Oben leuchten die Sterne - André Kubiczek - E-Book

Oben leuchten die Sterne E-Book

André Kubiczek

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Beschreibung

Mittendrin und voll am Rand Bender und Rock haben es satt: Berlin, das WG-Leben, die ewigen Geldnöte. Eine Nachricht aus dem Harz bringt die ersehnte Abwechslung: Benders Großvater ist gestorben, und die beiden Freunde beschließen, am Begräbnis teilzunehmen. Bei der Testamentseröffnung erlebt Bender jedoch eine Überraschung: Sein Erbe besteht aus einem Reiseführer - und einem Brief voller Andeutungen. «Der Autor ist brillant.» (Der Tagesspiegel) «Ein Lesevergnügen. Wie nur wenige Schriftsteller seiner Generation weiß André Kubiczek, wie man einer Geschichte Spannung verleiht … Das ist rabenschwarzer Humor, spannend und unterhaltsam erzählt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Wie Kubiczek sowohl die Atmosphäre des kämpferischen Antibolschewismus der frühen Nachkriegszeit wie die Arbeit der Staatssicherheit beschreibt, ist brillant und von jener grellen Düsterkeit, wie man sie aus Spionagefilmen kennt.» (Süddeutsche Zeitung)

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André Kubiczek

Oben leuchten die Sterne

Roman

Für Nike

«Feuer, Feuer»

Xmal Deutschland

Teil 1

IG Metallica

Plan B

Es schien, als würdesich das Auto langsam nähern, doch in Wirklichkeit war seine Geschwindigkeit enorm. Es kam aus dem Nichts des rasenden Verkehrs, war plötzlich da, im rechten Seitenspiegel, sehr rot, sehr groß und also sehr nahe, behielt für Sekunden diese Größe bei, bevor es abermals beschleunigte, noch größer wurde, kurz verschwand, um im nächsten Moment links an ihnen vorbeizuschießen, schlingernd schon, was vom Versuch des Fahrers zeugte, gegenzulenken. Dann bremste er abrupt, die Räder pflügten über die Fahrbahn, und dort, wo die Spur verbrannten Gummis einsetzte, stand einen Augenaufschlag lang eine schwarze Qualmwolke senkrecht über dem Bitumen.

Aber der Fahrer hatte längst die Kontrolle verloren und würde sie auch nicht zurückerlangen, und so war das missratene Bremsmanöver nicht mehr als der Ausdruck eines verzweifelten Willens zur Tat, bevor das Unausweichliche seinen Lauf nahm und der Wagen frontal mit dem Betonsockel der Avus-Zuschauertribüne kollidierte. Bevor das Fahrzeug zurückprallen konnte, um ihnen in die Seite zu krachen, trat Rock das Gaspedal durch, während er gleichzeitig das Lenkrad nach links riss, und der alte VW-Bus, Typ T3, war, wenn auch kurzzeitig aus dem Gleichgewicht gebracht, am Unfallort vorbeigezogen.

«Heilige Scheiße», sagte Bender und sah sich über die Schulter nach hinten um, wo das Unglück noch in vollem Gang war und nunmehr alle drei Spuren der Autobahn in Beschlag nahm, was den nachmittäglichen, aus Berlin drängenden Ferienverkehr für eine beträchtliche Zeit zum Stehen bringen würde.

«Was war das, ein Ferrari?», sagte Rock und kuckte in den Rückspiegel.

«Keine Ahnung», sagte Bender, «vielleicht ’ne Corvette?»

Es war Sommer, und trotzdem sah der Himmel aus, wie die Matratze auf ihrem Balkon ausgesehen hatte, vermodert, verrottet, als spiegele sich in ihm die Welt, über der er hing. Eine legendäre Matratze auf einem baufälligen Balkon, damals, in ihrer Studentenzeit, als sie zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten.

Jetzt waren sie unterwegs zu Dusch. Irgendwer hatte ihn auf eine ihrer Partys mitgebracht, die sie meist gaben, um sich billig zu betrinken. Manchmal hatte jemand Geburtstag oder eine Seminararbeit zu Ende gebracht oder eine Kommilitonin geschwängert. Sie wohnten im vierten Stock an einem Park nördlich des Berliner Zentrums. Damals hatte es den Fischladen an der Ecke noch gegeben und Leute, die aussahen, als wären sie in den zerkrümelnden Häusern geboren worden. Es waren die Einzigen, die im Schnapsladen im Parterre einkauften, wo das Bier doppelt so teuer war wie im Supermarkt hundert Schritte weiter. Zuerst waren diese Leute verschwunden. Sie hinterließen nur die Siegel des Finanzamts an den Türen ihrer Wohnungen, in die nach ein paar Wochen junge Paare einzogen, denen Eltern die Möbel hochschleppten. Mit den Leuten verschwanden ihre dreibeinigen Hunde, ihre dreirädrigen Kinderwagen, die Steppdecken, Matratzen und Holzhaufen neben den Mülltonnen. Keiner konnte sagen, wohin.

«Dusch!», hatte Dusch gesagt und Rock die ausgestreckte Hand hingehalten.

«Dusch?», sagte Rock und sah sich nach Beistand um. Sie standen in der Küche, wo die Gäste den mitgebrachten Alkohol abstellten.

«Cooler Name», sagte Bender.

«Yeah», sagte ein anderer. Sie sprachen damals alle in einer Art Comic-Sprache, ein bisschen Bart Simpson, ein bisschen Beavis & Butthead.

«Hey, Alter», sagte Rock und schlug ein.

Bender und Rock, der eigentlich Hannes Buntrock hieß, hatten sich an ihrem ersten Uni-Tag kennen gelernt, Anfang der Neunziger. Sie waren beide Landeier, beide zwanzig, und das Seminar, für das sie sich eingeschrieben hatten, versprach eine Einführung in die amerikanische Literatur. Es sollte um vierzehn Uhr beginnen, doch als kurz vor drei noch immer kein Dozent erschienen war und sich die Kommilitonen längst verzogen hatten, ging auch ihnen auf, dass es ausfallen würde. Also stellten sie sich einander vor, recht förmlich zuerst, was an der beiderseitigen Angst liegen mochte, der andere könne an einem falschen Zungenschlag oder einer falschen Geste den Provinzler erkennen. Und es bedurfte in der Tat nicht vieler Worte, bis sie auf Ähnlichkeiten ihrer Herkunft stießen, deren augenfälligste das bergige Land bildete, in dem beide groß geworden waren, Bender im Harz, Rock im wesentlich milderen Schwarzwald.

Die Basis war hergestellt, jetzt galt es, so lange nicht aufzufallen, bis sich ein neuer Schwall von Dorftrotteln in die Stadt ergoss, was spätestens mit Beginn des nächsten Semesters geschehen würde.

Um auf ihre Bekanntschaft anzustoßen, gingen sie in den Uni-Keller. Es war der erste Fehler ihrer noch jungen akademischen Karrieren. Hier roch es wie in den Ausflugskneipen der Kindheit: nach Scheuersalz, verschüttetem Bier und kaltem Rauch. Sie tranken halbe Liter und spielten am Indiana-Jones-Flipper, bis ihnen die Münzen ausgingen. Anschließend versackten sie in einem Retro-Klub in Mitte, rappelten sich dort gegen sechs Uhr morgens aus den Plastik-Sitzeiern hoch und nahmen zum Abschluss des Tages ein schnelles Frühstück bei Konnopke ein, unter den Hochbahngleisen der Schönhauser Allee, Currywurst geschnitten, dazu ein kleines Schultheiss.

So also stellte er sich dar, der Beginn ihrer Freundschaft. Eine Woche später zog Bender zu Rock in die Wohnung am Rande des Parks, und das Unheil nahm seinen Lauf.

