Junge Talente - André Kubiczek - E-Book

Junge Talente E-Book

André Kubiczek

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Beschreibung

Der junge Less will raus aus der ostdeutschen Provinz - und landet mitten im Prenzlauer Berg. Dort lauscht er Lyrikern mit langen Bärten und dicken Bäuchen, verkehrt mit Punks und Dandys und verliert seine Unschuld an die lebensfrohe Dani. Und über allem wölbt sich mächtig das bröckelnde Dach der Deutschen Demokratischen Republik ... André Kubiczeks hochgelobtes Debüt beschwört jene träge und zugleich spannungsgeladene Atmosphäre in der Deutschen Demokratischen Republik herauf, die in den Jahren vor der Wende herrschte. Die jungen Talente, die diesen eigentümlichen Kosmos bevölkern, sind Exzentriker und Träumer, die sich auf unterschiedlichste Weise der staatlichen Bevormundung entziehen - und so ganz unbeabsichtigt zum Zusammenbruch des Systems beitragen. «Ein Erstlingswerk, das uns den Atem verschlägt.» (NDR) «Was André Kubiczek vorführt, ist nichts Geringeres als eine Rekonstruktion der Wirklichkeit aus dem Geist des Ressentiments - und dies auf höchst selbstironische, ja humoristische Weise.» (FAZ) «Hier ist die DDR weder verklärt noch verurteilt, sie erzählt sich einfach.» (Tagesspiegel) «Ein eindrucksvolles Panorama der späten DDR. Meisterhaft, wie der Autor Beobachtungen zu einer Aussage über die gesellschaftlichen Zustände verdichtet.» (Süddeutsche Zeitung) «Kubiczek zielt auf die Erzeugung einer Gegenwelt zum falschen Leben, autark, wahrhaftig, offen für Visionen und für Schönheit. Ein Hoffnungsträger ... der Meister werden kann.» (Die Zeit) «Kubiczek hat dem Lebensgefühl Jugendlicher vor dem Mauerfall eine neue, freche Sprache gegeben.» (Focus) «Kubiczek mag seine Helden und ihre Regungen. Der Text überzeugt durch seine Sprache, Detailverliebtheit und unterschwellige Ablehnung gegenüber allem Stumpfen.» (Die Tageszeitung) «Ein hinreißendes Buch. Die Kombination aus Satire, Artistik und Authentizität zeichnet diesen Romanerstling aus.» (Literaturkritik.de) «Das Erstaunlichste an Kubiczeks Roman ist: Auch wer nicht in der Deutschen Demokratischen Republik groß geworden ist, wird sich mit dem Helden dieses deutschen Heimatromans identifizieren können.» (Freitag).

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Seitenzahl: 340

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André Kubiczek

Junge Talente

Roman

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt

Fehlfarben

VORHER

Südwestlich von Berlin, wo sich der Harz erhebt, an schroffe Berge gesetzt, die wie Wände drei der vier Himmelsrichtungen verstellten, in einem Kessel, in den zwei Gleise führten aus der offenen Ebene, der vierten, utopischen Richtung, um an einem Prellbock aus verwittertem Holz zu enden, in einer Sackgasse also und von rötlichem Staub überpudert, für den es keine nachweisliche Ursache gab, lag Less’ Geburtsstadt, mit der er gern weniger zu schaffen gehabt hätte, als es ihm möglich war.

Genau genommen war Less an einer Raststätte groß geworden. Seine Großmutter war fünfundvierzig aus dem Osten geflohen, hatte nach einigem Hin und Her ihren Mann in einem Lager bei Wuppertal ausfindig gemacht, sich dorthin durchgeschlagen und erfahren, dass er längst wieder freigekommen war. Er hatte den Weg zurück angetreten, um sie und die Kinder zu suchen. Eine Richtung, die verhängnisvoll war, nicht zuletzt für Less, Ausdruck einer Orientierungslosigkeit, die sich lediglich ein festes Ziel schuf, um es ansteuern zu können.

Tief im Osten, in der schlesischen Steppe zwischen Liegnitz und Grünberg, lag der Gutshof, zu dem es seinen Großvater gezogen hatte. Ein strenger geometrischer Schnitt, den Less später bei einem Ausflug nach Polen bewunderte, das Herrenhaus der offenen Seite gegenüber, ein breiter Feldweg, der in die Stadt führte, unfarben, trocken, staubend bei jedem Schritt, von Bäumen gesäumt, dahinter goldene Felder, in die die Sonne versank.

Angesichts der Bilder, die Less auf dem Ausflug eingesammelt hatte, der Pferdefuhrwerke, Strohgarben und Bauerngesichter, war in ihm ein gewisses Verständnis für den Großvater aufgekommen, den es an der politischen Realität vorbei zu dem Viereck hingezogen hatte, das noch immer die Welt enthielt. Hier war die Erde Scheibe gewesen, ihre Bewohner Komplizen, und es gab nichts, was je die Erinnerung verdunkeln würde an die Ehre, der Gutsherrschaft beim Tennis die Bälle reichen zu dürfen. Früh hatte sich hier gefunden, worum an anderen Orten noch blutige Kämpfe geführt wurden: ein Reservoir an Geschichten. Episoden, Anekdoten, Eindrücke, von einer Landschaft gerahmt, die wiedererkennbar war. Das übersichtliche Nebeneinander machte den Wahn der Verknüpfung überflüssig, und Less hatte manches Mal beobachtet, wie Tupfer jenes ländlichen Impressionismus seinen Großeltern die Rede melancholisch färbten: erlebte Paradiese, verlorene Begräbnisstätten, jeder Pinselstrich eine Pointe.

Es war nicht verwunderlich: Eine Generation, die Schillerballaden auswendig kannte und für Naturschauspiele empfänglich war, ließ sich erst recht von ein paar Felsen korrumpieren, zwischen denen ein Wildbach schoss. Der Ort, in dem die Wege seiner Großeltern sich zufällig trafen, wurde Wahlheimat, und so war Less, Opfer der mangelnden Kondition seiner Vorfahren, in die missliche Lage geraten, eine Kleinstadtkindheit durchspielen zu müssen.

In der Schule hatte man ihn gezwungen, die Topographie dieser Kapitulation mit Buntstiften einzufärben, grün die Wälder, blau das Wasser, die Gebäude rot, auf hektographierten Karten, die ein Gebiet von zehn Hektar abstrahierten, vergilbte DIN-A4-Blätter mit blassvioletten Strichen darauf. Schwer allerdings fiel es ihm, diese Karten, die seine Heimat darstellten, mit jener Weltkarte in Verbindung zu bringen, die es in der Mitte der Schulatlanten gab, eine Übung, die man glaubte, den Kindern zumuten zu können. Less, redlich bemüht um diesen Zusammenhang, doch unfähig, ihn herzustellen, war rasch enttäuscht. Er war acht damals. Heimatkunde nannte sich das Fach, in dem er auch lernte, Spiegeleier zu braten und die Uhr abzulesen, eine Vorbereitung auf das Leben, die ihn nach wenigen Sitzungen ermüdete.

