Straße der Jugend - André Kubiczek - E-Book

Straße der Jugend E-Book

André Kubiczek

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Beschreibung

René, der Protagonist aus Kubiczeks erfolgreicher «Skizze eines Sommers», der uns hier wiederbegegnet, wird im Spätsommer '85 auf ein Internat in Halle an der Saale geschickt, um dort sein Abitur abzulegen. Dieses Internat bietet nur wenige Plätze für ein paar Auserwählte, an deren Schulzeit sich ein Studium in Moskau anschließen wird. Fremde Stadt hin, Bruderstaat her, Kubiczeks junger Protagonist jedenfalls bleibt ungerührt: «Wer flippte schon aus, wenn ihm angeboten wurde, die Organisation der materiell-technischen Basis zu studieren. Organisation der materiell-technischen Basis! Ich bitte Euch!» Beziehungsweise, vielleicht nicht ungerührt, sondern: von anderen Dingen begeistert. Denn Internat bedeutet: die Abwesenheit der Eltern. Die Allgegenwart von Freunden. Die Nähe von Mädchen. Sehr viele Verbote. Verbotenes macht vielfach Spaß. Und: «Außerdem bekam ich ab nächstem Monat 280 Mark Stipendium, einfach so, fürs Nichtstun, um auch mal eine gute Seite des Internatlebens zu erwähnen. Denn jede Medaille hatte ja bekanntlich zwei Seiten: eine dunkle und eine schwarze.» «Straße der Jugend» ist ein Internatsroman mit schrecklich verliebten jungen Helden, in einem sommerwindleichten, warmen Ton erzählt.

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Seitenzahl: 418

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André Kubiczek

Straße der Jugend

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

René, der Protagonist aus Kubiczeks erfolgreicher «Skizze eines Sommers», der uns hier wiederbegegnet, wird im Spätsommer ’85 auf ein Internat in Halle/Saale geschickt, um dort sein Abitur abzulegen. Dieses Internat bietet nur wenige Plätze für ein paar Auserwählte, an deren Schulzeit sich ein Studium in Moskau anschließen wird. Fremde Stadt hin, Bruderstaat her, René jedenfalls bleibt ungerührt beziehungsweise begeistert sich für andere Dinge wesentlich mehr. Denn Internat bedeutet: die Abwesenheit der Eltern. Die Allgegenwart von Freunden. Die Nähe von Mädchen. Sehr viele Verbote. Verbotenes macht vielfach Spaß.

 

«Straße der Jugend» ist ein Internatsroman mit schrecklich verliebten jungen Helden, in einem sommerwindleichten, warmen Ton erzählt.

Vita

André Kubiczek, 1969 geboren, lebt in Berlin. 2002 erschien sein hochgelobter Roman «Junge Talente», 2003 «Die Guten und die Bösen». Es folgten «Oben leuchten die Sterne», «Kopf unter Wasser» und «Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn». 2007 wurde André Kubiczek mit dem Candide-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen «Das fabelhafte Jahr der Anarchie» (2014), «Skizze eines Sommers» (2016), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, sowie «Komm in den totgesagten Park und schau» (2018).

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Mit Zeichnungen von Rebecca Michaelis

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg,

nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Warren Wong/unsplash.com

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-10045-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

And I’m not happy

And I’m not sad

 

The Smiths, This Night Has Opened My Eyes

Teil 1

Viel zu früh

Wo war ich stehen geblieben? – Ach so: Es war Montag, der zweite September des Jahres 1985, und der erste Tag des neuen Schuljahres hatte begonnen.

Mein Vater, der über die Sommermonate in Genf gewesen war, um am Verhandlungstisch für den Weltfrieden zu kämpfen, hatte noch ein paar Tage Urlaub und mich mit unserem Wartburg in den Harz gefahren, wo nicht nur meine Großeltern seit Menschengedenken lebten, sondern sich auch dieses komische Ferienlager-Areal befand, in dem sich alle künftigen Insassen unseres Internats eine Woche lang kennenlernen mussten.

Vielleicht erinnert ihr euch: Ich sollte nach dem Abitur nichts Normales studieren wie Chemie oder Agrarwissenschaften oder Journalismus, sondern war verdonnert worden zu einem obskuren Fach namens Organisation der materiell-technischen Basis, und weil eine solche Rarität in heimischen Breiten nicht angeboten wurde, musste ich deswegen extra ins Ausland, sprich: Mein Studium in zwei Jahren würde mich nach Moskau führen, Hauptstadt der ruhmreichen Sowjetunion.

Weshalb ich das Abi auch nicht in Potsdam machen konnte, wie jeder normale Mensch und alle meine Freunde, sondern auf diese Spezialeinrichtung namens ABF delegiert worden war, die sich weit abseits meiner Heimat befand, in Halle an der Saale.

Was heißt: verdonnert worden?

Ich hatte eher den Zeitpunkt verpasst, die ganze Sache wieder abzublasen, nachdem ich einmal auserkoren worden war für diesen Sonderposten. Der Mann im Schulamt, oder wie das hieß, hatte mir seinerzeit mit wichtiger Miene erklärt, dass es mir eine Ehre sein solle, weil dafür wirklich nicht jeder in Frage käme.

Ich leider schon.

Denn dummerweise war ich nicht nur gut in der Schule, ich verfügte außerdem über keine direkte Westverwandtschaft, und mein Vater bekleidete obendrein irgendeinen Posten in der Partei. So was wie Kassierer oder Wandzeitungsredakteur, keine Ahnung, was für verschiedene Ränge es da bei den Erwachsenen genau gab.

Sagen wir’s mal so, ich war in diese Sache reingeschlittert wie die Jungfrau mit dem Kinde, und deshalb also saß ich nun seit mehr als zwei Stunden vor dem Ferienlager-Eingang, denn mein Vater in seinem Pünktlichkeitswahn hatte mich mal wieder viel zu früh abgesetzt.