Dabei war lange alles in Ordnung gewesen. Sogar jetzt, da sie die Stadtgrenze passiert hatten und doch beide insgeheim am Sinn dieser Fahrt zu zweifeln begannen, keine Dreiviertelstunde nachdem sie aufgebrochen waren, sogar jetzt war eigentlich nichts verloren. Aber es war bislang auch nichts gewonnen worden. Sie kannten sich seit mehr als zehn Jahren, und, genau, das war der Punkt: Es war noch nichts gewonnen worden. Das war der Kern des Unbehagens, das sie aber nie so genannt hätten, denn Worte wurden wegen so einem Quatsch nicht gemacht, klar.

Und: Es war natürlich kein Unheil, was da seinen Lauf nahm. Es war nur das Übliche, was einsetzte und sich mit dem üblichen Blabla beschreiben ließe, eine ums Metaphysische abgespeckte Version dessen, das sie an der Uni auszuwerten versuchten, der klassischen Literatur. All der zwischenmenschliche Kram: Beziehungen, Liebe etc., der zu einem vernünftigen Plot gehörte und wahrscheinlich auch zu einem akzeptablen Leben, dieses Klein-Klein, das für Wahrhaftigkeit stand, fürs Authentische, all die unnötigen Konflikte eben, die den Rang der wirklichen beanspruchten. Die Zermürbungsmaschine, zu der das alles wurde und die einem den Alltag zu einer schmierigen Paste mahlte. Dann das Unausweichliche: Geld natürlich, d.h. Geldmangel, Jobs, die daraus folgten und Kündigungen, und dann alles von vorn. Das Wichtige – was immer das einmal gewesen sein mochte – nicht mal mehr nebensatztauglich, nicht gestorben oder obsolet, sondern: einfach weg. Was sollte man auch damit, wo es doch um Kleineres gehen konnte. Um Kommunikationsprobleme zum Beispiel, zwischen den Geschlechtern: nicht sprechen zu können, worüber zu sprechen nicht lohnte. Worüber zu sprechen man dennoch ständig genötigt wurde. Missverständnisse deswegen, zwischenmenschlicher Quark, lächerlich, Blödsinn, aber zur Katastrophe aufgeblasen. Sowieso – das ganze Private.

Dabei war nichts wirklich schlimm: existenziell, um es so zu sagen. Ein paarmal am Minimum entlangschrammen, ohne es zu unterschreiten, das höchste der Gefühle. Oder zusammengefasst: dämliche Geschichtchen, mit denen sich Tausende Seiten füllen ließen. Das brachte es einfach nicht.

Deshalb nur so viel: Irgendwann waren unsere Freunde einfach zu alt, um noch länger in einer WG zu wohnen. Der ernsthafte Teil des Lebens stand bevor, der, in dem man sich um allen möglichen Kram kümmern musste. Sie waren beide knapp dreißig, als sie die Sache auflösten, das Haus sollte ohnehin saniert werden, es war das einzige in ihrer Straße, von dem der Putz noch bröckelte. Wurde schon peinlich in letzter Zeit, dort reingehen zu müssen, in diese Einfahrt, grau und beschmiert, kein richtiges Klingelbrett, man kam sich manchmal selber vor wie einer der Penner, die wegen Mietschulden als Erstes rausgekickt worden waren und mit denen man damals noch Mitleid gehabt hatte. Zentralheizung sollte jetzt rein, gekacheltes Bad, weiße Raufasertapete an die Wände usw. Es gab da eine Ankündigung des Vermieters – Miete vorher, nachher –, und das war dann ein bisschen zu viel, das war, bei aller Liebe, nicht mehr drin.

Bender war als Erster mit dem Studium fertig. Nicht, dass er es beendet hatte, es war mehr so ausgelaufen. Seitdem schlug er sich durch, konnte ja nicht schlecht schreiben, d.h. ganz gut formulieren, bester Abituraufsatz seines Jahrgangs, über Brecht und sein Verhältnis zu irgendwas. Hier mal ein Artikel, da mal eine kleine Rezension, Wurstblätter zumeist, keine Handbreit mehr Niveau als die kostenlosen Stadtteil-Zeitungen. Ein paar Klitschen im Internet nebenbei, für die er Mobiltelefone testete. Stapelweise standen die Verpackungen in seinem Zimmer rum und rochen gut, wenn er sie öffnete. Bisschen auf den Tasten rumdrücken, bisschen was lesen, was andre darüber geschrieben hatten, und das dann zusammenfassen: contentprovider. Möglichst viele Silben pro Minute, um den Stundenlohn zu heben. Keine Rentenversicherung, kein Anrecht auf Arbeitslosengeld, kein Nichts. Allerfeinstes freelance-Proletariat. Immerhin: Es reichte zwar nicht, um die alten Schulden abzuzahlen, es kamen aber keine neuen dazu. Vielleicht schaffte man ja eines Tages den Durchbruch und wurde entdeckt von einer richtigen Zeitung. Allerdings schmissen auch die ihre Leute raus, doch es konnte ja nicht immer so weitergehen, irgendwann musste die Konjunktur ja wieder einsetzen, der Aufschwung, und dann würde man auch unten etwas merken. Bender zum Beispiel, und die, die noch tiefer standen auf der Leiter des sozialen Prestiges.

Natürlich ging es nicht um Prestige, es ging hauptsächlich um Geld. War zwar alles neu eingeteilt worden, das mit den Klassen, war ja nicht mehr primär eine Frage von Arm oder Reich, ging jetzt eher um sozio-kulturelle Zugehörigkeit, wie Soziologen entdeckt hatten, die aus der Abteilung Freizeitforschung. Der Spaß allerdings hielt sich in Grenzen, wenn man sich wegen ein paar Schrippen den Kopf zerbrechen musste. Doch das Gute an Berlin war: Wenn es einem mal mies ging, stieg man runter auf die Straße und kuckte ein Weilchen umher und fand genug Leute, die schlechter dran waren, denen man das schon ansah, Typen mit Grind im Gesicht, die Sternburg-Pils soffen. Um sich keine Gedanken machen zu müssen, wegen der Schrippen womöglich, denn Bier is schließlich ooch Stulle, wie der Berliner sagt.

Ja, Berlin war schon cool.

Rock hatte es um einiges besser getroffen. Seine Eltern waren nett, sprachen selbstverständlich den badischen Dialekt, den er sich mühevoll abtrainiert hatte, und staunten mit offenen Mündern über die Veränderungen in der Stadt, wenn sie zweimal pro Jahr zu Besuch kamen. Sie bezahlten seine Miete, gaben ihm Geld für Klamotten etc. Recht bequemes Leben, alles in allem. Eines Tages aber, vor ca. zwei Jahren, Rock steckte gerade in den Vorbereitungen für eine Zwischenprüfung, erfuhr er, dass er demnächst Vater werden würde. Großes Gejammer natürlich, die Prüfungen in Gefahr, das Studium, überhaupt sein gesamter Lebensentwurf, auch wenn der nicht sehr konkret gewesen war bis zu diesem Tag. Und dann an diese Frau gekettet zu sein, lebenslang, durch das Kind, diese Frau, die sich partout weigerte, den Fötus abzutreiben, obwohl Rock sie bekniete, Woche für Woche, bis legal nichts mehr zu machen war. Er saß in der Falle, so erzählte er es jedenfalls Bender, der den größten Teil des Gejammers abkriegte.

Gleich nach der Niederkunft dann die Wende, 180 Grad: Rock führte sich auf wie der perfekte Vater, süßestes Töchterchen der Welt, wahrscheinlich irgendwas Hormonelles, Beschützerinstinkt, Nest bauen müssen. Die Großeltern waren gerührt, finanzierten die Erstausstattung und sicherten Geld zu, das dem glückstrunkenen Rock weitere Jahre seines provisorischen Lebensstils ermöglichen würde.