Seine Eltern waren undurchsichtige Ingenieure, technokratischer Landadel der ersten Generation. Die ärmliche Herkunft hatte es ihnen ermöglicht zu studieren, dennoch galten sie in den Statistiken weiterhin als Arbeiter, als Teil des Proletariats, und das nicht zu Unrecht, schließlich hielten sie Gedichte für Weiberkram und tranken gezuckerten Wein aus Bleikristallgläsern. Irgendwann mussten sie sich wohl daran gewöhnt haben, nicht zur Intelligenz gerechnet zu werden, und Less war sich nicht einmal sicher, ob sie je diesen Ehrgeiz besessen hatten.

Nicht ohne Schadenfreude hatte er mit vierzehn zum ersten Mal von den Sticheleien im Werk gehört, Pöbeleien der verdreckten Arbeiter in der Werkskantine, die den Helmlosen und Sauberen galten, den Sekretärinnen und Anzugträgern, die ihr Essen auf gepolsterten Stühlen einnahmen, während die Arbeiter in Blicknähe auf Holzschemeln hockten. Er hoffte insgeheim, dass seinen Eltern der tägliche Pausengang eine Qual wäre, sie bestenfalls die Pause selbst fürchten würden. Gleichzeitig ahnte er, dass sie unempfänglich sein könnten für derartige Attacken, dass ihre Gleichgültigkeit, die sich nach außen als nie enden könnendes Engagement zeigte, stärker wäre als irgendwelche Gefühle der Ehre oder des Stolzes, die er ihnen mit dem Respekt seiner Sohnesrolle immerhin noch unterstellte. Aber darum ging es gar nicht. Wichtiger war der erstmalige Eindruck, Verbündete haben zu können, mit denen sich eine Front aufbauen ließ gegen eine andere Partei. In der Schule hieß es, dass so etwas in der Wirklichkeit oft passiere, ja dass sie so erst entstünde.

Schwache Erinnerungen hatte Less auch an die Sonntage der Kindheit bewahrt, die ihm mit schöner Regelmäßigkeit Schwierigkeiten einbrockten, in den warmen Monaten, wenn es Pflicht war, sich auf der Straße auszutoben, statt im Zimmer sitzen bleiben zu dürfen. Ohne großes Zögern ließ er sich auf die Prügeleien ein, die er bald routiniert zu überstehen lernte. Es waren Rangeleien zu zweit, Duelle um nichts, die sich nach einem hektischen Anfang grundlos in die Länge zogen. Einer der Kontrahenten lag dann flach auf dem Rücken, während der andere auf dessen Brust kauerte und mit den Knien die Oberarme niederhielt. Von Zeit zu Zeit wechselten die Positionen, die Zuschauer verschwanden, und Less, egal, ob oben oder unten liegend, versuchte an etwas zu denken, in dem nicht jenes Gesicht vorkam, in das er seit Stunden zu blicken gezwungen war. Die Wäsche flatterte im Wind, denn sie bestritten diese Kämpfe auf dem Trockenplatz, dem Neubaublock gegenüber, aus dessen Fenstern irgendwann die Mütter zum Mittagessen riefen. Trotz der Ermattung, die er schon am Vormittag gefühlt hatte, stellte er sich am Nachmittag pflichtbewusst erneut seinem Kontrahenten, der diese Herausforderung meist lustlos annahm. Des Weiteren war ihm der Geruch des Hundekots an den Händen in Erinnerung geblieben, der Teer an den Armen, Kaugummi in den Haaren.

Die größten Triumphe in den Kindheitstagen verdankte er jedoch der Natur. Es ging dabei um die Möglichkeit, von den Felsen in die Tiefe der Schlucht zu springen und derart das Leben zu beenden. Stets mit tiefer Verachtung in der Stimme berichtete sein Vater von diesen Lebensmüden, Subjekten, wie er sie nannte, die sich irgendeiner ominösen Verantwortung entziehen würden.

Less war das egal. Auffällig abwesend saß er am Abendbrottisch, wenn sein Vater die Neuigkeiten aus dem Werk mitbrachte. Hinter vorgehaltener Hand, mit einem Eifer, der schlecht zu seiner Entrüstung passte, raunte er sie der Mutter zu, hin und wieder einen misstrauischen Blick auf den Sohn werfend, der wusste, wann es sich nicht schickte, aufmerksam zu sein. Während er gleichgültig den Kopf abwandte, um fleißig im Essen zu stochern, merkte er sich selbst die unnützen Details jener Schaurigkeiten. Später dann, wenn die Eltern im Wohnzimmer saßen, sein Vater die Fernsehbilder studierte oder in einer öden Fachzeitschrift blätterte, die Mutter Wäsche ausbesserte und die Gespräche zwischen beiden allmählich verebbten, lag er im angrenzenden Zimmer wach und wiederholte die am Küchentisch aufgeschnappte Geschichte des Suizids. Zunächst rief er sich die blanken Fakten ins Gedächtnis: den Ort, den Felsen oder Felsvorsprung, an dem die Tat geschehen war, die Tageszeit, die Herkunft des Selbstmörders, ob Einheimischer oder Zugereister, und nicht zuletzt das Motiv für den Sprung, über das in der Stadt noch wochenlang spekuliert wurde, das sich wandeln konnte, ja musste, um die Geschichte eine Weile länger in aller Munde zu belassen, so lange, bis es erneut jemand wagte.

Aber auch die Motive waren Less eigentlich egal, denn ihm ging es lediglich darum, den Klassenkameraden anderntags eine Erzählung anzubieten, die geschliffen war. Sicherlich hätten auch die Mitschüler von dem Ereignis berichten können, doch vermochte niemand, diese Begebenheiten so packend und in flüssiger Rede darzustellen wie er. So lag er an solchen Tagen, die es öfter hätte geben können, bis in den Morgen hinein wach und bastelte in seinem Kopf einen Text zusammen, den er anschließend auswendig zu lernen versuchte. Selbst die Stellen, an denen er Atem zu holen hatte, die Stimme heben oder senken musste, sogar die Pausen und Verzögerungen, die seinen Worten die nötige Wirkung verleihen sollten, prägte er sich genauestens ein. Irgendwann fiel er erschöpft in einen kurzen, nervösen Schlaf, in dessen Verlauf ihm Kolonnen von Buchstaben durch die Vorstellung geisterten, sich manchmal zu Wörtern fügten, die seiner vorbereiteten Erzählung entstammen mochten, jedoch wieder in ihre ursprüngliche Unordnung zerfielen, ehe er in der Lage war, sie zu lesen. Er registrierte bloß die sich wandelnden graphischen Konstellationen und einzelne Silben, die dazu monoton im Hintergrund gesprochen wurden. Less wusste nicht, woher diese Klänge stammten. Er konnte nicht einmal sagen, ob es überhaupt eine Stimme gab, die ihren Kommentar über seinen Traum sprach, oder ob nicht der ohnehin schwierige Traum durch einen zweiten verkompliziert wurde. Mehr aber noch beunruhigte ihn der Verdacht, dass das, was da in seinem Kopf rumorte, die Dinge viel besser ausdrücken konnte als er, der sie in mühevoller Arbeit ins enge Korsett des einstudierten Textes gezwungen hatte.

