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Als Sieglinde M. Kolb sich entschloss, dieses sehr persönliche Buch anhand ausgewählter Lebensberichte zu schreiben, lagen bereits unglaubliche, aber auch unsägliche Erfahrungen, Erlebnisse und Geschehnisse hinter ihr. Sie wollte sich nicht mehr länger damit zufriedengeben, dass die Gabe der Hochsensibilität und die in beide Richtungen außergewöhnliche Tiefe von Wahrnehmungen und Gefühlen zu Unrecht so wenig Wertschätzung erfährt. Mit ihrem Buch möchte sie einen wertvollen Beitrag für mehr Akzeptanz in unserer Gesellschaft leisten. Ihre Hochsensibilität und Wahrnehmungsbegabung begleitet die Autorin bereits seit Anbeginn ihres Lebens, als es die Bezeichnung Highly Sensitive Person – kurz HSP – für diese Personengruppe nach Dr. Elaine Aron noch gar nicht gab. Heute weiß man, dass etwa zwanzig Prozent aller Menschen mit Hochsensibilität ausgestattet sein könnten. Sieglinde Kolb ist überzeugt, dass HSP ein enormes Geschenk sowohl für die Gesellschaft als auch für die Betroffenen selbst sein kann. Sie glaubt, dass hochsensible Menschen in unserer schnelllebigen Zeit dringender denn je benötigt werden, denn sie erfassen Situationen und Chancen lange bevor andere Menschen auch nur darüber sprechen. Dieses freie Humankapital gilt es ihrer Meinung nach zu erkennen und den überaus wertvollen Vorsprung und Zugewinn in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen sinnvoll zu nutzen.
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2024
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HSP ist meine Stärke.
HSP ist deine Stärke.
Widmung
Für meinen großen Bruder Harald, dem es erst zum Lebensende hin durch seine unheilbare Erberkrankung väterlicherseits vergönnt war, seine Seele und die doch so sensible Seite völlig zu offenbaren.
Es war ihm vorher nicht möglich, seine lebenslang antrainierte, mentale Stärke durchlässiger zu gestalten. Er gestattete es sich einfach nicht. Jedes Schwächezeigen hätte ihn wohl demnach seiner persönlichen Souveränität beraubt.
Wie gut, dass es das Schicksal anders wollte.
Mir als seiner besonders nahen Bezugsperson tat es so unendlich wohl zu erleben, wie unsere Seelen gemeinsam seinen letzten, tapferen Weg liebevoll und in gegenseitiger Wertschätzung gegangen sind. Hand in Hand.
Mom? Mom??
Du hattest immer schon … alles gesagt. Hab’s nur … so … nie gewusst.
Schlafe nun sanft, denn jetzt habe ich … der Welt … alles gesagt.
Ganz bewusst.
Ich verneige mich tief vor dir, denn du bist bei mir. In
Sieglinde M. Kolb
Jupiterkind
HOCHSENSIBILITÄT
ist meine Stärke
Eine autobiografische Geschichte,
die Mut macht, mit HSP zu leben
Impressum
© 2024
Sieglinde M. Kolb, Frankfurt am Main
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Lektorat: Christin Gruber-Scheuermann,www.words-and-more.de
Buchcover Design: Bodo Bertuleit, www.dein-buchcover.de
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort
Kapitel 1 Meine Kindheit
Kapitel 2 Jugendjahre, die keine Jugend waren
Kapitel 3 Erste Berührung mit Klassik und Gesang
Kapitel 4 Privatsekretärin eines Opernstars
Kapitel 5 Wunderbare Künstlerwelt
Kapitel 6 Von Reisen und Raketen
Kapitel 7 Karriere im Bankenwesen
Kapitel 8 Der Traum vom Auswandern
Kapitel 9 Mein Held Patch Adams
Kapitel 10 Fieses Mobbing in der Behörde
Kapitel 11 Ach Herzilein
Kapitel 12 Endlich Gewissheit: Ich bin eine HSP
Kapitel 13 Mein Leben mit HSP
Kapitel 14 Schwester „Mini-me“
Kapitel 15 Ärzte und der würdevolle Umgang mit Patienten
Kapitel 16
Wenn du jemals die Gelegenheit haben wirst, eine „Highly Sensitive Person“ – kurz HSP –, Neurosensitive oder Wahrnehmungsbegabte anzutreffen, schätze dich glücklich. Sie sind dein Gewinn. HSP können dir unschätzbare Dienste leisten und dich lotsen durch die unglaublichen Wege und Wirren einer so hochsensiblen Seele. Wenn dein Inneres bereit ist, sich zu öffnen.
Das tiefe Verständnis und das behutsame In-Worte-fassen von oft unsagbaren inneren Vorgängen und einzigartigen Erlebnissen, wie nur du sie in dir trägst, können diese Menschen ans Tageslicht holen. Nur dort finden sich Klarheit und Sinn. Bist du bereit, dich selbst zu verstehen? Zu sehen, wie tatsächlich alles im Leben zusammenhängt? Wie wirklich jedes Ereignis, jeder nahestehende Mensch, jede besondere Situation und vor allem unsere Reaktion darauf von Anfang an unseren künftigen Lebensweg prägt oder gar bestimmt?
Es ist unsere ureigenste Verantwortung, für uns selbst einzustehen.
Und wage es, viele Fragen zu stellen. Immer und überall.
Ich möchte dich mitnehmen auf meinen Weg, der von vielen Erkenntnissen geprägt ist, wie sie wohl nur ein etwas gereifter Mensch zusammentragen kann.
Mein Wunsch ist es, viele Menschen zu erreichen, die ich motivieren darf, nie aufzugeben. Ich möchte dir zeigen, wie du dir mit dem tapferen und bewussten Durchleben von oft umwälzenden Ereignissen eine Resilienz erarbeiten kannst, die fortwährend trägt. Wie du dadurch eine wertvolle Stärke aufbauen kannst, um sie so auch anderen Menschen in seelischer Not schenken zu können.
Vielleicht findest du dich in der ein oder anderen Erzählung wieder. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn du einige Anhaltspunkte finden könntest, die dir deine Welt erklärbarer machten.
Abendrot. Wie ein sanfter rosa Teppich lag der Himmel über den hügeligen Wäldern hinter den Häusern im Westen der Stadt. Meine Mutter war mit mir auf dem Nachhauseweg. „Schau mal, die Engelchen backen Kuchen!“, sagte sie sanft. Was für ein herrlicher Anblick. Ach, wie wohl das tat. Eine Wärme, die mich sanft umarmte. Es hatte etwas Heimeliges. Heimkommen war einfach nur schön. Auch heute noch kommt dieses Gefühl immer wieder in mir hoch, wenn ich einen rosaroten Abendhimmel sehe. Im Bruchteil einer Sekunde ist die Emotion wieder da und ich fühle mich wie damals als Kind.
Schon früh in meinem Leben boten sich mir eine Menge Chancen, die breite Palette all unserer Emotionen kennenzulernen, einschließlich der weniger schönen. Schließlich waren die Jahre nach dem fürchterlichen Weltkrieg sehr entbehrungsreich. So kam es auch, dass meine Mutter erst nach meiner Geburt ihre erste eigene Wohnung beziehen konnte. Da hatte sie schon drei Jungs im Alter von ein bis neun Jahren, die sie bei den Omas am anderen Ende der Stadt untergebracht hatte. Obschon sie ihrer Aussage nach eigentlich nie wirklich Kinder gewollt hatte, lag ihr sehr viel daran, nun alle in einem Zuhause zu vereinen. Nachdem meine Brüder zuvor ein für diese Zeiten doch recht geordnetes, ruhiges Leben führen durften, das ihnen genügend eigene Aufmerksamkeit versprach, fanden wir dann alle auf engem Raum zueinander. Zu dieser Zeit war auch unser Vater noch mit von der Partie. Also sechs Menschen auf deutlich weniger als fünfzig Quadratmetern, mit Holzöfen und fließend Kaltwasser. Zweite Etage mit Balkon. Vorne die Straße, hinten der Wald, seitlich ein Tante-Emma-Laden. Mehr nicht. Wir lebten in der wohl größten Garnisonsstadt der damaligen Zeit. Französisch hörten wir beinahe so oft wie unsere Landessprache. Damals gab es neben den teilweise umzäunten „Franzosen-Siedlungen“, wie wir sie nannten, weithin praktisch nur Arbeiterwohnungen oder -siedlungen sowie in den besseren Gegenden die Wohnungen oder Häuser der wohlhabenderen Menschen. Rückblickend stellte der Umzug in die neue Wohnung einen Wendepunkt in Mutters Leben dar.
Das einzige Mädchen unter Brüdern zu sein verschaffte mir eine Sonderstellung innerhalb meiner Familie. Ich brachte die allseits erhoffte Abwechslung in unser Familienleben und schien vor allem für meinen großen Bruder Harald ein echter Schatz zu sein, so liebevoll, wie er später über mich sprach. Auch meine Patentante, die mir gefühlsmäßig immer sehr nahestand und sich später als tragender Pfeiler für mein weiteres Leben herausstellen sollte, war entzückt.
Da war ich also. Ein kleines sensibles Wesen mit großen wachen Augen und – zumindest im ersten Jahr – noch fast ohne Haare auf dem Kopf. So auszusehen brachte mir innerhalb unserer Familie gleich den Spitznamen „Chruschtschow“ ein.