Binsenweisheit: Mit dem Glück ist das so eine Sache. Es schleift sich ab, man gewöhnt sich dran, es geht einfach flöten. Kinder bekommen Allergien, kosten mehr Geld, als man dachte, und das gespannte Verhältnis zur Kindesmutter ist auch nicht ohne.

War ja anfangs eine prima Ausrede gewesen, noch langsamer zu studieren, schildkrötenschnell, sozusagen, dieses Gleichnis, Achill und die Schildkröte, ließ sich auf Partys immer zum Besten geben, wenn das Gespräch auf die Semesteranzahl kam. Dieses Paradoxon. Die meisten kapierten es auch, Lachen entlastet.

Kurz gesagt: Es ging bei unseren beiden Freunden nicht besonders gradlinig voran.

Duschs Leben war so etwas wie das Gegenteil von alledem. So kam es zumindest Bender und Rock vor, wenn sie sich mit ihm verglichen. Zugegeben, sie wussten nicht viel über ihn, und möglicherweise war die Faszination, die er ausübte, einem Mangel an Informationen geschuldet. Was sie wussten, war Folgendes (und selbst das war nicht verbürgt): Er musste jetzt Mitte dreißig sein und ging keinem eigentlichen Beruf nach. Er machte irgendwie Kunst, wobei er sich das Handwerkliche selber angeeignet hatte, ein Autodidakt, vielleicht ein Stümper, von denen es viele gab, doch in Duschs Fall war es egal, denn er hatte den entscheidenden Vorteil, von der Kunst nicht leben zu müssen. Und das verdankte er seinem Großvater, der in den fünfziger Wirtschaftswunderjahren eine jener kleinen, genialischen Tüfteleien zum Patent angemeldet hatte, ohne die die Menschheit bis dato zwar hatte leben können, die nichtsdestotrotz eine enorme Hilfe im Alltag darstellten. Erfindungen, die schon nach ein, zwei Jahren mit solcher Selbstverständlichkeit in jedem Haushalt anzutreffen waren, dass niemand einen Erfinder dahinter vermutet hätte. Keiner wusste, worum genau es sich dabei handelte. Duschs Andeutungen ließen immerhin den Schluss zu, dass die Sache nicht ganz so simpel war wie die berühmten Fotoecken, aber weit weniger komplex als Fischer-Dübel. Und dieses Patent warf Geld ab, noch und noch, Geld, das Dusch allein zur Verfügung stand, denn als Einzelkind aufgewachsen, waren ihm in der Pubertät die Eltern weggestorben, wenig später gefolgt vom geschäftstüchtigen Großvater. In einem Alter, in dem andere sich eine Lehrstelle suchen mussten, besaß Dusch ein Vermögen. Das Letzte, was Bender und Rock über ihn gehört hatten, über weiß Gott welche Buschfunker, war, dass er alleine in einer ehemaligen Schule im Schwarzwald wohnte, zwei Etagen, Fachwerk, und sich aus Italien Marmorblöcke liefern ließ, die er zu Staub zermahlte. Keine schlechte Geschichte, klang nicht nach Stress und Maloche, von wegen sich den Lebensunterhalt finanzieren müssen.

Kurz vor den Sommerferien war Duschs Brief eingetroffen, seltsam altmodisch wirkende, von Hand geschriebene Zeilen, an Bender adressiert, der mittlerweile Mühe hatte, Buchstaben zu entziffern, die nicht auf einem Monitor standen. Der Eindruck schwerer Tinte, wie mit dem Federkiel hingekratzt, handgeschöpftes Bütten, das obligatorische Wasserzeichen, das dem edlen Papier Tiefe verlieh. Ein Emblem: Hammer und Meißel gekreuzt, das Ganze wahrscheinlich ein Abfallprodukt künstlerischen Müßiggangs.

Er habe Langeweile, schrieb Dusch dann auch tatsächlich, und eine kreative Pause eingelegt, nicht ganz freiwillig. In seinem Haus inmitten herrlichster Natur sei Platz genug, und da die Urlaubszeit bevorstehe, lade er sie in den schönen Süden Deutschlands ein. Ihm selber käme Gesellschaft sehr zupass, falls sie also noch keine Pläne hätten, dann … sehr herzlich, sehr gern. Außerdem sei er ihnen noch etwas schuldig, wegen damals.

Er meinte eben jene Party, auf der Dusch bei ihnen aufgetaucht war, eine typische Studentenparty. Man kannte höchstens ein Drittel der Leute, der Rest waren mitgebrachte Freunde, die verklemmt in den Ecken standen. Wenn mal ein Gespräch aufkam, dann über Professoren, die komischerweise alle kannten, über Scheine, Prüfungsordnung, den ganzen Mist. Im Hintergrund abwechselnd Off-Beats und schmierige Gitarrenmusik mit deutschen Texten, saurer Wein dazu und das zweitbilligste Flaschenbier, pisswarm aus der Badewanne. So war die Party angelaufen, und so lief sie ab, besoffen wurde man trotzdem, und nur darum ging es.

Dusch hatte sich vorgestellt und war irgendwann im Getümmel verschwunden, oder Bender und Rock hatten ihn abgewimmelt, das ließ sich nicht mehr genau rekonstruieren. War ja durchaus ein komischer Typ, mit seinem Nadelstreifenanzug und dem weißen Hemd, die Haare streng nach links gescheitelt, fast militärisch, und obendrein blond. Plus: blaue Augen, etwas glasig zwar, schon als er ankam, aber immerhin. Das war nicht unbedingt kompatibel mit dem Secondhand-Stil der anderen Gäste, mit den ausgeleierten Trainingsjacken und Schlag-Cordhosen.

Es war gegen eins, als an der Wohnungstür Sturm geklingelt wurde. Scheiße, hatte Bender gedacht, die Bullen. Es war nicht das erste Mal, dass ihnen die neuen Nachbarn die Polizei auf den Hals hetzten.

Vor der Tür standen zwei junge Männer, weiße Kittel, orange Westen, eine Trage unterm Arm: die Rettungssanitäter. Ob sie hier richtig seien, bei Bender und Buntrock? Klar, stand ja groß auf dem Klingelschild.

Die beiden rempelten Bender rüde aus dem Weg und traten in den Flur, wo plötzlich eine hysterische Studentenziege stand, ein Telefon in der Hand, und wimmernd auf die Tür des hinteren Zimmers deutete, Benders Zimmer, wo etwas passiert sein musste. Bender mutmaßte: Kreislaufkollaps infolge Drogenkonsums, damit gab es gewisse Erfahrungen. Insulinmangel, fiel Rock noch auf dem Weg ins hintere Zimmer ein, aber nichts dergleichen, kein Unfall aus Nachlässigkeit. Nein, dazu gab es dann doch zu viel Blut.

Es hatte einen Typen erwischt, den unsere Freunde unter sich Kadaver nannten, ein Spitzname, den er seinem fahlen Teint verdankte. Kadavers Gesicht war geschwollen, das rechte Auge komplett zu, an der Braue darüber eine Platzwunde, aus der es tropfte, enervierend langsam und rhythmisch, aufs Jochbein. Die Mundpartie ließ sich nicht richtig erkennen, es brannten überall nur Teelichter, und die Deckenlampe ging nicht, verschmiert jedenfalls sah sie aus, eine Mischung aus Rotz und dem frischen Blut, das vom Jochbein dort ankam.