Am nächsten Tag in der Schule, übermüdet und mit roten Augen, in der großen Hofpause, schlich er sich an die Gruppe der Jungen heran, zu der er gewöhnlich keinen Zutritt hatte. Wie von selbst ging der Kreis auf, in dem sie standen, und erweiterte sich um einen Platz für Less. Zehn Minuten genügten ihm meist, um sein Epos der Lebensmüdigkeit vorzutragen, den Rest der Zeit beantwortete er Fragen zu Details, gab sich fachmännisch und scheute sich nicht, den einen oder anderen Schlenker seiner Phantasie als Tatsache anzupreisen. Dann war die Pause vorüber, und er versank wieder in der Nichtbeachtung, aus der ihn die Toten kurzzeitig gezogen hatten.

KRIEG DER KANARIEN

Es war eine der lächerlichen Veranstaltungen, die der Frühling über die Stadt brachte, eine der besonderen Trostlosigkeiten, die der alltäglichen die Krone aufsetzten. Ein Hohn auf Less, dessen Leidensfähigkeit unproportional zu seinem Lebensalter gewachsen war und die den besten Dünger in der alljährlichen Entfesselung der Folklore fand, in den lachhaften Kostümen, von Frauen ausgefüllt, die tagsüber in Synthetikschürzen in der Hütte arbeiteten, in den handgroßen, auf Miniaturbesen reitenden Plastikhexen, ebenfalls in Polyesterkleidern, aus demselben Material wie die Kittelschürzen, aus dem auch Einkaufsbeutel und Matratzenbezüge bestanden, ein schwarzer Grund mit weißen Punkten und Phantasieorchideen aus einem Nirwana für Deppen.

Wenn es denn einen Vorhang gab, der sich vor dieses Trauerspiel hätte senken können, musste auch er mit diesem Muster bedruckt sein, dachte Less, als er vor dem Spiegel im Badezimmer seiner Großeltern stand und aus einer Metalltube einen Strich Rasiercreme in seine linke Hand drückte. Er rieb das Zeug vorsichtig breit und fuhr sich durch die Haare. Es sah aus, als wolle er sie ausreißen. Strähne für Strähne begann sich so zu erheben, und eine halbe Stunde später stand sein gesamtes Deckhaar ab wie die Borsten einer Klobürste. Er musste sich beeilen, denn seit einer knappen Stunde bereits war jene regionale Seltsamkeit im Gange, derentwegen er sich gerade abmühte: das alljährliche Wettsingen der Kanarien.

Die gesamte Stadt war wahrscheinlich schon dort versammelt, um sich an den Vögeln und ihrem dünnen Gesang zu ergötzen, zitternde Staubwedel, deren einziger Reiz, ein leuchtendes Gelb, von groben Wolldecken der Deutschen Reichsbahn verhängt blieb, eine Farbe, die es, wie alle gesättigten Farben, hier nicht gab, nicht einmal im Fernsehen, das ein Opfer talbedingter Interferenzen war.

Die Thälmannstraße war menschenleer, als Less die leichte Steigung in Angriff nahm, die vor dem Klubhaus der Hüttenwerker endete. Vom Berg herab polterte Blasmusik, irgendein Radetzkymarsch für niedrige Klassen, für dessen strammen Takt er jetzt fast dankbar war, denn die dumpfen Tubastöße trieben seine Füße, die lieber stehen geblieben wären, beharrlich den Weg hinauf. Vor Pelzels Fleischerei verschnaufte er kurz, um sein Bild im Schaufenster zu betrachten: Nicht weniger als ein Fremder, stand er da zwischen geräucherten Dauerwürsten und hatte wie sie einen eisernen Haken im Kragen.

Als er oben ankam, war der Krieg der Harzer Roller schon in die zweite Runde gegangen. Um die Arena standen Biergartentische mit langen Bänken, schuppige Platanen warfen ihre Schatten auf die abgehängten Vogelbauer, die Kapelle setzte gerade ihre Instrumente ab. Less erkannte Delia Hellmund, die ein Tablett mit nullfünfer Biergläsern aus der Klubhaustür balancierte. Instinktiv duckte er sich.

Less hatte noch nicht die Zeit gefunden, sich Gedanken über seinen heutigen Auftritt zu machen, über die Folgen, die seine modische Randale in nächster Zeit nach sich ziehen würde. Denn mindestens ein Jahr noch musste er es hier aushalten, dann konnte er sich eventuell mit der Ausrede eines ausgefallenen Lehrberufs in die nächstgrößere Stadt absetzen.

Dieser Auftritt war von langer Hand geplant. Seinem Großvater hatte er vor Monaten einen Anzug aus den fünfziger Jahren abgeschwatzt, ein dunkler, rauer Stoff mit weißen Meridianen, funktional geschnitten und zwei Nummern zu groß, später dann ein mit Silberfäden durchwirktes Hemd der Marke Schwarze Rose, noch später ein Paar knöchelhoher Arbeitsschuhe mit Stahlkappen und schließlich Manschettenknöpfe mit dunklen Steinen und goldener Fassung. Noch schwieriger war es gewesen, die Frisur zu verändern. Eigens dazu hatte er sich für zwei Wochen zu seinen Großeltern abgemeldet, um dort nachts vor dem Badezimmerspiegel zu stehen und mit einer Papierschere an seinen Haaren herumzustutzen. Pro Sitzung schnitt er jeweils nur wenige Millimeter ab, an den Seiten und am Hinterkopf. Am Ende der zwei Wochen waren dennoch ein paar beachtliche Zentimeter zusammengekommen, die nun fehlten und seine Kopfhaut durchschimmern ließen. Der Vorteil dieser schleichenden Art, sich zu frisieren, war, dass Less sowohl seiner Umwelt als auch sich selbst das Erschrecken über einen radikalen Schnitt ersparte.

