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Aus Alt mach Jung – Chaos unterm Modehimmel: die turbulente Komödie "Jung und jünger" von Leni Ohngemach jetzt als eBook bei dotbooks. Endlich! Veras großes Ziel ist zum Greifen nah – Chefdesignerin beim Modelabel VIRGO. Doch ihr neuer Chef sieht das ganz anders. Sein Urteil: Mit ihren fast 40 Jahren ist Vera zu alt für den Job. Frisches Blut muss her! Aber so leicht lässt sich Vera nicht ausmustern. Kurzerhand stylt sie sich jung – und erobert als angeblich 23-jährige Luna im Handumdrehen die Chefetage des Modelabels. Niemand würde je auf die Idee kommen, dass Vera und Luna die gleiche Person sind. Doch dann verliebt sich Vera in den attraktiven Buchhalter Alex – steht der am Ende auch nur auf jung und hip? Eine hinreißendes Lesevergnügen für Frauen, die sich nichts diktieren lassen und immer so jung sind, wie sie sich fühlen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: "Jung und Jünger" von Leni Ohngemach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Über dieses Buch:
Endlich! Veras großes Ziel ist zum Greifen nah – Chefdesignerin beim Modelabel VIRGO. Doch die neue Geschäftsführung sieht das ganz anders: Mit ihren fast 40 Jahren ist Vera zu alt für den Job. Frisches Blut muss her! Am besten jung, begabt und mit viel Potential. Aber so leicht lässt sich Vera nicht ausmustern. Sie erfindet sich komplett neu und erobert als 23-jähriges Jungtalent Luna die Chefetage des Modelabels. Niemand würde je auf die Idee kommen, dass Vera und Luna dieselbe Person sind.
Doch dann taucht zur ungünstigsten Zeit ausgerechnet der attraktive Buchhalter Alex auf, der auch nicht der ist, der er vorgibt zu sein – und Vera und Luna’s Leben wird von Tag zu Tag komplizierter …
Eine hinreißendes Lesevergnügen für Frauen, die sich nichts diktieren lassen und genauso jung sind, wie sie sich fühlen.
Über die Autorin:
Leni Ohngemach, geboren in Stuttgart, war nach dem Studium in München und Theaterarbeit mit George Tabori als Drehbuchautorin bei Film und Fernsehen tätig. Sie schrieb unter anderem das Drehbuch zum Erfolgsfilm Das Superweib und dem international preisgekrönten Zweiteiler Opernball. Who is Who, ihr erster Roman, wurde 2004 erfolgreich als Zweiteiler verfilmt. Ihr zweiter Roman Jung und jünger erschien 2007. Heute lebt und schreibt die Autorin in Los Angeles und Berlin.
Bei dotbooks veröffentlichte Leni Ohngemach außerdem das eBook Who is Who? Chaos an der Côte d’Azur.
Die Website der Autorin: http://www.leniohngemach.com/
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eBook-Neuausgabe Januar 2017
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Lorelyn Medina
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-507-5
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Leni Ohngemach
Jung und Jünger
Roman
dotbooks.
»Meinen Girlfriends gewidmet.
Vergesst nie, ihr seid schön, begabt
und die besten dudes der Welt – love you!«
»What the Caterpillar calls the end of the world,
the masters call a butterfly.«
Draußen warteten die fashionistas ungeduldig im Mailänder Septemberregen. Drinnen im Weißen Saal des Messegebäudes der Fiera regierten das Chaos und der Wahnsinn der letzten Minuten vor der Show. Der DJ spielte an seiner Anlage herum, stellte Pegel ein, während sich im Hintergrund hundert verschiedene Handy-Klingeltöne mischten. Am Ende des Laufstegs montierten zwei Ausstatter nervös am Logo von VIRGO, ein schwieriges Unterfangen, die fluoreszierenden Buchstaben hingen einzeln wie ein Mobile von der Decke und bewegten sich unabhängig voneinander, wobei sich das R und das G ineinander verfingen. Der Abstand zwischen den Buchstaben war zu klein. Konnte eigentlich jedes Kind sehen, aber nein, sie würde sich jetzt nicht einmischen, sondern darauf vertrauen, dass die beiden Spezialisten vom Bauteam das selbständig in den Griff bekamen.
Sie kontrollierte zusammen mit der Pressedame schnell die Namensschilder und nahm noch eine Umstellung vor. Es gab kaum Unangenehmeres als mit Presseagenten über die Sitzordnung zu streiten. Die Aufteilung bei den Shows war immer mehr oder weniger dieselbe. In der Mitte der Steg, rechts und links die Sitzreihen, wobei auf der einen Seite die Leute der wichtigsten Modezeitschriften vertreten waren, gemischt mit Prominenten, wenn verfügbar, ihnen gegenüber die Einkäufer der wichtigsten Kaufhäuser und Boutiquen rund um den Globus. Am Ende der Runway auf einem Podest standen die Fotografen und Presseleute.
Alles hatte seine innere Ordnung und spiegelte eine Hierarchie wider, die so streng war wie die am Hof des Sonnenkönigs.
Manchmal war sie kurz davor, alles hinzuschmeißen, es gab Tage, an denen fühlte sie sich zu alt für dieses lächerliche feeding frenzy, dieses animalische Gedrängel um den besten Platz am Futtertrog. Der Abscheu hielt meist nur kurz an. Im nächsten Moment schoss wieder literweise Adrenalin durch ihre Adern, um sie in diese fiebrige Euphorie zu versetzen, es gab nichts Erregenderes als die Erwartung des großen Spektakels und nichts, das ihr mehr Überlegenheit vermittelte, als mittendrin und dadurch über der Sache zu stehen.
Nebenbei war sie am Telefon, das in den letzten Stunden heißgelaufen war. Dank des Headsets hatte sie die Hände frei.
»Für die Sommerkollektion hat sich Yves ganz von der Stimmung früher Fellini- und Antonioni-Filme inspirieren lassen, feminine Linien, leuchtende Farben, alles pastell, Capri-Fischer, La dolce vita, Sophia Loren …«
Gewisse Redakteurinnen hatten es gern, wenn man ihnen alles vorkaute, sie tippten bereits am Telefon mit, besonders, wenn es ihnen nicht gelungen war, persönlich zu kommen, andere redeten nicht einmal mit ihr, sie wollten sich ihr eigenes Bild machen und hatten ihre eigenen Meinungen. Es gab keine Regeln. In der zweiten Leitung beschwerte sich eine Fernsehmoderatorin, dass sie nichts umsonst bekam, wo doch Armani ihr »immer alles« spendiere. Natürlich wusste Vera, dass »immer« nur ein Mal vorgekommen war, vor mindestens fünf Jahren, bei irgendeinem Filmball in München, who cares, fünf Jahre waren in der Modewelt so viel wie tausend im normalen Leben. Keiner erinnerte sich. Oder wollte sich erinnern. Es waren immer die Prominenten aus der zweiten und dritten Reihe, die sich am schlimmsten aufführten.
»Dann fragen Sie doch Herrn Armani, ich kann Ihnen gerne seine Nummer geben …«
Nein. Sie verkniff sich den Satz, wenngleich es manchmal schwer fiel, sich nicht wie eine bitch zu verhalten. Eine Schneiderin mit einem ungebügelten Damastrock in der Hand und panisch aufgerissenen Augen kam auf sie zu gerannt.
»Vera – er braucht dich! Dringend!«
Sie beendete das Telefonat in Sekundenschnelle und sprang mit einem sportlichen Satz auf den Laufsteg – die würden das schon geregelt kriegen mit der Sitzordnung –, rauschte wieder zurück nach hinten zu den Umkleiden. Ein zweiter Saal, kleiner als der Hauptraum, alles hell und neu, aufgeteilt in einen Schmink- und einen Ankleidebereich. Die hintere Hälfte bestand aus Kleiderständern mit den Outfits für die Show, der Reihenfolge nach geordnet, von durchsichtigen Plastikhüllen geschützt, an denen jeweils ein Polaroid Foto und eine genaue Beschreibung aller Accessoires klebten; auf der anderen Seite große Wandspiegel mit Stühlen davor, auf denen die Models geschminkt wurden.