Kadaver grinste schief, als unsere Freunde den Raum betraten. Er saß auf dem Boden, den Rücken an Benders Buchregal gelehnt. Die Arme hingen schlaff zur Seite runter, er schämte sich anscheinend seiner Lage, musste genäht werden, war aber Manns genug, nicht auf die Trage zu steigen, der blöde Sack. Der hatte sowieso mal eins auf die Fresse verdient, der Dummschwätzer, ein flüchtiger Bekannter aus dem ersten Semester. Das Problem war: Er mochte Bender und Rock, aber sie konnten ihn nicht leiden. Er hing trotzdem immer bei ihnen rum, war aus Mitleid geduldet und half wehrlosen Studentinnen seine kruden Linguistik-Ansichten über.

Dann endlich war die ganze Bande abgezogen, Sanitäter, Opfer, verängstigte Gäste. Zeit, um die Sachschäden zu inspizieren, die sich allerdings in Grenzen hielten. Eine kleine rote Lache am Fuß des Buchregals – als sei was aus dem Macbeth-Band gesickert, der knapp darüber stand – war schnell weggewischt, und gerade wollten sie sich hinsetzen zu einem letzten Bier in Ruhe, da stand wer plötzlich im Türrahmen? Genau: Dusch!

Es war sofort klar, dass er den armen Kadaver so zugerichtet hatte. Dusch hatte immer noch glasige Augen, war jedoch nach wie vor korrekt gekleidet, abgesehen von ein paar Blutschlieren auf dem Weiß des Oberhemds. Lediglich die Haare hingen ihm jetzt ins Gesicht, als er sie nach einem Bier fragte, während er sich mit der rechten Hand die linke rieb. Das Ganze sah aus wie eine Entschuldigung, nicht an Kadaver gerichtet natürlich, sondern an sie, von wegen der Umstände.

Dusch fragte also nach einem Bier, nicht so, als wenn nichts passiert sei, aber recht entspannt, bekam sein Bier, setzte sich zu ihnen auf den Boden und begann zu trinken, fast genüsslich, was bei der warmen Plörre was heißen wollte. Nach dem dritten, vierten Schluck fragte er, ob da was nachkommen könne, Anzeige wegen Körperverletzung oder Ähnliches, und was das für ein Typ sei, den er da zusammengefaltet habe.

Rock sagte sofort, er werde mit Kadaver reden, der sei ziemlich umgänglich, auch wenn er manchmal stinke und oft dummes Zeug rede.

«Danke!», sagte Dusch, trank sein Bier aus und machte sich zum Gehen fertig. An der Tür sagte er noch: «Man sieht sich», und war weg.

Kadavers Gesicht war bunt und leicht geschwollen, als ihn Rock am nächsten Tag besuchte. Vier Stiche hielten seine Braue zusammen. Rock überreichte ihm einen Blumenstrauß und eine Flasche Wodka, mittlere Preislage, und setzte ein Lächeln auf, ebenfalls mittlere Preislage, als er ihn fragte, wie es gehe.

Wider Erwarten war Kadaver ziemlich guter Dinge. Er sehe ja jetzt relativ gefährlich aus für einen Linguisten, M. A., sagte er.

Kein Gedanke an eine Anzeige, er wollte ums Verrecken nichts mit der Polizei zu tun haben, war also im Grunde doch ganz in Ordnung.

Abends dann, beim Resümieren, sagte Rock, der habe ja schon ziemlich sexy ausgesehen, dieser Typ: der Anzug, das Blut am Hemd, die aus der Form geratene Frisur, d.h., auf Nachfrage Benders, wenn er, Rock, eine Frau wäre, hätte er das ziemlich sexy gefunden, dass da keine Missverständnisse aufkommen.

Seither bekamen sie von Dusch drei, vier Postkarten im Jahr, was für eine lockere Partybekanntschaft erstaunlich war, außergewöhnlich viel, zumal weder Rock noch Bender je geantwortet hatten, Weihnachtsgrüße, Grüße zu Neujahr, Pfingsten, Ostern. Umso überraschter also waren unsere beiden Freunde, als sie knapp fünf Jahre nach der Party die Einladung in den Schwarzwald erhielten: sehr förmlich, sehr stilvoll, wenn man auf diesen pseudo-noblen Quatsch stand.

Noch wenige Jahre zuvor wäre es ihnen im Traum nicht eingefallen, ein solches Angebot anzunehmen, und der schlichte Grund hätte gelautet: Es sei spießig. Punkt. Aber die Zeiten ändern sich, und wenn man sich ab einem bestimmten Alter um allen möglichen Kram kümmern muss, Sie wissen schon, wächst auch das Bedürfnis, das Ganze mal für eine Weile hinter sich zu lassen, und allmählich steigt man hinter den Sinn des Konzepts Urlaub, das man bis dahin immer verachtet hatte.

Sie waren gerade dabei, ein Auto zu organisieren, als Bender einen Anruf seines Vaters erhielt: Der Großvater sei verstorben, friedlich, vierundachtzigjährig, die Beerdigung finde dann und dann statt, das Testament werde am Tag darauf eröffnet.

Als ihm Bender dies mitteilte, fiel auch Rock ein, dass er lange nicht mehr bei seiner Familie gewesen war. Immerhin verdankte er ihr einiges. Wahrscheinlich hatte er sich in den letzten Jahren so distanziert verhalten, um seine Abhängigkeit geringer erscheinen zu lassen, wenn er sie schon nicht hinter sich lassen konnte. Was lag näher, als das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, die Pflicht mit der Erholung, und sich nach den familiären Anstrengungen für einige Zeit bei Dusch auszuruhen.

Das war also der Plan: erst ein kurzer Besuch in Benders Geburtskaff, lag ja quasi auf dem Weg, ein kleines Zimmer in einer Pension anmieten, war ja billig, wollte ja keiner mehr dorthin, trotz des Harzes, der Felsenschluchten, des Wildbachs, an dessen Ufer Goethe schon gesessen und die Natur bedichtet hatte. Für eine halbe Woche vielleicht, dann den Großvater unter die Erde bringen, Tanten treffen und vor allem: so tun, als ginge es einem gut. Möglicherweis erbte Bender sogar eine Kleinigkeit, und wenn Rock mitkäme, zum Händchenhalten sozusagen, ließ sich all das relativ unbeschadet überstehen. Danach tief in den Südwesten runter, kurze Visite bei Rocks Eltern, höchstens eine Woche, und dann: nichts wie weg. Duschs Schulhaus, das eigentliche Ziel ihrer Reise, war von dort nur einen Katzensprung entfernt.

Den nächsten Tag waren sie mit Organisieren beschäftigt, ein weiterer Nachteil, wenn man über dreißig war, man musste da und dort Bescheid sagen, entweder, damit andere sich um den ganzen Kram kümmerten, Versicherungen, Steuer, Kinder, weiß der Geier, oder damit die Stellen, die verlangten, dass man sich persönlich darum kümmerte, Aufschub gewährten, man musste Stellvertreter finden und Ersatzleute, man musste ein potemkinsches Dorf errichten, in dem einen die anderen auch dann noch vermuteten, wenn man längst woanders war.

So begannen Abenteuer dieser Tage.

Mitte von Nichts

Das Wetter in diesem Sommerwar seltsam. Regen seit Wochen, der aus schweren Wolken fiel, die in Fronten den Himmel okkupierten, keine Sonne, und das Mitte Juli. Alle, die in der Stadt verblieben waren, litten unter Depressionen: Lichtentzug, Wärmemangel. Sie litten stärker als unter der drückenden Hitze im Jahr zuvor. Die Nachrichten waren ein einziger Wetterbericht, viel mehr passierte anscheinend nicht auf der Welt.

«Heilige Scheiße», sagte Bender und sah sich über die Schulter nach hinten um.

«Was war das, ein Ferrari?», sagte Rock und kuckte in den Rückspiegel.

«Keine Ahnung, vielleicht ’ne Corvette?»