Delia Hellmund hatte ihn nicht bemerkt. Sie half ihren Eltern aus, die die Klubhauskantine gepachtet hatten, und schleppte mit hölzerner Grazie dem Publikum Bier an die Tische. Less hatte Schwierigkeiten, sie länger als ein paar Sekunden zu betrachten, ohne den Blick zur Erholung kurz auf etwas anderes zu schwenken. Sie trug eine weiße Schürze über dem knielangen, schwarzen Rock, den sie erstmals zur Jugendweihe vorgeführt hatte. Das war jetzt zwei Jahre her, und trotzdem schlotterte der synthetische Stoff noch immer wie ein Sack um ihre Beine, deren kindliche Form durch schwarze, Falten werfende Dederonstrümpfe wie eine Karikatur des Asexuellen wirkte. Sie war mit einer Magerkeit geschlagen, die alles und nichts bedeuten konnte, ein Zögern ihrer überforderten Physis, die Weigerung einfach, sich für irgendetwaszu entscheiden. Ihr Gesicht war stets von streng in der Mitte geteilten Haaren verhängt, wie sie reizloser nicht sein konnten, ein dünner brauner Schleier, den nicht eine Welle bewegte und den sie mit widerspruchsvoller Geste lüftete, wenn ein Lehrer sie in der Schule dazu ermahnte. Und trotzdem tat es Less Leid, dass ausgerechnet Delias Anblick ihm solches Unbehagen bereitete. Sie war wahrscheinlich die Einzige, die ihn nicht verraten hätte, wäre sie ihm in der Unterstadt begegnet, wo er probehalber sein neues Outfit durch die nächtlichen Straßen spazieren getragen hatte. Vielleicht auch nur, weil sie niemanden kannte, vor dem sie sich mit einer solchen Neuigkeit hätte brüsten können. Außerdem war sie eine der wenigen in der Klasse, deren Eltern nicht in der Hütte arbeiteten, wenngleich sie von ihr abhingen, eine Abhängigkeit allerdings, die sich im öffentlichen Blick längst umgekehrt hatte. Denn die Hellmunds verkörperten mit ihrem Gewerbe eine Freiheit, wie sie hier größer nicht zu haben war. Sie ließen sich täglich auf die wüsten Faseleien ihrer Gäste ein, Tiraden, die bei aller Zerfahrenheit doch immer das Pathos der Aufrichtigkeit besaßen, sie nickten verständnisvoll und sprachen tröstende Worte. Es waren kleine Zugeständnisse an die Psychen der Trinker: Sie sollten sich von Zeit zu Zeit versichern lassen dürfen, dass sie auch anders könnten, wenn sie es denn gewollt hätten.

Einmal nur war Less bei Delia zu Hause gewesen. Sie gingen damals in die neunte Klasse, Delia hatte Angina bekommen, und da sich niemand fand, der ihr freiwillig die Aufgaben bringen wollte, hatte die Lehrerin ihn bestimmt, weil er auf seinem Weg sowieso an ihrem Haus vorbeimüsse. Die Hellmunds wohnten in einem zweistöckigen Einfamilienhaus an der Stecklenberger Allee, und eigentlich führte sein Schulweg nicht daran vorbei, aber was sollte es.

Delia öffnete ihm die Tür, ihre Eltern waren nicht zu Hause. Hier, in der Sicherheit ihrer Wohnung, hatte sie eine Souveränität, deren Fehlen sonst am deutlichsten im Sportunterricht auffiel, wenn sie als Letzte in eine der Mannschaften gewählt wurde, sehr exotisch in ihrem blaumetallic Puma-Turnzeug zwischen all den Sack-und-Asche-Kombinationen, und sich immer wieder darüber zu ärgern vermochte, eine stille, äußerst komische Verbissenheit, mit der sie erfolglos um Gleichberechtigung bat. Es war bekannt, dass sie eine ausufernde Westverwandtschaft hatte. Sie schrieb mit Füllfederhaltern von Pelikan, um deren leere Patronen sie die anderen früher angebettelt hatten, und es gingen Gerüchte, dass ihr Kinderzimmer mit Kiss-Postern zutapeziert sei, das doppelte S des Namenszugs in Runenform. Less wusste nach seinem Besuch, dass das nicht stimmte, doch er stellte es nicht klar, weil er sie nicht um das letzte Interesse der Mitschüler berauben wollte.

Delia hatte ihn in ihr Zimmer geführt und mit wenigen Worten das Peinliche der Situation zerredet. Pflichtgemäß übergab er ihr die Aufgaben. Sie waren beide keine schlechten Schüler, und so hatte sich der Grund des Besuches rasch erledigt. Mit einem Mal jedoch war Less so müde geworden, dass er sich auf Delias gehäkelte Tagesdecke hatte zurücksinken lassen, inmitten von Goofys, Daisys, Mickymäusen und einer ganzen Herde Monchichis. Sie warf ihm einen erstaunten, fast zornigen Blick zu, der ihm schlagartig sein schlechtes Benehmen bewusst machte, schon wollte er ihr mit einem Augenaufschlag Bedauern bekunden und sich dann erheben, als er sah, dass sich ihre Empörung bereits in eine demonstrative Unaufmerksamkeit verwandelt hatte. Sie tat plötzlich so, als habe sie nichts bemerkt, schaute aus dem Fenster und plauderte unbekümmert ihre Mädchenansichten aus, die sie mit einer Menge Details ausschmückte. Unsicher, was er tun sollte, hatte er auf die Ellenbogen gestützt verharrt. Ihr Wortschwall schien nicht enden zu wollen. Irgendwann entschloss sich Delia doch zu schweigen. Less war längst aufgestanden und hatte an ihr vorbei auf die Straße gesehen.

Beruhigt kramte Delia einen Stapel Jugendzeitschriften heraus, die ihr in unregelmäßigen Abständen aus Böblingen geschickt wurden. Sie gingen ins Wohnzimmer runter, und Less ließ sich auf einem monumentalen Samtsofa von Modetrends erzählen und von Musikgruppen, deren Songs hier im Rauschen der Mittelwelle untergingen. Die ganze Zeit fürchtete er, dass ihre Eltern kommen würden und er mit ihnen sprechen müsste, über seine Eltern zum Beispiel, die es nicht einmal fertig gebracht hatten, die faden Standardtapeten der Neubauwohnung auszuwechseln. Hier war alles irgendwie aus Holz, warm, und sogar das Licht kam indirekt ins Zimmer. In die weißen Paneele des Badezimmers waren Lautsprecher eingelassen, und Delia spielte, als Less aufs Klo musste, We fade to grey ab. Später tranken sie Likör aus der verspiegelten Bar ihres Vaters, und Less fand, als er sich am Abend verabschiedete, dass es nicht einer der schlechtesten Tage gewesen war. Seitdem redeten sie manchmal in der Schule miteinander, und Delia lieh ihm regelmäßig ein paar ihrer Zeitschriften, in denen er auch die Anregung für sein neues Outfit gefunden hatte.