Im Vorbeigehen besah sie sich nochmals einige Mädchen, an die letzte Hand angelegt wurde. Es war eine ziemlich spannende, individualistische Gruppe. Yves hatte Wert auf ungewöhnliche, zeitgemäße Gesichter gelegt. Einzig durchgängiges Motiv war, dass alle Mädels – außer den beiden afrikanischen Stars – einen Tag vorher einen fake bake verpasst bekommen hatten, der dafür sorgte, dass die leuchtenden Farben noch mehr auf der Haut strahlten. Als Vera nämlich aufgefallen war, dass Yves’ »neue« Kollektion fast nur aus Kopien der Kostüme seiner Lieblingsfilme aus den fünfziger Jahren mit Sophia Loren und Anna Magnani bestand, in die er sich so gerne zurückversetzte, hatte sie einen Panikanfall bekommen und fieberhaft überlegt, wie man diese nicht sehr neue Retro-Idee wenigstens noch mit etwas Zeitgemäßem ›verfremden‹ konnte, und wie immer in der Krise war sie gemeinsam mit Werner, ihrem besten Freund und Chefstylisten, auf eine Lösung gekommen.
Was Yves’ Liebe für diese Filme anging, sie hätte tiefenpsychologische Werke über das Warum und Woher schreiben können. Seine ältere Schwester Ingeborg, zugleich Mutterersatz, spielte dabei die zentrale Rolle in Yves’ Sehnsucht nach frühkindlicher Nachkriegsidylle in Pastell. Nun ja. Es war grundsätzlich nichts daran auszusetzen, woher Yves seine Inspirationen nahm, außer dass Dolce & Gabbana zwei Jahre zuvor bereits die gleiche Idee gehabt hatten. Da sie Yves seine nostalgische »Vision« nicht mehr hatte ausreden können, hatte sie vorgeschlagen, durch die Auswahl der Models und der Accessoires die Sache wenigstens so weit zu verfremden, dass man irgendetwas Zeitgeistiges darin finden konnte.
Die Stylistinnen, ihre Assistentinnen und Helfer hatten alle Hände voll zu tun. Selbst bei diesen perfekten Körpern lohnte sich die Verwendung von Doppelklebeband, zum Beispiel wenn eine Brust nicht genau auf der Naht saß. Letzte Knöpfe wurden angenäht, Reißverschlüsse repariert. Im Make-up arbeiteten bis zu drei Haarstylisten an einem Model, Lockenwickler wurden ein- und ausgewickelt, Haare gebügelt, mit Glanzspray eingetuftet. Make-up wurde aufgetragen, falsche Wimpern eingeklebt, Lippen nachgezogen und geglosst. Die Models saßen zumeist geduldig und völlig abwesend da und ließen mit sich machen, was zu machen war, während sie ihrer Lieblingsmusik auf dem iPod lauschten oder in Zeitschriften blätterten oder Tagebuch schrieben oder telefonierten oder Bücher lasen, darunter auch literarische und philosophische Werke, man staune. Diese Kreaturen in ihren weißen Bademänteln waren mit ihren Gardemaßen zwar anders als der Rest der Welt weil sie einen Sechser in der genetischen Lotterie gewonnen hatten, aber zumeist und entgegen der allgemeinen Ansicht waren sie auch einfach nur ganz nette junge »normale« Menschen. Mit gewissen Ausnahmen.
Aus den Augenwinkeln konnte Vera sehen, wie Yasmin, das afrikanische Supermodel und Kronjuwel der Show, die berühmte Ausnahme, genervt an einem Büstenhalter aus sehr feiner Organza-Spitze herumzerrte und dabei eine eingeschüchterte Schneidergehilfin anmoserte, die kurz davor war, heulend davonzurennen. Yasmins Dreisprachigkeit erschöpfte sich leider in ihrem reichhaltigen Repertoire an Schimpfwörtern, die sie auf das arme Mädel losließ, das im Jahr einen Bruchteil von dem verdiente, was Yasmin an einem Abend wegschnupfte. Eins der Models hatte eine sichtbar geschwollene Oberlippe von einer Injektion, Collagen, Restylane, was auch immer, eigentlich unverzeihlich und etwas, das nur mehr selten vorkam. Ein anderes Mädel tränkte Watte mit Orangensaft, wer konnte ihr den seltsamen Snack verbieten, solange ihr BMI über achtzehn war. Dazwischen und daneben pirschten ausgesuchte Fotografen und Videoteams herum plus dem gesamten Spektrum an Freunden und Maskottchen in unterschiedlichen Stadien des Drogenkonsums von leicht angeschickert und benebelt – dank kistenweisen Vorräten an »Cordon Rouge«, schon bei der französischen Boheme das Getränk du choix – bis hin zu einer aufgekratzten verkoksten Klarheit. Alle Klischees über die Dekadenz der Modewelt waren wahr. Und untertrieben.
»Veeeeeeeera! Verdammtnochmaaaaaaaaaaaaaal …«
Der Meister rief. Sie kannte Yves’ immer heisere, leicht fistelnde Stimme aus Tausenden heraus, sie hatte die Dringlichkeit eines durstigen Kindes, das nach der Mutterbrust krakeelt. Sein Schreien kam vom Ende eines Ganges, in den sie schnell abbog, bewacht von einem Security-Mann. Sie hastete an den Toiletten vorbei – praktischerweise waren auch die Männertoiletten bis auf eine Ausnahme zu Frauentoiletten umfunktioniert worden –, während sie weiter die letzte Kollektion der Redakteurin beschrieb, deren Flieger in London festhing und die es auf keinen Fall mehr schaffte, persönlich dabei zu sein.
»Für den Abend haben wir Golddamast, von rumänischen Nonnen handgewebt, mit byzantinischen Motiven, dem Allerfeinsten, wozu Menschenhand fähig ist …«
Sie hoffte nur, der Papst las nie die »Vogue«. Er käme womöglich noch auf den Gedanken, eine angemessene Bezahlung für seine Nonnen zu fordern, und dann war es aus mit dem schönen Damast. Eines der paradoxen Details des Modebusiness war, dass man während der Sommerkollektionen mit Redaktionen über die Wintersachen redete und umgekehrt.
Eine Toilettentür stand offen. Ein sehr junges Model mit einer Glatze und einem Tattoo auf dem Nacken stand mit hängenden Schultern vor der Toilettenschüssel und steckte sich ungerührt mehrere Male den Finger in den Hals, was als Ergebnis ein ungesundes, trockenes Röcheln nach sich zog. Das Mädel hatte sich den knielangen, hautengen Zigarettenrock mit Seitenschlitzen halb hochgerafft, der Reißverschluss auf den Seiten stand offen, wenigstens dachte sie mit. Vera merkte sich, dass alles noch mal nachgebügelt werden musste, während sie unvermindert ins Headset flötete.
»Goldlamé, Silber, Paisley, Zigarettenröcke, sehr edel, gebrochen mit …«
In dem Moment war das Model mit der Glatze endlich erfolgreich und erbrach sich mit einem lauten, befreienden Rülpser. Vera deckte den Hörer ab und hastete weiter.
»Wo war ich? Ach ja, gebrochen mit sehr rustikalen Accessoires … wie Hornschmuck …«
Beinahe wäre sie mit einem zarten Kind zusammengestoßen, das mit unsicheren Schritten in die letzte Toilettenkabine hineinstakste. Sie kam nicht von den Umkleiden, sondern von draußen, vom Notausgang, und es schien Vera, als ob sich unter ihrem bronzenen Teint eine ungesunde Bleichheit verbarg. Vielleicht war die Auswahl der Gesichter doch zu individuell und zeitgemäß? Das Mädel war dünn. Hatte sie sich nach ihrem BMI erkundigt? Angesichts des letzten Skandals in Madrid ging eine Alarmglocke in ihr an. Aber ihr blieb nicht genügend Zeit, um dem jetzt nachzugehen.
»Diese bescheuerten Tussen …«
Yves’ Stimme krähte laut und deutlich aus dem kleinen Kämmerchen am Ende des Gangs. Es war so weit. Yves brauchte dringend seinen Baldrian. Sie betrat den kleinen Raum und folgte der Stimme. Sie konnte Yves zuerst nicht erkennen, so dicht war der Rauch in der Ecke, wo er sich eine kleine Pausenzigarette gönnte und Hof hielt, umschwärmt von seiner jugendlichen Entourage. Schnell beendete sie das Telefonat, um sich um ihr Problemkind zu kümmern.
»Alles okay Yves?«
Als Antwort streckte ihr Yves die neueste Ausgabe der deutschen »Vogue« entgegen.
