegen beiseite, weil sie noch irgendetwas wissen wollten.

Schließlich glitt er hinters Steuer und schlug die Tür zu. „Okay, wo wohnt Ihre Mutter?“

„Cape Elizabeth. Schauen Sie, Detective, ich sehe, dass Sie viel zu tun haben …“

„Mein Partner hält hier die Stellung. Ich setze Sie ab, spreche mit Ihrer Mutter und fahre dann gleich noch bei Reverend Sullivan im Krankenhaus vorbei.“

„Na prächtig. Auf diese Weise schlagen Sie sogar drei Fliegen mit einer Klappe.“

„Ich glaube an Effizienz.“

Während der Fahrt hüllten sie sich in Schweigen. Sie sah keinen Grund, höflich Konversation zu machen. Höflichkeit würde über den Horizont des Mannes hinausgehen. Deshalb schaute sie aus dem Fenster und dachte mit Gram an die geplatzte Feier und das kalte Büfett, das immer noch auf die Gäste wartete. Sie würde eine Suppenküche anrufen und das Essen abholen lassen müssen, bevor es verdarb. Und dann die ganzen Geschenke, die sich zu Hause stapelten. Einspruch – die sich bei Robert zu Hause stapelten. Es war nie wirklich ihr Zuhause gewesen. Sie hatte nur dort gewohnt, als Untermieterin. Es war ihre Idee gewesen, die Hälfte der Miete zu übernehmen. Robert hatte wiederholt darauf hingewiesen, wie sehr er ihre Unabhängigkeit zu schätzen wusste. Sie hatten sich von Anfang an alle anfallenden Kosten geteilt, und das hatten sie die ganze Zeit über so gehalten. Tatsächlich war ihr immer daran gelegen gewesen, ihm zu zeigen, wie unabhängig sie war.

Jetzt erschien ihr das alles so dumm.

Ich war nie unabhängig, dachte sie. Ich habe immer nur davon geträumt, eines Tages Mrs. Robert Bledsoe zu sein. Es war das, was sich ihre Familie für sie erhofft hatte, was ihre Mutter von ihr erwartet hatte: sich gut zu verheiraten. Sie hatten nie verstanden, dass Nina eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hatte, sie hatten es immer nur als einen Weg betrachtet, wie sie eine gute Partie machen konnte. Einen Arzt heiraten. Gut, sie hatte einen kennengelernt.

Und alles, was ich davon habe, ist ein Berg Geschenke, den ich zurückgeben muss, ein Brautkleid, das ich nicht zurückgeben kann, und einen Tag, den ich nie, nie vergessen werde.

„Sie halten sich sehr gut“, sagte er.

Überrascht darüber, dass Detective Stockfisch gesprochen hatte, schaute sie ihn an. „Wie bitte?“

„Sie nehmen das sehr gelassen. Gelassener, als es die meisten anderen tun würden.“

„Ich weiß nicht, was ich anderes machen sollte.“

„Nach einem Bombenanschlag wäre Hysterie nichts Außergewöhnliches.“

„Ich arbeite in der Notaufnahme, Detective. Ich neige nicht zu hysterischen Anfällen.“

„Trotzdem muss es ein Schock für Sie sein. Die Auswirkungen könnten noch kommen.“

„Wollen Sie etwa damit sagen, das sei jetzt einfach nur die Ruhe vor dem Sturm?“

„Irgend so was.“ Er streifte sie mit einem kurzen Seitenblick. Genauso schnell schaute er wieder auf die Straße. „Warum war Ihre Familie nicht mit Ihnen in der Kirche? Ich hätte erwartet, dass sie Ihnen beistehen.“

„Ich habe sie alle nach Hause geschickt.“

„Eigentlich sollte man meinen, dass Sie sie in einem solchen Moment gern als Stütze um sich gehabt hätten. Das würde den meisten Menschen so gehen.“

Sie schaute aus dem Fenster. „Meine Familie eignet sich nicht sonderlich gut als Stütze. Und ich nehme an, ich wollte … ich musste einfach allein sein. Wenn ein Tier verletzt ist, zieht es sich zurück und leckt seine Wunden, Detective. Das war es, was ich brauchte …“ Sie blinzelte einen unerwarteten Tränenschleier weg und verfiel in Schweigen.

Eine Viertelstunde später klingelte sie an der Haustür ihrer Mutter Sturm und konnte es gar nicht erwarten, dass sich die Tür öffnete. Sie hatte das Gefühl, gleich auseinanderzufallen.

Die Tür ging auf. Lydia, noch immer elegant zurechtgemacht, starrte ihre derangierte Tochter an. „Nina? Oh, meine arme Nina!“ Sie breitete die Arme aus.