Auch zu Maik Göhrke war Less geschickt worden, von einer anderen Lehrerin, in der zweiten Klasse. Damals war es ihm nicht egal gewesen, er hatte bloß nicht gewusst, wie er sich wehren sollte. Göhrke galt als Assi, schon weil er ein halbes Dutzend Geschwister hatte, mit Namen wie Brain, Roi und Ivonn. Seine Mutter war Küchenhilfe in der Werkskantine, sein Vater verteilte im Werk die Arbeitskleidung. Die Familie wohnte im Nachbaraufgang, und eigentlich hatten Less und Maik gemeinsam alle Gleichaltrigen des Blocks im Griff gehabt. Less’ Spielzeugarsenal und Maiks Unverschämtheit ergänzten sich ideal. Abends aber musste Less dann in den Nachbaraufgang, um den Eltern seines Freundes Briefe zu übergeben, in denen sich die Lehrerin über die ungewaschene Erscheinung des Sohnes beklagte oder über seine unflätigen Ausdrücke. Immer wenn Less vor der Tür stand, kam ein starkes Rumoren aus der Wohnung, Stimmen, Küchen-, Fernsehgeräusche, das jedoch sofort verstummte, nachdem er die Klingel gedrückt hatte. Meist öffnete die Mutter, stets um eine Freundlichkeit bemüht, die ihr hier im Viertel sowieso keiner abnahm. Er überreichte ihr die Briefe oder Hefte, in denen Verwarnungen und Tadel standen und die von den Eltern zu unterschreiben waren, eine Formalität, die Maik mit seiner ausrutschenden Schrift vorher selbst erledigt hatte. Während die Mutter sich umständlich bei ihm bedankte und beteuerte, was er für ein guter Junge sei im Vergleich zu ihrem, sah Less durch den Türspalt Maik, der aus einem der hinteren Zimmer lugte. Maik hatte den ganzen Tag über gewusst, dass Less am Abend vorbeikommen würde, da die Lehrerin ihre Aufträge vor der ganzen Klasse verteilte, und trotzdem redeten sie auf dem gemeinsamen Heimweg nie darüber. Im Gegenteil: Maik brachte ihm neue Wörter bei wie ficken, die er sich nie zu benutzen traute, weil jeder sofort gewusst hätte, woher er sie kannte, oder sie gingen in die Kaufhalle, wo Maik ihnen Süßigkeiten klaute. Das war lange vor den sonntäglichen Prügeleien gewesen, und zum Glück wurde die Lehrerin bald schwanger und die Missionen fanden ein Ende.

Trotzdem fragte sich Less, ob sein Freund nie gehofft hatte, dass er einen seiner verräterischen Aufträge vergessen würde oder ignorieren, und als er die Frage schließlich bejahen musste, war ihm endlich jene Episode wieder eingefallen, die den eigentlichen Bruch mit Göhrke markiert hatte. Sie waren um die Häuser gezogen, als Maik plötzlich die Hose runterließ und an einen Zierstrauch hinter dem Block kackte. Dann riss er eine Hand voll Löwenzahn von der Wiese und wischte sich den Hintern damit ab, als wäre es das Selbstverständlichste, alles vor Less’ Augen, den es wie eine Erleuchtung überkam, dass es manches Mal Göhrkes Scheiße gewesen war, in die er gegriffen hatte, wenn er dachte, es wäre die eines Dackels.

Jetzt saß Göhrke mit einigen anderen am Rand der Kampfhahnarena, rauchte Zigaretten, trank Bier aus einer Flasche und suchte das Umfeld nach Gegnern ab. Less schlich aus der Schussbahn seiner Augen in den Schatten einer Wurstbude. Plötzlich wurde es still, Gläserklappern und Stimmen waren fort, selbst fernes Motorengeräusch ließ sich nicht mehr vernehmen. Lediglich der Frühlingswind ließ das Platanenlaub rascheln, das die Sonnenstrahlen zu geometrischen Schatten filterte. Jemand musste ein Zeichen gegeben haben, ein Kommando zum Innehalten. Less wartete, dass etwas passierte, doch es passierte nichts.

Als Erstes hörte er das heiße Öl wieder zischen. Gleich darauf hing der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft. Waren alle gegangen? Hatte sich die Erde aufgetan, waren sie alle zur Hölle gefahren und schmorten dort zu einem unappetitlichen Ragout? Less hielt es nicht mehr aus in seinem Versteck.

Doch nichts dergleichen. Lediglich ein weiteres Vorfinale war gestartet, was die Vögel jedoch nicht mitbekommen hatten. Das Publikum saß wie vom Schlag gerührt da und starrte auf die Reichsbahndecken, hinter denen die stummen Sänger hockten. Noch ehe Less überlegen konnte, ob es sich bei den Vögeln nicht lediglich um die gut getarnten Teile eines multiplen diabolischen Bewusstseins handelte, hörte er einen routinierten Tenor, der dennoch an der einzigen Silbe, die er zu bewältigen hatte, überschnappte, seinen Namen rufen. Im gleichen Moment fing einer der Kanarien an zu röhren, ein markerschütterndes Zur Jagd!, und die ganze Vogelmeute, die sich eben noch tot gestellt hatte, hetzte wie ein akustischer Heuschreckenschwarm der menschlichen Stimme hinterher.

Less trat einen Schritt vor, und das Sonnenlicht traf ihn ins Gesicht. Mit einer Boxerfinte schraubte er den Kopf in einen Fetzen Schatten zurück, ein Schlenker zu viel, denn ein Raunen setzte plötzlich ein, ein Murmeln und Keifen, von Dutzenden Fingerzeigen begleitet. Die Besitzer der Kanarienvögel warfen ihm schräge Blicke zu. Keiner scherte sich mehr um ihre Schützlinge, die jetzt wie angesengt durch die Tonleiter randalierten.

Er war also entdeckt worden und musste sich nun irgendwie aus dem Bedeutungszenit des Sonntagvormittags stehlen. Da er weder wusste wohin, noch als Zielscheibe stillstehen wollte, irrte er vage in die Richtung der Stimme, die ihn denunziert hatte, rempelte an Tische, Schultern, Beine, stieß quäkende Kinder um, bis er dieselbe Stimme ein zweites Mal vernahm, ganz nahe und von einem schwankenden Ton der Reue getragen: «Hierher!»

Less ließ sich blindlings nieder und das Gemurmel schwoll ob seines feigen Verschwindens an.

«Tag, Herr Wattig.» Der also hatte ihm den Pöbel auf den Hals gehetzt. Er hatte schon einiges intus, ging man von den leeren Gläsern aus, die vor ihm standen.

«Tut mir Leid, Junge», sagte Wattig.

«Egal», sagte Less. Wattig war ein komischer Kauz mit dünnrandiger Hornbrille und fliegenden Haaren, der stets klein karierte Baumwollhemden trug, grobe Kordhosen und Strickjacken. In der Stadt gingen verschiedene Gerüchte um, die seine Rolle in der jüngeren Geschichte betrafen und die angesiedelt waren in dem weiten Bereich zwischen zwielichtigen Arrangements und andauernder Renitenz. Er hatte Anfang der sechziger Jahre auf verschlungenen Wegen ein Mietshaus geerbt und betrieb dort im Erdgeschoss einen Schreibwarenladen mit angeschlossener Buchhandlung. Im ersten Stock dieses Hauses wohnten Less’ Großeltern, und so war ihm der Alte seit früher Kindheit vertraut.

«Fräulein», schrie Wattig unvermittelt. Er meinte Delia, die gerade vorüberging. Less versuchte, die Haarspitzen einzuziehen.