»Jeden Satz haben sie falsch zitiert, diese Scheißschlampen! Ich hab dir gleich gesagt, die werden uns ficken …«
Seit Yves diesen türkischen Rapper um sich hatte, Izmir Ybel – der Junge hatte Humor, das musste man ihm lassen –, fand Yves es schick, zu reden wie ein Gassenjunge. Er pfefferte nicht nur das Objekt seiner Erregung auf den Boden – die Titelstory lautete »Ist VIRGOS Unschuld dahin?« –, sondern trampelte demonstrativ mit seinen blankgewienerten Edel Bikerstiefeln darauf herum, als wäre es eine Gitarre und er Alice Cooper, zum allergrößten Vergnügen des wild mit schwenkenden Kameramanns seines eigenen Jungfilmerteams von der Filmhochschule in Babelsberg, das Yves seit neuestem überallhin begleitete und in ihm einen gewissen morbiden Hang zum Vulgären und Theatralischen provozierte. Yves liebte diese permanente Selbstdarstellung und übte wahrscheinlich bereits für seine eigene Reality-Show. Vera hatte für diese Art Drama momentan keine Zeit.
»Die Italiener wollen eine Strecke über die Winterkollektion machen, den Fotografen kannst du dir selbst aussuchen, und ein Editorial über dich, exklusiv, die letzten fünfzehn Jahre, mit Interview …«
Veras leise dahingesagte Worte hatten durchschlagenden Erfolg. Yves stoppte wie schockgefroren mitten in der Bewegung und verwandelte sich übergangslos wieder in das Kuschelbärchen, das sie seit fast zehn Jahren kannte und liebte.
»Was würd ich bloß tun ohne dich, meine Süße …«
Er übertrieb wie immer in jeder Hinsicht und schmiegte sich glücklich wie ein beschenktes Kind am Heiligabend an Vera, die ihm eine Papierserviette reichte, damit er sich das schweißnasse, aufgedunsene Gesicht abtupfte. Seine Hände zitterten wie Espenlaub. Sie musste ihm die Hand führen. Er sah wirklich mitgenommen aus. Aber zu tieferen Gedanken oder Ratschlägen für eine gesündere Lebensführung war jetzt nicht die Zeit. Gleich startete die Show. Zur Sicherheit zog Vera ein Fläschchen Baldrian aus der Tasche und flößte Yves ein paar Tropfen ein. Er verzog ungnädig wie ein Kleinkind das Gesicht, schluckte es aber brav und mit leicht verzogenen Mundwinkeln.
Das war das Einzige, was sie im Moment für ihn tun konnte. Er reagierte nie besonders positiv, wenn Vera gelegentlich versuchte, ihn auf gewisse Gefahren seines unbeschwerten Drogenkonsums zwischen Alkohol, uppers und downers, in allen Varianten, aufmerksam zu machen. Vera hatte irgendwann aufgegeben, ihn bekehren zu wollen, sie war schließlich nicht von der Heilsarmee, außerdem war Yves über achtzehn, und Drogen gehörten zum Modebusiness wie Wasser ins Aquarium. Draußen am Gang trommelte Nika, ein rothaariges Model aus Island, schon länger ungeduldig gegen die hinterste Toilettentür. Vera ließ Yves mit dem Fläschchen Baldrian allein und trat hinaus in den Gang. Es war dieselbe Tür, hinter der vor geraumer Zeit das blasse Kind verschwunden war. Nika klopfte ein wenig heftiger gegen die Tür.
»Lily? Hello!?«
Keine Antwort. Kein Geräusch. Nichts. Vera legte ein Ohr an die Tür, lauschte. Klopfte nochmals. Wieder nichts. Nika und Vera tauschten einen Blick. Vera versuchte, unter der Tür hindurchzusehen. Einem Impuls folgend, schmiss sie sich in der nächsten Sekunde auf den Boden und quetschte sich wie ein Terror-Spezialkommando unter der Klotür durch. Das bleiche Kind war ohnmächtig vor der Schüssel zusammengebrochen.
»Ich halt diesen dauernden Psychostress nicht aus.«
Yves, der trotz Rauch und Dunstglocke im Raum etwas von der Aufregung im Gang mitbekommen hatte, grabschte sich instinktiv die Baldrianflasche und leerte sie in einem Schluck. Danach legte er sich in aller Ruhe eine Linie Koks.
»Zur Sicherheit.«
***
Die Sitzreihen draußen im Saal waren dichtbesetzt. Die Lichter gingen aus. Die ersten Töne aus dem Lautsprecher erklangen, ein dunkler, tiefer Elektrobass, der langsam pulsierte wie ein Herzschlag. Zu dem Bass gesellte sich eine hohe sphärische Frauenstimme. Der Bass wurde schneller. Ein Spot richtete sich auf ein Bassin am Rand des Stegs, eine Kopie der Fontana di Trevi, Styropor, aus dessen Innern im nächsten Moment ein Mädchen herausschnellte: Yasmin. Sie sah aus wie eine Göttin in ihrem weißen Baumwollkleid, das an ihrem perfekten Körper klebte, als sie auf den Steg trat wie eben aus dem Wasser des Nils. Barfuß, die Schuhe lässig über der Schulter baumelnd, mit perlenden Wassertropfen auf der Haut, dank vorherigem intensiven Einölen ihres Körpers, der in seiner dunklen Komplexion beinahe bläulich wirkte.
Der gesamte Saal hielt einen Sekundenbruchteil lang den Atem an, um im nächsten ein hundertfaches gemeinsames »Aaaaaaaaaaaaaaah« zu raunen.
Keiner blieb mehr sitzen.
Der Anfang war gigantisch.
Yves’ Gesicht hinter dem Vorhang verzog sich zu einem nervösen, siegessicheren Grinsen. Er wusste durchaus, dass die Show origineller war als die Kleider selbst, aber was auch immer der Grund wäre, er ahnte, es könnte ein Erfolg werden. Und er wusste, er würde es Vera zu verdanken haben, die mal wieder einen ihrer plötzlichen Einfälle gehabt hatte, als er sich zum x-ten Male Fellinis La dolce vita in Original angesehen und dabei wie üblich die Dialoge italienisch mitgesprochen hatte. Jedes Mal wieder, wenn er Anita Ekberg in die Fontana di Trevi steigen sah, brach Yves in verwundertes, staunendes Entzücken aus. Was hatte es an sich mit Frauen, die aus dem Wasser stiegen? Es hatte etwas unerklärlich Magisches, grübelte Yves.
Vera indes hatte andere Sorgen.
»Nein, ich kann nicht, mir ist schlecht …«
Das Kind, Lily, das Vera aus der Toilette gefischt hatte, wendete sich angeekelt von den Salzstangen und der Cola ab, die Vera ihr einflößen wollte. Sie hatte gewartet, bis die Kleine wieder zu sich kam, und sie in eine relativ ruhige Ecke hinter einem der Kleiderständer verfrachtet. Vera war am Ende ihres Lateins und überlegte fieberhaft, wer stattdessen in das Brautkleid passte.
»Du gehst jetzt nach Hause. So lasse ich dich nicht arbeiten.«
Lily fing an zu weinen.
»Nein, bitte nicht … Ich tu auch alles, was Sie sagen …«
Die Kleine grabschte in einer Geste der Verzweiflung nach den Salzstangen und stopfte sich panisch eine nach der anderen hinein, mit dem Ergebnis, dass es sie gleich wieder würgte. Als sie sich weg drehte stieß sie aus Versehen an ihre Tasche, die auf den Boden fiel.
»Langsam kauen. Immer nur eine, und dann mit einem Schluck Cola nachspülen … langsam … so …ja …«
Vera flößte ihr Cola ein, gleichzeitig genervt und voller Mitgefühl.
»Übrigens, du kannst mich ruhig duzen, okay? Ich bin Vera.«
Sie bückte sich, um die Tasche aufzuheben, eher ein Beutel, dessen Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Die üblichen Dinge, die man so mit sich herumschleppte, Papiere, Bonbons, Tabletten, Handy, iPod und ein Ausweis. Als sie ihn wieder in die Tasche zurücksteckte, fiel ihr Blick auf das Geburtsdatum. Lily war fünfzehn. Ein ganz normales Alter für ein Runway- Model, aber als Veras Blick auf die Unzahl von Tabletten fiel, die sie mit sich herumschleppte, kochte etwas in ihr hoch.
»Wissen deine Eltern überhaupt, was du da nimmst?«
»Das ist meine Medizin gegen …«
»Adderall? Ich weiß, was das ist, mein Schatz. Wissen deine Eltern davon?«
»Meine Mama hat mir das besorgt, und ich, ahm, wir brauchen das Geld …«
»Dann richte deiner Mama bitte einen schönen Gruß von mir aus, dass du diesen Job nur dann weitermachen wirst, wenn du diesen Scheiß nie wieder nimmst, und dafür werde ich persönlich sorgen, okay?«
Lily nickte unter Tränen. Ihre Pupillen nahmen fast die gesamte Augenfläche ihrer blassblauen Iris ein. Vera hätte sie am liebsten umarmt, entschloss sich aber, nicht zu viel Mitgefühl zu zeigen, nahm die Tabletten und schmiss sie in eine der Mülltüten.
