Juristische Methodik - Matthias Einmahl - E-Book

Juristische Methodik E-Book

Matthias Einmahl

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Beschreibung

Juristische Methodenlehre kurz und knapp mit zahlreichen Beispielen, besonders geeignet für Studierende an Verwaltungshochschulen, aber zum Einstieg auch geeignet für Jurastudenten. Mit einem besonderen Fokus auf Klausurlösungstechnik und die Auslegung von Gesetzen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

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Kapitel 1: Recht: Begriff, Funktion und Methode

Anhang: Rechtsquellen

Impressum

Matthias Einmahl

J U R I S T I S C H E M E T H O D I K

6. überarbeitete Auflage

Vorwort

Das vorliegende Lehrbuch ist auf das Studium an der Hochschule für Polizei und Verwaltung Nordrhein-Westfalen zugeschnitten. Es ist als methodischer Einstieg aber auch für alle Studierenden geeignet, deren Studium einen hohen Rechtsanteil aufweist (Studierende an anderen Hochschulen für öffentliche Verwaltung, Studierende des Fachs Wirtschaftsrecht [FH] oder Jurastudenten).

Das Lehrbuch enthält zahlreiche Beispiele, die die abstrakten Lehrinhalte mit Leben füllen sollen. Sämt­liche Vorschriften, die in den Beispielen zitiert werden, sind im Anhang abgedruckt. Eine Arbeit mit diesem Buch ist also ohne zusätzlichen Gesetzestext möglich. Die Schemata entsprechen weitgehend der von mir verwendeten Präsentation in der Lehre. Auf Wunsch sende ich diese Folien per E-Mail gerne zu (anzufordern unter [email protected]).

Für Anregungen, Hinweise und Kritik bin ich stets dankbar. Beiträge dieser Art erreichen mich am besten unter der genannten E-Mail-Adresse.

Soweit personenbezogene Bezeichnungen im Maskulinum stehen, wird diese Form verallgemeinernd verwendet und bezieht sich auf beide Geschlechter.

Köln, im August 2021

Matthias Einmahl

Domstraße 79a

50668 Köln

Abkürzungsverzeichnis

Abs.AbsatzAktGAktiengesetz

Art.

AVR

Artikel

Allgemeines Verwaltungsrecht

BGBBürgerliches GesetzbuchBGHBundesgerichtshofBVerfGBundesverfassungsgerichtBVerfGGGesetz über das Bundesverfas­sungsgerichtEMRKEuropäische Menschenrechts­konventionEUEuropäische Unionff.FortfolgendeGastGGaststättengesetzGewRVGewerberechtsverordnungGGGrundgesetzggf.GegebenenfallsGmbHGesellschaft mit beschränkter HaftungGmbHGGesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränk­ter Haftung

GO

IFG NRW

Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen

Informationsfreiheitsgesetz NRW

i.S.d.im Sinne des/deri.V. m.in Verbindung mitJustizGJustizgesetz Nordrhein-WestfalenKSchGKündigungsschutzgesetzLBGLandesbeamtengesetzlit.litera (Buchstabe)NRWNordrhein-Westfalen

OBG

Rn.

Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen

Randnummer

SGB IISozialgesetzbuch Teil IIStaEuRStaats- und EuroparechtStGBStrafgesetzbuchStVGStraßenverkehrsgesetzVersGVersammlungsgesetzVGHGVerfassungsgerichtshofgesetz Nordrhein-Westfalenvgl.VergleicheVOB/AVergabe- und Vertragsordnung für Bauleis­tungen Teil AVwVfGVerwaltungsverfahrensgesetz Nordhrein-WestfalenVwGOVerwaltungsgerichtsordnung

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Recht: Begriff, Funktion und Methode

I Begriff

Unter „Recht“ versteht man die Gesamtheit aller verbindlichenRegeln, die das Zusammenleben in der Gesellschaft steuern sollen. Sie sind von unverbindlichen Sozialnormen abzugrenzen.

Beispiele: Regeln über Geschwindigkeitsbegrenzungen sind Recht, Regeln über Tisch­manieren dagegen unver­bindliche Sozialnormen.

Recht ist in der Regel schriftlich fixiert. Es gibt aber auch ungeschriebe­nes Recht.