Automatisch warf Nina sich hinein. Sie sehnte sich so nach einer Umarmung, dass ihr nicht auffiel, wie sich ihre Mutter ein bisschen zurückzog, damit ihr grünes Seidenkleid nicht verknitterte. Aber sie registrierte Lydias erste Frage.

„Hast du schon etwas von Robert gehört?“

Nina versteifte sich sofort. Oh, bitte, dachte sie. Bitte, tu mir das nicht an.

„Ich bin mir sicher, dass ihr das klären könnt“, sagte Lydia. „Ihr müsst euch einfach nur zusammensetzen und offen darüber reden, was ihn stört, und dann …“

Nina löste sich aus der Umarmung. „Ich setze mich nicht mit Robert zusammen“, sagte sie. „Und was das Offen-darüber-Reden anbelangt, bin ich mir nicht sicher, ob wir überhaupt je offen miteinander gesprochen haben.“

„Also wirklich, Liebling, natürlich ist es ganz normal, dass du wütend bist, aber …“

„Und du bist nicht wütend, Mutter? Kannst du nicht für mich wütend sein?“

„Nun, ja … gewiss. Allerdings kann ich trotzdem keinen Grund dafür sehen, Robert jetzt einfach …“

Das plötzliche Räuspern veranlasste Lydia aufzuschauen. Erst jetzt sah sie Sam, der noch vor der Tür stand.

„Ich bin Detective Navarro, Polizei Portland“, sagte er. „Sie sind Mrs. Cormier?“

„Jetzt Warrenton.“ Lydia schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. „Was hat das zu bedeuten? Was hat die Polizei damit zu tun?“

„Es hat in der Kirche einen Vorfall gegeben, Ma’am. Wir stellen Ermittlungen an.“

„Einen Vorfall?“

„Auf die Kirche wurde ein Bombenanschlag verübt.“

Lydia starrte ihn an. „Das kann nicht Ihr Ernst sein. Das ist völlig unmöglich.“

„Doch, es ist mein voller Ernst. Die Bombe explodierte heute Nachmittag um Viertel vor drei. Glücklicherweise wurde niemand dabei verletzt. Aber wenn die Trauung tatsächlich wie geplant stattgefunden hätte …“

Lydia wurde ganz grau im Gesicht. Sie trat einen Schritt zurück, ihre Stimme versagte.

„Mrs. Warrenton“, sagte Sam. „Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Nina blieb nicht, um zuzuhören. Sie hatte bereits zu viele Fragen über sich ergehen lassen müssen. Sie ging nach oben ins Gästezimmer, wo sie ihren Koffer zurückgelassen hatte – den Koffer, den sie für St. John Islands gepackt hatte. Alles, was sie für eine Woche im Paradies zu brauchen geglaubt hatte.

Sie zog das Brautkleid aus und legte es über einen Sessel, wo es weiß und leblos lag. Nutzlos. Sie schaute in ihren Koffer, auf die ordentlich in Seidenpapier eingeschlagenen zerbrochenen Träume. Da verließen sie die letzten Reste ihrer Selbstbeherrschung. Nur in Unterwäsche setzte sie sich aufs Bett und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf.

Lydia Warrenton war ganz anders als ihre Tochter. Sam hatte es in demselben Moment gesehen, in dem die Frau die Tür geöffnet hatte. Mit ihrem makellosen Make-up, der kunstvollen Frisur und dem grünen Kleid, das ihre körperlichen Reize raffiniert zur Geltung brachte, hatte Lydia nichts mit der Braut gemein. Natürlich gab es eine äußerliche Ähnlichkeit. Sowohl Lydia wie auch Nina hatten das gleiche schwarze Haar, die gleichen dunklen, von langen dichten Wimpern umrahmten Augen. Aber während Nina etwas Weiches, Verletzliches an sich hatte, wirkte Lydia unnahbar, als wäre sie von einem schützenden Kraftfeld umgeben, an dem jeder, der sich ihr zu sehr näherte, abprallte. Natürlich sah sie sehr gut aus und war nicht nur gertenschlank, sondern – dem äußeren Eindruck nach zu urteilen – auch noch vermögend.

Das Haus war ein wahres Antiquitätenmuseum. In der Auffahrt hatte ein Mercedes geparkt. Und vom Wohnzimmer aus hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. Einen Eine-Million-Dollar-Blick. Lydia hatte auf dem Brokatsofa Platz genommen und deutete jetzt auf einen Sessel. Der Stoff wirkte so makellos, dass er den Drang hatte, erst seine Hose abzuklopfen, bevor er sich in die Polster sinken ließ.