»Spielst mal wieder Krankenschwester«, murmelte Werner unter geschlossenen Lippen, während er sich dem magersüchtigen Kind in der Ecke mit seiner Bürste näherte. Ihm konnte man nichts vormachen. Er kannte alles und jeden, hatte alles gesehen und verhielt sich dennoch immer wie eine überfürsorgliche Mutter ihr gegenüber. Und das war gut so. Vera verbesserte ihn seufzend.
»In dem Falle Kinderkrankenschwester.«
Sie überließ Lily Werners magischen Händen und seinem Team und eilte vor in Richtung Laufsteg. Yves kontrollierte jedes einzelne Model persönlich, bevor es hinausging. Zwischendurch rieb er sich nervös die Hände, die Schläfen, kratzte sich an den Armen, als hätte er einen Ausschlag. Draußen lief alles wie geschmiert. Die Models waren die Mühe und die Investition eines Extratags Styling wert gewesen und eroberten den Raum wie ein Rudel Erstklässler die Herzen ihrer stolzen Eltern und Verwandten.
»J’adore!«
Yves legte den Arm um sie, als sie sich näherte. Sie wischte ihm einen Rest Koks von der Nase.
»Jaha.«
»Ohne dich wär das nix geworden, also, nach der Braut wink ich dich raus auf die Bühne, für deine fünfzehn Sekunden Ruhm, und mach mir keine Schande.«
Sie war geschockt und versuchte, ihre Freude und ihre Angst vor dem Ende ihrer Anonymität so gut es ging unter einem Pokerblick zu verbergen. Es war nicht das erste Mal, dass Yves ihr versprach, sie nach der Show mit herauszuholen, nur war es noch nie vorgekommen, Yves schien im Moment des Ruhms sein Versprechen gegenüber Vera regelmäßig zu vergessen.
»Wenn du meinst, Yves.«
Da ging Yasmin mit dem letzten Abendkleid von der Bühne. Die Leute tobten. Es würde ein Erfolg werden. Vera drehte den Kopf. Yves hatte darauf bestanden, dieses Mal ein Brautkleid zu entwerfen, als eine Hommage, es hatte etwas Old- World-Klassisches. Sogar Vera hielt für einen Moment den Atem an, als sie die Braut sah, die vortrat und auf das Zeichen zum Auftritt wartete. Was für ein Geschöpf. Jung. Hinreißend. Unschuldig. Als wäre das Wort VIRGO für sie erfunden worden. Lily.
»J’adore!«
Yves war von sich selbst fasziniert und zu Tränen gerührt.
Vera nickte Lily aufmunternd zu, und während ihr eine Garderobenhilfe den Brautstrauß in die Hand drückte, beugte Lily sich zu Vera vor und murmelte ein leises »Danke, werd ich nie vergessen«, bevor Yves sie mit einem gerührten Nicken auf den Steg hinausschickte, an dessen Ende bereits die anderen Models zum großen Finale aufgereiht waren. Sobald Lily den Steg betrat, zuckten die Blitzlichter, die Leute riss es von den Sitzen. Ein magischer Moment. Standing Ovations.
Yves zitterte am ganzen Körper. Der Anfang war gut gewesen, aber würde auch das Ende gut?
Die Braut schwebte leicht wie eine Feder über den Steg, sah schüchtern hoch von ihrem Strauß, dessen zarten Rosenduft sie eingesogen hatte wie die erste Lebensluft von Eva im Paradies. Vera musste Yves anschubsen, es war Zeit, hinauszutreten. Yves machte einen Schritt hinaus auf den Steg. Ja, es sah so aus, als wäre das Ende dem Anfang ebenbürtig. Er genoss es, sich im Applaus zu sonnen, hob die Arme, verbeugte sich in einer Bescheidenheit, die ihm eigentlich fremd war, indem er sich an die Brust griff und sich demütig hilfesuchend in Richtung Vera umdrehte, mit den Armen wedelnd.
Vera zögerte. Yves’ Geste schien übertrieben. Es hatte schon fast etwas Karikaturistisches. Sollte sie wirklich hinaustreten? War dies das Zeichen? Meinte es Yves dieses Mal ernst? Yves wedelte noch immer mit den Armen, nun schien es sogar, als wackelten auch seine Beine. Sie gab sich einen Ruck und trat langsam, zögernd hinaus ins gleißende Scheinwerferlicht. Der Applaus schien auszudünnen, als wäre er gegen sie gerichtet. Vera schoss das Blut ins Gesicht. Peinlich. Hatte Yves es gar nicht so gemeint? Yves wedelte jetzt nicht mehr mit den Armen, sondern schwankte, griff sich an die Brust und brach unvermittelt im hellen Spotlight mitten auf dem Steg vor aller Augen zusammen.
Gehörte das noch zur Show?
War es wieder eine von Yves’ Extravaganzen?
Im Saal war es totenstill.
Die Braut bückte sich und ließ beim Anblick von Yves’ starren Augen einen heiseren Aufschrei los, als habe sie eben in den Schlund der Hölle gesehen. Sie blickte hilfesuchend Richtung Zuschauertribüne, wobei ihr der Brautstrauß entglitt, der Yves vor die Füße rollte wie ein letzter unfreiwilliger Blumengruß.
»Diese verdammten Schweine!«
Yves war schon fast wieder der Alte. Er durchwühlte – zwar noch blass im Gesicht, aber schon wieder auf zweihundertfünfzig – den Stapel internationaler Tageszeitungen und Fachzeitschriften, die ihm Vera in die Intensivstation des Ospedale Niguarda geschmuggelt hatte, und starrte auf das Foto von sich selbst, ganz in Schwarz, am Boden des Laufstegs liegend, neben ihm der Strauß wie eine Grabbeigabe und über ihm die schreckensstarre junge Braut – darunter der Aufmacher:
A wedding and a funeral – the end of VIRGO?
Zu jedem anderen Zeitpunkt seines Lebens wäre ihm nichts lieber gewesen als ein Foto von sich auf der Titelseite der »Women’s Wear Daily«, nur nicht in diesem Zusammenhang. Das EKG-Gerät, das eben noch langsam, aber unregelmäßig die Herzschläge von Yves nachgezeichnet hatte, drehte plötzlich durch und wurde so schnell, dass es einen Alarm in der Station auslöste. Die Stationsschwester kam hereingerauscht, gefolgt von einem Arzt, der sich am Puls von Yves zu schaffen machte, während Yves noch wütend mit der Zeitung herumwedelte, als wolle er den Verfasser des Artikels höchstpersönlich aus der Seite herausschütteln und zur Rede stellen. »Dreckfinger, elender Blutsauger!«
Der Arzt nahm ihm unsanft die Zeitung aus der Hand und schielte missbilligend zu Vera hinüber. Er sprach sehr gutes Deutsch.
»Ich weiße nichte, was ich mite Ihne noch machen soll, Herr Lipschik.«
Yves wusste es selbst nicht. Seine Aufmerksamkeit war jetzt ganz auf die Tür gerichtet, wo sich in den letzten zwanzig Sekunden eine dramatisch in Schwarz und Pink gekleidete, füllige Dame Ende fünfzig aufgebaut hatte. Ihre Stimme hätte jeder Opernsängerin Konkurrenz machen können.
»Ich sage meinem Bruder seit Jahren, dass er endlich lernen muss, richtig zu atmen, nicht wahr, dann wäre das alles nicht passiert.«
Die Dame in Pink trat neben das Bett und sah ihren Bruder streng an, der mit den Schultern zuckte, als wolle er sich verteidigen.
»Was gibt’s da zu lernen, Borgchen? Entweder man atmet oder man atmet nicht. Und wenn nicht, is eh schon wurscht.« Woraufhin er anfing, hysterisch zu lachen, was seine Herzfrequenz wieder hochtrieb. Seine Schwester sah den Arzt hilfesuchend an.
»Professore, tun Sie doch etwas!«
Der blieb ziemlich ungerührt und bügelte die plötzliche Ehre ab.
»Ich bin keine Professore, Signora, das iste keine Schule hier. Was solle ich tun mit einem Patiente, der so unvernünftig ist? Er iste alt genug um zu wissen, dass Drogen schlechte sind für die Gesundheite. Vero.«
Es war keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung. Und das falsche Stichwort für Borgchen.