Angekommen in einer Nachkriegswelt ohne jede Annehmlichkeit. Die erste Ehe meiner vielfach traumatisierten Mutter ging da gerade in die Brüche. Und mit diesem für mich praktisch kaum erlebten, dauerfremdgehenden Vater gingen auch das bisschen Geld zum Leben und der einzige Fotoapparat. Bilder sind immer ein Stück Geschichte. Bis zur Trennung meiner Eltern gab es viele Aufnahmen meiner Brüder, die die ersten Jahre ihrer Entwicklung festhielten, von mir verblieben leider nur drei Bilder als Baby. Es sollte viele Jahre dauern, bis sich meine Mutter ihren eigenen Fotoapparat leisten konnte. Sie fotografierte übrigens sehr gerne und war dabei auch wirklich begabt.
Den Erzählungen nach und wie ich es selbst später erlebte, war meine Mutter mit ihrer neuen Situation nervlich völlig überfordert, musste sie ja wegen der Trennung neben der Erziehung auch noch das Geld für unsere Versorgung organisieren. Diese für alle offensichtliche Überforderung empfand sie als große Demütigung. Nachdem sie die Scheidung eingeleitet hatte, schwamm sie zudem auf den Wellen der damit verbundenen Gefühlsschwankungen. Dieser Zustand wirkte sich natürlich auf unser aller Leben und Alltag aus. Ich spürte die Anspannung mit jeder Faser. Etwas Bedrückendes lag wie Blei in der Luft.
Die einzigen Babybilder, die es von mir gibt
Meiner Mutter gelang es nicht immer ausreichend, den Erfordernissen unseres Daseins gerecht zu werden und gleichzeitig für alle zu jeder Zeit da zu sein. Aber immerhin war sie da und das ließ mich auch später als Erwachsene noch dankbar auf meine Kindheit zurückblicken. Ich liebte sie dafür, aber auch grundsätzlich. Ihre eigenen, unbehandelten Traumatisierungen machten sich in wiederkehrenden Erkrankungen bemerkbar, sodass sie sich oft tagsüber hinlegen musste. Deswegen war sie leider für uns Kinder nicht immer gut erreichbar. Vielleicht musste sie neben ihren tiefen Traumatisierungen auch noch depressive Phasen durchleben. Aus heutiger Sicht halte ich das für sehr wahrscheinlich, denn spätere Gespräche zwischen meinem Bruder Harald und mir ergaben im Rückblick, dass Gefühle zu zeigen oder darüber zu sprechen für meine Mutter oder überhaupt in der weiteren Familie nicht üblich war. In dieser Generation sprach fast niemand offen über seine Gefühle.
Fachliche Hilfe hätte meiner Mutter sicherlich sehr gutgetan. Aber stattdessen kämpfte sie sich tapfer so durch, weil sie für uns Kinder da sein wollte und auch weitermachen musste. Während ihrer dunklen Zeiten vertauschten sich teilweise die Rollen zwischen uns Kindern und Mutter. Aus psychologischer Sicht war das für uns Kinder mit Sicherheit nicht optimal.
Eines Tages hatte meine Mutter schweren Herzens entschieden, mich wegen einer dringenden Besorgung in dem kleinen Geschäft nebenan kurz allein in der Wohnung zu lassen. Damals nahm man kleine Kinder nicht mit zum schnellen Einkauf oder gar in ein Restaurant, falls sich das überhaupt jemand leisten konnte. Anscheinend konnte sie sich auf mich verlassen, dass ich ihren Anweisungen exakt Folge leisten würde. Mit meinen geschätzt zwei Jahren bekam ich also deutliche Instruktionen, in der kleinen Küche genau dort in der hinteren Ecke auf der Couch, unter der Kuckucksuhr, sitzen zu bleiben, bis Mutter wiederkäme. Da ich wohl gewöhnlich folgsam war, tat ich das dann auch. Bis zu dem Moment, als es an der Wohnungstüre klingelte. Das bedrohliche, ständige Klingeln warf mich emotional völlig aus der Bahn. Da Mutter erst kurz weg war, konnte sie es nicht sein. Das versetzte mich mächtig in Unruhe. Am Platz verbleibend schrie ich schier unendlich. Fremde Situationen machten mir einfach Angst. Ich hatte ja meinen Auftrag und es war keine Hilfe in Sicht. Was für ein Dilemma. In dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als konzentriert aufzupassen, wann meine Mutter zurückkommen würde. Ich wagte nicht, mich vom Platz wegzubewegen. Somit konnte ich, was ich auch nicht durfte, keine Wohnungstüre öffnen, wenn es klingelte. Erinnere ich mich zurück, so war diese Situation für mich das Schlüsselerlebnis für ein Gefühl des Verlassenseins, nichts Zuverlässiges zu erleben und auf sogenannte Versprechen nichts geben zu können. Alle Ereignisse erschienen mir in meiner Kindheit größer, tiefer und dramatischer, als diese für andere gewesen sein könnten. Jedenfalls war für mich damit die Sache mit dem „Urvertrauen“ fürs Erste dahin.
Offensichtlich sorgten sich die Nachbarn bereits um mich, als meine Mutter wieder eintraf und man mich dann gemeinsam beruhigte. Meine Mutter kam natürlich nicht ohne moralische Schelte durch die Nachbarin davon. So klein ich auch war, mein Nervenkostüm war nun gründlich durchgerüttelt.
Fachleute mögen jetzt entgegnen, dass ich mich doch nicht, schon gar nicht so präzise, an solch sehr frühe Kindheitsereignisse erinnern könne. Ich aber kann das. Dieser Vorfall war ja nicht der einzige seiner Art. Häufig war wohl niemand verfügbar, um auf mich aufzupassen, oder aber meine Mutter war in der Sache etwas zu naiv. Ihre eigene strenge, strafend-katholische, aber eben nicht aufklärende Erziehung brachte mit Sicherheit eine gewisse Naivität mit sich. Auf das Erwachsenenleben schien sie einfach nicht richtig vorbereitet worden zu sein. Vorkommnisse wie diese nahm ich stets wie eine schwere Tragödie wahr. Ich war doch noch so klein. Außerdem gab es bei mir ohnehin nie so etwas wie einen „unschönen Einzelfall“. Bei mir führten prägende emotionale Erlebnisse zu sehr unterschiedlichen Reaktionen: Entweder empfand ich sie als explosive Dramen oder im günstigsten Fall als der Himmel auf Erden. Jede mich emotional ergreifende Situation nahm ich als höchst alarmierend oder euphorisierend auf. Und es war niemand da, der mir gezeigt hätte, wie man vernünftig mit solchen Impulsen umgeht. An ein sogenanntes normales „Dazwischen“ oder „Mittelding“ kann ich mich in meiner Kindheit nicht erinnern. Nur bei Oma und meiner Patentante kam ich mitunter zur Ruhe. Hätte man damals schon etwas von Hochsensibilität – meist abgekürzt als HSP – gewusst, hätte mich mein Umfeld vielleicht besser verstanden. Nun ja, auf dieses Verstehen hoffe ich heute immer noch.
In meiner Kindergartenzeit dachte ich offensichtlich auch schon viel nach. Nicht nur über meine täglichen Beobachtungen oder über besondere Vorkommnisse, sondern auch über „wichtige Fragen“, die sich mir in der Außenwelt stellten. Schon mit drei oder vier Jahren zerbrach ich mir zum Beispiel gründlich den Kopf darüber, warum eine meiner Erzieherinnen „Rita“ hieß und eine weitere „Ma-Rita“ – für mich ergab das keinen Sinn, dass man der zweiten Rita noch ein „Ma“ voranstellte. Ich wurde dann aber über die Gültigkeit beider Namen aufgeklärt, womit ich mich einigermaßen zufrieden gab. Auch das sind Erinnerungen, nur ohne Drama.
Ein anderes prägendes Ereignis war, als ich in unserem Schlafzimmer im oberen horizontalen Fach des Kleiderschranks eine Schusswaffe sah. Wie alt ich bei dieser Erinnerung war, weiß ich nicht genau, aber ich muss noch sehr klein gewesen sein. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter in dem Schrank etwas deponierte oder Wäsche umverteilte und dabei die Waffe anders lagerte. Gewöhnlich folgte ich meiner Mutter auf Schritt und Tritt, wollte immer bei ihr sein. Sie liebte es einerseits, aber manchmal auch nicht. Praktisch wie sie war, hatte sie mir extra ein eigenes Fußbänkchen aus Holz als Sitzgelegenheit besorgt, mit dem ich in der Wohnung einfach weiterziehen konnte, wohin meine Mutter sich auch bewegte. So verblieb ich brav und stets gerne beobachtend in ihrer Nähe, bis sie den Standort wechselte. Ich muss schon als Kind sehr wissbegierig gewesen sein, denn ich fand es äußerst interessant, beim Zusehen etwas lernen zu können. Daran hat sich übrigens bis heute nichts geändert. Meine Mutter war offensichtlich der Meinung, dass ein so kleines Menschlein gar keine richtige Vorstellung davon habe, was es mit der Waffe auf sich haben könne. Selbst heute gehen sogar noch die meisten Psychologen davon aus, dass man sich an Ereignisse vor dem dritten Lebensjahr nicht wirklich erinnern kann. Aber bekanntlich war das bei mir anders, und hören konnte ich darüber hinaus auch noch. Meine Sinne schalteten sich nicht einfach mal so ab, nur weil etwas Geheimnisvolles vor meinen Augen geschah oder es die statistischen Auswertungen von Fachleuten vorgeben könnten. Kein Wunder, denn ich passte ohnehin noch nie in eine Statistik.