«Ja?», säuselte Delias Stimme um sein Ohr.

«Ein Bier. Und für unsren jungen Freund hier …»

«Auch eins», sagte Less und hoffte, dass Delia verschwinden würde, ohne ihn anzusprechen. Aber Delia verschwand nicht so schnell, im Gegenteil, sie beugte sich über Less hinweg und fischte die leeren Gläser vom Tisch. Er fühlte, wie ihre Brust auf seine Schulter glitt und sekundenlang dort liegen blieb, und er hatte den Eindruck, dass sie größer war, als es von weitem aussah. Beim Zurückschwingen ihres Körpers fiel Delia das Tablett aus der Hand, die leeren Biergläser schepperten zu Boden, und Less, während er noch bedauerte, dass die Last von seiner Schulter gewichen war, dachte unfreiwillig an den Sportunterricht. Umso mehr überrascht und schlagartig befreit von der lästigen Assoziation war er, als er eine Hand – es konnte nur Delias sein – an seinem Hosenbein herumfingern spürte, zaghaft, vorsichtig, als teste sie mit großem Respekt die Qualität des Stoffs. Dann zog sie sich wieder zurück, um kurz darauf an einer anderen Stelle erneut aufzusetzen. Less’ Verwirrung war groß. Ohne sich umzusehen, tastete er unter dem Tisch nach ihrer Hand, die auf seinem Hosenbein entlangkroch. Er erwischte ihren Handrücken, schmal und kalt wie ein Fisch, und bereits im nächsten Moment hatte er die wärmere Handfläche in der seinen, fühlte einen kurzen und etwas zu festen Druck, griff reflexartig zu und hörte endlich, wie sich Delia mit knisternden Strümpfen erhob und über den Kies des Platzes zum Klubhaus hinüberging. Wie bei einem Phantomschmerz hielt er noch eine ganze Weile ihre Hand in seiner mittlerweile geschlossenen Faust. All das hatte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert. Waren das die Waffen der Frau?

Die Blasmusik setzte wieder ein, ein Medley, das thematisch die drei Mittelgebirge des Landes durchwanderte, eine Polka der vereinigten Hinterwäldler.

«Du hast da was verloren», sagte Wattig zu Less und zwinkerte.

Less entdeckte einen zusammengefalteten Zettel vor sich auf dem Tisch, der ihm aus der Hand gefallen sein musste.

«Vorsicht!», stand in Delias mustergültiger Schrift auf dem Papier, «Göhrke hat was vor.» Er merkte, dass er rot wurde. Peinliches Missverständnis seinerseits. Erneut fiel ihm der Sport ein, diesmal nachdrücklicher, ihre Versuche bockzuspringen.

Bis zum Abend bewegte sich Less nur vom Tisch weg, wenn er aufs Klo musste. Ein gewisser Hartmut von der Tresenburg hatte gegen ca. vierzehn Uhr den Sängerwettstreit des Jahres 85 gewonnen und war mit einem Hirsekolben belohnt worden. Danach war man zum gemütlichen Teil des Festes übergegangen, zum Saufen. Auch Wattig kübelte Bier, als ginge es darum, den Fünfjahrplan im Schlucken zu erfüllen. Erstaunlicherweise wurde er dabei nur sehr langsam betrunken. Während Wattig zwei große Bier trank, bekam Less zwar nur ein halbes runter, aber das reichte, um sein untrainiertes Blut in Wallung zu bringen und ihm die Sinne einigermaßen zu betäuben. Ziemlich bald war seine gesamte Konzentration aufs Geradesitzen gerichtet.

Als es dämmerte, gingen die meisten Familien nach Hause, viele der Männer waren hinüber und schleppten sich, auf Frauen und Kinder gestützt, den Hang hinab. Auf der kleinen Freilichtbühne vor dem Klubhaus machten sich jetzt einige Techniker zu schaffen, hängten Lampionketten in die Sträucher, schleppten Tische heran und stellten Geräte darauf ab. Das wichtigste Ereignis des Tages stand noch bevor, ein Gastspiel der über die Kreisgrenzen hinaus bekannten Diskothek Karibik.

Less setzte eine Runde aus, nicht zuletzt wegen Delias vorwurfsvollen Blicken auf Wattig. Ein kühler Wind war aufgekommen und brachte etwas Erfrischung. Über der Rosstrappe ging der Mond auf.

Eine Folge des Alkoholkonsums war, dass Less nicht sagen konnte, wie seine Provokation den Tag überstanden hatte, ob sie weiter angenommen worden war oder ob man sich an sie gewöhnt und ihn schließlich nur noch belächelt hatte. Eines aber stand fest: Er konnte nicht mehr zurück. Aus Leichtsinn und Langeweile hatte er begonnen, an einem privaten Mythos zu werkeln, und wollte er das Ganze nicht als Faschingsauftritt abhaken, musste er fortan die Rolle weiterspielen, musste seine Laune zu einer Haltung adeln und bestenfalls irgendwann selbst an die Aufrichtigkeit der Wandlung glauben.

Der Festplatz war jetzt leer bis auf einige stadtbekannte Einzelgänger, die an den vereinsamten Biertischen ausharrten und den letzten Schluck in die Länge zogen. Von der Stadt im Tal ging nichts mehr aus, keine Geräusche, kein Licht, nicht mal nihilistische Inspirationen. Nur ein leichtes Aschearoma wehte aus Richtung der Hütte, wo die Nachtschicht begonnen hatte.

Wattig wechselte in die Gaststube des Klubhauses, um dort weiterzutrinken. Less, der keine Lust mehr auf die Gesellschaft des Alten hatte, schlich sich in die Nähe der Freilichtbühne, wo die Karibik mit gelben und roten Lampions lockte. Doch diese Insel barg eine Gefahr. Sie würde binnen Minuten voll sein mit feindlich gesinnten Jugendlichen, die sich auch sofort aufgemacht hatten, nachdem die ersten Takte des Soundchecks erklungen waren – Run away, turn away. Aus allen möglichen dunklen Ecken kamen sie geströmt, Bierflaschen in den Händen und Zigaretten, in Jeansanzügen mit Iron-Maiden-Aufnähernauf dem Rücken. Es war zum Fürchten.

Aus dem Schatten eines mächtigen Platanenstammes heraus sah Less, dass auch Maik Göhrke und seine Bande in den Lichtkreis der Tanzfläche traten. Ihre Gelassenheit war bedrohlicher denn je. Sie benahmen sich wie Platzhirsche, weil sie wussten, dass sie in wenigen Jahren tatsächlich welche sein würden. Auch die Mädchen standen in kleinen Gruppen herum, tuschelten, kicherten, und mit Bedauern wurde Less klar, dass sie allesamt nicht mehr zu seinem Anzug und der Frisur passten, dass es einfach ein scheußlicher Stilbruch wäre, sich mit einer hautengen Tigerhose oder einem Janis-Joplin-Stirnband einzulassen. Seine Chancen, die ohnehin nicht gut gewesen waren, hatten sich erheblich verschlechtert.