»Drogen? Was für Drogen denn? Eierchen, was meint der Herr Professor denn mit Drogen? Du nimmst doch etwa keine Drogen? Zumindest keine illegalen – oder?«
Das Oder hing in der Luft. Sie sah vom einen zum andern. Keiner wagte etwas zu sagen, und Yves wollte sich am liebsten unter seine Decke verkrümeln, Ingeborg strahlte solch eine ungeheure moralische Integrität aus.
»Kommt drauf an, was mit illegal gemeint ist, und wo was illegal ist …«
Yves murmelte vor sich hin, suchte nach einem schlagenden Argument, um das Mitgefühl seiner Schwester zu erregen. »Borgchen, also, ich hab ja so an Stress g'habt die letzte Zeit, kannst dir nicht vorstellen, also dieses Mailand, nie wieder, also, ich sag dir, es ist so hässlich hier, also, das nächste Mal geh ich wieder nach Paris …«
Immer wenn er mit seiner Schwester redete, verfiel er in einen seltsamen Mischmasch von Dialekten, die er in seinem Leben aufgeschnappt hatte, ein bisschen Bayrisch, ein wenig Hamburg, obwohl seine Familie aus Münster kam. Er schlug seine treuherzigen blauen Augen auf und sah sie an wie ein Erstklässler.
»Und in diesem ganzen Stress, da hab ich halt was genommen, was ich sonst nie nehm, nicht wahr, Veralein?«
Yves machte eine dramatische Pause. Vera musste in sich hineinlächeln. Er konnte wirklich herzig sein, wenn er wollte. Ein herziges Monster. Ingeborg und der Arzt tauschten Blicke. »Ach ja, was denn?«
Yves sah hilfesuchend zu Vera. Sie schwieg, ahnte aber bereits, was kommen würde.
Nein.
Doch.
»Baldrian! Stellt’s euch vor, Kinder, ich hab ein ganzes Flascherl Baldrian genommen, also, aus Versehen natürlich, also, das hat wahrscheinlich mein ganzes System versaut, nicht wahr, Veralein?«
Erstaunlich, es wirkte.
Yves’ Schwester schwieg für einen Moment in tiefer Nachdenklichkeit, und selbst dem Dottore fiel keine passende Antwort ein, er schien offensichtlich keine Erfahrungen mit Überdosen Baldrian zu haben. Ingeborg fing sich aber gleich wieder und machte da weiter, wo sie aufgehört hatte. Für eine Dame ihrer Gewichts- und Altersklasse legte sie erstaunlich viel Energie an den Tag.
»Du gehst jedenfalls erst mal in meine Ayurveda-Klinik nach Indien zum Entgiften, da wirst du meditieren lernen und richtig atmen …«
»Atmen? Und wer macht meine Winterkollektion?«
Na wer wohl? Am liebsten wollte sie laut herausschreien: »Ich! Ich! Ich!« Aber nein. Sie hatte sich im Griff und verkniff sich jeden Kommentar.
»Atmen!«
Yves tippte sich erregt an den Kopf, was zur Folge hatte, dass seine Herzfrequenz wieder bedrohlich anstieg. Yves verstummte und atmete tief. Der Zeiger beruhigte sich langsam wieder. Yves lachte, die Frequenz stieg. Es war wie ein seltsames Spiel, an dem er Gefallen zu finden schien. Ingeborg sah sich das eine Weile an, fand’s nicht lustig, schüttelte den Kopf.
»Wenn du so weitermachst, gibt’s überhaupt keine Kollektion mehr, Eierchen.«
Yves wechselte einen schockierten Blick mit Vera. Was sollten diese ominösen Andeutungen? Sie wusste, es stand nicht besonders rosig um die Firma, aber das war inzwischen ein Dauerzustand, so dass es niemand mehr richtig ernst nahm. Genug für heute. Es war an der Zeit, Yves mit seiner Schwester alleine zu lassen. Sie stand auf, verabschiedete sich von Ingeborg mit einem freundlichen Nicken und warf Yves von der Tür aus einen Luftkuss zu.
»Also dann, bis später. Ich melde mich, Yves. Tschüs, Frau Lipschik.«
»Tschüs, Vera, danke.«
Ingeborg wartete, bis die Tür sich schloss, tätschelte Yves’ Hand. Nickte mehrere Male, wobei sich ihre eben noch eher zuversichtliche Miene verdüsterte, sobald Vera aus der Tür war. Yves merkte das sofort.
»Isses so schlimm, Borgchen?«
Ingeborg nickte. Sie war nicht nur Yves’ Schwester, sondern auch sein Teilhaber, sein Partner bei VIRGO, von der ersten Stunde an. Sie war diejenige, die Yves das erste Geld für Maschinen, einen Raum und die Anfangskollektion gegeben hatte. Seit ein paar Jahren hielt sie sich als passiver Teilhaber im Hintergrund, aber jeder in der Firma wusste, dass sie es war, mit der man reden musste, wenn wichtige finanzielle Entscheidungen anstanden.
»Ich weiß, du darfst dich nicht aufregen, Eierchen, und am wichtigsten ist, dass du wieder zu Kräften kommst, aber ich muss dir auch die Wahrheit sagen, und die ist nicht sehr rosig.«
»Jaja, Borgchen, ich weiß, wir sind bankrott. Mal wieder.«
Er versuchte ein Lächeln.
Ingeborg seufzte.
»Dieses Mal ist es wirklich ernst. Die Bank ist raus, wir müssen Leute entlassen, sie haben kein Vertrauen mehr in die finanzielle Zukunft von VIRGO.«
»Papperlapapp! Die finanzielle Zukunft ist gesichert, die Show war phantastisch, das haben alle geschrieben!«
»Du weißt ganz genau, dass die Show nichts mit den Vorbestellungen zu tun hat, und die Kritiker können schreiben, was sie wollen, wenn die Käufer nicht reagieren, nützt uns die beste Show nichts. Wir sind im Moment noch schlechter dran als bei der letzten Kollektion, das sagen auch die Girls vom Showroom …« »Aber Borgchen, jedes Haus hat zwischendurch mal eine nicht so erfolgreiche Kollektion, das weiß doch jedes Kind …«
»Ja, stimmt, aber wir haben eben nur zwischendurch mal eine erfolgreiche, und das können wir uns auf Dauer nicht mehr leisten. Außerdem sind wir zu teuer in der Produktion, es bleibt nichts über, und die Läden drücken uns mit dem Preis. Dazu fragen die Käufer, wie verlässlich wir sind angesichts deines Gesundheitszustands, ob wir liefern können. Sie sind verunsichert …«
Yves schnellte hoch.
»Also, natürlich können wir liefern, so ein Unsinn. Frag Vera, die hat alles im Griff.«
»Ich habe mit Vera gesprochen. Die Vorbestellungen sind bis jetzt nicht gut. Es ist ernst dieses Mal, und ich muss dir ehrlich sagen, Yves, ich kann so auch nicht mehr weitermachen …«
Es war wirklich ernst, wenn sie ihn Yves nannte. Er erschrak. »Und, was heißt das jetzt konkret?«
»Das heißt, dass uns eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als zuzusperren, oder …«
Ingeborg sah, dass seine Hände zitterten. Sie streichelte kurz mit ihrer Hand über die Finger ihres kleinen Bruders, die so viel zierlicher waren als ihre. Als Kind hatte sie sich immer gewünscht, dass sie eines Morgens aufwachen würde und seine Finger hätte und er ihre. Und jetzt lag ihr kleines Brüderchen, das sie immer beschützt hatte, vor ihr, schwach und hilflos. Tränen standen in ihren Augen. Sie griff in ihre Tasche und zog einen Umschlag heraus, den sie Yves reichte.
»Schau’s dir mal in Ruhe an. Das wäre eine Alternative.«
Yves machte den Umschlag sofort auf, zog mehrere dicht bedruckte Seiten heraus, überflog die erste Seite und blieb beim ersten Wort verärgert hängen.
»Übernahme? Nein, nur über meine Leiche!«
»Lies es dir wenigstens erst mal in aller Ruhe durch, ohne gleich zu explodieren. Es ist wirklich ein gutes Angebot, Eierchen.«
Yves blätterte die Seiten durch, bis er zu der Seite mit der Kaufsumme kam. Er stutzte. Zählte die Nullen.
»Stimmt das, die Zahl, Borgchen?«
Er hielt Ingeborg die Seite hin. Die nickte.