Ich war überhaupt der Allererste!

Wie bestellt und nicht abgeholt!

Ich rauchte eine Club nach der anderen.

Ich hörte Musik mit dem Walkman und wartete ansonsten nur, dass diese dämliche Veranstaltung endlich losging, bei der ich mich fünf Tage lang mit meinen künftigen Mitschülern bekannt machen sollte und wo mir nebenbei vielleicht endlich mal jemand erklärte, was für eine komische Organisation das eigentlich genau war, ich meine, die der materiell-technischen Basis.

So gegen vierzehn Uhr kam endlich etwas Bewegung in die Sache. Immer mehr Autos hielten jetzt vor dem Ferienlagereingang und spuckten Jugendliche aus, Mädchen und Jungs. Manche kamen auch zu Fuß den Berg hoch, auf dem das Ferienlager platziert war, vermutlich von der Bushaltestelle unten im Dorf. Die Eltern, die sie begleiteten, waren rot im Gesicht und keuchten.

Jetzt also geht es los, dachte ich und merkte, wie meine Hand auf einmal zitterte, als ich mit einem Streichholz die nächste Club anstecken wollte.

Weil mir langsam der Schädel dröhnte von der lauten Musik, setzte ich die Kopfhörer ab: Ein leichter Wind rauschte durch die Kronen der Bäume, die hier überall rumstanden, weil das Ferienlager natürlich mitten in den Wald hineingehauen worden war. Kiefern oder Tannen und auch solche mir richtigen Blättern gab es, also: Laubbäume. Die Vögel zwitscherten, und ich konnte sogar einen Kuckuck heraushören und das Pochen von mindestens zwei Spechten.

Statt direkt reinzugehen, standen die Neuankömmlinge noch eine Weile mit ihren Eltern auf dem Vorplatz beisammen, Kraxen, Reisetaschen und Koffer zu den Füßen. Alle ließen irgendwie die Köpfe hängen, und die Gespräche schienen auch nicht gerade zu sprudeln. Da war noch echt gut dran, wer sich wenigstens an einer Zigarette festhalten konnte.

Ein wirklich seltsamer Anblick war das: Ihr müsst euch einfach diese vielen, unregelmäßig verteilten Menschengrüppchen vorstellen und wie sie stumm dastanden auf dieser staubigen, zerfurchten Fläche vor dem Ferienlager, eine Mischung aus Wüste und Parkplatz. Ein bisschen erinnerte mich die Szene an ein Gemälde von Dalí, dieser surrealistische Maler da, der ein bisschen aussah wie d’Artagnan, Anführer der Musketiere. Man hätte nur ein riesiges Spiegelei auf alles draufpacken müssen oder zwei, drei Handvoll geschmolzenen Käse.

Nach so zirka zehn Minuten Herumstehen stiegen die Eltern wieder in ihre Trabis und Wartburgs und fuhren ab, während aus dem Tal immer neue Autos mit neuen Eltern und Kindern eintrudelten, die sich dann ihrerseits wieder in sprachlosen Grüppchen aufstellten. Es herrschte ein sogenanntes Kommen und Gehen, und wenn ich ein bisschen genauer darüber nachdachte, verstand ich diese Trauermienen und hängenden Köpfe sogar ganz gut.

Denn irgendwie war das hier schon so was wie ein Abschied für immer. Zwei Jahre würden wir von nun an im Internat leben, und nur alle zwei Monate mal durften wir für ein Wochenende nach Hause fahren. So wenigstens hatte es in der Gebrauchsanleitung für die ABF gestanden, die vor zirka einem Dreivierteljahr im Briefkasten gelegen hatte. Dort hatte auch gestanden, dass wir uns am heutigen Tag hier einzufinden hätten und was wir mitbringen sollten: Sportzeug, Kulturbeutel und diesen ganzen Krempel und gegen die Langeweile auch ein Buch: Staat und Revolution.

Kennt ihr nicht?

Ist von Lenin, Wladimir Iljitsch.

Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.

Wir Jungs jedenfalls mussten im Anschluss ans Abitur auch noch acht Monate zur Fahne, zur Asche, wie die langhaarigen Hippies im Café Heider die Armee nannten, ihr wisst schon, diese Typen mit Shell-Parkas und Klettis an den Füßen, knöchelhohe Wildlederschuhe ohne direkte Form.

Und dabei hatten wir noch Glück!

Alle normalen Jungs nämlich mussten anderthalb Jahre dorthin, und jeder, der studieren wollte – also hier, meine ich, bei uns, und nicht im Ausland –, musste sogar drei Jahre zur Asche, und zwar freiwillig.

Also: freiwillig in Gänsefüßen.

Rabatt kriegte man nur, wenn man sich was aussuchte, was sonst keiner studieren wollte, für die Volkswirtschaft aber wichtig war, Informatik, sagen wir mal, oder Lehrer für Mathematik.

Wenn wir dann zwei Jahre Internat und die Zeit bei der Asche rumhatten, ging es ja auch schon direkt nach Moskau oder Rostow am Don oder, wenn man Pech hatte, nach Nowosibirsk, und das für weitere fünf Jahre.

Versteht ihr, was ich sagen will? Das war eine lange Zeit der Entfremdung zwischen Eltern und ihren Kindern, die bis dato doch praktisch jeden Tag aneinandergeklebt hatten wie Klettverschlüsse, weshalb es also kein Wunder war, dass sie jetzt in diesen traurigen Grüppchen im Staub vor dem Ferienlagereingang rumstanden und nicht wussten, was sie reden sollten.

Ich merkte ja selber, dass heute etwas tot war, das gestern zumindest noch in den letzten Zuckungen gelegen hatte.

Und wisst ihr, was das war?

Die Kindheit!