Das Licht begann zu flackern, eine Rückkopplung, ein forsches Pochen aufs Mikro, dann schrie jemand hinein und die Regler wurden hochgezogen: Get down on it, if you really want it.

Eine halbe Stunde tanzte niemand. Der Diskjockey gab nicht auf: «Alles klar, Freunde, ihr wollt härteren Stoff. – Könnt ihr springen?»

«Jaah», sagte das Publikum.

Der Diskjockey, die Hand am Ohr, brüllte: «Ich höre nichts: Könnt ihr springen?»

«Jaah», sagte das Publikum lauter, vereinzelte Begeisterungspfiffe flogen durch die Luft. Less wusste, was folgen würde: eine Hand voll Akkorde, von denen nicht klar war, womit man sie erzeugt hatte, Gitarre oder Keyboard, oder eine Melange aus beidem, dazu die kreischende Stimme eines Sängers, der mit Glitzertüchern, Dauerwelle und rosa Hose einen auf harten Mann machte: Jump!

Mit einem Mal brodelte die Tanzfläche. Die meisten der jungen Springer hatten es nicht mal mehr geschafft, ihre Bierflaschen abzustellen. Immer wenn der Sänger das Stichwort greinte, hoben sich die Köpfe in einer Welle. Mancher brachte sogar artistische Einlagen, grätschte die Beine im Flug oder täuschte Pirouetten an, andere schraubten sich spiralartig vom Boden und landeten wie zurückgeschraubt in der Ausgangsposition. Wer nicht mehr zu solchen Einlagen fähig war, stand einfach hängenden Kopfes da und schüttelte die Haare im Rhythmus der Musik. Viele hatten kurzerhand zur Luftgitarre gegriffen und fingerten filigran vor ihrem Hosenlatz herum oder erschöpften ihre Kraft in ausholenden, rudernden Armbewegungen. Einige versuchten sich sogar an imaginären Akkorden.

Less wusste, dass er von dieser Horde nichts zu erwarten hatte. Die Jugend war sich einig in ihren Vorlieben, und sie würde auch wie ein Mann ihre Abneigungen verteidigen.

Der Diskjockey wirkte zufrieden. Also legte er nach: It’s the final countdown. Doch erst nach einer Stunde war der musikalische Spuk mit Judas Priest zu Ende. Der Diskjockey gönnte sich eine Pause, und die Dorfjugend, erschöpft, aber glücklich, stürmte ins Klubhaus, um sich mit frischem Bier einzudecken.

Less zögerte: Er konnte sich nicht unters Publikum mischen, zu dessen weiblichem Teil es ihn trotz der stilistischen Widersprüche hinzog, andererseits kam er sich etwas lächerlich vor in seinem Versteck und schämte sich obendrein der Furcht, die ihm jetzt wie das Fazit dieses Tages vorkam. Es hatte keinen Zweck. Langsam zog er ab, die Straße hinunter, die er mittags mit Bangen hochgestiegen war, drehte vor dem Haus seiner Großeltern ab, ging am Park vorbei und passierte die evangelische Pfarrkirche, die just in diesem Moment zu dröhnen begann: zehn Schläge. Niemand war mehr unterwegs. Verlegen um ein Ziel, schlug er den Weg ins Bodetal ein. Hier war es noch unwahrscheinlicher, dass ihm irgendwer begegnete.

Der Bach rauschte, die Bäume schwangen im Wind ihre Wipfel, durch die Mondlicht auf den steinigen Weg fiel, der sich zwischen steilen Felswänden schlängelte. Less überdachte seine Lage: Er musste etwas tun, das ihn vorteilhafter erscheinen ließ in seiner Rolle, etwas, das sein ängstliches Versteckspiel zu einer Taktik machte, das sein heutiges Missverständnis mit Delia ebenso berücksichtigte wie die schlechten Aussichten auf andere Mädchen, ja das selbst allen künftigen Niederlagen, blauen Augen, Blessuren die Aussage nahm, indem es sie im Voraus simulierte. Genau: Er musste die Tatsachen einfach zu seinen Gunsten interpretieren. Noch während dieser Überlegung hatte er damit begonnen, vielmehr eine tiefere, murmelnde Stimme war es, die ihm bereits einige entlastende Deutungsmöglichkeiten anbot.

Mittlerweile war er weit ins Tal hineingelaufen. Zu seinen Füßen brodelte das wilde Wasser, die Felsen standen nur noch einen Steinwurf auseinander, der Weg wurde mit jedem Schritt schmaler und stieg an. Vereinzelt zogen Wolkenfetzen am sternklaren Nachthimmel auf, flächig zerrissener Auswurf, gespenstisch glimmend vor dem Mond. Dann wieder verlief sich der Pfad in völlige Dunkelheit, die Bäume schlossen sich zu einem wogenden Gewölbe über Less’ Kopf. Blind und ohne Grund tastete er sich in die Tiefe des Waldes vor. Es wurde kalt, seltsame Geräusche verstärkten die Stille, ein Knarren, Knacken, Knistern, das ihn feindlich umspann, ein großes Ächzen der Natur, die unter dem barocken Überschwang leiden mochte, den ihr ein morbides Hirn verschafft hatte. Wie Blut nach einem Aderlass rauschte das Wasser mit metallischem Hall über sein Granitbett. Von den Klippen röhrten Tiere in sehnsuchtsvollen Lauten, als seien sie Klangkörper für die verkommenen Seelen der unzähligen Sagen, die dem Dickicht angedichtet worden waren, gehörnt, hauerbewehrt, mit zwölf Enden und herbem Moschusgeruch, aber ohne Hoffnung auf Erlösung, selbst durch ein Jagdkollektiv.

Trotz des Fröstelns, das Less überfiel und das ihn hätte ernüchtern müssen, schoss ihm der Alkohol des Nachmittags erneut in den Kopf, eine warme Welle der Übelkeit, ein saures Drücken in der Kehle, bescherte ihm Taumel und Schwindel, manipulierte an seinen Sinnen herum. Bilder, zu verschwommen, um sie wirklich zu greifen, aber beunruhigend allein im kurzen Erkennen, wirbelten durchs schwarze Geäst, das sich jetzt regte, das sich neigte und unverhohlenes Interesse zeigte, ihn zu umschlingen. Eine zentrifugale Bewegung seines Bewusstseins, ausgelöst von der rebellierenden Peristaltik, projizierte die Sequenzen des Tages auf die totaler werdende Nacht, reihte grimassierende Gesichter neben belanglose Stillleben und verschmolz ihm das Ganze zu einem düsteren Panorama. Eine gegenstandslose Farbschmiererei, von der nicht klar war, ob sie den Wald befleckte oder seine innere Mattscheibe, bis schließlich, nach endlosen Sekunden der Balancewahrung, das Rotieren aufhörte und lediglich einige hellere Flecken in der nachtschwarzen Monochromie zurückblieben. Das Raunen der Natur verdichtete sich nun tatsächlich zu Wörtern, und es erstaunte ihn, dass er sie mit Leichtigkeit zu Sätzen fügen konnte, was er auch getan hätte, wäre da nicht ein seltsames Grauen vor der Aussage gewesen, die sich hinter der scheinbaren Beliebigkeit ihrer Silben tarnte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Less schwankte, die Stimme der Natur trieb ihn ins Dunkle voran, ein lockendes Vibrato, sirenenhaft, gefährlich. Er touchierte harzige Stämme, stolperte mehrmals im Unterholz und bemerkte erst, als ein Wiederfinden unmöglich schien, dass er vom Weg abgekommen war. Durch die vorangegangenen Drehungen war ihm ohnehin der Sinn für Richtungen abhanden gekommen. So stieß das Schwarz der Nacht in die Leere seines betäubten Kopfes und veredelte ihm die Welt für die folgenden Momente zu einem Hohlraum dritter Potenz, in dem man sich erstaunlicherweise spiegeln konnte.