»Ja. Die andere Alternative ist die, dass uns die Bank nächste Woche zuschließt.«
Ohne noch eine Sekunde darüber nachzudenken ließ Yves das Blatt sinken.
»Okay, Borgchen, schlag mich tot.«
Die Maschine aus Mailand war endlich gelandet, nach drei Stunden Verspätung. Nebel in Malpensa. Nichts Neues. Man konnte froh sein, überhaupt abgehoben zu haben und wieder gelandet zu sein. Malpensa war der schlimmste Flughafen Europas mit den meisten Verspätungen – vor Linate, der kleinere, etwas gemütlichere Flughafen, den Mailand noch zu bieten hatte. Mit genauso viel Nebel. Es gab sich nichts. Es war wie die Wahl zwischen Katzenscheiße und Hundekacke. Die Yogastunde über Mittag konnte sie sich abschminken, und das gerade heute, wo sie nichts nötiger hatte, als endlich wieder ihren inneren Space zu finden, wie Andrea das so schön ausdrückte, nach all dem Stress der vergangenen Wochen. Sie hatte bis gestern Abend spät noch im Showroom gestanden und den Abbau überwacht. Wie es weiterging mit der Firma, war ungewiss. Die Probleme hatten sich in Mailand nicht in Luft aufgelöst. Im Gegenteil. Yves hatte sie seit letzter Woche nicht mehr gesehen. Er wollte sich vor Antritt seiner Kur noch mal melden, hatte das aber bis jetzt nicht getan.
Vielleicht könnte sie am Abend zur Basic-Stunde, falls ihre Energie es noch zuließ? Nicht, dass sie Bewegung brauchte. Mit viel zu vielen VIRGO-Kisten Extragepäck auf ihrem Rollwagen, darunter auch zwei Privatkoffer von Yves, hastete Vera in Richtung des letzten wartenden Taxis vor dem Terminal. Merkwürdig. Das war noch nie vorgekommen. Sonst standen die Taxis ums Gebäude Schlange. Vielleicht war irgendwo in der Stadt eine Demo, und keiner kam durch. Sie winkte dem Fahrer und beschleunigte ihren Gang. Nebenher telefonierte sie mit einem Stoffhändler aus Lyon.
»Wir brauchen den Chiffon aber jetzt, Monsieur, und nicht in vier Wochen …«
Sie wusste, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, sich aufzuregen, im Gegenteil, jeder Franzose, Weltmeister im Je-m’en fous-tismus, schaltete auf stur, wenn eine boche versuchte, ihm zu sagen, was er zu tun hatte, und sich aufspielte, als sei sie eben höchstpersönlich unter dem Are de Triomphe einmarschiert. Alles, was damit zu tun hatte, dass man sich auf vertraglich geregelte Abmachungen berief, galt bereits als Sichaufspielen, obwohl der Krieg schon seit über siebzig Jahren vorbei war. Sie versuchte, tief durchzuatmen und sich zu erden. Im selben Moment näherte sich ein grauhaariger, dickleibiger Herr mit Aktenkoffer dem Taxi. Ihrem Taxi. Und er war schneller als sie.
»Halt, Entschuldigung. Nein, das ist mein Taxiiiii!?!?!?«
Um sich bemerkbar zu machen, zerrte sie mit einem heftigen Ruck ihren Gepäckwagen über die Bordsteinkante, der sogleich wie ein übersteuertes Testauto bei Nässe auf der Fahrbahn ins Straucheln kam und nach ein paar hilflosen Gegensteuerungsmanövern umkippte. Ihr antiker verbeulter Rimowa-Alukoffer, zuoberst auf dem Kistenberg, platzte beim Aufprall auf, die schmutzige Unterwäsche, eine wilde Mischung aus H&M und Agent Provocateur, verteilte sich auf dem Straßenbelag.
Das Taxi mitsamt dem Aktenkoffermann spritzte unbeeindruckt davon, die Höflichkeit der Berliner Taxifahrer war legendär, nur noch übertroffen von den Parisern, wobei Vera noch einen erfolglosen Versuch machte, das Auto zu stoppen, indem sie todesmutig auf die Fahrbahn rannte. Es gelang ihr, den Kofferraum mit den Fingerspitzen zu berühren, für eine Millisekunde, übersah dabei allerdings einen BMW, dessen Fahrer eine Vollbremsung hinlegen musste, um Vera nicht über den Haufen zu fahren. Nach einem aggressiven Huper, der etwas Heiseres hatte – wie ein Pitbull im Stimmbruch –, murmelte der BMW-Fahrer beim Vorbeifahren etwas von »Flohmarkt« und »Tussi«, versehen mit einem wenig netten Adjektiv, durch die heruntergelassene Scheibe. Vera konnte noch seine herausgewachsenen blonden Strähnchen von hinten sehen. Mit ihrer Haltung war’s vorbei.
»Geht’s noch? Danke fürs Bremsen, war aber wirklich nicht nötig gewesen, so viel Rücksicht, du Arsch …«
Ja. Der Kulturschock war groß, wenn man zurückkam. Sie konnte sich noch so oft vornehmen, nicht sofort durchzuknallen, wenn etwas schief ging, aber es war wie ein Automatismus, ein angeborener Reflex, gegen den sie nicht ankonnte. Von klein auf hatte sie diese unkorrigierbare Angewohnheit, in die Luft zu gehen, wenn sie provoziert wurde oder eine Ungerechtigkeit erlitt oder Zeuge einer Ungerechtigkeit wurde. Aktion und Reaktion. Es kam nicht sofort. Sie konnte oft sehr geduldig sein, über lange Strecken, direkt übergeduldig, aber wie beim Wasser, wenn der Siedepunkt erreicht war, gab’s kein Zurück, wenn sie kochte. Sooft sie auch versuchte, Andreas Lieblingslektion nach mehr equanimity anzuwenden – grob übersetzt in etwa Gleichmut und Gelassenheit, poetischer ausgedrückt wäre das Ideal »Grazie unter Druck« –, eben unter Druck gelang ihr der Gleichmut nie, und ebenso wenig die Grazie. Das Gegenteil war der Fall.
Warum war es so schwer, draussen in der Wirklichkeit das umzusetzen, was in der kontrollierten Atmosphäre eines geschlossenen Raumes so einfach war? Auf einem Bein stehen, beide Arme in entgegengesetzte Richtungen ausgestreckt, die Hüften direkt übereinander, flach auf der Seite wie eine Wand, und dabei so entspannt aussehen, als wäre man in der zehnten Woche Urlaub auf den Seychellen. Aber draußen, im Dschungel, neben sich schnell bewegenden Objekten und Subjekten, die zudem ständig auf einen einzuschreien schienen, blieb dieses Ideal unerreichbar. Veras gesamter Vorrat an equanimity war bereits in Mailand zwischen den Shows und der Intensivstation mit Yves verbraucht worden, und heute war sie so weit weg von jeglicher Gleichmut wie eine Kuh vom Tangotanzen.
Als sie aus diesen Überlegungen wieder in die Wirklichkeit zurückfand, stolperte sie beinahe über einen Menschen, der dabei war, ihre Unterwäschekollektion sorgsam in den Koffer zurückzulegen. Er war männlich, trug Timberlands und ein Barbour-Jackett, wie es englische Lords zur Entenjagd tragen, darunter ein kariertes Hemd, das verdächtig nach Brooks Brothers aussah, der Inbegriff des konservativen Amerikaners der sechziger Jahre, und undefinierbare Khakis, die vielleicht GAP vor fünf Jahren sein konnten, mit der Andeutung einer Bundfalte, was angesichts seiner Altersgruppe, so in etwa Mitte, Ende dreißig, völlig unverständlich war. Die Auswahl seiner Kleidung war so betont unmodisch wie die eines Staubsaugervertreters aus dem Mittleren Westen. Nein, mehr als das. Es war provozierend anti-modisch. Als lege es jemand darauf an, ein Statement zu machen. Es war schon ein Kunststück an sich, dem Zeitgeist so sicher auszuweichen. Er hatte braunes volles Haar und hob schüchtern den Kopf, während er ein »Hallo« lächelte. Im selben Moment, da sich ihre Blicke trafen, wechselte seine Augenfarbe von einem gewöhnlichen Mittelbraun in ein leuchtendes Grün, wie von einer plötzlichen Injektion Lebenslust getroffen. Faszinierend.