Die Waffe gehörte übrigens meinem Vater, der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bei uns wohnte. Meine Mutter hatte sich von ihm getrennt, als ich eineinhalb Jahre alt war. Für mich war es natürlich damals genauso unerheblich wie für die Polizisten heute, ob die Waffe echt oder nur eine Schreckschusswaffe war. In erster Linie ist eine Waffe immer eine potenzielle Bedrohung. Viele Jahre später sollte ich erneut mit der Waffe konfrontiert werden und erst dann zeigte sich mir die vermutliche Auflösung.
Wie eng ich mit Harald verbunden war, zeigte sich schon seit meiner frühesten Kindheit. Mutter war infolge der schweren Zeiten, die sie als Jugendliche im Krieg durchlitten hatte, lungenkrank geworden. Später kam auch noch Asthma dazu. Jedenfalls schien es dringlich zu sein, sie in eine Kur zu schicken. Eine junge, alleinerziehende Mutter. Es blieb nichts anderes übrig, als alle vier Kinder für einige Wochen unterzubringen. Während einer meiner Brüder in der Familie betreut werden konnte, wurden wir anderen Kinder in Kindererholungsheimen untergebracht. Harald und ich kamen nach Bad Buchau am Federsee in Süddeutschland. Da war ich gerade drei Jahre alt. Ich kann mich an einiges aus dieser Zeit erinnern und auch, dass ich wohl über weite Strecken immer nur am Weinen war. Für mich war es unendlich schmerzlich, von meiner Mutter getrennt sein zu müssen und zudem noch in die Fremde geschickt zu werden. Den Grund konnte ich anscheinend nicht richtig verstehen, für mich war es einfach nur eine Trennung, die ich garantiert nicht wollte. Glücklicherweise hatte man mir meinen Harald mitgegeben. Da er aber ein Junge war und außerdem einige Jahre älter als ich, durften wir nicht zusammenwohnen. Damals galt praktisch überall in Gesellschaft und Kirche die Geschlechtertrennung. Wie ich das fand? Natürlich zum Heulen. Ich wurde im Erdgeschoss in einem kleinen Saal untergebracht, in dem etwa sechs weiße Kinderbettchen, jeweils drei an den Wänden gegenüber, aufgestellt waren. Meines war das erste oder zweite Bettchen direkt an der Türe. Scheinbar wurde die Geschlechtertrennung in meinem jungen Alter noch nicht ganz so strikt gesehen, denn ich erinnere mich, dass neben mir ein Junge mit einem Tiernachnamen sein Bettchen hatte. Auch er heulte ziemlich oft.
Die Gruppen der älteren Jungen oder Mädchen und die der Kleinkinder hatten jeweils eigene Betreuungsinhalte und Ausgänge. Manchmal kreuzten sich die Wege der verschiedenen Gruppen vor dem Haus. Während wir Kleinen korrekt in Zweierreihe ins Haus zurückkehrten, kam die Gruppe meines Bruders in gleicher Formation heraus. Oder umgekehrt. Natürlich erkannte ich Harald binnen einer Millisekunde und wollte unverzüglich zu ihm rennen, um ihn zu umarmen. Das wurde aber von den Betreuerinnen beider Seiten sehr deutlich untersagt. Sie hatten Bedenken, dass ich mich sonst nicht im Heim einfinden würde und noch mehr weinen könnte. In solchen Momenten zeigte sich Haralds weiches Herz sehr deutlich, denn er folgte den Anweisungen der Erzieherinnen in diesem Fall nicht. Zu herzzerreißend muss es auch für ihn gewesen sein, mich so aufgelöst zu sehen. Ich war doch ein kleines Kind, das man soeben erst der Mutter entrissen hatte, so fühlte es sich zumindest für mich an. Aus erzieherischen Gründen sollte das aber Folgen für ihn haben. Er wohnte mit seiner Gruppe in der ersten Etage, wohin er immer dann geschickt wurde, wenn er seine Strafe abarbeiten musste, während die anderen Jungen zum Ausflug durften. Die Strafe dafür, mich sehen und herzen zu wollen, war es, jeweils einen Aufsatz nach Themenvorgabe zu schreiben. Ich würde heute fast annehmen, dass da sein Berufsweg schon vorgezeichnet war oder eben einfach in ihm steckte. Als Vielleser bereitete es ihm nämlich schon damals nicht die geringste Mühe, eine von ihm neu erdachte Geschichte zu Papier zu bringen, die auch noch ein besonderes Leseinteresse bei den Erzieherinnen bewirkte. Zum Erstaunen des Personals war er sogar recht zügig mit dem Schreiben fertig. Ja, das war mein Harald. Wenn also ein Menschlein wie ich, das sich in einem dauerhaft schier unüberwindbaren Seelenschmerz befand, einen solch herzlichen Beistand mit persönlichem Einsatz des Bruders erleben durfte, dann nenne ich das einfach nur Liebe. Auch Liebe, die in frühen Jahren erfahren wird, prägt und verbindet ein Leben lang.
Ein Ausflug in die Umgebung blieb mir besonders gut in Erinnerung, weil er für mich ein unglaubliches Erlebnis war, das ich mir nicht sinnvoll zusammenreimen konnte. Meiner Gruppe wurde ein Waldstück gezeigt, auf dessen Boden wir geradezu aufgefordert wurden, eifrig zu hüpfen. Hei, das machte Spaß. So etwas hatte ich bis dahin noch nie und auch später nie wieder irgendwo erlebt, denn der Boden schlug Wellen, die man über eine weite Strecke hinweg so wallend mit den Augen verfolgen konnte. Das schrie förmlich nach Wiederholungen. Der Waldboden war zwar fest, doch irgendwie untendrunter so weich, als wäre dort ein See versteckt. Ich glaube, für die Betreuerinnen war das wohl immer ein Fest, die neuen Gruppen an diesen Ort zu führen, weil das Erstaunen einfach riesig war. Und Kinderaugen so glänzen zu sehen, ist schlicht unbeschreiblich. Außer diesem Ausflug gab es nur die üblichen Beschäftigungsprogramme im und am Haus für die jeweiligen Altersgruppen. Nach mehreren Wochen durften Harald und ich endlich wieder in unser altes Leben zurückkehren.
Mein Leben verlief wie bei allen Menschen nie nur geradeaus, sondern erfolgte in Wellen. Vor allem in emotionalen.
An einem der besonderen Tage, als ich etwa elf Jahre alt war, saß ich wie so oft bei der etwa gleichaltrigen Freundin meiner Mutter, die unter uns wohnte. Obwohl ihre Räume in Zigarettenrauch getränkt waren, ging ich gerne zu ihr, denn sie hatte ein ruhiges Zuhause und kochte gerne. Ich liebte vor allem ihre so herrlich duftende Hühnersuppe, von der sie mir bei meinen Besuchen stets etwas abgab. Von Zeit zu Zeit schüttete ich bei ihr mein Herz aus bezüglich meiner häuslichen und familiären Verhältnisse. Oft hatte sie dann auch guten Rat für mich. Einmal schien es fast so, als ob sie meine Mutter im Hinblick auf ihren ehemaligen Mann verteidigen wollte, denn sie offenbarte mir an dem Tag ein Geheimnis, für das sie wohl Zeugin und gleichzeitig meine aktive Beschützerin gewesen war. Demnach hatte mein Vater, als ich etwa gut ein Jahr alt gewesen war, während einiger Ehestreitigkeiten meiner Mutter gedroht, mich vom Balkon zu werfen. Seine Drohung demonstrierte er, indem er mich kleines Menschlein mit beiden Armen ausgestreckt weit über den Balkon hinausragend in die Luft hielt, bereit, die Hände zu öffnen. Der Balkon befand sich im zweiten Stock. Darüber hinaus soll er bei anderer Gelegenheit gedroht haben, mich mit heißem Öl zu übergießen. Diese Geschichte wurde mir später in meiner Jugend auch von anderen Personen immer wieder erzählt. Ungeheuerlich, dachte ich nur. Unfassbar, dass mir jemand, der mich auch noch gezeugt hatte, so ans Leben wollte. Meine Mutter konnte all das auf meine Rückfrage hin bestätigen. Einerseits war das natürlich ein besonders drastischer Hinweis für den Charakter dieses Mannes, andererseits weiß ich nicht, ob man so eine brutale Geschichte einem so jungen Menschen so deutlich berichten sollte. Leider scheint es in meinem Umfeld keinen Erwachsenen gegeben zu haben, der die psychologische Tiefe dieser Ereignisse begriff und abschätzen konnte, was das mit meiner Seele machen könnte. Zunächst einmal suchte ich in meinen jungen Jahren nach dem Sinn dieser Aktionen. Ich wollte verstehen, was nicht zu verstehen war. Als Kind ging das ohnehin noch nicht. Wieso sollte mein bis dahin noch ungelebtes Leben schon so früh zu Ende gebracht werden? Nach meinen heutigen Überlegungen wollte mein Vater in Wirklichkeit nicht mich verletzen, sondern meiner Mutter maximalen Schmerz zufügen. Da ich als Kind nicht in der Lage war, die Ereignisse richtig einzuordnen, verlegte ich mich hilfsweise darauf, die dramatischen Gesamtumstände meiner Mutter zu verstehen. Das verstärkte meine ohnehin schon vorhandene Ablehnung zu meinem Erzeuger, die bis zu seinem Tod andauerte.