Beispiel: Es darf nur derjenige wegen einer Straftat rechtlich belangt werden, dem sie zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Dieser Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklag­ten“ ist nirgends schriftlich festgehalten.

II Funktion: Maximaler sozialer Nutzen

Ziel unserer Rechtsordnung ist die Schaffung einer lebens­werten Gesell­schaft, die einen maximalen sozialen Nutzen für ihre Mitglieder entfal­tet. Eine besondere Rolle spielt dabei die Verwirklichung von Gerechtig­keit. Gerechtigkeitsüberzeugungen bilden das moralische Fundament einer Rechtsordnung. Die enge Verknüpfung von Gerechtigkeit und Recht wird auch sprachlich deutlich: Der Wortstamm „Recht“ taucht im Wort Ge“recht“igkeit auf. Es gibt allerdings keine einheitliche Vorstellung davon, was gerecht ist. „Gerechtigkeit“ ist ein schillernder Begriff. Beson­ders umkämpft ist die Frage, was soziale Gerechtigkeit bedeutet. Soll jeder möglichst auf gleiche Weise seine Bedürfnisse -vor allen Din­gen materieller Art- befriedigen können (Bedarfsgerechtigkeit) oder soll vielmehr jeder möglichst die gleichen Chancen bekommen (Chancen­gerechtigkeit)? Gibt es ein Gebot, Ungleichgewichte zwischen Genera­tio­nen (Generationengerechtigkeit), zwischen Familien und Kinderlosen (Familien­gerechtigkeit) oder zwischen bildungsnahen und bildungs­ferneren Schichten (Bildungsgerechtigkeit) auszugleichen? Welche Rolle soll das Leistungsprinzip spielen (Leistungsgerechtigkeit)? Alle diese Fragen sind hochpolitisch und das macht deutlich, dass Recht immer Ergeb­nis eines politischen Willensbildungsprozesses ist.

Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und die Maximierung sozialen Nutzens sind anspruchsvolle Aufgaben. Die Lebenswirklichkeit ist von Interessenkonflikten geprägt, bei denen gegenläufige Interessen unter­schiedlicher Beteiligter aufeinandertreffen. In einer solchen Konflikt­situation geht ein Mehr an sozialem Nutzen und Gerechtigkeit in einem Bereich immer zu Lasten anderer Interessen. Grundlage für das Verständ­nis von Recht ist die Fähigkeit, solche Konfliktlagen zu identifi­zieren. Es existieren verschiedene Typen von Interessen. Sie lassen sich zum einen danach unterscheiden, wer ihr Träger ist:

Einzelinteressen: Dies sind die Interessen des einzelnen Mitglieds einer Gesellschaft.

Beispiel: Die Shark Mobilfunk AG behauptet, dass Kuno Kindskopf ihr Geld aus einem am Telefon geschlossenen Handyvertrag schulde. Ein schützens­wertes Einzelinteresse hat die Shark Mobilfunk AG nur, wenn der behauptete Vertrag tatsächlich geschlossen worden ist. Wenn Kindskopf dagegen nur um Zusendung von Prospektmaterial gebeten hat, wäre es ungerecht, ihn aus dem Handyvertrag zu verpflichten.

Gemeinwohlinteressen: Dies sind die Interessen einer größe­ren Gruppe von Mitgliedern einer Gesell­schaft oder der Gesell­schaft insgesamt.