Der Moment ging vorbei, und vielleicht hatte sie auch nur eine kurzfristige Sinnestäuschung. Er wandte sich wieder dem Inhalt ihres Koffers zu. In ihre Unterwäsche hatte sich auch der Vibrator verfangen, der aus seiner Originalverpackung gerutscht war, zum Amüsement des Fremden, der das Ding mit natürlicher Lässigkeit wieder zurück in den Karton steckte, wobei seine Augen kurz, aber uneuphorisch aufblitzten, im Braunbereich bleibend.
»Ah, der Rabbit.«
Sie nahm das Teil schnell an sich.
»Danke.«
Sie wollte es schnell zwischen der Unterwäsche verschwinden lassen, aber der Koffer war zu voll, um das ohne Umschichten der anderen, zumeist gebrauchten Wäsche zu bewerkstelligen. Er beobachtete sie. Je länger sie brauchte, umso nervöser wurde sie.
»Nur zu Ihrer Information, der da, ich mein das Dingsdabums da, ist nicht für mich persönlich, okay?«
Es kam aggressiver heraus, als sie beabsichtigt hatte.
Er lächelte schon wieder.
»Ja klar, sicher, sicher. Und, ich meine, wenn schon …«
Seine Entspanntheit machte sie unsicher. Und nervös.
Sie fummelte aggressiv an dem Schließer herum. Was ließ sie sich auch immer auf Gespräche mit Fremden ein, die nirgendwo hinführten. Sie hätte vor dem Abflug wirklich das Schloss noch reparieren lassen sollen, aber sie hatte die Wahl gehabt, entweder das Mitbringsel für Bea zu kaufen oder sich um das Reparieren ihres Koffers zu kümmern. Beides war zeitlich nicht machbar gewesen. Irgendetwas in seinem extrem entspannten Gehabe provozierte sie.
»Das heißt, sie glauben mir nicht?«
»Doch, doch. Absolut, sicher, sicher, warum nicht … Tschuldigung, aber darf ich mal kurz?«
Er beugte sich über ihren Koffer, und mit vereinten Anstrengungen und einmal Draufsitzen gelang es ihnen tatsächlich, das defekte Schloss zu schließen. Er hielt sogar ein Taxi für sie an und öffnete ihr die Tür. Sie verstaute ihre Taschen auf dem Rücksitz, zögerte mit dem Einsteigen.
»Sie glauben, ich hab Sie angelogen, nicht? Sie denken, es ist mir peinlich, zuzugeben, dass dieser bescheuerte Vibrator für mich persönlich ist? Was aber wie gesagt überhaupt nicht der Fall ist …«
Sie war sehr laut geworden, sogar der Taxifahrer lauschte irritiert, während er sich mit dem Verstauen der Kisten und Koffer beschäftigte. Der Fremde sah sie überrascht an. Seine Augenfarbe kriegte wieder eine Grüninfusion. Er hatte einen langsamen, beruhigenden Ton an sich, noch eine halbe Oktave tiefer als eben, und er lächelte so beherrscht, als habe er eben erfolgreich eine Wutmanagement-Gruppen-Therapie abgeschlossen, was unglaublich passiv-aggressiv auf sie wirkte.
»Ich glaub absolut nicht, dass Sie lügen, ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass ich es auch dann nicht peinlich fände, wenn das Dingsdabumsda, also, das gute Stück, Ihres wär … Ich wollte sagen … Ach, vergessen Sie’s einfach. Einen wunderschönen Tag noch.«
Man sah ihm an, dass er seine eigenen Worte bescheuert fand, während er frustriert die Wagentür schloss. Sie sahen sich durch die geschlossene Scheibe an, mit einem neugierigen, bedauernden Blick. Sie waren sich beide bewusst, dass sie sofort handeln mussten, wenn sie sich in irgendeiner Form wiedersehen wollten. Im selben Moment, da er nach seinem Telefon griff und Vera ihm anbieten wollte, ihn ein Stück mit dem Taxi mitzunehmen, wohin auch immer er muesste, so unmöglich es schien, da das Taxi bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgepackt war, gab der Taxifahrer Gas.
Vera konnte im Rückfenster noch die kleiner werdende Gestalt des braunhaarigen Fremden am Straßenrand sehen, der einen Gesichtsausdruck hatte, als ob er es zutiefst bedauerte, diese wunderbar neurotische Frau aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wiederzusehen.
***
Das Taxi, das der Braungrünäugige mit dem unsäglichen Barbour-Kittel für sie am Flughafen ergattert hatte, war bereits in die Torstraße eingebogen, als sie begann, sich tatsächlich zum ersten Mal an diesem Tag zu entspannen. Sogar ihr Geruchssinn war zurückgekehrt. Sie hatte sich immer noch nicht an den Geruch von Berlin Mitte gewöhnt, der anders war als überall sonst in Deutschland, obwohl sie schon seit mehr als fünf Jahren hier lebte. Was es war, konnte sie nicht genau definieren. Es war nichts Altes. Nichts Neues. Nichts Chemisches. Es war eine Mischung aus Straßenverkehr und Neubaugeruch und alten Wänden, die abgebrochen werden. Heute war der Geruch der frühherbstlichen nassen Fahrbahn, der den kommenden Winter vorausahnen ließ, besonders stark. Die Blätter an den Kastanien verfärbten sich schon, hielten sich aber noch hartnäckig, im ganzen Spektrum von Aprilgrün bis Novemberbraun, bevor der erste große Herbststurm sie endgültig vom Baum fegen würde. Das Startzeichen für den langen, grauen Winter war noch ausgeblieben. Yves hatte dieses Jahr auf Paris verzichtet zugunsten von Mailand, das als kommerzieller galt. Einen Fehler, den er nie mehr wiederholen würde, wie er seither tausendmal geschworen hatte. Die Prêt-à-porter in Paris war traditionsgemäß der glorreiche Abschluss des Mode-Zirkus, der in New York begann, dann über London und Mailand nach Paris zog. Jeder hatte seine eigenen Vorlieben, jedes Label seine liebste Stadt. Viele verzichteten auf New York, das von gewissen Europäern immer noch belächelt wurde, denen es zu kommerziell oder zu uniform oder zu unchic war, obgleich sich auch das geändert hatte. London, dem der Ruf des edgy, raw, ruffled anhaftete, hatte an Renommee gewonnen, seitdem selbst Armani dort seine Emporio- und Prive-Couture-Linie gezeigt hatte. Vera seufzte. Was immer man gegen Mailand sagen konnte, die Tatsache, dass die Vorbestellungen nicht so liefen wie erwartet, hing weniger mit Mailand als mit Yves zusammen, der seit einigen Jahren ernsthafte Probleme hatte, sich zu motivieren. Die Show hätte nicht besser sein können. Es war die innovative Kraft, die fehlte. Das Label VIRGO galt als cutting edge, aber nun wiederholten sich die Ideen, Yves zitierte sich immer öfter selbst. Und nun war sie erst einmal alleine. Vielleicht war das ja auch gar nicht so schlecht, so ohne ihn. Sie überlegte, wie man den Laden besser organisieren könnte, und dachte über die Winterkollektion nach. Ja, vielleicht war es ganz gut so. Vielleicht war das ja endlich die Chance für Vera zu zeigen, was sie wirklich konnte. Allein. Ohne Yves. Beim Gedanken an einen Karrieresprung füllte sich ihre Brust mit neuer Energie.
Als sie die Oranienburger Straße passierten und Vera die goldene Kuppel der Synagoge auftauchen sah, wuchs die Hoffnung, heute vielleicht doch noch eine Stunde zu CityYoga zu kommen, später am Abend, wenngleich Andreas Klasse dann schon vorbei wäre. Daher brauchte sie auch einige Sekunden, bis sie merkte, dass das Fahrzeug langsam ausgerollt war, ohne dass der Fahrer gebremst hatte, und langsam stehen blieb. Es dauerte ein paar weitere Sekunden, bis Vera klar wurde, dass sie weder an einer Ampel noch im Stau standen. Sie sah sich um – soweit ihr das möglich war, angesichts der vielen Kisten und Koffer im Auto.
»Was ist los?«
Der Fahrer gab einen kurzen, hoffnungsvollen Seufzer von sich und klopfte einige Male gegen seine Benzinuhr, die unvermindert auf voll zeigte. Nach mehrmaligem energischerem Klopfen gegen die Scheibe des Zählers kam die Überraschung: der Zeiger sackte von voll auf leer. Vera konnte nicht anders als sarkastisch lächeln. Wie groß waren die Chancen, in einem Taxi zu sitzen, dessen Benzinuhr kaputt war, und dazu noch genau in dem Moment, in dem der Tank dann auch tatsächlich leer war? Die Wahrscheinlichkeit war sicher nicht sehr viel geringer als ein Lottogewinn, wobei sie Letzteres bei weitem vorgezogen hätte. Sie war nur drei Querstraßen von ihrem Ziel entfernt, aber was tun mit den Bergen an Gepäck?