Meine ersten Schuljahre waren leider durchweg geprägt von Lehrpersonen und Lehrmeinungen, die dem damals noch aus Kriegszeiten obrigkeitshörigen Menschenschlag zugeordnet werden konnten. Die gängige Prügelstrafe galt für mich im Besonderen, weil ich Linkshänderin war. Selbstverständlich musste mir das ausgetrieben werden, und die angeblich beste Zuchtmethode waren Prügel. Was auch immer man über Linkshänder hätte positiv denken können, war unwichtig, es war einfach nicht das „schöne Händchen“. Wohl niemand bedachte oder ahnte, dass es auch im Gehirn eine Entsprechung dafür geben könnte. Bevor also eine Schulstunde so richtig begonnen hatte, und ich immer noch mit der linken Hand schrieb oder zeichnete, musste zunächst die „gebotene Ordnung“ wiederhergestellt und meine vermeintliche Aufmüpfigkeit abgestellt werden. Meine Lehrer kamen jeweils mit einem dünnen Rohrstock auf mich zu, ließen mich die linke Hand weit vor mir ausstrecken und gaben auf die inneren und äußeren Handflächen je zehn Schläge drauf. Bei weiterem „Ungehorsam“ wurde das wiederholt und ich gleichsam gebeten, mich in die hinterste Reihe zu setzen. Dort sollte ich mit dem „schönen Händchen“ weiterschreiben. Was ich natürlich nicht tat, denn es erschloss sich mir kein Sinn dahinter. Zudem hatte sich bei jedem Versuch, auch bei den Scheinversuchen, meine rechte Hand stets schmerzhaft verkrampft. So ließ sich diese natürlich erst recht nicht nutzen. Die Lehrkräfte vermuteten wohl Starrsinn dahinter, deswegen prügelten sie und verhielten sich weiterhin in der beschriebenen Art und Weise. Und dies bis ins dritte oder vierte Schuljahr hinein!
In der Klasse gab es noch einen Jungen, der Linkshänder war. Der wurde aber womöglich auch von Zuhause angehalten, sich zu fügen. Was er nämlich auch tat. Was ihm blieb, war eine schlechte Handschrift und – wie ich später hörte – nicht so gute Noten in elementaren Fächern.
Meine Mutter fand es unerhört, was ich da erleben musste. Wie hart man mit mir in der Schule umging, vor allem, weil ich daran ja unschuldig war. Ein Einschreiten in dieser scheinbar pädagogischen Vorgabe wäre aber zwecklos gewesen. So litt sie mit mir. Auch ihre Mutter zeigte größtes Verständnis für mich, da sie selbst beidhändig befähigt war. Zum Glück kam dann nicht nur die Zeit für den Schulwechsel in einen anderen Stadtteil, sondern auch die Abschaffung der Prügelstrafe. Hurra!
Obwohl ich damals noch sehr jung war, spürte ich bereits, dass es richtig war, bei mir zu bleiben und weiter tapfer die für mich richtige, die linke Hand, zu benutzen. Heute glaube ich, dass auch dieser einsame Kampf mir innere Stärke sowie Resilienz gebracht hat. Wohin würde es denn führen, wenn man sich für andere verbiegen würde, völlig entgegen der eigenen, angeborenen Struktur? Möglicherweise errang ich so den ersten Erfolg für meinen Selbstwert.
Die Ironie der Geschichte war, dass ich meine einzige Eins im Zeugnis dieser Schule in der Kategorie „Schrift“ erhielt. Nach schmerzvoller Demütigung hatte ich mich also durchgesetzt. Und für mich persönlich auch gewonnen.
Mit elf Jahren musste ich zu meiner ersten Operation ins Krankenhaus. Es sollten die Mandeln entfernt werden. Ich empfand die Operation als sehr beängstigend und im Rückblick fühle ich mich an historische Arztfilme in „Frankenstein-Manier“ erinnert: ohne Narkose, es gab zum Ende hin nur etwas Äther, die Akteure in abenteuerlichen Vorgehensweisen arbeitend. Die Operation wurde abwechselnd in einem dunkeln und einem weiteren Raum vollzogen. Für mich war es der pure Horror, aus dem es kein Entrinnen gab. Und üblicherweise gab es keinen familiären Beistand für mich. Mir wurde zwischendurch immer wieder eine braune Flüssigkeit in den Rachen gespritzt, die wie verbrannte Soße roch und auch so schmeckte, als sie meinen Hals hinunterlief. Ekelhaft. Ob diese zur Betäubung dienen sollte, konnte ich nicht wirklich herausfinden. Ich weiß nicht mehr, wie lange das gesamte Procedere andauerte, mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Auch war ich vollkommen überwältigt von den vielen Eindrücken. Die klirrend metallenen Geräusche der genutzten und abgelegten Bestecke, die schlimmen Gerüche der Materialien und Lösungen, die Anweisungen des Arztes an die Schwester in Ordenstracht, die Dunkelheit des Raumes und meine eigene Verlorenheit innerhalb dieser Situation. Wie schön wäre eine Narkose gewesen.
Die schlechten Eindrücke der Operation wirkten noch lange bei mir nach. Wenn meine Patentante, die in einer Apotheke arbeitete und sich nur ungern hausfraulich betätigte, gelegentlich meine Oma beim Kochen entlastete, machte sie den Sonntagsbraten. Leider ließ sie sich nur allzu gerne von mir beim Kochen ablenken, was immer mal wieder dazu führte, dass sie den Braten anbrennen ließ. Die unter diesen Voraussetzungen hergestellte Soße war dunkelbraun und roch ganz so wie die Brühe, die man mir bei der Mandel-OP in den Rachen gespritzt hatte. Ich wusste nicht, wie ich meiner Patentante meine Abneigung gegen ihre Soße verdeutlichen sollte, schließlich war ich eher dafür bekannt, gerne die Beilagen des Essens in Soße ertränken zu wollen. Diesmal aber eben nicht. Wie ich mich freute, wenn Oma wieder kochte. Würde mir der Geruch heute begegnen, so würde ich garantiert noch immer genauso negativ darauf reagieren. So wie ein Schmerzgedächtnis sich tief einbrennt und uns erinnert.
Früher musste man bei einer Mandel-OP noch zehn Tage ins Krankenhaus. Als ich auf der Station lag, sah ich oft traurig zu, wie die anderen Kinder zu allen erlaubten Zeiten immer wieder Besuch empfingen. Und was man ihnen alles so mitbrachte! Ich drehte mich meist im Bett um, weil mich der Anblick schmerzte. Da war sie wieder, diese Armut. Bei meiner Patentante wusste ich, dass sie nur in ihrer Mittagspause kommen konnte, aber dann war sie da, nahm lange Wege mit dem Bus in Kauf. Brachte neben Süßigkeiten auch mal ein Buch mit. Wie immer war sie mir sofort sehr zugewandt, was meiner Seele richtig guttat. Wir teilten nicht nur den gleichen Vornamen, sondern meiner Einschätzung nach auch das Seelen- und Gefühlsleben. Die Beziehung zu meiner Patentante war eine starke, lebenslange Verbindung mit großem Verstehen auf beiden Seiten. Sie war dieser eine Mensch in meiner Kindheit, den die Psychologen als Mindestanforderung benennen, damit ein in ungünstigen Umständen lebendes Kind mit weniger seelischen Schäden aufwachsen und zudem eine gewisse Resilienz erwerben kann. Meine Mutter, die sich zuhause um alles kümmern musste, kam zumeist erst kurz vor Ende der streng einzuhaltenden Besuchszeiten, oft mit einem Eis für den angegriffenen Rachen. Auch für sie waren die Wege lang und das Busgeld eigentlich nicht im Budget vorgesehen. Für mich aber waren diese späten und stressigen Kurzbesuche ganz so, als würde einem Esel eine Karotte hingehalten, die er nie ganz erreichen könnte. Es war nie genug für mich. Meiner Mutter fehlte wie immer die Zeit, um sich auf mich zu konzentrieren, und das noch in Ruhe. Natürlich hatte sie ihr Bestes gewollt und versucht. Ich weiß das, konnte es aber so nicht werten. Da musste für eine Mutter aus meiner Sicht mehr drin sein. Meine Mutter und ich hatten lebenslang ein etwas ambivalentes Verhältnis zueinander, da ich mich von ihr einfach nie wirklich in der Seele verstanden fühlte und sie mit meiner hohen Empfindsamkeit nicht richtig umgehen konnte, dennoch liebte ich sie sehr. Meine Seele wurde emotional einfach nie satt. Nicht satt zu werden erzeugt Hunger. Das kann man mir und auch sonst wohl jedem betroffenen Menschen ansehen – auf die eine oder andere Weise. Wenn man denn zu sehen fähig ist.
Mit Jungs aufzuwachsen wäre eigentlich eine feine Sache, man könnte sich als Mädchen beschützt fühlen. Obwohl ich zumeist als eher ruhig und brav beschrieben wurde, so war ich schon früh eben auch ein kleiner Rebell, musste ich mich doch von Kindesbeinen an praktisch alleine durch alle Widrigkeiten kämpfen. Und ich machte gerne mal den Mund auf. Kämpferin halt. Meine Fragen wollten Antworten. Das ist auch heute noch so.