Rock behielt den Fuß auf dem Gas, und sie waren in fünfzehn Sekunden von 90 auf 110, mehr schaffte der alte VW nicht. Wegen des Ausweichmanövers hatte sich Rocks Leinen-Seesack gelöst und rollte über die Ladefläche des T3, bis ihn Benders beigefarbener Kunstlederkoffer stoppte. In einer faltbaren Plastikkiste hatten sie alles abgeworfen, was entfernt an Camping erinnerte, unter anderem einen Hirschfänger, Kochgeschirr aus Aluminium, Tabletten zur Wasseraufbereitung, die aussahen, als müssten sie selbst aufbereitet werden, einen Verbandskasten und nicht zuletzt ein zerschlissenes Zweimannzelt aus fernen Kindheitstagen, als man noch aus Abenteuerlust außerhalb fester Wände übernachtet hatte und nicht aus Geldmangel. Den Rest ihres Gepäcks bildete ein Grundstock an Proviant, der aus einer Palette No-Name-Bier in Büchsen und einer Jumbo-Tüte voll einfallslos zusammengekaufter Konserven bestand: Ravioli, Linsensuppe mit Würstchen, alles lagerfeuerkompatibel. Man konnte nie wissen.

«Vielleicht hätten wir anhalten sollen», sagte Rock.

«Quatsch», sagte Bender, «wir warn doch nicht beteiligt.»

«Aber fast», sagte Rock.

«Eben», sagte Bender, «und genau das ist der Unterschied.»

Am Horizont wurde der Unfallort kleiner und war schließlich ganz verschwunden. Vermutlich hatte es bereits diverse Auffahrunfälle gegeben. Eines stand fest: Für Stunden ging hier nichts mehr, und sie waren die Letzten, die auf diesem Weg aus der Stadt kamen.

Anfangs stießen noch vereinzelte Fahrzeuge von den Auffahrten zu ihnen, auf die Autobahn, wurde der T3 von schnelleren Wagen überholt oder überholten sie selbst den einen oder anderen Lastzug, der trotz des sonntäglichen LKW-Fahrverbotes unterwegs war. Doch auch dieser spärliche Verkehr versickerte, nachdem sie den Berliner Ring verlassen hatten und am Dreieck Werder auf die A2 eingebogen waren, Richtung Magdeburg: Kein Fahrzeug erschien mehr im Rückspiegel, die Fahrbahn vor ihnen blieb leer.

Trotz des intakten Verkehrs aus der Gegenrichtung, der sich wie je dahinschleppte, war es seltsam ruhig. Nur die Stoßstange des VWs schepperte, und gelegentlich röchelte der Dieselmotor.

Wenig später, Höhe Brandenburg/​Havel, begann es, wie vorhergesagt, zu regnen, in kleinen Tropfen zunächst, die der Scheibenwischer im Zehnsekundentakt über die Scheibe schmierte.

Man gewöhnt sich an alles, an Einsamkeit sogar recht schnell. Ich meine: keine pathetische Einsamkeit, eher eine faktische. Die Abwesenheit anderer, die, war sie gekoppelt an ein gewisses Gleichmaß von Verrichtungen, einem die Tage im Zeitraffer verfliegen lässt und im Detail dennoch zäh macht. Sie kennen das.

Und so gewöhnten sich auch unsere beiden Freunde schnell an die leere Autobahn, die unter ihnen abrollte, ohne Gedanken an mögliche Gründe zu verschwenden. Selbst den Unfall auf der Avus hatten sie zu diesem Zeitpunkt wieder vergessen. Wäre im Armaturenbrett ein Radio gewesen, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Da dort, in einer Aussparung, aber nur ein paar lose Drähte wippten, war jeder gezwungen, den eigenen Gedanken nachzuhängen, wollten sie sich nicht ständig unterhalten.

Bender dachte womöglich an seinen Großvater, in groben Umrissen zuerst, an seine Stellung im weltgeschichtlichen Zusammenhang, sozusagen. So, wie man eben dachte als respektvoller Nachkomme, den eigenen, kümmerlichen Erlebnishorizont vor Augen. Da ließ sich nur schwer gegen ankommen, allein schon die Orte, Oberschlesien, Frankreich, Russland, dann ein hektisches Hin und Her zwischen Mitteldeutschland und Ruhrgebiet, schließlich der Harz als Endpunkt aller Bemühungen, als Kapitulation in schöner Landschaft. Dann waren da noch die Berufe, Landarbeiter, Wehrmachtssoldat, Stahlwerker. Dazwischen die Gefangenschaft. Nicht zu vergessen die Verletzungen: Bauchdurchschuss im Krieg, Verlust von drei Fingern unter der Blechstanze, im Kalten Krieg, an der schwerindustriellen Front.

Bender dagegen hatte es gerade mal zu einem gekachelten Bad und Fernwärme gebracht und dafür geschlagene zweiunddreißig Jahre gebraucht, und zu allem Überfluss war er darauf stolz. Schließlich hatte sein Großvater bis zuletzt Holz hacken und Briketts in die Wohnung schleppen müssen und sich am Küchentisch über einer Schüssel heißen Wassers aus dem Kessel rasiert.

Es war ja nicht so, dass Bender die Armseligkeit seines Tuns und dessen Ergebnisse nicht bewusst waren. Bloß, sollte man sich, nur weil das Leben langweilig war und man auf der Stelle trat, sagen wir, einen Krieg wünschen, und wenn es nur ein Bürgerkrieg wäre? So, wie es diese homosexuellen Lyriker damals getan hatten, die aus dem Expressionismus-Seminar? Und die, bevor es Ernst wurde, beim Eiskunstlaufen im halbgefrorenen See ertrunken waren, wenn sich Bender recht erinnerte. Typisch. Typisch deutsch.

Die Überlegungen wieder dem Großvater zugewandt, empfand Bender leichte Scham darüber, dass ihn dessen Leben nie wirklich interessiert hatte, dass er wenig mehr als vier, fünf Eckpunkte aus dessen Biographie kannte, die er jetzt aus Pietät abgerufen hatte.

Fast schlimmer noch war, dass ihn dieses Leben eines Tages tatsächlich interessieren könnte, aus Recherchegründen, eines zu schreibenden Artikels wegen, es dann aber zu spät wäre, weil der Zeitzeuge tot war und es Bender – obwohl mit ihm verwandt – aus Trägheit versäumt hatte, ihn zu Lebzeiten zu befragen. Und das Interview zu archivieren. In einem Archiv allerdings, das Bender anzulegen gleichfalls noch nicht geschafft hatte.

Während Benders Überlegungen riss das Tachometer des T3 die Kilometer herunter, ritsch-ratsch, bei jeder vollen Null knirschte die Mechanik, während Rock womöglich an seine Eltern dachte, alte Achtundsechziger, mittlerweile pensioniert, und an das Referendariat, das er als Anwärter auf das Lehramt, Deutsch-Englisch, im kommenden Herbst antreten sollte und das ihm erstmalig in seinem Leben ein selbst verdientes monatliches Grundeinkommen verschaffen würde, knapp tausend Euro.

Unsere Freunde waren also in Gedanken versunken, dämmerten beide offenen Auges, woran die monotone Landschaft draußen nicht schuldlos war, Rapsfelder, manchmal ein trauriges Gehöft, doch zumeist märkische Kiefernwälder, Bäume wie zum Appell angetreten, leicht geneigt im Wind, der aufgekommen war und nicht nur die dunkler werdenden und mittlerweile tiefer hängenden Wolken gen Westen trieb, sondern auch den T3, der, wenn ihn eine gelegentliche Böe erfasste, ruckartig vorwärts zu schnellen schien. Der Regen kam jetzt in fetten Tropfen herunter – den Scheibenwischern gelang es kaum mehr, die Sicht freizulegen – und erzeugte einen dumpfen Sing-Sang auf dem Blechdach, unter den sich vereinzelt der hellere Klang aufschlagender Hagelkörner mischte. Das Licht war dreckig geblieben, fahl und schmutzig gelb wie vor einem Gewitter: Magic.