Da der Fahrer keine Anstalten machte, etwas zu unternehmen, was sie in absehbarer Zeit ihrem Ziel näher brächte, stieg Vera aus und versuchte, ein anderes vorbeifahrendes Taxi zu stoppen, ohne Erfolg. Nebenher begann sie, die Koffer und Kisten aus dem Kofferraum und der Rückbank auszuladen. Ein paar Passanten blieben neugierig stehen, sie nahmen fälschlicherweise an, es gäbe etwas zu kaufen. Oder noch besser, etwas zu verschenken. Eine Frau unbestimmten Alters, die eine der VIRGO-Kisten auf ihren Einkaufsroller geladen hatte und damit von dannen ziehen wollte, konnte sie gerade noch stoppen.
»Entschuldigung, aber das gehört mir.«
Die Frau ließ sehr unwillig von ihrer Beute ab und ging leise vor sich hin sprechend in den Mont-Bijou-Park. Als alle Kisten und Koffer endlich ordentlich aufgereiht vor Vera auf der Oranienburger Straße standen, begann es zu regnen, und zwar so fies und gemein, wie es nur in Berlin regnen konnte.
Draußen klatschte der Regen heftig gegen die Scheiben, während Beatrice die Milch für zwei Latte aufschäumte.
Die Regentropfen schienen so groß und schwer, wie Kieselsteine. Es hörte sich an, als könne der Aufprall jedes einzelnen die Teerdecke aufreißen. Der eben noch knallblaue Oktoberhimmel hatte in kurzer Zeit eine gelblich graue Färbung angenommen und die hellen Geschäftsräume von VIRGO im vierten Stock des Gründerzeithauses in der Rosenthaler Straße verdüstert.
Sollte sie sich noch eins dieser köstlichen Biscotti mit Schokoladenrand zu Gemüte führen? Ihr Kontingent für den Tag war zwar eigentlich schon zu Mittag aufgebraucht – pro Stück hundertzwanzig Kalorien, nicht viel im Einzelnen, läpperte sich aber extrem zusammen –, doch jetzt war gerade ihr energetischer Tiefpunkt erreicht. Fast vier Uhr. Sie konnte einen kleinen Aufmunterer gebrauchen. Dagegen sprach, dass sie eigentlich noch vor Weihnachten wieder in ihre Miss- Sixty-Jeans passen wollte, die sie sich in einem Anfall von übermäßigem Optimismus nach einer Darmgrippe im Frühjahr eine Nummer kleiner, in Neunundzwanzig statt in Dreißig, oder, wenn man es ganz genau nahm, eigentlich eher zwei Nummern kleiner im Laden um die Ecke gekauft hatte. Sie wusste, sie war eine Dreißig, mindestens, genau genommen eine Einunddreißig – nur an diesem einen Tag im April war sie wieder eine Neunundzwanzig gewesen, und der bloße Symbolismus dieser Zahl hatte sie verführt.
Sie seufzte. Und da sie im Moment einen akuten Anfall von Unterzuckerung kommen fühlte, griff sie fast mechanisch zur Blechdose und sog den Duft von Vanille und Mandeln in sich hinein, bevor der Lieblingsteil ihres Rituals folgte: das Biscotto in den Latte tippen, eineinhalb köstliche Sekunden voller Vorfreude warten, bis es weich war, während ihr der Speichel im Mund zusammenlief, um sich dann als Höhepunkt das Meisterwerk langsam auf der Zunge zergehen zu lassen.
Sie war zufrieden mit ihrer Entscheidung. Gerade heute war ein schlechter Tag, sich mit unbefriedigten Gelüsten herumzuquälen. Morgen vielleicht, oder spätestens dann, wenn sich die Unsicherheiten mit den Umstellungen in der Firma wieder gelegt haben würden, wäre der bessere Zeitpunkt für Entsagungen. Es bestand zwar die Gefahr, dass die Sache mit den Jeans sich bis dahin von selbst erledigt hatte, da dann die engen Hiphuggers mit geradem Bein von einer noch engeren und kürzeren Version überholt sein würden, bedauerlicherweise gerade nur um einen kleinen Tick anders als die aus der Vorsaison, aber wiederum so viel anders, dass diese von den Experten als hilflos veraltet und last season erkannt werden würden. Und es gab in der Modewelt wohl keine größere Sünde als last season, das genaue Gegenteil von Mode, die immer so jetzt sein musste – oder wenn überhaupt alt, dann richtig vintage, was alles ab mindestens zehn, besser zwanzig Jahre alt sein konnte, aber für vintage war last season noch zu neu. Sie balancierte die beiden Latte durch die Lofträume im vierten Stock zurück zu ihrem Platz. Direkt nach den Shows im Herbst gab es immer ein paar Tage Ruhe vor dem wieder beginnenden Ansturm, wenn die Bestellungen eintrafen und die neue Produktion anlief. Yves’ Zusammenbruch in Mailand hatte immense Wellen in der Branche geschlagen, und viele befürchteten bereits, dass VIRGO sich nicht von den negativen Schlagzeilen in der Fachpresse erholen würde, die nicht müde wurde, die beliebten Themen Mode und Drogen zum x-ten Male auszuschlachten. Und Yves als bad boy der Mode war immer schon ein gefundenes Fressen gewesen.
Und dann war alles ganz anders gekommen.
In Yves’ Zimmer hatte sich der Neue eingenistet, der in seinen distressed Jeans, seinem grellgelben T-Shirt unter dem am Kragen schwer ausgefransten Hilditch & Key-Hemd, das aussah wie vom Großonkel geerbt, und seinem schicken Dreitagebart barfuß auf dem Boden vor Yves’ Carrera-Rennbahn hockte und den gelben Ferrari steuerte, der lautstark seine Kreise zog. Er war am späten Morgen ohne vorherige Ankündigung aufgetaucht mit einem sorglos in die Hose gestopften Hemd, als wäre er eben aus dem Bett gestiegen und in der größten Eile aus dem Badezimmer gestürzt, ohne seine Badelatschen auszuziehen – zu dieser Jahreszeit ein ziemlich optimistisches Fashion-Statement –, er war in Begleitung von Ingeborg, Yves’ Schwester, die ihn als neuen Geschäftsführer und »Retter« von VIRGO vorstellte. Sie tat alles, um den Wechsel an der Spitze so normal wie möglich darzustellen, und versicherte, dass sich erst mal gar nichts ändern würde, es bestünde also kein Grund zur Sorge. Wie lange Yves’ »Kuraufenthalt« im anonymen Exil – irgendwo in Indien, wie man hörte – noch dauern würde, könne man nicht sagen, und welche Funktion er bei VIRGO danach übernähme, darüber müsse man dann noch einmal nachdenken. Die neuen Geschicke von VIRGO lagen ab jetzt in Tristan Schmidts Hand. Kein Wort mehr.
Die Nachricht machte sofort die Runde, und es stellte sich heraus, dass der grüne Lümmel, er mochte um die zwanzig oder knapp drüber sein, ein entfernter Verwandter von Yves war, geradewegs frisch aus einer Marketing-Schule im Ausland eingeflogen und mit privatem Investorengeld versehen, neudeutsch Equity-Funds.
Die ganze Aktion war völlig unangekündigt, und Beatrice fragte sich, ob Vera davon wusste, und wenn ja, warum sie nicht wenigstens angerufen und sie vorgewarnt hatte. Vera hätte eigentlich schon gestern Abend eintreffen sollen, aber sie wurde noch aufgehalten im Showroom in Mailand und sollte heute mit der Morgenmaschine kommen. Jetzt war sie bereits seit Stunden überfällig, völlig untypisch, normalerweise rief sie alle paar Minuten an, um zu erfahren, was los war, aber sooft Beatrice heute versuchte, Vera zu erreichen, immer schaltete ihr Handy auf Mailbox. Sie hatte schon zehn Nachrichten hinterlassen.
***
Als er Beatrice mit den Latte ankommen sah, gab Tristan Schmidt nochmals richtig Gas und legte sich in die Kurve, als säße er höchstpersönlich am Steuer, schaffte es trotz der enormen Beschleunigung, auf der Spur zu bleiben und mit einem spektakulären Endspurt ins Ziel zu kommen. Er sah auf die Uhr.
»Neuer Bahnrekord. Na?«