 

Punkt fünfzehn Uhr erhob ich mich von meiner Reisetasche, die vom langen Rumsitzen eine richtige Delle gekriegt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass meine Bücher nicht zerknittert waren oder die Hüllen meiner Kassetten angeknackst.

Unmengen an Jugendlichen waren unterdessen an mir vorbei ins Ferienlager gesickert, und bei allem Mitleid, das ich für sie empfand zwecks Trennungsschmerz, Entfremdung und allem, war meine Stimmung nach und nach ins Ärgerliche umgeschlagen. Denn egal ob Mädchen oder Junge, jeder, wirklich jeder von ihnen hatte mich im Vorbeigehen angestarrt.

Klar, ich saß strategisch ungünstig, so direkt neben dem Eingang, aber sie glotzten mich an, als sei ich der Allmächtige, ich meine, als sei ich der Leibhaftige, und erst durch ihre stierenden Blicke fiel mir wieder ein, in welchem Zustand ich eigentlich war.

Ich erinnerte mich, wie mir am Morgen im Bad der Kajalstift in die Hände geraten war, den mir Connie bei unserem Abschied im Orion überreicht hatte, damit ich ihn Mario zurückgab, was ich vergaß. Stattdessen hatte ich ihn heute selber benutzt, vorsichtig nur, und ehrlich gesagt, konnte ich jetzt auch nicht mehr sagen, warum, aber man sah natürlich trotzdem, dass was nicht stimmte mit meinen Augen.

Dann wurde mir bewusst, dass ich diese schwarze, leicht abgeranzte Ramones-Lederjacke trug, die ich in den Ferien auf dem Flohmarkt in Kaltennordheim gekauft und auf die Connie mit weißem Reparaturlack «What you cannot have sir, you must kill» gepinselt hatte, hinten auf Schulterhöhe, ganz klein, weil ich doch so am Boden gewesen war wegen der Trennung von Bianca.

Meine Schuhe, die ich erst gestern frisch gestrichen hatte, glänzten in der Nachmittagssonne wie mit der Speckschwarte abgerieben. Nur an den Seiten waren sie ein bisschen vom Vorplatz-Staub beschmutzt, und meine Haare standen heute nach links ab, sodass mein Segelohr rechts frei lag.

Das viel schönere Segelohr besaß ja Victoria, dachte ich, meine Freundin, die ich in Potsdam zurückgelassen hatte. Jetzt, um fünfzehn Uhr sieben, musste ihr erster Tag auf der Erweiterten Oberschule schon vorbei sein, und wahrscheinlich saß sie zusammen mit all den anderen im Heider, mit Michael und Dirk und wie sie alle hießen, und rauchte und trank Kaffee und lauschte den bedeutsamen Reden, die dort geschwungen wurden. Vielleicht hatte sie sich zur Feier des ersten Schultages sogar einen Martini bestellt oder einen Gin Tonic.

Ich nahm meine Reisetasche in die Hand, aber loslaufen konnte ich nicht. Ich hatte zu lange regungslos auf meiner Tasche gesessen, und jetzt war irgendeine Blutbahn abgeklemmt, und mein eines Bein lag im Tiefschlaf. Ich ging vorsichtig ein paar Schritte auf der Stelle, um es zu wecken, aber es kribbelte von meiner Hosentasche abwärts wie ein ganzer Stamm Ameisen.

Vielleicht saß ja auch Rebecca im Heider, die jetzt schon in der Zwölften war, meine heimliche Seelenfreundin und Wahlschwester, und während mir dieser Gedanke in den Kopf stieg, wurde mir richtiggehend heiß. Denn was, wenn sich die beiden zufällig kennenlernten, Rebecca und Victoria, und sich zu unterhalten begannen? Dann brach möglicherweise ein Haufen unnötiger Komplikationen über alle Beteiligten herein, und Eifersucht, vielleicht Geschrei, womöglich sogar Tränen standen uns bevor. Niemandem war mit so etwas gedient.

Hoffentlich, dachte ich, hatte Rebecca noch immer keine Zeit, stundenlang sinnlos im Heider zu sitzen wie wir anderen, weil sie ja Tag und Nacht an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule arbeitete.

Ein hellblauer Trabant Kombi schoss jetzt die Talstraße hinauf, bog auf den Vorplatz ein und hielt mit kreischenden Bremsen keine fünf Meter von mir entfernt. Die Beifahrertür ging auf, und ein Junge mit Dauerwelle erschien auf der Bildfläche. Eine John-Lennon-Brille saß auf seiner Nase, genau wie bei diesen Kirchenheinis immer, nur in ein bisschen größer. Er zog eine Reisetasche von der Rückbank des Trabis, knallte die Autotür zu und rannte schnell wie ein Hase los.

Ich konnte gerade noch erkennen, dass er einen hellblauen Pullover mit Netzhemd-Applikation und allerlei sinnlosen Ringen und Zierösen trug, so wie die meisten Ungarn-Urlauber nach diesem Sommer.

Exakt sechzehn Minuten nach drei setzte ich mich in Bewegung, um dem anderen Nachzügler mit zwickendem Bein hinterherzuhinken.

Das war jetzt schon die ganz hohe Kunst, dachte ich: Als Allererster da zu sein und trotzdem eine Viertelstunde zu spät zu kommen.

Frau Schneider

Offenbar hatte der Junge in den ungarischen Klamotten die Gebrauchsanweisung fürs Ferienlager besser gelesen als ich, denn er rannte ohne Zögern die Hauptstraße entlang, die richtig gepflastert war und Bordsteinkanten besaß, Papierkörbe und alles.

Rechts und links waren braune Hütten aus Holz aufgereiht mit spitzen Dächern und Terrassen, auf denen Tische standen und Sitzbänke. Zwischen den Hütten wuchs Rasen, und die Pfade, die von der Hauptstraße zu den Eingangstüren führten, waren von Zierpflanzen gesäumt. Alles sah echt gepflegt aus, und nirgends lagen leere Zigarettenschachteln rum oder kaputte Bierflaschen. Nicht mal einen Apfelgriebsch oder ähnlichen Kleinmüll konnte ich entdecken, während ich versuchte, den Jungen nicht aus den Augen zu verlieren.