Mutter sagte zu allen Schulzeiten: „Wehrt euch selbst“, „Stellt nichts an, dann habt ihr auch keine Probleme“ oder „Ich komme nicht in die Schule“, bezogen auf unsere Verteidigung. Mir aber ging es darum zu erleben, ob und wer mir den Rücken stärken würde. Das schien mir offensichtlich zu fehlen. Nun ja, als Stütze blieben weiterhin nur mein großer Bruder Harald und meine Patentante.
Mutter zu sein war für sie einfach nicht das, was sie sich für ihr Leben vorgestellt hatte, erzählte mir meine Mutter immer wieder. Diese Sorgen, diese Verantwortung. Dieser Ernst des Lebens. Nach all den Entbehrungen des Krieges und der Armut, den Traumata und all den weiteren unglaublichen Schrecken, wie zum Beispiel die einer beauftragten, an ihr durch katholische Geistliche ausgeübten „Teufelsaustreibung“, schien es ihr erstrebenswert, sich erst einmal zu amüsieren, tanzen zu gehen und sich selbst der Welt zu zeigen. Immerhin war sie eine der schönsten Frauen der Stadt zur damaligen Zeit. Mit Mitte dreißig wurde dieses Foto von ihr gemacht, auf dem sie wie die einst berühmte Schauspielerin Liz Taylor aussah.
Da ich meine Umwelt und das Umfeld stets in feinsten Nuancen wahrnahm, spürte ich zumeist im Voraus, welche Situationen sich ereignen würden. Kündigte ich eine solche Ahnung meiner Mutter an, wurde das sofort abgetan mit Kommentaren wie „Das kannst du gar nicht wissen“ oder „Soweit kommt das gar nicht“ bis hin zur gefühlten Abwertung „Du bist aber auch empfindlich“. Doch in der Regel kam es dann doch so, wie ich es vorausgesagt hatte. Ich konnte es gar nicht fassen, wie wenig Glauben mir dabei geschenkt wurde. Schließlich wusste ich, dass man mir glauben kann.
Meine Godi, wie man eine Patin in Rheinland-Pfalz umgangssprachlich nennt, war meine persönliche Sonne. Mein Highlight, meine Unterstützung, meine Seelenstärkung, meine Verteidigung, mein Name, meine Welt. Es war wie eine Vorsehung, dass ausgerechnet sie meine Godi werden sollte. Und auch ein helles Licht für meine Familie. Bei ihr fühlte ich mich als Mensch geehrt. Als ihr Patenkind war ich ohnehin ihr ganzer Stolz, weswegen sie mich in den ersten fünfzehn Jahren gerne einfach so in ihrer Arbeit präsentierte. Sie konnte es nicht erwarten zu zeigen, wie wissbegierig und lernfähig ich in ihren Augen war. Ihr Chef testete mich spaßeshalber gerne im Aussprechen lateinischer Worte, die ich auf den Etiketten ausgestellter Apothekengläser ablesen sollte.
An meinen Geburtstagen kam Godi zu uns nach Hause, wusch mich in der Badewanne, deren Warmwasser sich aus dem dazugehörigen Holzofen speiste, und kleidete mich an. Meine Mutter konnte dies nicht tun, da sie leider lebenslang mit schweren Hautproblemen und offenen Händen zu kämpfen hatte. Schön rausgeputzt führte sie mich stolz mit dem Bus aus in die Stadt, um dort gemeinsam ein Geschenk für mich zu kaufen, welches ich mir in preislich angemessenem Rahmen aussuchen durfte. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut an eine Kinder-Taucher-Uhr mit einem hübschen bunten Rand. Später kehrten wir irgendwo ein, ich glaube in ein Café. Meine Patentante wurde auf der Straße von vielen Menschen erkannt, die wenigstens kurz mit ihr plaudern wollten. Wegen ihrer überaus zugewandten Art, die Menschen in der Apotheke zu bedienen, ihnen ein Ohr zu leihen oder sie zu beschenken, war sie unglaublich beliebt. Sie stellte mich jeweils voller Stolz als ihr Patenkind vor. Für mich war es eine Wohltat, wenn sie ihren Glanz mit mir teilte. Zusammen vermehrte sich anscheinend unser Glück. Es war stets ihre Absicht, mir einen schönen Tag zu bescheren, was ihr natürlich leicht gelang. Denn sie erfüllte nicht nur das Äußerliche in Form von Geschenken, sondern wärmte vor allem meine Seele mit ihrer Zuneigung. Mit dieser Extrazeit nur für mich. Und sie vergaß an solch einem Tag auch nicht meine armen Geschwisterkinder. So kam ich stets mit einer Riesentüte Bäckerware zurück von diesen Ausflügen. Sie war sozusagen eine Godi für alle. Ich sagte zwar immer, dass es nur meine sei, jedoch hatte sie zum einen ein sehr großes Herz, das für uns alle reichte, und zum anderen hatten meine Brüder ihre eigenen Paten, auch wenn diese nicht im Ansatz mit Godi vergleichbar waren. Meine Mutter erinnerte mich deswegen häufig daran, dass es niemand so gut getroffen hätte wie ich.
In den Ferien verbrachte ich die allermeiste Zeit bei meiner Patentante, die im gleichen Haus wie meine Oma wohnte. Dieses Zwei-Wohnungen-Haus in einer Reihe von Arbeiterhäusern hatte im Dachgeschoss zwei vom Wohnbereich abgetrennte Zimmer mit Schrägen. Eines dieser Mansardenzimmer war in den Ferien mein eigenes Reich. Die Zeit war geprägt von Ruhe, Frieden und fröhlichen Familienbesuchen bei Oma. Dazu gehörte leckeres Essen, ein kleiner Garten und viel Geborgenheit. Außer in den superstillen, radiolosen Jahren nach dem Tod meines kriegsgeschädigten Opas hatte ich dort ein geordnetes und schönes Ferienleben. Neben Omas leckerem Essen und den traditionellen Gängen zum Wochenmarkt, wie auch die Spaziergänge durch den nahegelegenen Park, war das Highlight eines jeden Werktages, dass meine Godi zum Mittagessen und am Abend heimkommen würde. Egal wie hart sie gearbeitet hatte, mich zu sehen zauberte ihr stets ein Lächeln ins Gesicht, und so drückte sie mir dann zum Gruß ein Küsschen auf und kniff mir in die Wange oder in meine angeblich so strammen Oberschenkel. Das war ihr Ritual. Sobald sie da war, kam Leben in die Bude. Ich hörte aufmerksam zu, wenn Godi von ihrem Tag berichtete. Meine Oma wollte nie, dass ich Kraftausdrücke hörte, aber meine Patentante berichtete so lebhaft von ihrem Tag in der Apotheke und dem Verhalten mancher Kunden oder des Chefs, dass ich mich mitten im Geschehen wähnte und alles wie ein Schwamm aufnahm. Ich erlebte meine Patin trotz ihrer Konfliktscheue als Mensch, der sich gegen jede Ungerechtigkeit einsetzte, dies auch mittels starker Worte und Gesten. Das imponierte mir, schlummerte in mir ja Ähnliches. Von ihrem Kampfgeist profitierte auch ich. Sobald sie etwas hörte oder mitbekam, das sich kritisch zu mir verhielt, setzte sie sich demonstrativ für mich ein oder bestätigte je nach Sachlage die Rechtmäßigkeit meines eigenen Tuns. Sie wollte mich dazu befähigen, selbständige Entscheidungen zu treffen und Recht von Unrecht unterscheiden zu lernen. Bei meiner Godi erlebte ich das ersehnte „Mir-im-Rücken-stehen“. Es war immer da und ich musste es nie bei ihr einfordern. Dass ich am Ende ihres Lebens – unbemerkt von der Familie – jene war, die wiederum ihre Rechte und ihre Würde respektieren würde, war mein Dank an und Respekt für sie.
Im Gegensatz dazu kam mir mein Leben im Zusammenhang mit anderen Menschen immer wieder mal so vor, als hätte ich eine Landkarte auf der Seele, wo jeder seinen Abdruck oder die Asche einer Feuerstelle hinterlassen durfte. Selten war da ein klarer See, eine milde Sonne oder eine beruhigende Brise. Das erzeugte in mir ein Gefühl von Wut. Und Wut setzt bekanntlich Kräfte frei.
Es gab Momente, in denen mir alles zu viel war. Auch drängte sich wohl die Pubertät mit ihrem grundsätzlichen „In-Opposition-sein“ in den Vordergrund. Eine verzwickte Gemengelage. Das hektische Leben zuhause, diese ständige Unruhe mit den vielen Kindern, eine überforderte Mutter, wir alle auf kleinem Raum, diese Armut ohne Hoffnung auf baldige Besserung und außerdem viele Reibereien untereinander. Meine Mutter konnte sich offenbar nicht anders gegen unsere jeweiligen Auflehnungen oder unseren mangelnden Gehorsam erwehren, als diesen mit Schlägen zu bekämpfen. Gürtel, Lederriemen ausgedienter Schulranzen oder sehr große Holzrührlöffel waren die gängigen Mittel der Wahl. Die Schmerzen und die roten Streifen auf dem Körper waren schlimm genug, doch die Wunden auf der Seele blieben langfristig bestehen.