«Wir müssen tanken», sagte Rock unvermittelt. Bender fuhr zusammen und sah auf das Armaturenbrett, wo der Zeiger der Tankuhr im roten Bereich zuckte.

«Wo sind wir eigentlich?», sagte Bender und gähnte.

Rock sah in den Rückspiegel: «Wenn ich mich so umgucke – in der Mitte von Nichts.»

Das stimmte fast. Richtiger war, sie befanden sich in der Mitte von Nichts, plus: Sie waren dort beinahe allein. Doch erst jetzt, da sie nach einer Tankmöglichkeit zu suchen begannen, auf den blauen Schildern die Entfernungen zu Städten und Raststätten entzifferten, fiel es ihnen wieder auf. Es hatte sie seit einer geraumen Weile niemand mehr überholt. Sie waren einsam auf ihrer Geraden vorangezogen, während der Verkehr aus der Gegenrichtung nach wie vor dicht war, fast schon zähflüssig nun, da es auf den Abend zuging, eine Schlange aus Scheinwerferpaaren, die durch die Dunkelheit in Richtung Berlin kroch.

«Komisch», sagte Rock.

«Hey, da vorne», sagte Bender und schlug seinem Freund auf die Schulter.

«Strike!», sagte Rock und beschleunigte, so gut es ging, den T3.

Einem Versorgungsshuttle gleich, lag am Horizont die illuminierte Anlage einer Tank-Rast-Kombination in der preußischen Steppe und ließ die wetterbedingte Nacht, die sie umhüllte, im Kontrast umso schwärzer erscheinen. Das weit und breit einzige, allerdings schon aus der Ferne erkennbare Zeichen der Zivilisation war das leuchtende Logo eines französischen Ölunternehmens, und es wirkte auf unsere beiden Freunde, die nicht nur müde waren, sondern beim Anblick der Lichter auch augenblicklich Hunger verspürten, wie ein Vorposten der Städte. Etwas, worin man sich orientieren konnte.

Rock schaltete den Blinker ein und nahm den Fuß vom Gas. Die Stimmung war beinahe festlich, als sie mit 20 Kilometern pro Stunde unter das rote Dach der Tankanlage rollten, einen dünnen Film Wasser unter den Reifen. Eine Festlichkeit, die jedoch nur auf den ersten Blick mit der perfekt ausgeleuchteten Anlage zu tun hatte (ein Quader aus Licht, ein Licht-Raum geradezu) oder der makellosen Sauberkeit, die jedem Hotelfoyer zur Ehre gereicht hätte, nein, es war die Leere oder, genauer: die Menschen-Leere, die selbst einer Designer-Tankstelle wie dieser hier zu etwas wie Erhabenheit verhalf und die unsere beiden Freunde nun, nachdem sie dem T3 entstiegen waren, daran hinderte, bedenkenlos die Türen zuzuschlagen. Denn bereits das Öffnen hatte einen metallischen Hall erzeugt, der nicht mehr vergehen wollte, und das trotz des Regens, der in den flachen Pfützen jenseits des Dachs kleine Blasen aufwarf. Es war möglicherweise diese – bleiben wir bei dem Wort – Erhabenheit, die sie davon abhielt, wie Erwachsene einfach das Naheliegende zu tun (den T3 zu betanken, Wasser abzuschlagen und einen Imbiss zu organisieren), sondern sie stattdessen im Flüsterton erst mal beratschlagen ließ, was man tun könnte.

«Tanken?», sagte Rock, nachdem er vorsichtigen Schrittes um den Transporter gelaufen war und nun neben Bender stand, der auf eine Zapfpistole starrte, statt sie in die Hand zu nehmen.

«Riecht ziemlich nach Benzin», sagte Bender.

«Halleluja», sagte Rock und sah zu dem kleinen Verkaufspavillon hinüber, wo sich auch die Kasse befand. Hinter der Theke war niemand zu erkennen.

«Hast du Geld dabei?»

«Klar hab ich Geld dabei. Außerdem ’ne EC-Karte. Also: Was jetzt?»

«Voll tanken!»

«Na dann», sagte Rock und wies einladend auf die Zapfpistole, die satt klickte, als Bender sie aus der Halterung nahm. Abermals hing ein metallisches Echo in der Luft, und erst als der Diesel in den Tank floss und ein Rauschen erzeugte, das dem Grundrauschen des Regens nun endlich doch half, die grelleren Geräusche zu schlucken, entspannten sich unsere Freunde. Bender schlug den Kragen seiner Jeansjacke hoch und beobachtete den Zähler der Zapfsäule, Rock steckte sich eine Zigarette an, lief um den T3 herum und trat einige Male fachmännisch gegen die Reifen, ohne zu wissen, worauf zu achten sei. Dann brach der Dieselstrom ab, Bender schraubte den Tankstutzen zu und hängte die Zapfpistole weg.

«Ziemlich teuer, die Droge der einfachen Leute.»

«Ich dachte, Sex wäre die Droge der einfachen Leute», sagte Rock.

Sie stiegen ein, und Rock lenkte den Transporter auf einen Parkplatz vor dem Verkaufspavillon. Drinnen gab es den üblichen Kram: eine Ecke voll bedruckten Papiers, bürgerliche Verlogenheit im Magazinformat, subproletarische Ahnungslosigkeit in Gestalt billiger Tittenmagazine und ein Haufen anderer Firlefanz. Eine Mischung aus Entertainment, Food und Propaganda. Das entsprechende Getränkeangebot reichte von blauer Disney-Brause bis Prosecco. An der rückseitigen Wand hing eine Mikrowelle, in die Rock, nachdem er sie entdeckt hatte, einen gefrorenen Cheeseburger stopfte, den er aus der Kühltruhe darunter geangelt hatte. Er drückte ein paar Knöpfe, und der Teller im Inneren begann sich zu drehen. Bender wartete an der Kasse, trommelte mit den Fingern auf die Ladentheke, nahm sich einen Schokoladenriegel und begann ihn auszuwickeln. Er räusperte sich laut und sah zur angelehnten Tür neben dem Zigarettenregal. Niemand erschien. Die Nüsse im Schokoriegel schmeckten nach Unkraut. Rock lehnte an der Kühltruhe und sah gierig dem rotierenden Teller in der Mikrowelle zu, dann endlich, es mochten zwei Minuten vergangen sein, machte es: Bing!

Doch es war nicht der Burger, der zum Verzehr bereitstand, vielmehr: Es war nicht nur das, was das Signal anzeigte. Im selben Moment und mit einem stoßartig ins Bewusstsein dringenden, sodann abschwellenden und in Sekundenschnelle ersterbenden Geräusch fuhr sämtliches elektrisches Facility-Equipment herunter. Es klang wie ein Seufzer der Erleichterung, den Kühlaggregate und Leuchtstoffröhren und Klimaanlage ausstießen, als sie in den Ruhezustand fielen. Rock, der gerade zur Tür der Mikrowelle langen wollte, lauschte blind ins Dunkle. Er konnte Bender nicht hören, der sich nicht rührte und den Atem anhielt. In der Mikrowelle knisterte der fertige Burger.

«Du und dein Scheiß-Burger», flüsterte Bender nach ein paar Sekunden.

«Ich war das nicht, Alter. Muss ’n Kurzschluss gewesen sein oder so was», flüsterte Rock zurück und tastete in Richtung der Mikrowellentür.

«Los, wir haun ab», sagte Bender.

«Nicht so schnell», sagte Rock, «ich nehm noch den Burger mit. Hab schließlich dafür bezahlt.»