Man merkte es sofort: Das hier war ein richtiges Profi-Ferienlager und nicht so eine Handvoll windschiefer Baracken, in denen ich früher regelmäßig zwei Wochen Sommerferien verbracht hatte, bis ich rausgewachsen war aus diesem Alter und den Hütten.

Nach zirka hundertfünfzig Metern schnellen Hinkens funktionierte mein Bein wieder normal, weshalb ich in einen lockeren Laufschritt wechselte. Weiter vorne tauchte jetzt ein größeres Gebäude auf, eine Art flache Scheune aus Beton, in der der Junge im nächsten Moment schon verschwunden war.

Ich wurde sofort langsamer, denn jetzt wusste ich ja, wohin die Reise ging. Ich wurde sogar noch langsamer als beim Hinken, und weil mir klar war, dass ich bei dieser Geschwindigkeit eine Weile brauchte bis zur Scheune, zündete ich mir noch eine Zigarette an für unterwegs.

Der Geruch von matschigen Kartoffeln mit kalter Soße schlug mir entgegen, als ich das Gebäude betrat.

Ich befand mich also in der Kantine, das heißt in einer Art Vorraum, und auch der andere Junge war trotz seines Vorsprungs nicht weitergekommen. Er stand vor einer großen Schwingtür aus Glas und starrte in den großen Speisesaal, aus dem eine gedämpfte Mikrofonstimme drang.

Ich trat an ihn heran.

«Auch zu spät?», fragte er.

«Sieht fast so aus», sagte ich der Einfachheit halber, weil das jetzt nicht der passende Moment war, ihm weitschweifig zu erläutern, dass ich eigentlich der Allererste gewesen war hier oben auf dem Berg und warum ich trotzdem nicht pünktlich kam.

«Der Direktor», flüsterte der Junge. Er guckte weiter durch die Glastür in den Saal.

«Wolln wir nicht mal rein?», fragte ich.

Man konnte die Blechstimme von dadrinnen zwar hören, aber nicht verstehen.

Vielleicht war es ja was Wichtiges.

Vielleicht das sogenannte Organisatorische, von dem es ja leider immer und überall ein riesiges Quantum gab. Da war es manchmal besser mitzuschreiben, statt es sich nur einprägen zu wollen und dann doch mindestens die Hälfte zu vergessen und am Ende die Konsequenzen tragen zu müssen.

«Wenn du vorgehst», sagte der Junge.

«Na gut.»

Der Junge nahm seine Reisetasche und guckte mich erwartungsvoll an. An den Seiten und am Hinterkopf waren seine Haare glatt, nur oben kräuselten sie sich.

Jetzt erst warf ich einen genaueren Blick durch die Glastür.

An der Stirnseite des Speisesaales gab es eine Bühne mit einem Rednerpult drauf, wo der Direktor gerade zu seinen eigenen Worten mit den Händen herumfuchtelte. Hinter ihm bauschte sich ein Theatervorhang aus Samt, und überall waren Blumentöpfe und Vasen verteilt, um feierliche Stimmung zu verbreiten.

Vor der Bühne standen lange Reihen von Tischen, an denen die ganzen Jugendlichen saßen. Natürlich konnte ich auf die Schnelle nicht nachzählen, aber es waren bestimmt Hunderte.

«Jetzt geh schon», sagte der Junge.

«Wie heißt du eigentlich?», fragte ich.

«Jens.»

Da er nicht fragte «Und du?», wie es die allgemeinen Höflichkeitskonventionen verlangten, verschwieg ich ihm meinen eigenen Namen.

«Was ist denn nun?», quengelte Jens stattdessen.

Nachdem ich mich ein bisschen auf die Mikrofonstimme konzentriert hatte, fand ich ihren Klang durchaus etwas herrisch.

«Einen Moment noch.»

Ich musste etwas Kraft tanken, bevor ich gleich in die Rede des Direktors platzte. Ich dachte noch schnell an was Schönes, an Victoria, meine richtige, feste Freundin, und sicherheitshalber dachte ich auch noch Rebecca, die in ihrer Funktion als Seelenverwandte ja irgendwie automatisch mein geistiger Beistand war.

Doppelt genäht hielt bekanntlich besser.

Ich drückte das Kreuz durch und stieß mit dem rechten Fuß die Glasschwingtür auf.

Wahrscheinlich hatte ich mir ein bisschen zu viel geistigen Beistand geholt, denn es schepperte richtig. Der Türflügel prallte auf irgendeinen Widerstand und schwang dann mit fast derselben Wucht zurück, weshalb ich ihn mit der Hand stoppen musste, damit ich ihn nicht direkt vor den Kopf kriegte.

Ich trat ein zweites Mal gegen den Türflügel, diesmal etwas feinfühliger, und damit war mein Elan auch schon komplett erloschen.

Mit ziemlich weichen Knien enterte ich den Speisesaal.

Im Kopf zählte ich die Schritte mit: eins, zwei, drei.

Dann blieb ich stehen.

Ich merkte, wie Jens versuchte, sich hinter meinem Rücken zu verstecken, obwohl er einen halben Kopf größer war als ich.

Der Direktor guckte grimmig zu uns rüber, während er versuchte, seine Ansprache fortzusetzen. Auch das Publikum drehte sich zu uns um.

Gerade sagte der Direktor: «Was wir auf keinen Fall dulden unter unseren Kommilitonen, sind Punkerfrisuren und Männerzöpfe.»

Er hielt zwar einen Stapel Zettel in der Hand, aber ich glaube, diesen Satz hatte er extra wegen unseres Auftritts improvisiert. Meine nach links stehenden Haare jedenfalls gingen bei Laien-Friseuren wie ihm garantiert als Punkerfrisur durch.