Beispiel (in Anknüpfung an obiges Beispiel): Unsere Rechtsordnung kennt das Mahn­verfahren. Es gibt Gläubigern die Möglichkeit, Zahlungsansprüche unkomp­liziert und kostengünstig durch ein Gericht feststellen zu lassen. Der Gläubiger beantragt hierzu beim Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheids. Das Gericht prüft die inhaltliche Berechtigung des geltend gemachten Anspruchs nicht nach. Der Schuldner kann inner­halb von zwei Wochen Wider­spruch gegen den Mahn­bescheid erheben. Widerspricht er, muss der Gläubiger Klage erheben. Widerspricht der Schuldner nicht, erlässt das Ge­richt wiederum ohne inhaltliche Prüfung auf Antrag des Gläubigers einen Voll­streckungs­bescheid. Der Schuldner kann gegen den Vollstreckungsbescheid inner­halb von zwei Wochen nach Zustellung Ein­spruch einlegen. Tut er dies nicht, wird der Voll­streckungsbescheid rechtskräftig, d. h. die Existenz des Anspruchs ist unwider­ruflich festgestellt. Auf Grund­lage des Vollstreckungsbescheids kann der Gläubiger dann die zwangsweise Durchsetzung seiner Forderung im Wege der sog. Zwangsvollstreckung (z. B. durch Gehaltspfändung, Gerichtsvollzieher­beauf­tragung o.ä.) betrei­ben. Die Shark Mobilfunk AG könnte somit einen Mahnbescheid gegen Kindskopf selbst dann erwirken, wenn ein Vertrag nicht geschlossen worden ist. Sofern sich Kindskopf nicht zur Wehr setzt, wird die Shark Mobilfunk AG nach kurzer Zeit im Besitz ei­nes rechtskräftigen Vollstreckungsbescheids sein, mit dem sie Kindskopf zur Zahlung von Geld zwingen kann, obwohl Kindskopf nie einen Handyvertrag geschlossen hat. Unter dem Blickwinkel der Einzelfallgerechtigkeit, ist dieses Ergebnis unge­recht. Aus Gemeinwohlsicht ist die Existenz eines Mahn­verfahrens dagegen sinnvoll. In der übergroßen Mehrheit der Mahnverfahren wird der Anspruch entweder existieren oder aber der Schuldner wird rechtzeitig wider­sprechen. In diesen Fällen profitieren die Gläubiger von der Möglichkeit, ihren Anspruch schnell und kosten­günstig zwangsweise durchzu­setzen. Aus Gründen des übergeordneten Gemeinwohls nimmt unsere Rechts­ordnung daher in Kauf, dass das System gelegentlich versagt.

Zum anderen kann der Blick auf den Gegenstand eines Interesses gerichtet werden. Besonders bedeut­sam sind in diesem Zusammenhang:

Freiheit: Freiheitsinteressen sind in erster Linie Einzelinteressen. Mittelbar profitiert aber auch das Gemeinwohl davon, dass ihre Einzelmitglieder frei sind. Freiheitsinteressen haben für unsere Gesellschaftsordnung eine überragende Bedeutung. Für sie ist im politischen Diskurs der Begriff der Menschenrechte geprägt worden. Um sie besonders hervorzuheben, hat der deutsche Gesetz­geber sie in der Verfassung -dem Grundgesetz- verankert. Dort tragen die Menschenrechte den Namen Grund­rechte. Im juristi­schen und politischen Diskurs werden die freiheits­bezogenen Grundrechte häufig auch Freiheitsrechte genannt. Freiheitsrechte gewähren zum einen das Recht, frei zu handeln. Zum anderen schützen sie aber auch das Recht auf Freiheit vor staatli­chen Eingriffen in die Privatsphäre.

Beispiele: Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1), Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1), Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2), Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1), Berufs­freiheit (Art. 12 Abs. 1) und Schutz des Eigentums (Art. 14 Abs. 1) gewäh­ren den Menschen das Recht, frei zu handeln. Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1) und das Briefgeheimnis (Art. 10 Abs. 1) schützen dagegen eher die Privatsphäre. Art. 13 Abs. 1, 10 Abs. 1 sollen primär nicht sicherstellen, dass jeder seine Wohnung nach eigenem Geschmack einrichten oder Briefe schreiben kann. Vielmehr schützen sie davor, dass staatliche Stellen einen Brief lesen oder eine Wohnung betreten.

Sicherheit: Sicherheit ist ein elementares menschliches Bedürf­nis. Das Bedürfnis nach Leben und körperlicher Unversehrtheit ist ebenfalls als Grundrecht im Grundgesetz verankert (Art. 2 Abs. 2 S. 1). Sicherheitsinteressen werden aber meist primär aus dem Gemeinwohlblickwinkel betrachtet.

Beispiele: Das Gemeinwohl soll vor Kriminalität, Terrorismus, Umweltkatastro­phen und technischen Desastern geschützt werden.