«Quatsch, hast du nicht, lass uns verschwinden.»

«Scheiße», sagte Rock, «heiß das Ding.»

«Alter Vater», sagte Bender, und dann laut und ostentativ: «Ich leg das Geld auf den Tresen, okay? Wir gehn dann mal.»

«Mann, hier ist keiner außer uns», sagte Rock und biss unvorsichtig schnell in den Cheeseburger, sodass Gurken, Tomaten und sämtliche andere Pampe rausquollen und platschend auf dem Boden landeten. «Fuck!»

Das magisch-dreckige Licht von draußen ließ unsere Freunde jetzt zumindest in Umrissen das Innere des Ladens erkennen, und dennoch hatte Bender einige Mühe, den Weg zur Tür zu finden. Überall standen Aufsteller mit Müll rum. Als er die Automatiktür erreichte, öffnete sie sich nicht.

Auch Rock tastete sich fluchend zur Tür vor, er stolperte gegen ein Regal, Glas ging zu Bruch, er blieb an einem Ständer mit Sonnenbrillen hängen, der scheppernd zu Boden fiel. Bei Bender angekommen, nahm er einen Werbe-Regenschirm aus einer Tonne neben der Tür und klemmte dessen Spitze in den Spalt zwischen die beiden Glasscheiben: Ein heftiges Ziehen genügte, und sie bewegten sich ein paar Zentimeter. Den Rest erledigte er mit Muskelkraft. Anschließend warf Rock den Schirm in die Tiefe des Raumes.

«Lass den Scheiß», sagte Bender.

Sie gingen zum T3 rüber, nicht hastig, aber durchaus zügig. Rock ließ den Motor an. Sie waren hungrig und müde, doch wenigstens reichte die Tankfüllung, um ohne weiteren Zwischenhalt in den Harz zu gelangen. Im Scheinwerferlicht konnte man den Eingang des Tank-Shops sehen. Die Glastür hing schief im Rahmen.

Rock setzte zurück, etwas zu schnell vielleicht. Mag sein, dass dieser Eindruck nur dem folgenden dumpfen Geräusch und der leichten Erschütterung geschuldet war, die den T3 erfasste. Sie mussten mit der hinteren Stoßstange etwas mitgenommen haben. Rock schaltete in den ersten Gang, nahm die Hände vom Lenkrad und sah Bender an. Sie lauschten und warteten, was als Nächstes passieren würde. Und tatsächlich hob sich bald vom Rauschen des Regens und dem Rasseln des Motors ein anderes Geräusch ab: das Geräusch von Schritten.

Dann klopfte es an der Fahrertür, ein blecherner, hohler Ton. Rock kurbelte das Seitenfenster herunter.

«Gut, dass ich Sie treffe», sagte eine Stimme aus dem Dunkeln, «ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich ein Stück mitnehmen könnten.»

«Sind Sie verletzt?», fragte Bender.

«Nicht der Rede wert. Also: Würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mich ein Stück mitzunehmen?» Die Stimme klang fest und tief, der Tonfall war freundlich, aber bestimmt.

«Na ja … klar, warum nicht», sagte Rock, «wo wolln Sie denn hin?»

«Was ist Ihr Ziel?», wurde seine Frage pariert.

Rock nannte den Ort und skizzierte den Anlass ihrer Reise.

«Vortrefflich. – Aber verzeihen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt: Winter ist mein Name – Doktor Edgar Winter, um genau zu sein», sagte Dr.Edgar Winter und steckte eine feingliedrige Hand durch das Fenster, an der Rock einen Siegelring aufblitzen sah. Ungeschickt ergriff er sie.

«Sie müssten dann allerdings dahinten …», sagte Rock und nickte zur Ladefläche, «ich meine: Hier vorne ist nur Platz für zwei.»

«Quatsch», sagte Bender, «ich gehe nach hinten.»

«Danke, junger Mann», sagte Dr.Winter. «Ich will ja nicht drängen, aber … Wissen Sie, das Wetter ist nicht das beste.»

«Alles klar.» Rock öffnete die Tür, und das Licht der Fahrerkabine warf einen blassorangen Schein auf die Gestalt Dr.Winters. Er war tadellos gekleidet. Einreihiger dunkler Anzug, handgenähte Schuhe, englisches Button-down-Hemd, Seidenschlips mit Windsorknoten. Selbst der Regen hatte die Eleganz nicht zerstören können.

Beeindruckender jedoch als seine distinguierte Kleidung – seltsam genug an einem Ort wie diesem, zumal für einen Anhalter – war das Gesicht Dr.Winters, der augenscheinlich älter war, als seine Stimme hatte vermuten lassen. Weit jenseits der siebzig, dachte Rock. Es war von jener Art Falten durchzogen, die Noblesse ausdrücken und nicht körperlichen Verfall. Sie kennen das: Falten, die nicht Erschlaffung suggerieren, sondern – im Gegenteil – Lebendigkeit, ja Jugendlichkeit, wenn schon nicht des Körpers, so doch des Intellekts. Des Weiteren besaß Dr.Winter weißes, volles Haar, das um wenige Zentimeter zu lang war und ihm jetzt nass am Schädel klebte. Er hatte eine Collegemappe dabei und trug einen vor Wasser triefenden Staubmantel über dem Arm.

«Ich komme zurecht, junger Freund», sagte er, als ihm Bender beim Einsteigen behilflich sein wollte, und erklomm den Beifahrersitz. «Fahren Sie!», sagte er zu Rock, nachdem Bender sich auf der Ladefläche eingerichtet hatte.

«Fahren Sie dort entlang!», sagte Dr.Winter und wies nach rechts, als sie im Schritttempo die Tankanlage passiert hatten. Er verströmte den Geruch von Aftershave.

«Zur Auffahrt geht’s aber nach links», sagte Rock und sah nach hinten zu Bender.

«Dort gibt es eine Abfahrt», sagte Dr.Winter.

«Moment mal …», versuchte Bender Einspruch zu erheben, doch Dr.Winter unterbrach ihn und sagte – und sein Tonfall war weisend: «Vertrauen Sie mir!»

So kam es, dass unsere Freunde bereits an diesem Punkt der Reise ihre Route verließen und von einer Versorgungsauffahrt herab in das unbekannte Land stießen. Oder anders gesagt: Sie sickerten in die Mitte des Nichts ein. Und derart entging ihnen auch, dass wenige Kilometer weiter westlich auf ihrer ursprünglichen Route eine etwas betagte Alouette II des Bundesgrenzschutzes zur Landung ansetzte – der Wind kam aus Nord-Ost mit vier Knoten pro Stunde – und nur noch wenige Meter über der dreispurigen, von NATO-Draht überwucherten Fahrbahn schwebte, die vom Licht zweier provisorischer Halogenmasten weiß beleuchtet wurde, was die zwei Räumpanzer an ihren Rändern, Typ TM 170, aussehen ließ wie Echsen in einem Terrarium.

Töchter in Not

Zwar liebten sie ihre Väter nicht,dafür hassten sie ihre Mütter umso mehr. Und natürlich war es kein Zufall, dass sich gerade diese drei getroffen hatten und zusammengeblieben waren, Ramona Ramon, Lydia Kant und Kordula Klix. Es war sogar weit mehr, es war so etwas wie Bestimmung, oder wie die drei es genannt hätten: Intuition. Mit Ende zwanzig hatten sie einander in Berlin getroffen, und es ließ sich nicht mehr genau sagen, ob an der Universität oder in einem der Klubs, in denen sie sich jedes Wochenende die Nächte um die Ohren schlugen. Mit Alkohol, Männern und Drogen, Haschisch meist, was am billigsten war, Ecstasy, das alsbald seine Wirkung verlor, manchmal Speed, am liebsten aber, und wenn es jemand spendierte, Koks.