Einige hörten gar nicht mehr auf, uns anzustarren, obwohl der Direktor in seiner Rede längst weiter war und bereits die ewige Sülze vom Klassenstandpunkt angestimmt hatte: Ich war die Personifizierung dessen, was der Direktor und seinesgleichen nicht duldeten.

Ein schlechtes Beispiel.

Großartig, dachte ich, ein Beginn wie im Bilderbuch.

«Jetzt setzen Sie sich endlich hin, Herrgott noch mal!», unterbrach der Direktor seine Rede, und seine Röntgenaugen durchbohrten uns bis auf die Knochen.

Wir schlichen zu den nächsten freien Stühlen, ließen uns nieder, und ein paar Sekunden später sprach der Direktor weiter, und das Publikum wandte sich wieder der Bühne zu.

Ich will euch nicht mit Details langweilen. Ihr kennt diese Reden selber gut genug, beim Fahnenappell, zum 1. Mai und zum Tag der Republik: Da gehen die Wörter zum einen Ohr rein, und zum anderen kommen sie wieder raus, also, wenn es hoch kommt, meine ich. Manchmal bleiben die Wörter gleich beim Redner vorne kleben und dringen nicht mal mehr bis zu einem durch, wenn man weiter hinten sitzt.

Was ich sagen will, die meiste Zeit hörte ich ganz einfach weg, weil ich schnell gemerkt hatte, dass hier nichts Organisatorisches verkündet wurde, sondern nur Prinzipielles.

Stattdessen sah ich mich ein wenig unter meinen Mitschülern um, und ich muss sagen: Diese Sorte von Jugendlichen hatte ich zu Hause gar nicht gekannt. Nicht persönlich jedenfalls.

Die meisten von ihnen wirkten wie frisch gebügelt, weshalb die wenigen anderen umso greller herausstachen, zwei, drei Jungs hatten lange Haare, ein paar andere einen Popper-Schnitt. Ich erkannte eine abgewrackte Jeansjacke mit komischen Aufnähern drauf und einen Shell-Parka.

Nein, halt: Unter meinen Kommilitonen, musste es heißen, sah ich mich um, denn unser Institut war ein Teil der Universität Halle, wie in der Gebrauchsanleitung gestanden hatte, weswegen wir auch Studenten waren und nicht Schüler. Wir bekamen sogar einen Studentenausweis und obendrauf ein monatliches Gehalt quasi fürs Nichtstun, ein Stipendium.

Als der Direktor fertig war, hagelte es einen kurzen Applaus, und dann standen alle auf, und die Stuhlbeine machten laute kreischende Geräusche auf den Steinfliesen, sodass man richtig Gänsehaut kriegte.

Erst jetzt sah ich, dass auf den Tischen Karten standen mit Zahlen drauf. Das mussten die Nummern der Klassen sein.

Ich öffnete meine Reisetasche, um in der Anleitung nachzusehen, in welcher Klasse ich war.

«In welcher Seminargruppe bist du?», fragte Jens da auch schon.

Man sagte also Kommilitone statt Mitschüler, und statt Klasse sagte man Seminargruppe. Sah aus, als ob wir vorzeitig zu Erwachsenen befördert worden wären. Vielleicht ja in der Hoffnung, dass wir uns auch wie solche benehmen würden und aufhörten, über die Stränge zu schlagen, eine Anfeuerung quasi zum Vernünftigsein.

«34», sagte ich, als ich die Zahl gefunden hatte.

«Treffer», sagte Jens, «ich auch. – Richtig muss es heißen A34.»

«Nicht 34a? Oder 34b?», wollte ich einen Witz reißen, «Dann hätten wir nämlich auf einen Schlag vierundzwanzig Klassen übersprungen und könnten demnächst Rentner werden.»

«Nein», sagte Jens ernst, «A34. – Und nächstes Jahr dann B34. Es gibt immer einen Jahrgang A und einen Jahrgang B an der ABF.»

«Was du nicht sagst.»

«Und einen Jahrgang C», hörte Jens jetzt gar nicht mehr auf, mich zu belehren. «Das sind Leute, die schon eine Berufsausbildung mit Abitur hinter sich haben. Die bleiben nur ein Jahr, hauptsächlich wegen der Fremdsprache.»

«Gut zu wissen.»

«Wie heißt du eigentlich?», fragte er jetzt doch.

«René.»

«Komm», sagte Jens, «wir gucken mal, wo unsere Gruppe ist.»

«Na, wenn das nicht unsere Nachzügler sind», sagte die Frau, die in einem Pulk von Jugendlichen stand, als wir am Tisch mit der Nummer 34 ankamen, «eine halbe Stunde zu spät kommen, aber das dann mit großem Knall.»

Ihre Worte klangen tadelnd, aber gleichzeitig spöttisch, so als mache sie sich darüber lustig, uns überhaupt tadeln zu müssen, falls ihr versteht, was ich meine. Als spiele sie die Autoritätsperson nur, weil diese Rolle nun mal zum Lehrerdasein gehörte, denn es war völlig klar, diese Frau war unsere künftige Klassenlehrerin.

Oder nannte sich das hier Seminargruppenführerin?

«Unser Auto hatte heute Morgen …», fing Jens an, sich eine Entschuldigung aus den Rippen zu leiern, aber die Frau winkte nur ab und sagte: «Das will ich gar nicht hören.»

«Name?» Sie sah mich an.

Ich sagte meinen Vornamen auf.

«Und weiter?»

Ich sagte ihr meinen Nachnamen.

Die Frau nahm eine Liste vom Tisch, auf der ich lauter durchgestrichene Namen erkannte, und machte jetzt auch durch meinen einen Strich.

Das Gleiche wiederholte sie mit Jens.

«Haben Sie einen Kamm mit, René?», fragte sie, als sie wieder aufsah.