In diesem Zusammenhang fällt mir die öffentliche Rede des dänischen Königs Frederik während einer Feierlichkeit ein, in der er vor Jahren in Anwesenheit seines Vaters über dessen körperliche Züchtigungen gesprochen hatte. Dieser soll diese Art der „Zuneigung“ als Liebe bezeichnet haben. So resümierte der Prinz, dass sein Vater ihn demnach wohl sehr geliebt haben muss.
Ich glaube, irgendwie traf das sinngemäß auch auf meine Mutter zu.
Offensichtlich hatten meine Brüder jeweils eine ganz eigene Vorstellung von mir und auch davon, was ich für sie bedeuten würde. Nur Harald liebte mich einfach so, das war offensichtlich. So beschützend und liebevoll, wie er mein Dasein begleitete. Wie er mich bestärkte und gleichzeitig etwas Lockerheit vermittelte, daneben aber auch angemessene Kritik und Strenge in seinen Worten walten ließ. Bei ihm durfte ich einfach ich sein.
Meine Mutter hatte ein weiteres Mal geheiratet, als ich sechs Jahre alt war. Ihr neuer Mann brachte die beiden jüngsten von mehreren Kindern mit in unsere Familie. Der Junge war exakt in meinem Alter, wir hatten nur einen Tag Altersunterschied, das Mädchen war knapp zwei Jahre älter. Mit dem Jungen kam ich sehr gut zurecht, er war ein Lieber. Auch Mutter schloss ihn sofort in ihr Herz. Das Mädchen und ich hatten jedoch die meiste Zeit Streit und wir rissen uns gegenseitig die Haare aus. Bei unseren Streitigkeiten ging es meist um Eifersüchteleien, denn ich verstand mich nicht gut mit ihrem Vater, während dieser ihr über das normale Maß hinaus zugetan schien. Er war ein grober Typ, Maurer und oft betrunken. Jede Prügelstrafe fiel bei ihm nochmal gründlicher aus, als wir es von meiner Mutter ohnehin kannten. Zum Glück war diese Ehe im siebten Jahr endlich vorbei, und somit alle Prügelstrafen. Ein Lebensabschnitt war zu Ende und unsere Mutter war mit uns jugendlichen Kindern wieder allein.
Doch bevor ich zu meiner Jugend komme, möchte ich noch einmal zu meiner Kindheit zurückkehren. Ein besonders Ereignis, das zur Zeit der zweiten Ehe meiner Mutter stattgefunden hat, war meine Kommunion. In der Vorbereitungsphase hatten wir zusätzlichen Unterricht in der Kirche. Aus mir unbekannten Gründen durfte ich vor den morgendlichen Gottesdiensten nichts essen. Meine Mutter hatte uns aber so erzogen, dass wir das Haus nie ohne Frühstück verlassen sollten. Ich erinnere mich jedoch daran, aus eigenem Willen nüchtern geblieben zu sein, damit das mit den Sakramenten auch richtig klappen würde. Als dann in der Kirche zur fortgeschrittenen Zeit der Priester und sein Gefolge mit Weihrauchgefäßen herumwedelten, wurde mir von den Duftwolken übel, und zwar so, dass ich ohnmächtig ins Gebälk sackte. Wohl auch vor Hunger. So verblieb ich eine mir unbekannte Weile, weil mir niemand aufhalf. Ich nahm die anderen um mich herum nur schemenhaft singend wahr. Als ich mich aufrappelte und hinsetzte, konnte ich es einfach nicht fassen. Die Kinder und wohl auch die Eltern dieser ach so barmherzigen Kirche sangen brav weiter, während ein Menschenkind direkt neben ihnen umfiel. Unbarmherzig unversorgt. Damit war die katholische Kirche bei mir schon damals endgültig unten durch. Wer sich selbst als untadelig ausgibt, mich aber in meiner Not nicht rettet, war für mich nicht authentisch. Ich beschloss, die Sache mit der Kommunion trotzdem noch mitzumachen, weil familiär so viel dranhing, aber dann sollte Schluss sein. Und so blieb es bis hin zu meinem Austritt viele Jahre später. Kirche und Glaube waren für mich ohnehin zwei verschiedene Dinge.
Nun aber waren wir gleich vier Kinder innerhalb nur einer Familie, die ungefähr gleichzeitig die katholische Erstkommunion erhalten sollten. Da wir altersmäßig mit etwa acht und neun Jahren so dicht beieinander lagen, setzte Mutter beim zuständigen Pfarrer eine gemeinsame Feierlichkeit durch. Immerhin war das auch damals schon, und besonders für sie, eine Kostenfrage. Sie ließ dem Pfarrer keine andere Wahl, im Falle einer Ablehnung hätte sie die Kommunion für alle verweigert. Die Feier konnte also beginnen.
Bis Mitte zwanzig stellte ich mir häufiger die Frage, ob ich wirklich einmal eine Jugendliche gewesen war. Auf dem Papier natürlich schon, aber menschlich gesehen eher nicht. Meiner Auffassung nach war ich vom Kind nahtlos zur Erwachsenen geworden. Das lag nicht nur an der Ernsthaftigkeit der damaligen Zeit, meiner Person und der frühen Armut, sondern auch an unglaublichen Erlebnissen. Als Kind hätte ich mir nie vorstellen können, dass es einmal prägende Folgen haben würde, körperlich sichtbar heranzuwachsen.
Klassenkameradinnen bedachten mich in der frühen Phase meiner Pubertät gerne mal mit anzüglichen Sprüchen, die Jungs starrten mir verschämt auf die Körpermitte. Mit meiner Mutter konnte ich nur ansatzweise das Nötigste, was mit und in mir geschah und für die kommende Phase des Erwachsenwerdens beachtenswert sein würde, besprechen. Viele neue Schmerzen brachen über mich herein; zunächst körperliche, die noch sehr viele Jahre andauern sollten, dann aber auch seelische.
Die heutige #MeToo-Bewegung hat in den letzten Jahren bemerkenswert öffentlich gemacht, was Menschen durch andere an sexuellem, seelischem oder körperlichem Missbrauch erleiden mussten. Dabei wurden auch explizit Personen benannt. In Deutschland allerdings ist es nicht erlaubt, über in Verdacht von Straftaten stehende Personen offen zu berichten. Vor dem Gesetz gilt jeder Beschuldigte als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Nur über rechtskräftig verurteilte Täter darf offen berichtet werden. Ich wünschte mir, Missbrauchsopfer hätten in der Praxis auch solch einen umfassenden Schutz.
Mir fällt es gewöhnlich schwer, wichtige Themen verkürzt darzulegen, dennoch will ich sie hier knapp zusammenfassen. Zwischen dem elften und achtzehnten Lebensjahr, also sieben Jahre lang, musste ich mehrere unschöne Erfahrungen mit Erwachsenen machen. Dabei handelte es sich ausschließlich um Männer.
Im näheren Umfeld, und das war und ist besonderes prägend, musste ich schon sehr früh und unter massiver Gewaltandrohung nebst psychischem Druck immer wieder das erfahren, was man heute schwere sexuelle Nötigung nennt. Eine interne Offenbarung oder ein Hilfeersuchen war zur damaligen Zeit zwecklos, denn es herrschte die neue Zeit der „freien Liebe“. So wurden Erlebnisse wie meine als „normal“ angesehen. Neben diesen schrecklichen Erfahrungen in meiner näheren Umgebung kam es auch im erweiterten Umfeld zu ungewollten sexuellen Annäherungen.
Während meiner Ausbildung wurde ich ebenfalls sexuell belästigt. Ein älterer Kollege mit pomadigem Haar und grundsätzlich lüsternem Blick grabschte mir fast täglich unvermittelt unter dem Rock in den Schritt. Danach äußerte er mir gegenüber stets, was genau er dabei „ertasten“ konnte. Er schien jedes Mal aufs Neue stolz darauf zu sein, es wieder einmal „geschafft“ zu haben. Natürlich wehrte ich ihn ab, so gut ich konnte, aber ich hatte keine Chance. Er wollte sich einfach durchsetzen und es gelang ihm immer. Schließlich waren wir im Dienst und ich durfte schon wegen der Gäste keinen Lärm verursachen. Eine Beschwerde beim Chef war praktisch unmöglich, denn der Kollege war schon viele Jahre dort beschäftigt und hätte mich leicht als unglaubwürdig darstellen können. Als ich ihm mit einer Bloßstellung drohte, meinte er nur: „Was glaubst du, wem der Chef glauben wird? Einem treuen Mitarbeiter oder einem neuen, jungen Mädchen?“ Einschüchterung gehörte bei solchen Menschen immer schon zum Handwerk und war in meinem Fall leider erfolgreich. Was seine resolute Frau wohl dazu gesagt hätte, wenn sie von seinen Übergriffen erfahren hätte?
Für mich gab es bis zur Volljährigkeit viele Vorkommnisse dieser Art, die ich heute als „Täter-Opfer-Umkehr“ bezeichnen würde.