„Eine Bombe“, murmelte Lydia, den Kopf schüttelnd. „Ich fasse es einfach nicht. Wer kommt auf die Idee, eine Kirche zu zerbomben?“

„Wir versuchen es herauszufinden, Mrs. Warrenton. Vielleicht können Sie uns ja helfen. Können Sie sich vielleicht denken, warum jemand auf die Good Shepherd Church ein Bombenattentat verüben könnte?“

„Ich weiß nichts über diese Kirche. Ich gehöre ihr nicht an. Es war meine Tochter, die dort heiraten wollte.“

„Sie klingen nicht begeistert.“

Sie zuckte die Schultern. „Meine Tochter hat ihren eigenen Kopf. Ich hätte eine … etabliertere Institution gewählt. Und eine längere Gästeliste. Aber so ist Nina nun mal. Sie wollte es klein und schlicht.“

Schlicht ist Lydia Warrentons Stil definitiv nicht, dachte Sam, während er sich in dem Raum umschaute.

„Aber um Ihre Frage zu beantworten, Detective, nein, ich kann mir keinen Grund denken, warum jemand einen Bombenanschlag auf die Good Shepherd Church verüben sollte.“

Er erkundigte sich als Nächstes, wann und mit wem sie die Kirche verlassen hatte.

„Mit Wendy, meiner anderen Tochter. Roberts Trauzeugen … ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen. Meinem Exmann George und seiner derzeitigen Frau.“

„Derzeitigen.“

Sie schnaubte. „Daniella. Seine vierte bis jetzt.“

„Was war mit Ihrem Mann?“

Sie schwieg einen Moment. „Edward hatte sich verspätet. Seine Maschine aus Chicago flog erst zwei Stunden später ab.“

„Dann ist er immer noch nicht da.“

„Nein. Aber er hatte vor, an der Feier teilzunehmen.“

Wieder schaute Sam sich in dem Zimmer um, ließ seinen Blick über die Antiquitäten schweifen. „Darf ich fragen, was Ihr Mann beruflich macht, Mrs. Warrenton?“

„Er ist der Präsident von Ridley-Warrenton.“

„Der Holzfirma?“

„Richtig.“

Das erklärt natürlich das Haus und den Mercedes, dachte Sam. Ridley-Warrenton war einer der größten Großgrundbesitzer im nördlichen Maine. Die Holzprodukte der Firma wurden weltweit verkauft.

Seine nächste Frage war unvermeidlich. „Mrs. Warrenton, hat Ihr Mann Feinde?“

Ihre Antwort überraschte ihn. Sie lachte. „Jeder, der Geld hat, hat Feinde, Detective.“

„Können Sie mir einen Namen nennen?“

„Da müssen Sie schon Edward selbst fragen.“

„Das werde ich“, sagte Sam und stand auf. „Wären Sie so freundlich, mich anzurufen, sobald Ihr Mann zurück ist?“

„Mein Mann ist sehr beschäftigt.“

„Ich habe ebenfalls viel zu tun, Ma’am“, gab er zurück. Mit einem kurzen Nicken drehte er sich um und verließ das Haus.

„Glaubst du nicht, dass sich eure Beziehung noch kitten lässt?“, fragte Lydia ihre Tochter eine halbe Stunde später, als diese ins Wohnzimmer kam, um sich zu verabschieden.

„Nach dem, was heute passiert ist?“ Nina schüttelte den Kopf.

„Und wenn du dir Mühe gibst? Vielleicht ist es ja etwas, über das ihr reden könnt. Etwas, das du ändern kannst.“

„Mutter. Bitte.“

Lydia sank in die Brokatpolster zurück. „Du bist trotzdem zum Abendessen eingeladen.“

„Vielleicht ein andermal“, sagte Nina sanft. „Machs gut, Mutter.“

Sie hörte keine Antwort, als sie zur Eingangstür ging.

Sie hatte ihren Honda am Morgen hinter dem Haus geparkt. Am Morgen des Tages, der ihr Hochzeitstag hätte sein sollen. Wie stolz hatte Lydia sie angelächelt, als sie neben ihr in der Limousine gesessen hatte! Genauso wie eine Mutter ihre Tochter anlächeln sollte. Nur dass Lydia es noch nie vorher getan hatte.

Und es vielleicht auch nie wieder tun würde.

Diese Fahrt zur Kirche, die lächelnden Gesichter, das übermütige Lachen schien ein Leben weit weg zu sein. Sie startete den Honda und lenkte ihn auf die Straße.

Betäubt fuhr sie nach Süden, in Richtung Hunts Point. Zu Robert nach Hause. Das bis jetzt auch ihr Zuhause gewesen war. Die Straße war kurvenreich. Was ist, wenn Robert die Stadt gar nicht wirklich verlassen hat?, dachte sie. Was war, wenn er zu Hause war? Was würden sie zueinander sagen?

Also, tschüss dann.

Sie umklammerte das Lenkrad fester und dachte an all das, was sie ihm gern sagen würde. Wie benutzt und betrogen sie sich fühlte. Ein ganzes Jahr. Ein ganzes verdammtes Jahr meines Lebens.