Unsere Kommilitonen waren nach und nach verstummt und guckten uns jetzt schweigend an.

Ich merkte, dass ich rot wurde.

Die Lehrerin lächelte mich süß-sauer an, während sie auf meine Antwort wartete.

Sie hatte so eine halblange Schüttelfrisur aus glatten, braunen Haaren und war vielleicht so alt wie mein Vater, Anfang vierzig. Obwohl noch Sommer herrschte, trug sie Lederstiefel, die bis zum Knie gingen, des Weiteren einen karierten Rock, ebenfalls bis zu den Knien, nur von oben, sodass Stiefel- und Rockende einen regelrechten Rahmen für ihre Knie abgaben. Ihre Bluse besaß einen großen Kragen, und dem Wollpullover darüber fehlten die Ärmel.

«Haben Sie einen Kamm oder nicht?»

«Nee, ich hab keinen Kamm dabei», antwortete ich wahrheitsgemäß.

«Vielleicht leiht Ihnen ja einer Ihrer Kommilitonen seinen», sagte sie.

«Das ist doch unhygienisch», hätte ich gerne gesagt, aber ich hielt lieber die Klappe.

Eigentlich sahen einige der Mädchen viel zotteliger aus als ich, einschließlich Jens, zumal meine Haare nicht mal senkrecht in die Höhe standen, sondern schräg nach links, eher so wie Gras auf einer Ostseedüne, wenn permanent Ostwind blies.

«Wie sieht es aus mit Schuhputzzeug?»

Langsam fing sie an, impertinent zu werden.

Ich warf einen Blick auf meine Schuhe. Bis auf ein paar Staubschlieren vom Ferienlagervorplatz glänzten sie eigentlich tadellos.

«Brauch ich nicht», sagte ich, «ein Staublappen reicht völlig aus. – Wenn wir Freitagabend endlich wieder zu Hause sind, gibt’s sowieso einen neuen Anstrich.»

In der zweiten Reihe kicherte jemand.

Die Frau runzelte die Stirn, holte frische Luft und sagte: «Jetzt beziehen Sie erst mal Ihre Unterkünfte, richten Sie sich ein bisschen ein, und um Punkt sechs treffen wir uns alle hier wieder zum Abendbrot. – Nach dem Abendbrot suchen wir uns einen schönen Platz draußen und machen uns miteinander bekannt. – Schließlich sollte man wissen, mit wem man es die nächsten zwei Jahre zu tun hat.»

Einige nickten, aber keiner antwortete was, und mit klackernden Absätzen, als wolle sie Muster in den Fußboden stanzen, verließ die Lehrerin den Speisesaal. Sie ging sehr aufrecht dabei und mit wogenden Hüften, aber sie hielt das Kinn ein bisschen zu hoch, sodass ihr Abgang nur so halbnatürlich wirkte. Es sah ein bisschen aus, als verfolge sie mit den Augen irgendetwas an der Speisesaaldecke, eine Kakerlake oder eine richtig fette Spinne.

Als sie aus der Tür war, kam wieder Leben in unsere Seminargruppe. Wir schnappten unser Gepäck und schlenderten nach draußen, und weil ich nicht auch noch in der Anleitung nachgucken wollte, in welche Hütte ich musste, latschte ich den anderen einfach in zwei Metern Abstand hinterher.

Wir liefen die Hauptstraße zurück, und da ich ansonsten nichts zu tun hatte, zählte ich die Mitglieder unserer Seminargruppe durch.

Beim ersten Mal kam ich auf neunzehn.

Beim zweiten Mal auf zwanzig, weil ich beim ersten Versuch vergessen hatte, mich selber zu addieren.

Zwanzig Mann waren echt wenig.

Aber was heißt hier Mann?

Wir waren sechs Jungs.

Und dazu vierzehn Mädchen!

Das war ja ein Verhältnis, das völlig aus dem Ruder lief!

Oder aber, dachte ich, war Organisation der materiell-technischen Basis etwa ein Studienfach für Mädchen?

So wie Unterstufenlehrerin.

Oder Ansagerin im Fernsehen.

Lag hier möglicherweise ein ähnlicher Fall vor wie damals, als meine Oma mir einen noch nicht ganz kaputten Westpullover von C&A gegeben hatte, den ich so lange gerne trug, bis jemand sagte: ‹Ey, das ist doch ein Mädchenpullover, René›, und mir wieder einfiel, dass meine Oma ja eine Nichte im Westen hatte und keinen Neffen. Danach wollte ich den Pullover nie wieder anziehen. Aber zum Glück war er zu diesem Zeitpunkt schon richtig fadenscheinig und zu einem Stück Lumpen verkommen, sodass man ihn höchstens noch zum Fensterputzen nehmen konnte.

Eines der Mädchen ließ sich aus dem Pulk der Seminargruppe auf meine Höhe zurückfallen. Es hatte lockige, schulterlange Haare in Blond, war einen Kopf größer als ich und dünn.

«Ich bin Anke», sagte das Mädchen.

«René», sagte ich.

«Ich kann die Schneider auch nicht leiden», sagte Anke.

«Wer ist denn die Schneider?»

«Na, Frau Schneider», sagte Anke, «unsere Gruppendozentin und Mathematiklehrerin.»

Während die anderen Mädchen unserer Gruppe aussahen wie einmal durch die Jugendmodeabteilung vom Centrum-Warenhaus gescheucht, wirkte Anke eher wie ein Hippie. Sie trug einen weißen, wallenden Rock, aus Leinen oder was das war, ein Nicki in Weiß und darüber ein kariertes Hemd, das sie vorne zusammengeknotet hatte. An ihren Ohrläppchen baumelten lange Gehänge aus Strippe, Perlen und so Lederstückchen, die ganz schön selbst gebastelt aussahen.