Es war völlig nutzlos, eine Entscheidung zu treffen, irgendeine. Also ging er geradeaus, um wenigstens dem Zufall seine Chance zu lassen. Der Bach plätscherte nun von weiter unten, leiser als vorher. Less stieg einen Berg hinauf, nicht lange, danach ging es abwärts, dann lichtete sich der Wald, und er konnte kurzzeitig sehen, ohne mehr zu erkennen als Fichten, Föhren und kindshohen Farn, noch später bildete er sich ein, vor ihm wäre ein Licht, goldgelb und winzig, doch als er sich darauf konzentrierte, verschwand es sogleich. Er hielt dennoch darauf zu, um anschließend, zerschlagener als zuvor, das zweifelhafte Ergebnis seiner Bemühung zu registrieren: eine Blockhütte, aus deren Fenstern matter Schein auf die angrenzenden Bäume fiel, nicht gerade wahrscheinlich in dieser Gegend. Less reichte es. Er legte sich ins Gebüsch, das Licht des Fensters im Auge, bis es ausging.

Einmal fassen, tief im Blute fühlen – Als Less zu sich kam, fand er sich hinter derselben Platane wieder, in deren Schutz er den Beginn der Tanzveranstaltung beobachtet hatte. Anscheinend war die Disko in ihre stille Phase übergegangen, in eine romantische, die bereits ihr Ende ankündigte und den verbliebenen Gästen die Paarbildung nahe legte. Grün funkelten die Scheinwerfer durch die Nacht. Auf der Tanzfläche drehten sich drei, vier Pärchen und taten verliebt, während es aus den Boxen weiterkrächzte: Dies ist mein und es ist nur durch dich.

Less’ Schläfen pochten. Zwischen ihnen wälzte er die bange Frage nach dem Verlauf des Abends. Er richtete sich auf, befreite seinen Anzug von Staub und Dreck und strauchelte in Richtung Tanzfläche, die ihm am zuverlässigsten erschien in dieser Nacht der Entgleisungen, eine dröhnende Garantie, dass sich die Wirklichkeit nicht so einfach verabschieden ließ. Nicht mal durch Bier. Im Gegenteil, ein Hammer aus heiterem Himmel, meldete sie sich zurück und traf ihn mit voller Wucht aufs Brustbein, sodass ihm der Atem ausging. Wie nach einem zweiten Hammerschlag setzte Sekunden später der Schmerz ein, gleichzeitig regte sich tief in seinem Blute ein Widerstand gegen diese Attacke, deren Heimtücke so perfekt war, dass Less ihre Ursache erst im Moment seines reflexartigen Gegenschlags erkannte. Alles, was da in ihm rumorte, was sich den Tag über zu einer trüben Suppe zusammengebraut hatte, kam nun zum Vorschein und ergoss sich in einem dampfenden, brockendurchsetzten Schwall über Maik Göhrke, der es angesichts von Less’ Konstitution nicht für nötig gehalten hatte, zurückzuweichen, wie es der hiesige Schlägerkodex schon aus Respektsgründen gebot, der sich vielmehr aus seinem hockenden Hinterhalt erhoben hatte, um sein Opfer aus der Nähe zu verhöhnen, während er breitbeinig tänzelnd eine abgebrochene Zaunlatte über dem Kopf schwang. Und sich triumphierend nach den Kumpels umsah: sein Fehler. Nicht, dass Less sich mittlerweile gern prügelte, Herr seiner Instinkte aber war er noch weniger. Der unwillkürlichen Mageneruption folgte fast übergangslos ein Fausthieb, nicht sehr präzise, aber dennoch Göhrkes Nase streifend, in der auch sofort ein Äderchen geplatzt sein musste, um Blut freizugeben, und noch ehe Göhrke Less in die Augen sehen konnte, knirschte bereits die Stahlkappe des Arbeitsschuhs in seinem Gedärm.

So jedenfalls musste es Delia vorgekommen sein, als sie in diesem Augenblick mit einem Kasten leerer Flaschen um die Ecke bog. Dabei hatte der Schuh nur Maiks Gürtelnieten getroffen und war an ihnen entlanggeschrammt. Ein metallisches Geräusch, ein kurzes Kreischen, dann gingen die Flaschen zu Boden, und Less fühlte, wie ihn Delia, die das Kräfteverhältnis einigermaßen missdeutete, umklammerte. Offenbar schrieb sie den kurzen taktischen Vorteil, den er zufällig errungen hatte, seinen Muskeln zu. Göhrke kauerte am Boden und hielt sich den Bauch. Er sah ziemlich harmlos aus, was aber auch an Delia liegen mochte, die wie ein Schutzengel hinter Less stand und monoton aufhören! auseinander! schrie.

Less gebärdete sich wilder, als es seine Kondition erlaubte, geriet darüber ins Keuchen, und Delia musste die gesamte Kraft ihres mageren Körpers aufwenden, um den vermeintlich Rasenden zu bändigen. Auch auf Maik wirkte die Vorstellung glaubhaft. Er verzog sich zu seinen Kumpels, die nicht gewagt hatten einzuschreiten und jetzt Witze über seine Niederlage rissen, mehr aber noch über die voll gekotzte Lederjacke, den Volltreffer auf die Südstaatenflagge am Revers, den Less gelandet hatte.

Gerade als Less selbst an seine Stärke glauben wollte, ließ ihn Delia los. Die Situation war entspannt. Still loving you schmachtete es über den Tanzboden.

«Komm mit», sagte Delia, zog ihn weg, und er glaubte einen gewissen Stolz aus ihrer Stimme zu hören.

«Hast du die Uhrzeit?», fragte Less.

«So gegen zwölf», sagte Delia.

Sie schleppte ihn ins Klubhaus, vorbei an ihrem Vater, der immer noch Bier zapfte, für Wattig, einen der letzten Gäste, aufs