Erst als sie an Smugglers Cove vorbei war, warf sie wieder einen zufälligen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihr war ein schwarzer Ford. Derselbe Ford, der schon vor ein paar Meilen hinter ihr gewesen war, in der Nähe vom Delano Park. Zu jeder anderen Zeit hätte sie sich selbstverständlich nichts dabei gedacht. Aber heute, nach allem, was dieser Detective Navarro in Erwägung gezogen hatte …

Sie schüttelte eine vage Beklemmung ab, konzentrierte sich wieder auf die Straße und bog auf den Ocean House Drive ab.

Der Ford auch. Das war noch kein Grund, alarmiert zu sein. Der Ocean House Drive war schließlich eine viel befahrene Hauptstraße.

Nur um ihre Beklemmung loszuwerden, nahm sie die letzte Abfahrt, nach Pebbles Point. Es war eine wenig befahrene Straße. Hier würde der Ford ihr bestimmt nicht mehr folgen.

Der Ford nahm dieselbe Abfahrt.

Jetzt bekam sie wirklich Angst.

Sie drückte das Gaspedal durch. Der Honda gewann an Fahrt. Bei fünfzig Meilen pro Stunde würde sie die Kurven zu schnell nehmen, aber sie war entschlossen, den Ford abzuhängen. Nur dass sie es nicht schaffte. Er hatte seine Geschwindigkeit ebenfalls erhöht und war dicht hinter ihr. Jetzt beschleunigte er, scherte aus und fuhr neben ihr her. Kopf an Kopf nahmen sie die Kurven.

Er versucht mich von der Straße abzudrängen!

Sie schaute zur Seite, doch alles, was sie durch die getönten Scheiben des anderen Wagens erkennen konnte, war die Silhouette des Fahrers. Warum tust du das?, wollte sie ihm zuschreien. Warum, um alles in der Welt?

Plötzlich riss der Fahrer des Fords das Steuer herum. Der Wagen kam auf sie zu. Ihr Ausweichmanöver bewirkte, dass der Honda bedenklich ins Schleudern kam. Nina setzte alles daran, die Spur zu halten.

Ihre Finger umklammerten das Lenkrad. Verdammter Irrer! Sie musste ihn abschütteln.

Sie trat auf die Bremse.

Der Ford schoss an ihr vorbei … doch nur für einen Moment. Sofort bremste er ebenfalls ab, bis er wieder neben ihr war, und setzte seine Versuche, sie von der Straße abzudrängen, fort.

Sie schaffte es, wieder einen Blick nach drüben zu werfen. Zu ihrer Überraschung hatte der Fahrer das Seitenfenster heruntergelassen. Sie erhaschte einen Blick auf ihn … ein Mann. Dunkles Haar. Sonnenbrille.

Im nächsten Moment schaute sie wieder vor sich auf die Straße, die etwas weiter vorn anstieg.

Ein anderes Auto hatte gerade den Bergrücken erklommen und kam direkt auf den Ford zu.

Reifen quietschten. Nina verspürte einen heftigen Stoß, Glasscherben spritzten ihr ins Gesicht. Dann wurde der Honda durch die Luft geschleudert.

Sie war noch nie ohnmächtig geworden. Und sie wurde es auch jetzt nicht, als der Honda abhob und sich am Straßenrand mehrmals überschlug.

Ein Ahorn hielt ihn auf, er blieb aufrecht stehen.

Obwohl sie voll bei Bewusstsein war, konnte sich Nina einen Moment lang nicht bewegen. Sie war zu entsetzt, um Schmerz oder Angst zu verspüren. Alles, was sie empfand, war Überraschung, dass sie noch am Leben war.

Doch nach und nach sickerte ein Gefühl von Unbehagen in sie ein. Ihre Brust schmerzte und ihre Schulter auch. Der Sicherheitsgurt. Er hatte ihr zwar das Leben gerettet, aber er hatte auch ihre Rippen in Mitleidenschaft gezogen.

„Hallo! Hallo, Lady!“

Nina wandte den Kopf und schaute in das Gesicht eines älteren Mannes, der sie beunruhigt ansah. Er rüttelte an ihrer Tür und bekam sie schließlich auf. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er.

„Ich … ich denke schon.“

3. KAPITEL

Gordon Gillis schaute von seinem Hamburger mit Pommes auf. „Irgendwas von Interesse?“, fragte er.

„Absolut nichts.“ Sam hängte seine Jacke an den Garderobenständer und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen, wo er sich müde das Gesicht rieb.