Gleichheit: Das Interesse auf Gleichbehandlung ist in erster Linie ein Eigeninteresse. Es ist ebenfalls ein Grundrecht (Art. 3 Abs. 1 GG). Zugleich ist es das Interesse, das man am ehesten mit dem Grund­prinzip der Gerechtigkeit assoziiert.

Beispiel: Gleiche Bezahlung von Männern und Frauen für die gleiche Arbeit

Zugriff auf Ressourcen: Einzel- und Gemeinwohlinteressen können vor allen Dingen durch Ressourcen, insbesondere durch Geld verwirklicht werden. Aus diesem Grund beschäftigen sich sehr viele Rechtsregeln mit der Frage, wer wem unter welchen Voraussetzungen Geld zahlen muss. Aus Sicht des Gemeinwohls geht es dabei vor allen Dingen um eine optimale Ressourcen­allokation: Keine Gesellschaft verfügt über unbegrenzte Ressourcen. Dem Gemeinwohl ist am besten gedient, wenn die knappen Ressourcen so intelligent eingesetzt werden, dass der positive Gesamteffekt maximiert wird.

Beispiel: Sollen zusätzliche Steuermittel eher für den Ausbau von Kindertagesstät­ten, die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes, die Rettung eines angeschla­genen Unternehmens oder den Ausbau der Polizei zur besseren Verbrechens­bekämpfung genutzt werden? Wovon profitiert die Gesellschaft insgesamt am meisten?

Verlässliche Verhältnisse: Eine Gesellschaft kann nur funktionie­ren, wenn stabile und berechenbare Verhältnisse existie­ren. Dies ist ein Bedürfnis der Gesellschaft als Ganze und dane­ben auch jedes Einzelnen. Für das Bedürfnis nach verlässli­chen Verhältnissen haben sich in der juristischen Fach­sprache einige Begriffe etabliert, die den Facettenreichtum dieses Interesses widerspiegeln. Sie sollen hier kurz genannt und dann anhand von Beispielen konkretisiert werden: Rechtssicherheit, Rechts­frieden, Vertrauensschutz, Verkehrsschutz. Diese Begriffe werden nicht einheitlich gebraucht und sind auch häufig nicht trennscharf voneinander abzugrenzen.

Beispiele:

Rechtsfrieden: (in Anknüpfung an vorheriges Beispiel) Die Shark Mobilfunk AG verklagt Kindskopf auf Zahlung von 800 € aus dem angeblich geschlosse­nen Handyvertrag. Das Amtsgericht gibt der Klage in erster Instanz statt. Die Berufungsfrist gegen das Urteil beträgt einen Monat. Kindskopf lässt die Frist verstreichen und legt die Berufung verspätet ein. Sie wird allein wegen der Verspä­tung erfolglos bleiben. Rechtsstreitigkeiten sollen sich nicht endlos hinzie­hen. Daher arbeitet das Gesetz mit Fristen, um eine möglichst zügige Klärung herbeizuführen und den Rechtsfrieden wiederherzustellen.

Rechtssicherheit: Die A-Partei gewährt einer bestimmten Personengruppe Steuer­erleichterungen. Die Bundes­tagswahl bringt die B-Partei an die Macht, die A-Partei findet sich in der Opposition wieder. Die B-Partei hält die Steuer­erleichterungen für politisch verfehlt. Sie kann diese zwar für die Zukunft zurück­nehmen, rückwirkend dagegen im Regelfall nicht. Das gebietet die Rechts­sicherheit. Die begünstigten Personen hatten sich auf die Erleichterungen eingestellt.

Vertrauensschutz: Anton beantragt einen Existenzgründerzuschuss. Aufgrund seiner fehlenden Rechtskenntnisse weiß er nicht, dass ihm dieser Zuschuss rechtlich nicht zusteht. Der Sachbearbeiter prüft den Antrag nur nachlässig und gewährt den Zuschuss fälschlicherweise. Später stellt sich der Irrtum heraus. Anton hat das Geld inzwischen verbraucht. Er hatte auf die Rechtmäßigkeit der Zahlung vertraut. Dieses Vertrauen wird im Regelfall schutz­würdig sein. Bei Schutzwürdigkeit scheidet eine Rückzahlungspflicht aus.