«Ich weiß noch nicht», sagte ich, «aber Frau Schneider sieht gar nicht aus wie eine typische Lehrerin. – Sie könnte auch beim Fernsehen arbeiten. – Oder als Verkäuferin im Exquist.»

«Meinetwegen brauchst du deine Haare jedenfalls nicht zu kämmen», sagte Anke.

«Das ist echt nett von dir.»

«Wo studierst du denn später?», fragte Anke.

«In Moskau.»

«Und was?»

«Orga-nisa-tion der ma-…», begann ich ganz langsam zu sprechen, damit ich mich nicht verhedderte in diesem Wortungetüm.

«Der materiell-technischen Basis?», unterbrach mich Anke und grinste.

«Ja, genau», sagte ich.

«Ich auch», sagte Anke, «dann sind wir schon zwei.»

«Was ist das eigentlich?»

«Im weitesten Sinne Ökonomie», sagte Anke, was ich aber schon selber wusste, und dann erklärte sie mir, was es im engeren Sinne war. Ich will euch nicht langweilen, deshalb nur so viel: Als so ein Organisator hatte man Rohstoffe zu besorgen und Geld und Nachschub und alles, damit die Volkswirtschaft nicht zusammenbrach, sondern gleichmäßig vor sich hin ratterte.

Für die Industrie zum Beispiel musste man Autotüren organisieren und Auspuffanlagen und Scheibenwischer. Und für die Landwirtschaft Samenkörner, aber auch Broiler und Bier und was es sonst noch gab, um eine ausgewogene, ausreichende Ernährung der Werktätigen zu gewährleisten, damit diese wiederum zuverlässig die Autos zusammenschrauben konnten und man nicht noch länger warten musste auf so einen Trabant als zehn Jahre oder wie viel genau das jetzt schon waren.

«Kann gut sein, dass wir nach dem Diplom in die Staatliche Plankommission kommen», sagte Anke.

«Klingt nach Spaß», sagte ich, und ich grinste Anke an, obwohl ich das gar nicht mal so lustig fand.

«Vielleicht arbeiten wir später sogar zusammen!», sagte Anke. «Wäre doch toll.»

«Ja, das wäre toll», sagte ich, um nicht ihre ganze Vorfreude auf die Zukunft zu töten.

Plötzlich blieben alle stehen, denn wir waren bei unseren Hütten angekommen. Die der Mädchen stand links, unsere gegenüber auf der rechten Straßenseite.

Innen sahen die Hütten schlimmer aus, als man bei ihrem romantischen Äußeren vermutet hätte. Die Wände waren mit Blümchentapete beklebt, und obwohl alle Fenster aufgerissen waren, roch es nach alten Matratzen und Schweißfuß.

Vom Flur gingen vier winzige Zimmer ab, in denen jeweils zwei Doppelstockbetten standen sowie ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Es gab kein Klo und keine Dusche, nur ein Waschbecken am Ende des Flurs.

Die vier pünktlichen Jungs unserer Gruppe zogen zusammen in ein Zimmer. Jens und ich richteten uns eine Tür weiter ein.

«Oben oder unten?»

«Mir egal», antwortete ich, «aber lieber unten.»

«Kommst du mit rüber?»

Er meinte zu den vier anderen, die nebenan eine Kissenschlacht begonnen hatten wie so ein paar Babys.

«Später vielleicht», sagte ich, aber das war gelogen.

Ich warf meine Reisetasche aufs Bett, holte meinen Kulturbeutel raus und ein Handtuch und ging zum Waschbecken, wo ich einen Berg Seife zwischen meinen Händen aufschäumte. Dann kniff ich die Augen zusammen, hielt die Luft an und schlug mir den Schaum ins Gesicht.

Aber weil meine Lider irgendwie nicht ganz dicht waren, fing es sofort an zu brennen. Egal, dachte ich: Augen zu und durch!

Ich rieb und rubbelte.

Kurz überlegte ich sogar, mit meiner Handbürste nachzuhelfen, andererseits wollte ich beim Versuch, den Kajalstift zu entfernen, nicht erblinden, weshalb ich es lieber doch sein ließ.

Nach zirka fünf Minuten brach ich die Reinigungsprozedur ab, spülte mit dem frischen, kalten Gebirgswasser nach, das hier aus der Leitung lief, und tupfte mir anschließend mein Gesicht mit dem Handtuch trocken, das nach der makellosen Hygiene von REWATEX roch und hart war wie ein Brett.

Noch immer hatte ich die Augen geschlossen, weshalb ich nicht wusste, ob der Kajal wirklich abgegangen war. Vielleicht ließ er sich mit Wasser gar nicht lösen, und man brauchte andere Flüssigkeiten, um ihn zu entfernen.

Tränen zum Beispiel.

Dass Tränen funktionierten, war ja allgemein bekannt.

Ich hatte es selbst gesehen: bei Victoria einmal und im Fernsehen ziemlich oft.

Ich zählte von 10 runter, dann riss ich die Augen auf und starrte in den Spiegel über dem Waschbecken.

Wie sagte mein Physiklehrer nach jedem seiner missratenen Experimente? – Wie Sie sehn, sehn Sie nichts.

Genau so war es jetzt auch.

Vermutlich hatte ich zu stark auf die Augen gedrückt, und jetzt waren die Linsen platt und mussten sich erst langsam wieder in den Ausgangszustand zurückdehnen.

Zum Glück war nach ein paar Minuten die Sicht wieder klar, und ja: Der Kajal war tatsächlich verschwunden.

Aber es gab auch eine schlechte Nachricht: Das Weiße meiner Augen hatte sich komplett verfärbt. Es starrte mich jetzt gefährlich rot aus dem Spiegel an, als wäre ich von einer exotischen Seuche befallen.

Oder Opfer einer Hyper-Allergie.

Oder ein weißes Kaninchen.