„Wie gehts dem Pfarrer?“

„Ganz gut. Die Ärzte glauben nicht, dass es ein Infarkt war. Aber sie wollen ihn doch noch einen Tag dabehalten, nur zur Sicherheit.“

„Und er hat natürlich keine Idee, wer es gewesen sein könnte.“

„Behauptet, dass er keine Feinde hat. Und alle, mit denen ich gesprochen habe, scheinen Reverend Sullivan für einen ausgemachten Heiligen zu halten.“ Sam lehnte sich mit einem Aufstöhnen zurück. „Und bei dir?“

Gillis biss herzhaft in seinen Hamburger. „Ich habe den Trauzeugen, die Brautführerin und die Floristin befragt. Keiner will etwas bemerkt haben.“

„Was ist mit dem Hausmeister?“

„Wir versuchen noch, ihn zu finden. Seine Frau sagt, dass er normalerweise gegen sechs nach Hause kommt. Ich habe Cooley hingeschickt.“

Gillis’ Telefon klingelte. Er nahm ab. „Ja, was ist?“

Sam sah, dass sein Partner etwas auf einen Notizblock schrieb, den er ihm hinschob. Trundy Point Road stand dort.

Einen Moment später sagte Gillis: „Wir sind schon unterwegs“ und legte auf.

„Was ist?“, fragte Sam.

„Der Anruf kam aus einem Streifenwagen. Es geht um die Braut von heute.“

„Nina Cormier?“

„Ihr Wagen ist in der Nähe von Trundy Point von der Straße abgekommen.“

Ninas Rippen schmerzten, ihre Schulter tat weh, und im Gesicht hatte sie ein paar Kratzer von umherfliegenden Glassplittern. Aber ihr Kopf war klar. Zumindest klar genug, um den Mann zu erkennen, der aus dem blauen Taurus stieg, der gerade am Unfallort vorgefahren war. Es war dieser mürrische Detective, Sam Navarro. Er warf nicht mal einen Blick in ihre Richtung, sondern wandte sich gleich der Unfallstelle zu.

In der hereinbrechenden Dämmerung beobachtete sie, wie er mit einem Streifenpolizisten sprach, der längere Zeit auf Navarro einredete. Als Sam anschließend langsam um den arg mitgenommenen Honda herumging, fühlte sich Nina an eine umherstreifende Wildkatze erinnert. Nachdem er den Boden untersucht hatte, richtete er sich wieder auf, wandte den Kopf und schaute in ihre Richtung.

Und begann auf sie zuzugehen.

Plötzlich spürte sie, dass sich ihr Puls beschleunigte. Irgendetwas an dem Mann faszinierte sie und flößte ihr gleichzeitig Unbehagen ein. Es war mehr als nur seine körperliche Präsenz, die schon allein eindrucksvoll genug war. Es war auch die Art, wie er sie anschaute, dieser nicht zu entziffernde Blick. Diese Unergründlichkeit machte sie nervös. Die meisten Männer schienen sie attraktiv zu finden, und sie würden zumindest versuchen, freundlich zu sein.

Doch dieser Mann schien in ihr nichts anderes als ein potenzielles Opfer zu sehen. Seiner intellektuellen Anstrengung wert, aber nicht mehr.

Als er herankam, straffte sie die Schultern und begegnete, ohne mit der Wimper zu zucken, seinem Blick.

„Sind Sie okay?“, fragte er.

„Nur ein paar Kratzer, das ist alles.“

„Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht röntgen lassen wollen? Ich könnte Sie beim Krankenhaus absetzen.“

„Danke, aber das ist nicht nötig. Ich bin Krankenschwester. Ich wüsste es, wenn es etwas Ernstliches wäre, Detective, das können Sie mir glauben.“

„Es heißt, Ärzte und Krankenschwestern sind die schlimmsten Patienten. Ich werde Sie sofort ins Krankenhaus fahren. Nur zur Sicherheit.“

Sie lachte ungläubig. „Das klingt ja wie ein Befehl.“

„Offen gestanden ist es auch einer.“

„Wirklich, Detective, ich würde es wissen, wenn irgendetwas mit mir nicht …“

Sie sprach zu seinem Rücken. Der Mann hatte ihr doch tatsächlich den Rücken zugedreht! Er war schon unterwegs zu seinem Auto. „Detective!“, rief sie.

Er schaute über die Schulter. „Ja?“

„Ich werde nicht … das ist nicht …“ Sie seufzte. „Ach, vergessen Sie’s“, murmelte sie schließlich und ging ihm nach. Es war sinnlos, mit diesem Mann zu argumentieren. Er würde ihr bloß wieder den Rücken zudrehen. Als sie neben ihn auf den Beifahrersitz glitt, verspürte sie einen Stich in der Brust. Sie wusste, dass es Stunden, ja Tage dauern konnte, bis sich Verletzungen bemerkbar machten. Sie hasste es, es zuzugeben, aber vielleicht hatte er ja doch recht mit seinem Vorschlag.