Sie stammten alle drei aus der südwestdeutschen Provinz und waren alle drei kurz nach dem Mauerfall nach Ostberlin gezogen, wo das Leben noch grau war, wo mit Kachelöfen geheizt wurde, wo es Außenklos gab und normale Menschen, die kein Geld hatten und nicht etabliert waren wie ihre Eltern. Authentisch war es dort gewesen, wie sie fanden, und irgendwie auch romantisch, was dem Weltschmerzgefühl entsprach, das sie seit der Gymnasiumszeit mit sich herumschleppten. Nach der Schule waren sie in die jeweils nächstgelegene Universitätsstadt gegangen und hatten, von der ökonomischen Vernunft ihrer Eltern geleitet, pragmatische Fächer gewählt, nur um schnell festzustellen, dass sich das Klima der gemütlichen Universitätsstädte in nichts von dem ihrer Heimatorte unterschied, bezüglich Freiheit, Emanzipation und so. Außerdem fühlten sie sich unter Druck gesetzt: Plötzlich gab es keine Instanzen mehr, die sie kontrollierten, keine Eltern oder Lehrer oder festen Stundenpläne, und sich selbst zu kontrollieren wäre ihnen vorgekommen wie ein schlechter Scherz, nach all den Kämpfen der Schulzeit, gegen Autorität und Kleinbürgerlichkeit und Naturwissenschaften. Es wäre ihnen vorgekommen wie ein Verrat an all den freiheitsliebenden Büchern, die sie seit «Pippi Langstrumpf» gelesen hatten, Bücher, die ihnen insbesondere durch die Pubertät geholfen hatten, als sich die anderen, bösen Mädchen gleichen Alters ihrer Sexualität bewusst zu werden begannen und dieses Bewusstsein aggressiv nach außen trugen.

Sie waren überfordert gewesen in den südlichen Universitätsstädten, definitiv, doch vergessen wir nicht: Sie waren nicht mal zwanzig damals.

Dann kam die Wiedervereinigung, keine große Sache, wenn man hinlänglich mit sich selbst beschäftigt war. Aber es hatte kurzzeitig eine Art Ausnahmezustand gegeben: Feuerwerk allerorten, Freudentaumel bei denen, die Symbolisches liebten, Angst bei denen, die gleichfalls das Symbolische liebten, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Eine Welle schwappte übers Land, eine Welle der … sagen wir: Euphorie, und riss viele der Nichtverwurzelten, zu denen auch Ramona Ramon, Lydia Kant und Kordula Klix gehörten, mit sich, Richtung Berlin, wo sie zwischen bröckelnden Gründerzeithäusern verebbte. Und auf einmal war sie da gewesen, die Möglichkeit zur zweiten Chance, hier, weit weg von der beklemmenden Heimat, konnte das neue Leben beginnen, besser gesagt, der nächste Versuch, und hier störte auch niemanden der persönliche Kontrollverlust.

In Berlin studierten sie Kulturwissenschaft oder Kunst auf Lehramt oder Soziologie, und sie studierten ein wenig an den bürokratischen Vorgaben vorbei, da es ihnen zunächst um Orientierung ging, nach den pragmatischen Fehlschlägen an den Universitäten des Südens, um die grobe Richtung. Für etwas Konkretes würden sie sich später entscheiden.

Sie waren immer noch keine disziplinierten Studentinnen und auch keine sonderlich guten, aber wenn sie sich für ein Thema begeisterten, wurden sie zu fanatischen Studentinnen. Im Übrigen half ihnen das Studium, die eine oder andere Absonderlichkeit ihres Lebensstils zu rechtfertigen, den einen oder anderen Überschwang. Es half, das praktische Vergnügen theoretisch zu unterfüttern, mit Theorien zumeist, denen ein Post- vorangestellt war – Sie wissen schon, Feminismus, Strukturalismus –, und manchmal genügte es, den Namen einer der Theoretikerinnen vor sich hin zu murmeln, um auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Es half zum Beispiel, wenn es um künstlichen Rausch ging oder minimalistische Musik aus dem Laptop oder Promiskuität. Vor allem Letzteres war entscheidend für die Bildung dessen, was sie das eigene Ich nannten. Auf seine Hege verwandten sie mehr Sorgfalt als auf die ihrer geliebten Katzen.

Jede ihrer Handlungen, jede Aussage war eine Demonstration. Es ging nicht darum, etwas zu tun oder zu sagen, sondern zu zeigen, dass man es auf genau diese Art tat oder sagte, aggressiv und theoretisch untermauert. Das wirkte auf die meisten Kommilitonen zwar nicht sonderlich sexy, doch im Grunde stand dahinter noch immer und nichts weiter als die alte, freundliche Pippi-Langstrumpf-Emanzipation ohne Ziel.

Wie gesagt: Sie liebten ihre Väter nicht und sie hassten ihre Mütter, weswegen es umso erstaunlicher war, dass die Eltern dennoch die wichtigsten Personen in ihrem Leben blieben. Und das ließ sich nicht allein durch Sentimentalität oder Blutsbande erklären, eher schon durch die regelmäßigen Geldzuwendungen, die es seit mehr als einem Jahrzehnt gab, die eine Art Angestelltenverhältnis begründet hatten ohne Gegenleistung ihrerseits. Nun, nicht ganz, denn im Gegenzug lieferten sie ihren Eltern Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit allerdings, die nur kurzzeitig verschenkt wurde, um danach selbst das Dreifache an Aufmerksamkeit einzufordern. Denn die Eltern waren die erste Instanz, die konsultiert wurde, wann immer es Probleme mit dem eigenen Ich gab, und das kam wöchentlich vor, manchmal täglich, die Eltern waren die Halden für enorme Mengen seelischen Mülls, den die Töchter gleichzeitig zu verarbeiten hatten und produzierten, was nicht wundernahm in einer Welt, die unaufhörlich ihre Mädchenideale terrorisierte. Das erklärte auch die hohen Telefonrechnungen, die in keinem Verhältnis zu ihren ansonsten bescheidenen materiellen Ansprüchen standen. Sie waren also Berufstöchter, auf Abruf freilich, bis zur nächsten Chance auf einen Neubeginn. Der Optimismus, mit dem sie an ihn glaubten, hatte im Laufe der Zeit fast religiöse Züge angenommen. Und ihre Eltern, egal ob Anwälte, Lehrerinnen oder Hausfrauen, waren von Beruf Eltern.

Ramona, Kordula und Lydia würden noch eine ganze Weile Töchter bleiben, obwohl sie längst in das Alter von Müttern geraten waren, ja das Idealalter Erstgebärender lange überschritten hatten – eine von ihnen, Lydia Kant, besaß tatsächlich eine zweijährige Tochter namens Maylandia –, denn sie waren bereits Mitte dreißig.

Nebenberuflich betätigten sie sich als Ego-Therapeutinnen, d.h., sie salbten einander und einem Kreis ausgewählter Freundinnen die Seelen, bei Gesprächen face-to-face oder telefonisch, und zusammen bildeten sie eine mächtige Phalanx des Misstrauens: In jedem Außenstehenden witterten sie einen Angreifer auf ihre Integrität, ganz besonders in jenen Männern, mit denen sie – mal kürzer, mal länger – gerade liiert waren. Sie stellten damit eine kleine, aber feine Schule des sozialen Zusammenhalts dar, wie sie sich dieser Tage nicht mehr allzu oft finden ließ und deren Motto bedingungslose Solidarität lautete. Komischerweise waren sie trotz allem nicht nur hübsch, sondern auch sympathisch, ja sogar liebenswert. Trotz ihrer mangelnden Manieren, ihrer lauten Stimmen, ihrer Altkleidersammlungen, ihrer Möbel vom Sperrmüll.