Verkehrsschutz: Die Gemeinde Gellerhausen will von Volkmar Voss ein Grund­stück kaufen. Die Verhandlungen drehen sich noch um den Preis. Der Gemeinderat weist den Bürgermeister der Gemeinde an, keinen Kaufpreis über 290.000 € zu akzeptieren. Dennoch schließt der Bürgermeister den Vertrag über einen Kaufpreis von 300.000 ab. Voss wird die interne Vorgabe des Gemeinde­rats im Zweifel nicht kennen und auf Erfüllung des Vertrags beste­hen. Generell muss sich der Rechtsverkehr darauf verlassen können, dass ein Bürgermeister bei Vertrags­schluss im Rahmen seiner Kompetenzen handelt.

Interessenkonflikte können im Hinblick auf Träger und Inhalt in beliebigen Kombinationen auftreten. Einzelinteressen können kollidieren, ein Einzelinteresse mit einem Gemeinwohlinteresse, ebenso Gemeinwohl­interessen. Sicherheitsinteressen können sich gegenüberste­hen oder ein Freiheitsinteresse mit einem Sicherheitsinteresse kollidieren. Die Zahl der betroffenen Interessen kann bei zwei oder auch darüber liegen. Bei aller Vielgestaltigkeit sind allerdings zwei Grundmuster besonders bedeutsam:

Einzelinteresse nach Freiheit gegen Gemeinwohlinteresse nach Sicherheit

Beispiele: Geschwindigkeitsbeschränkungen, Rauchverbot, Lärmschutz­bestimmungen, Recht auf Durchsuchung einer Wohnung zur Aufklärung eines Verbrechens

Einzelinteresse nach Ressourcenzugriff gegen Gemeinwohl­interesse nach Ressourcenzugriff

Beispiele: Wie hoch sollen Steuern, Sozialabgaben, Sozialleistungen, Beamten­gehälter und Renten sein?

III Methode: Interessenabwägung

Damit die Gesellschaft funktioniert, müssen die vorhandenen Interessen­konflikte gelöst werden. Dabei sind immer mehrere Lösungsalternativen denkbar. Aufgabe der Rechtsordnung ist es, die Lösungs­variante durchzu­setzen, die einen maximalen sozialen Nutzen produziert. Um diese Lösungsvariante zu bestimmen, sind die am Konflikt beteiligten Interessenabzuwägen. Abwägung bedeutet, dass der Wert der betroffenen Interessen zu ermitteln ist und dann zu vergleichen ist. Nach vollzogener Abwä­gung muss der Gesetzgeber entscheiden, ob er in den Interessenkonflikt eingreifen will oder nicht.

Greift er nicht ein, wird der Interessenkonflikt durch das freie Spiel der Kräfte gelöst. Die beteiligten Interessen setzen sich dann entsprechend des zwischen ihnen bestehenden Kräfteverhältnisses durch. Die Entscheidung, nicht einzugreifen, basiert auf einer Interessenabwägung: Der Gesetzgeber sieht einen maximalen sozialen Nutzen darin, dass sich die beteiligten Interessen entsprechend ihrer Stärke durchsetzen können.

Beispiele:

Der Gesetzgeber schreibt nicht vor, wie teuer Möbel oder Lebensmittel sein dürfen oder müssen. Er geht davon aus, dass sich marktgerechte Preise durch das Wirken von Angebot und Nachfrage selbst bilden. Preisbildung durch Marktmechanismen gilt grundsätzlich als Weg zu einem maximalen sozialen Nutzen.

Der Gesetzgeber schreibt den Kommunen im Allgemeinen nicht vor, wie sie Verwaltung im Einzelnen zu orga­nisieren haben (Zahl der Dezernenten, der Ämter und Abteilungen). Er geht davon aus, dass der demokratische Willensbildungsprozess in einer Kommune eher das Ergebnis mit dem maximalen sozialen Nutzen (kosten­günstige, aber dennoch effektive Verwaltungsstruktur) hervorbringen wird als eine gesetzliche Vorgabe.

Führt die Interessenabwägung dagegen zum Ergebnis, dass ein bestimmtes Interesse zur Erzielung des optimalen sozialen Nutzens stärker zur Geltung kommt muss, als es seiner natürlichen Stärke entspricht, wird sich der Gesetzgeber zum Eingreifen entschließen.