Sie fühlte sich zu unwohl, um während der Fahrt etwas zu sagen. So war es dann Sam, der schließlich das Schweigen brach.

„Und können Sie mir erzählen, was passiert ist?“

„Ich habe meine Aussage bereits zu Protokoll gegeben. Irgendwer hat mich von der Straße abgedrängt.“

„Ja, ein schwarzer Ford, Fahrer männlich. Zugelassen in Maine.“

„Dann wissen Sie ja schon alles.“

„Der Zeuge des Unfallhergangs sagte aus, er hätte den Eindruck gehabt, dass es sich um einen Betrunkenen gehandelt habe. Er glaubt nicht, dass es Absicht war.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.“

„Wann haben Sie den Ford das erste Mal gesehen?“

„Irgendwo bei Smugglers Cove, glaube ich. Dort fiel mir jedenfalls auf, dass er mir folgte.“

„Hat er Ihnen etwa gewinkt? Hat er Ihnen irgendwelche Zeichen gegeben?“

„Nein. Er ist mir einfach nur … nachgefahren.“

„Kann er schon früher hinter Ihnen gewesen sein?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

„Ist es möglich, dass er schon da war, als Sie vom Haus Ihrer Mutter wegfuhren?“

Sie schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Sein Blick war fest auf die Straße gerichtet. Der Tenor seiner Fragen hatte sich im Lauf des Gesprächs fast unmerklich verändert. Zuerst hatten sie nichtssagend geklungen. Vielleicht sogar skeptisch. Aber die letzte Frage verriet ihr, dass er andere Möglichkeiten in Betracht zog als einen betrunkenen Fahrer. Möglichkeiten, die ihr einen Schauer über den Rücken jagten.

„Wollen Sie damit sagen, dass er dort auf mich gewartet haben könnte?“

„Ich versuche nur, alles auszuloten.“

„Der andere Polizist dachte auch, dass es bestimmt ein Betrunkener war.“

„Das ist seine Meinung.“

„Und was ist Ihre?“

Er antwortete nicht. Er fuhr einfach nur seelenruhig weiter. Zeigte dieser Mann jemals Gefühle? Ein Mal, nur ein einziges Mal würde sie gern etwas sehen, das ihm richtig unter sein dickes Fell ging.

„Detective Navarro“, sagte sie. „Ich zahle Steuern. Ich bezahle Ihr Gehalt. Ich denke, dass ich mehr verdiene, als einfach nur abgebürstet zu werden.“

„Oh. Die alte Leier vom Diener des Staates. Die habe ich schon so oft gehört …“

„Das ist mir egal, Hauptsache, ich bekomme endlich eine Antwort von Ihnen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Sie meine Antwort hören wollen.“

„Warum sollte ich nicht?“

„Ich habe mir Ihr Auto angeschaut und außer schwarzen Lacksplittern, die beweisen, dass der andere Wagen Sie tatsächlich gerammt hat, noch etwas anderes gefunden.“

„Noch etwas anderes?“ Perplex schüttelte sie den Kopf. „Und was genau ist dieses andere?“

„Ein Einschussloch. In der Beifahrertür.“

Nina spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. Sie bekam vor Schreck kein Wort heraus.

Er sprach in sachlichem Ton weiter. Erschreckend sachlich. Er ist kein Mensch, dachte sie. Er ist eine Maschine. Ein Roboter.

„Die Kugel hat Ihr Fenster durchschlagen. Darum ist die Scheibe auf der Fahrerseite zersplittert, noch ehe Sie von der Straße abgekommen sind und sich überschlagen haben. Die Kugel hat Ihren Hinterkopf nur knapp verfehlt und ein Loch in die Plastikverkleidung der Beifahrertür gerissen. Wahrscheinlich steckt sie immer noch drin. Heute Abend werden wir das Kaliber wissen. Und vielleicht auch die Marke der Pistole. Doch was ich noch immer nicht weiß und was Sie mir werden erzählen müssen, ist, warum jemand versucht, Sie zu töten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es muss eine Verwechslung sein“, sagte sie tonlos.

„Dieser Bursche macht sich eine Menge Mühe. Er jagt eine Kirche in die Luft. Verfolgt Sie. Schießt auf Sie. Das ist nicht nur eine Verwechslung.“

„Muss es aber!“

„Denken Sie ganz scharf nach, Nina. Überlegen Sie, wer Sie aus dem Weg räumen will.“

„Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich habe keine Feinde!“

„Sie müssen welche haben.“

„Ich habe aber keine. Ich habe …“ Sie schluchzte trocken auf und hielt sich den Kopf. „Ich habe keine“, flüsterte sie schließlich.