Obwohl ich nie freizügig gekleidet war, schienen in den Jahren meiner Ausbildung auch einige junge Männer aus dem dienstlichen und ferneren, privaten Umfeld meine Oberweite oder vielleicht mehr von mir sehr anziehend zu finden. In so mancher sich bietenden Situation war dies ein Auslöser – und gleichzeitig wohl Einladung für den Einzelnen – gewesen, mir plump nachzustellen. Unversehens wurde ich stark bedrängt und in direkter, aber sichtgeschützter Umgebung in die Horizontale geschubst. Zwar konnte jeder noch sein zumeist riesiges Gemächt „präsentieren“, doch zum Glück schaffte ich es jedes Mal, mich vor einer Vollendung des Beabsichtigten aus der Situation zu befreien. Für mich war es absolut nicht nachvollziehbar, warum ich als Sexobjekt angesehen und behandelt wurde.
Ob ich mir später wegen Missbrauch und Nötigung fachliche Hilfe geholt habe?
Ja, unter anderem hierfür dreimal.
War sie für dieses Thema erfolgreich?
Nein.
Warum nicht?
Ich hatte in unterschiedlichen Jahren verschiedene Therapeuten, zwei Frauen und einen Mann, aber eben jeweils aus der Generation der „Alt-68er“.
Alle drei fragten mich in ihren Sitzungen, ob ich es denn nicht „einfach vergessen könne“. Ich hatte zwar gelesen, dass das Vergessen unschöner Ereignisse eine Möglichkeit sein kann.
Konnte ich mir das aber in meinem Fall vorstellen?
Nein, ich fand das Ansinnen einfach nur ungeheuerlich.
Ich fühlte mich von meinen Therapeuten unverstanden und fand den Vorschlag, gemessen an der moralischen Schwere der Schuld und der Tiefe meines Erlebens, nicht angemessen. Aus diesem Grund verzichtete ich diesbezüglich auf weitere Therapien und übergab das Thema einer höheren, ausgleichenden Gerechtigkeit.
Nach meiner Ausbildung hatte ich in Frankfurt endlich ein neues Leben beginnen dürfen und nahm jede sich bietende Gelegenheit wahr, schnell das Wichtigste für mein Leben zu lernen. Was das Verarbeiten des bisher Erlebten anging, wurde ich von Jahr zu Jahr stärker, und ich musste auch keinerlei sexuelle Übergriffe mehr erdulden. Zumindest nichts, was mich ernster belastet hätte. Es blieb in der Regel beim Werben der Männer durch Blicke oder halbwegs nette Ansprachen.
Heute kann ich einfach nur noch den Kopf schütteln, wenn ich daran denke, dass der in diesem Themenkomplex Erstgenannte bis in die allerjüngste Zeit hinein mir immer noch völlig ungeniert und unvermindert mit eindeutigen Gesten sein Begehren anzeigte.
Als Mädchen hatte ich schon immer um meine Gleichberechtigung bezogen auf all das gekämpft, was Jungs durften und Mädchen eher nicht. Ich war mit Sicherheit eine ziemliche Herausforderung für meine Mutter, aber an dieser Reibung schien sie mit mir gemeinsam auch gewachsen zu sein. Die Frage der Kleidung und Schuhe war zum Beispiel ein lange währendes Reizthema zwischen uns. Aus meinem Inneren heraus vertrat ich die Maxime: Gleiches Recht für alle. Das fühlte sich für mich normal an. Ich konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass andere Menschengruppen wertiger sein sollten als weibliche.
Irgendwann schien meine Mutter endlich einzusehen, dass sie mit ihren traditionell katholischen Erziehungsmethoden bei mir nicht weiterkam. Friede kehrte in diesen Fragen erst ein, als meine Mutter mein Bedürfnis nach Gleichberechtigung respektierte. Danach kam etwas mehr Gelassenheit ins familiäre System.
Das Kämpferische in mir sowie mein fortwährendes Bestreben nach Gerechtigkeit auf allen Ebenen lässt sich durch die Anzahl und Entsprechung vieler Feuerzeichen in meinem Horoskop erklären. Und das Wärmste unter den Wasserzeichen in seinem Heimathaus passt hervorragend zu HSP und erklärt diese unfassbare seelische Tiefe in mir, meine Verbundenheit mit Visionärem und das emotionale Erfassen von Situationen und Menschen. Dem so ernsten Erdzeichen an der Himmelsmitte, das für den eigenen Lebensweg steht, habe ich meine Ernsthaftigkeit in der Sache, aber auch das Tragen von Verantwortung für mich und andere zu verdanken. Dies sind die wirkmächtigsten Kernpunkte meines Horoskops, die meines Erachtens so einiges über meine Persönlichkeit erzählen. Die wissenschaftliche Astrologie, also nicht die Tagesastrologie in bunten Zeitungen, ist für mich so etwas wie eine besondere Sprache. Ich habe das einst so für mich definiert, weil die Astrologie mir dabei hilft, etwas in unserer Sprache Unerklärbares dennoch begreiflich zu machen. Wie eine Art Definitionshilfe für Dinge, die sich durch Sprache alleine nicht erklären lassen.
Als mein Bruder Harald sich vor Jahrzehnten anschickte, Astrologe zu werden, kam ich mit dem Thema näher in Kontakt. Wir waren uns zeitlebens sehr verbunden, schon aufgrund vieler gleicher Interessen in Bezug auf Geistreiches, Klassik und Kultur im Allgemeinen. Mein Bruder war Mitglied in einem Fachverband und eine in Astrologenkreisen sehr anerkannte Persönlichkeit, sodass er Klienten ganz offiziell mit seinem Wissen weiterhelfen durfte. Er nutze dieses penibel erworbene, traditionell ausgeübte Deutungshandwerk jedoch vorrangig für die eigene innere Heilung und weniger für Fremde oder zur Geldbeschaffung. Natürlich gab er auch Hilfe an mich weiter und besprach sich häufig mit mir. Auf diesem Weg erschlossen sich mir Hintergründe und Zusammenhänge zunehmend besser. Trotz meines fundierten Wissens im Bereich der Astrologie hatte ich nie vor, in diesem Bereich professionell tätig zu werden. Ich hatte mir schon früh vorgenommen, eigene Felder zu bestellen, und wollte beruflich nicht das Gleiche machen wie ein anderes Familienmitglied. Somit bin ich im Astrologischen bis heute ein interessierter Laie, wenngleich ich natürlich die Ressourcen des Gelernten sinnvoll kombiniere und einbeziehe bei Problemlösungen. Insofern nutze ich die Astrologie auch heute noch zum persönlichen Instandhalten meiner mentalen Gesundheit.
Nach Ende der mir ungeliebten Schulzeit war es letztlich dem Einsatz meiner Mutter zu verdanken, dass ich einen Ausbildungsplatz bekam. Und das gleich mehrmals. Für dieses Engagement war ich sehr dankbar. Ähnlich wie heute hatten zu meiner Zeit die jungen Leute eine große Auswahl an freien Ausbildungsplätzen, was für mich eine glückliche Situation war. Im Nachhinein glaube ich, dass meine Mutter Ausbildungsplätze auswählte, bei denen ich ersatzweise ihre Lebenswünsche nach Freiheit, Reisen und Ferne verwirklichen konnte. Mir selbst lagen diese Wünsche aber auch nicht wirklich fern, schließlich lieben Feuerzeichen geradezu die Freiheit, das Reisen und die Ferne. In höchsten Tönen machte sie mir schmackhaft, welche Chancen mir eine Hotelausbildung bieten würde und dass ich später zum Beispiel auf einem Schiff arbeiten und so die „große, weite Welt“ sehen könnte. Als Alternative bot sie mir an – wie sie es schon als Abschreckung bei meinen Brüdern getan hatte –, dass sie mich in die Fabrik arbeiten gehen lassen könne, weil es dann sofort und außerdem mehr Geld für die Haushaltskasse zu verdienen gäbe. Klugerweise ließ sie uns alle eine Ausbildung machen, weil sie für unsere Zukunft etwas Besseres wollte.
Da ich innerlich schon längst meinen sozialen Aufstieg geplant hatte, wäre die Arbeit in einer Fabrik der totale Abstieg für meine Zukunft gewesen. Ich wollte mich aus meinem Geburtsmilieu befreien. So wollte es mein persönlicher Selbsterhaltungstrieb. Vor mir lag meine Zukunft. Meine Hoffnung. Mein Leben.
Ungefähr zur selben Zeit sammelte ich eine neue familiäre Erfahrung, auf die ich im Rückblick lieber verzichtet hätte.
Trotz meiner bekannt ablehnenden Haltung fragte mich einer meiner Brüder, ob ich nicht „unverbindlich“ meinen Vater etwas besser kennenlernen wollte. Dieser würde mit uns in eine Disco auf dem Land fahren, in der einer meiner älteren Brüder Musik auflegen würde. Nach einigem Zögern und dem Einverständnis der Mutter ließ ich mich auf diesen Vorschlag ein. Mutter fand, ich könne mir mit fünfzehn gerne ein eigenes Bild von meinem Vater machen. An einem Samstag holte er uns mit seinem Auto ab und schon auf der Straße vor unserem Haus begann er, mir „seine Art von Spaß“ zu demonstrieren. Er beschleunigte stark den Motor und ließ ihn hochtourig jaulen, um sogleich den Zündschlüssel zurückzudrehen, damit ein fürchterlicher Knall am Auspuff losging. Schießen wäre wohl das passendere Wort dafür, denn es hörte sich wirklich an wie ein Schuss. Nach dem Anfahren folgte sogleich ein scharfes Abbremsen, ein ewiges „Stop and Go“ zum Übelwerden, und natürlich etliche Wiederholungen des Ganzen, bis wir wenigstens einige Straßenzüge weitergekommen waren. Das muss man sich mal vorstellen, was einem Mann mittleren Alters so einfallen kann. Die Menschen unterwegs an der Straße, die das miterlebten, waren sichtlich verängstigt, denn so etwas wie Schießereien war man nun wirklich nicht mehr gewohnt seit den Kriegszeiten. Aber genau davon waren sie wohl noch geprägt und erschraken.