Überhaupt sahen meine Augen irgendwie aufgedunsen aus, weswegen die Sehschlitze umso winziger erschienen. Auch meine Augenhöhlen hatte es leider erwischt. Statt hautfarben waren sie jetzt blassrot mit einem lila Hauch. In diesem Zustand brach ich zehn nach sechs zum Abendbrot auf. Ich hatte die anderen extra vorausgehen lassen, um keine blöden Fragen beantworten zu müssen. Was hätte ich in diesem Augenblick für eine Sonnenbrille gegeben! Sogar das Gestell wäre mir egal gewesen.

Im Speisesaal herrschte hektisches Hin und Her, als ich zum zweiten Mal an diesem Tag zu spät durch die Schwingtür trat. Leute holten sich Essen vom Büfett, andere füllten aus dunkelgrünen Kübeln Tee in Aluminium-Kannen ab. Besteck klapperte auf Tellern herum, Stühle wurden gerückt, Stimmengewirr hing in der Luft, weshalb es mir gelang, mit gesenktem Blick halbwegs unbemerkt zum Tisch meiner Seminargruppe vorzudringen.

Sofort brachen sämtliche Unterhaltungen ab.

Als ich aufsah, blickte ich direkt in Frau Schneiders Gesicht. Ein paar der Mädchen stießen kleine Laute des Erschreckens aus.

In der linken Hand hielt Frau Schneider eine Gabel, auf die ein Stück Butterbrot mit Teewurst gespießt war. Sie starrte mich mit halbgeöffnetem Mund an.

Sie gehörte also zu jenen exaltierten Menschen, die eine Stulle mit Messer und Gabel aßen, dachte ich als Erstes.

Ich aß meine Stullen mit der Hand, genau wie mein Vater und mein Opa. Meine Oma aber war da zweigeteilt: An normalen Tagen nahm auch sie die Hand, aber zu Ostern, Weihnachten und anderen Festivitäten, wenn sie Bierschinken, Salami und Käse auf dem guten Porzellan anrichtete, das ihr mein Opa zur Hochzeit geschenkt hatte, benutzte sie dafür das Silberbesteck aus der hölzernen Schatulle mit Samtbeschlag.

«Mensch, Sie sehen ja aus wie ein Todeskandidat!», rief Frau Schneider, nachdem die erste Schrecksekunde zerstoben war.

Die Sorge in ihrer Stimme wirkte jetzt echt, anders als ihr halbherziger Tadel vorhin wegen unseres Zuspätkommens.

Ich antwortete nichts.

Stattdessen zog ich meine Schultern ein bisschen ein.

«Was haben Sie denn bloß, René?» Frau Schneider runzelte die Stirn.

«Weiß nicht», sagte ich, und zu meinem eigenen Entsetzen klang meine Stimme so schwach, als würde ich tatsächlich mit einem Bein bereits auf dem Friedhof stehen.

Eines der Mädchen reichte mir eine Tasse Tee.

Ich winkte ab: «Danke, ich kann jetzt nichts trinken.»

«Brauchen Sie einen Arzt?», fragte Frau Schneider und legte die Gabel ab.

Ich schüttelte den Kopf: «Das wär übertrieben, glaube ich.»

«Was wäre denn nicht übertrieben?»

«Ein bisschen Ruhe reicht wahrscheinlich», sagte ich, und weil ich merkte, dass mir der Magen knurrte – seit dem Frühstück mit meinem Vater hatte ich nichts mehr gegessen –, fügte ich hinzu: «und eine Kleinigkeit zu essen.»

Sofort schnappte sich eines der Mädchen eine Scheibe Brot und fing an, sie mit Butter zu beschmieren. Zwei weitere folgten ihrem Beispiel, und im Nullkommanichts stand ein schöner Stapel Stullen vor mir.

«Schaffen Sie es denn alleine bis ins Bett?», fragte Frau Schneider.

«Ich glaube schon.»

«Wirklich bedauerlich, dass Sie nun unsere Vorstellungsrunde verpassen.»

«Ja, leider.»

«Dann gute Besserung», sagte Frau Schneider, und wie ein Papageienchor plapperte unsere halbe Seminargruppe ihre letzten Worte nach: «Gute Besserung!»

So kam es, dass ich die Vorstellungsrunde unserer Seminargruppe verpasste. Meine Kommilitonen sollten für mich deswegen immer rätselhafte Wesen bleiben, ohne Herkunft, ohne Hobbys, ohne Träume und Pläne und Ziele, die sie womöglich allesamt an diesem Abend preisgegeben hatten. Kaum dass ich mir ihre Nachnamen einprägen konnte im Laufe der Zeit.

Kurz nach zehn kam Jens ins Zimmer zurück.

«Wie war’s denn?»

«Du hast was Wichtiges verpasst», sagte Jens, «wir haben die Gruppenleitung gewählt.»

«Das ist zwar einerseits schade», sagte ich, «aber andererseits ist es nicht schlimm.»

Zu dieser Zeit waren die entzündeten Augen längst wieder normal, wegen denen Frau Schneider vorhin vergessen hatte, sich abermals über meine Frisur zu beschweren und über meine nicht geputzten Schuhe.

Manchmal, dachte ich, wuchs aus etwas Schlechtem wider Erwarten doch noch ein Gutes.

Staat und Revolution

Dienstagmorgen waren es nur noch drei volle Tage, die ich im Ferienlager überleben musste.

Freitag um eins macht jeder seins, wie ein Bauarbeiter-Sprichwort sagte, und auch wir kamen eine Stunde später, am Freitag um zwei, hier wieder raus. Dann stand mein Vater mit seiner Überpünktlichkeit hoffentlich schon auf dem Ferienlagervorplatz, um mich zurück nach Potsdam zu fahren.

Pi mal Daumen hatte ich dort zwei Tage Zeit zum Verschnaufen: den Rest vom Freitag, den kompletten Sonnabend und den Großteil vom Sonntag.