Nach einem langen Schweigen sagte er behutsam: „Es tut mir leid. Ich weiß, dass es schwer fällt zu akzeptieren …“

„Sie haben keine Ahnung, wie ich mich fühle, Detective. Ich habe bis jetzt immer geglaubt, dass mich die Leute mögen. Oder … wenigstens … dass sie mich nicht hassen. Ich habe immer versucht, mit allen gut auszukommen. Und jetzt erzählen Sie mir, dass da draußen irgendwer ist … irgendwer, der mich …“ Sie schluckte und starrte durch die Windschutzscheibe auf die dunkler werdende Straße.

Während Nina im Krankenhaus untersucht wurde, lief Sam im Warteraum auf und ab. Ein paar Röntgenaufnahmen später kam sie noch blasser als vorher zurück. Sicher kam es daher, weil die Realität langsam in ihr Bewusstsein einsickerte. Sie konnte die Gefahr nicht mehr leugnen.

Als sie wieder in seinem Wagen saß, sagte sie nichts, sondern starrte nur wie betäubt vor sich hin. Sam streifte sie ab und zu mit einem Seitenblick und machte sich darauf gefasst, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen konnte, aber sie rührte sich nicht. Es machte ihn nervös. Und besorgt. Es war nicht normal.

Er sagte: „Sie sollten heute Nacht nicht allein sein. Gibt es jemand, zu dem Sie gehen können?“

Ihre Antwort war ein fast unmerkliches Schulterzucken.

„Zu Ihrer Mutter?“, schlug er vor. „Ich fahre Sie nach Hause, dann können Sie sich ein paar Sachen zusammenpacken und …“

„Nein. Nicht zu meiner Mutter“, murmelte sie.

„Warum nicht?“

„Ich … ich will … ich will ihr keine Unannehmlichkeiten machen, darum nicht.“

„Unannehmlichkeiten? Ihrer Mutter?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Entschuldigen Sie, dass ich frage, aber sind Mütter nicht dazu da? Um uns aufzuheben, wenn wir hingefallen sind, und uns den Staub aus den Kleidern zu klopfen?“

„Die Ehe meiner Mutter ist nicht … na ja …“

„Sie kann ihre Tochter nicht in ihr eigenes Haus einladen?“

„Es ist nicht ihr Haus, Detective. Es gehört ihrem Mann. Und er hält nicht sehr viel von mir. Um die Wahrheit zu sagen, beruht dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit.“ Sie schaute geradeaus, und in diesem Moment kam sie ihm sehr tapfer vor. Und sehr allein.

„Seit dem Tag ihrer Heirat kontrolliert Edward Warrenton jede Kleinigkeit im Leben meiner Mutter. Er drangsaliert sie, und sie lässt es sich, ohne mit der Wimper zu zucken, gefallen. Weil sein Geld sie für alles, was er ihr antut, entschädigt. Ich konnte es irgendwann einfach nicht mehr mit ansehen und bin ausgezogen.“

„Das war wahrscheinlich das Beste, was Sie tun konnten.“

„Es hat aber zur Familienharmonie nicht das Geringste beigetragen. Ich bin mir sicher, dass Edward nur nach Chicago gefahren ist, weil er sich um die Teilnahme an meiner Hochzeit herumdrücken wollte.“ Sie seufzte. „Ich weiß, dass ich mich nicht über meine Mutter ärgern sollte, aber ich tue es trotzdem. Ich ärgere mich, dass sie sich nie gegen ihn wehrt.“

„Schön. Dann also nicht zu Ihrer Mutter. Was ist mit dem lieben alten Dad? Kommen Sie mit ihm besser klar?“

Sie nickte. Nur andeutungsweise. „Ich nehme an, bei ihm könnte ich bleiben.“

„Gut. Weil ich Sie nämlich heute Nacht unter keinen Umständen allein lasse.“ Er hatte den Satz eben ausgesprochen, als ihm klar wurde, dass er ihn nicht hätte sagen sollen. Das klang ja fast so, als ob er sich etwas aus ihr machte, als ob er seine persönlichen Gefühle mit seinem Beruf vermischte. Dabei war er ein viel zu guter Polizist, ein viel zu vorsichtiger Polizist, um so etwas jemals zuzulassen.

Er fühlte ihren überraschten Blick auf sich ruhen.

In einem Ton, der kälter war als beabsichtigt, sagte er: „Sie könnten mein einziges Verbindungsglied zu diesem Bombenanschlag sein. Ich brauche Sie für meine Untersuchung lebendig.“

„Oh. Natürlich.“ Daraufhin verfiel sie in Schweigen, bis sie das Haus am Ocean View Drive erreicht hatten.

Sobald er geparkt hatte, machte sie Anstalten auszusteigen. Er packte sie am Arm und zog sie ins Wageninnere zurück. „Warten Sie einen Moment.“

„Was ist?“

„Bleiben Sie noch eine Minute sitzen.“ Er stieg aus und schaute sich eingehend um, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Die Straße lag verlassen da.