Um sein Imponiergehabe noch abzurunden, sagte er, ich solle doch unter den Beifahrersitz schauen, auf dem ich saß. Ich griff unter das Sitzpolster und traute meinen Augen nicht, was sich dort befand. Eine kleine, aber schwere Schusswaffe! Da war es also wieder, das ungeklärte frühe Kindheitsthema schien sich nun zu bestätigen. Wahrscheinlich war es eine Schreckschusspistole, aber als Laie konnte ich das nicht mit Sicherheit sagen. Obwohl ich ihn mehrfach bat, sein Treiben zu beenden, machte er seinen Unfug ungeniert weiter. Ich war genervt. Er lachte nur und fand sich urkomisch. Auf meine Frage, warum er eine Waffe im Auto oder überhaupt eine habe, sagte er, dass er als Versicherungsvertreter nicht wissen könne, welche Sorte Mensch zu ihm ins Auto steigen würde. Er müsse schließlich vorbereitet sein, falls was wäre.
Seine ach so „unterhaltsame Art“ brachte er dann in der Disco auch noch in seinen Gesprächen und Zurufen zum Ausdruck, sofern man bei der lauten Musik überhaupt etwas verstehen konnte. Zwischendurch spendierte er mir zwei Gläser Orangensaft und vor der Heimfahrt drückte er mir abschließend noch fünf D-Mark in die Hand. Das sage ich extra so genau, weil es das Einzige war, was ich je von diesem Vater materiell erhalten habe. So einen Menschen hatte ich zuvor noch nie erlebt, und ich hatte keinerlei Bedürfnis nach einem weiteren Treffen. In den folgenden Jahren habe ich ihn nur noch ein- oder zweimal am Rande von Feierlichkeiten bei seiner Mutter angetroffen, jedoch ohne mich besonders mit ihm zu beschäftigen. Von da an hörte ich nur noch von Zeit zu Zeit Geschichten über ihn und sein zum Teil verwerfliches Tun. Aber das war es, mehr habe ich von seinem Leben nicht mitbekommen.
Sehr viele Jahre vergingen, ohne dass wir Kontakt zueinander hatten. Bis seine letzte Frau mich im Jahr 2003 anrief und verkündete, dass er im Sterben liegen würde und mich so gerne noch einmal sehen wolle. Er hatte zwar viele Söhne mit verschiedenen Frauen, jedoch – soweit bekannt – war ich seine einzige leibliche Tochter. Das schien selbst für ihn etwas Besonderes zu sein. Diese Situation war für mich nicht einfach. Einerseits wollte ich stark bleiben, nichts mit ihm zu tun haben und ihn mit meiner Abwesenheit strafen, da er für mich kein guter und auch aus juristischer Sicht kein unbefleckter Mensch war. Andererseits war da die menschliche Seite, schließlich erreichte mich der Ruf und die Bitte eines Sterbenden. Um mehr Klarheit zu erlangen, suchte ich nach einer Zweitmeinung für diesen für mich epochalen Schritt und konsultierte eine Kollegin von Harald, die ebenfalls im Fachverband der Astrologen gelistet war. Sie errechnete ein Horoskop für mich und teilte mir ihre Deutung für die kommende Zeit mit. Auf meine Nachfrage hin gab sie mir außerdem noch einen speziellen Rat. Meine sensible Grundstruktur wirkte sehr auf sie, das konnte ich sogleich erkennen. Und sie erkannte mein Wesen offensichtlich auch im Horoskop. Sie gab mir den wirklich eindringlichen Rat – und zwar besonders für mein Seelenheil –, dass ich zu ihm fahren und mich von ihm persönlich verabschieden solle, solange es noch möglich sei. Das würde mir den inneren Frieden bringen, den ich immer schon so dringend benötigt habe. Also entschloss ich, es für mich zu tun, und machte mich auf die Reise. Ich fühlte mich dafür stabil genug und war in angemessener Verfassung. Als ich ihn im Krankenhaus antraf, war er schon eine Weile auf Morphium. Man hatte ihm in den Zeiten zuvor stückweise ein Raucherbein amputiert und ich glaube, das zweite Bein stand gerade auch zur Debatte. Dennoch war er in diesem Moment wach genug, um mich zu erkennen, und er freute sich auch sehr. Seine Frau stand an seinem Bett. Sie schien sich mit ihm zu freuen und auch darüber, dass ihr Anruf bei mir so erfolgreich gewesen war. Ich blieb eine Weile bei ihm, sprach ihm gut zu und sagte ihm, dass es für mich in Ordnung sei, wenn er gehen möchte. Er dürfe das tun. Als er eingenickt war, ging ich mit seiner Frau kurz in die Cafeteria des Hauses und unterhielt mich mit ihr über das Thema Vater und auch über das Sterben. Ich blieb noch über die Mittagszeit, um mir ein umfassenderes Bild von ihm zu machen, einfach nur durch Beobachten. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich bewusst sah, wie mein Vater eine warme Mahlzeit zu sich nahm. Es war sogar ein ganzes Menü. Seine Frau staunte nicht schlecht, als er wirklich so ziemlich alles aufaß. Das soll er zuvor dort wohl nie gemacht haben. Für mich war die Situation aber deshalb kurios und auch irgendwie bedeutend, weil mein Vater der erste Mensch aus meiner Familie war, der so aß wie ich, also nach meinem System. Erst alle Beilagen nacheinander, dann das Fleisch oder alternativ der Fisch. Nie jedoch alles durcheinandergemischt. Das war die erste Gemeinsamkeit, die ich zwischen uns erkannte. Beim Verabschieden bekräftigte ich nochmals, dass er in seiner Sache der Chef sei und gehen könne, wann er möchte. Alles sei in Ordnung. Ich reiste danach wieder ab nach Frankfurt.
In einem späteren Telefonat erfuhr ich von seiner Frau, dass meinem Vater mein Besuch innerlich wohl so viel Freude bereitet habe, dass er daraus neue Kraft schöpfen konnte und völlig unerwartet noch ein halbes Jahr lang gelebt habe. Zur Beerdigung ging ich dann nicht mehr. Wann immer es in meiner Macht steht, kümmere ich mich um Lebende und um ihre Seelen. Tote dagegen haben nichts mehr von meiner Hilfe.
Offenbar habe ich mit dem Besuch bei meinem Vater etwas Gutes für meine Seele getan, denn inzwischen sind schon zwei Jahrzehnte vergangen, ohne dass ich in unangenehmer Weise oder überhaupt an meinen Vater gedacht hätte. Es stimmt also, dass man das, was man für einen anderen tut, immer auch für sich tut. Für mich ist dieses Erlebnis ein wirklich eindrückliches Beispiel für diese Weisheit.
Aber zurück zu meiner Pubertät. Mein beständiger Kampf für Selbstbestimmung und das Einfordern meiner Rechte hatte meine Mutter und auch mich im Umgang miteinander an den Rand von allem nervlich Erträglichen gebracht. Ich wollte weg. Meine Mutter stimmte meinem Auszug notgedrungen zu, allerdings nur unter den zugesicherten Umständen, dass ich bei einer in Scheidung lebenden Kollegin mit drei Kindern im Hause ihrer Eltern wohnen würde. Nicht ohne den Hinweis: „Wer einmal auszieht, für den gibt es kein Zurück mehr – nur noch als Gast.“
Das war deutlich. Zu dem Zeitpunkt war ich erst gut fünfzehn Jahre alt.
Bei einem meiner später folgenden Besuche genoss ich es, eine neue Gastlichkeit zu erleben. Ich saß mit meiner Mutter gemütlich am Küchentisch und der wohlbekannte Duft von frisch gebrühtem Kaffee und mit Käse belegtem, würzigem Schwarzbrot brachte das Gefühl von den schöneren Momenten im alten Zuhause zurück. Wohlgemerkt, bleiben durfte ich ja nicht mehr.
Ich musste schnell lernen, dass Freiheit nicht gleich Freiheit bedeutet. Zwar war ich vermeintlich frei von meinem alten Zuhause und diesem Leben, aber das neue erforderte einen hohen Einsatz.
Meine Kollegin, die gleichzeitig auch meine Freundin war, war sehr gut zu mir und wir hatten oft viele gute Gespräche bis tief in die Nacht. Und ihre drei Kinder liebten mich offenbar. Da ich für die Unterkunft nichts bezahlen musste, kamen andere Pflichten auf mich zu, in erster Hinsicht bezüglich der Kinder. Ich wurde voll in die Betreuung und Versorgung mit eingebunden, außerdem gab es noch weitere Aufgaben im Haushalt, dazu hatte ich meine Ausbildung. Das minimale Ausbildungsgeld reichte natürlich überhaupt nicht zum Leben, glich es doch eher einem Taschengeld heutiger Kinder, deswegen musste ich nachts noch Zeitungen austragen. Meine Tage waren sehr lang und endeten nicht selten erst nach zweiundzwanzig Stunden. In dem Alter war das gerade noch so zu verkraften. So viel zum Thema Freiheit. Aber das Leben lehrt.