„Okay“, sagte er. „Packen Sie nur ein paar Sachen zusammen, mehr Zeit haben wir nicht.“

„Ich hatte eigentlich auch nicht vor, meine ganzen Möbel mitzunehmen.“

„Ich wollte damit nur sagen, dass Sie es kurz und schmerzlos machen sollen. Wenn wirklich jemand hinter Ihnen her ist, wird er hierher kommen. Deshalb ist es besser, wenn wir uns nicht allzu lange hier aufhalten, okay?“

Sie waren noch nicht länger als fünf Minuten in dem alten, aber großen, geschmackvoll eingerichteten Haus, als das Telefon klingelte. Sam spürte, wie ihm das Adrenalin sofort durch die Blutbahn schoss.

„Soll ich rangehen, Detective?“, fragte Nina aus dem Schlafzimmer. Jetzt erschien sie mit bleichem und angespanntem Gesicht auf der Schwelle.

Er nickte.

Er stellte sich hinter sie, als sie den Telefonhörer abnahm und „Hallo?“ sagte.

Niemand antwortete.

„Hallo?“, wiederholte Nina. „Wer ist da? Hallo? Nun melden Sie sich doch!“

Ein Klicken ertönte, dann, nach einem Moment der Stille, das Freizeichen.

Nina schaute Sam an. Sie stand so dicht bei ihm, dass ihr Haar, das wie schwarze Seide war, sein Gesicht streifte. Während er ihr in diese großen dunklen Augen schaute, ertappte er sich dabei, dass er auf ihre Nähe mit einer unerwarteten Welle von Verlangen reagierte.

Das darf nicht sein. Das darfst du nicht zulassen.

Hastig trat er einen Schritt zurück. Doch selbst jetzt, nachdem sie einen guten Meter voneinander entfernt standen, konnte er ihre Anziehungskraft immer noch spüren. Es ist noch nicht weit genug, dachte er. Diese Frau raubte ihm sein logisches Denkvermögen. Und das war gefährlich.

Er senkte den Blick und sah plötzlich, dass der Anrufbeantworter blinkte. Er sagte: „Sie haben Nachrichten.“

„Wie bitte?“

„Auf Ihrem Anrufbeantworter. Sie haben drei neue Nachrichten drauf.“

Benommen schaute sie auf den Apparat. Automatisch drückte sie die Wiedergabetaste.

Man hörte dreimal den Piepton, gefolgt von einer dreimaligen Stille und dann das Besetztzeichen.

Wie gelähmt starrte sie auf den Apparat. „Warum?“, flüsterte sie. „Warum rufen sie an und legen dann auf?“

„Um zu sehen, ob Sie zu Hause sind. Lassen Sie uns besser gehen.“

Sie entspannte sich erst wieder ein bisschen, als sie im Auto saßen. Er behielt während der Fahrt den Rückspiegel im Auge, aber er konnte keinen Hinweis darauf entdecken, dass sie verfolgt wurden.

„Gleich sind Sie im Haus Ihres Vaters, dann wird es Ihnen wieder gut gehen.“

„Und dann?“, fragte sie leise. „Wie lange muss ich mich dort verstecken? Wochen? Monate?“

„Bis wir diesen Fall aufgeklärt haben.“

Sie schüttelte unglücklich den Kopf. „Es macht einfach keinen Sinn. Nichts davon macht Sinn.“

„Vielleicht kommt ja ein bisschen Licht in die Sache, wenn wir mit Ihrem Verlobten sprechen. Haben Sie denn eine Idee, wo er sein könnte?“

„Wie mir scheint, bin ich der letzte Mensch, den Robert in seine Pläne einweihen wollte …“ Sie schlang sich die Arme um die Taille. „In dem Brief stand, dass er für einige Zeit verreisen wollte. Wahrscheinlich wollte er einfach nur weg. Von mir …“

„Von Ihnen? Oder von jemand anders?“

Sie schüttelte den Kopf. „Da ist so viel, was ich nicht weiß. So viel, was er mir nie erzählt hat. Gott, ich wünschte, ich würde es verstehen. Ich würde damit zurechtkommen. Ich komme mit allem zurecht. Ich will es nur verstehen.“

„Dieser Anrufer könnte die Absicht haben, Ihrem Haus einen Besuch abzustatten“, sagte er. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich es gern im Auge behalten. Nur um zu sehen, wer hier auftaucht.“

Sie nickte. „Ja. Natürlich.“

„Geben Sie mir Ihre Einwilligung?“

„Sie meinen … reinzugehen?“

„Falls unser Verdächtiger einzubrechen versucht, könnte ich ihn drin erwarten.“