Beispiel: Eine Kommune will ein Verwaltungsgebäude sanieren. Sie steht vor der Frage, welchem Bauunter­nehmen sie den Aufrag erteilt. Wie soll sie vorgehen? Soll sie ein formalisiertes Ausschreibungsverfahren durch­führen, verschiedene Angebote einholen und das wirtschaftlichste Angebot auswählen? Das wäre ein kosten­effizienter Weg, weil die Kommune dadurch mutmaßlich die Angebotspreise senken könnte. Außerdem könnte ein solches Vorgehen Korruption und Vetternwirtschaft vermeiden. Andererseits wäre dieser Weg mit bürokra­tischem Aufwand verbunden und damit kostenträchtig. Ein optimaler sozialer Nutzen wäre dann erzielt, wenn die Kommune immer dann formalisiert ausschreiben würde, wenn der Verwaltungsaufwand im konkreten Fall niedriger wäre als der mutmaßliche Einspareffekt durch Erzielen eines günstigeren Angebotspreises. Wenn der Gesetzgeber darauf vertrauen würde, dass Kommunen so handeln würden, hätte er darauf verzichtet einzugreifen. Dieses Vertrauen hat der Gesetzgeber jedoch nicht. Er geht davon aus, dass Kommunen dazu neigen würden, häufiger auf ein formalisiertes Ausschreibungsverfahren zu verzichten, als dies sachlich geboten wäre. Deshalb greift er korrigierend ein, um das schwächere Interesse (bürokratischer Aufwand zu Ermittlung des günstigsten Angebots und zur Vermeidung von Korruption) zu stärken.

Technisch umgesetzt wird ein Eingriff durch die Schaffung einer möglichst sachgerechten Regel. Unsere Rechtsordnung ist damit nichts anderes als eine Ansammlungvon Regeln. Im juristischen Sprach­gebrauch sind unterschiedliche Begriffe für die Bezeichnung einer Regel üblich, insbesondere Norm oder Vorschrift.

Beispiel: (in Anknüpfung an vorheriges Beispiel): Eine Vorschrift schreibt vor, dass eine Kommune einen Bauauftrag ab einem Auftragsvolumen von etwas über 5 Mio. € (Zahl ändert sich alle zwei Jahre leicht) in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ausschreiben muss.

In der Regel wird die Norm versuchen, einen Mittelweg zu finden, der beide Interessen bis zu einem ge­wissen Grad berücksichtigt. Radikale Lösungen sind unserer Rechtsordnung im Regelfall fremd. Das Gebot zur Vermeidung radikaler Lösungen findet seinen Niederschlag im Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit. Nur in seltenen Fällen wird der Gesetzgeber ein Interesse als so gewichtig ansehen, dass er diesem einen unbedingten Vorzug vor den anderen betroffenen Interessen einräumt.

Beispiele

(in Anknüpfung an vorheriges Beispiel): Bauaufträge unterhalb der Wertgrenze von etwas über 5 Mio. € müssen zwar grundsätzlich ausgeschrieben werden, aber nicht europaweit. Der Aufwand wird dadurch geringer. Unterhalb einer bestimmten Wertgrenze (für Kommunen in NRW derzeit 15.000 €) gilt sogar, dass auf ein förmliches Ausschreibungs­verfahren ganz verzichtet werden kann. Hier geht der Gesetzgeber einen Mittelweg, der je nach Situation mal das eine, mal das andere Interesse stärker berücksich­tigt. Eine Pflicht zur europaweiten Ausschrei­bung für einen Reparaturauftrag im Gegenwert von 2.000 € wäre z. B. unverhältnismäßig.

Art. 102 des Grundgesetzes erklärt die Todesstrafe für abgeschafft, egal wie schwer das Verbrechen ist. Hier hat der Gesetzgeber dem Schutz des Lebens unbedingten Vorrang vor dem Sühne- und ggf. auch Sicherheitsbedürfnis unserer Gesellschaft eingeräumt.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Recht ist die sachgerechte Lösung von Interessenkonflikten durchInteressen­abwägung.

Der hinter einer Norm stehende Interessenkonflikt lässt sich am besten dadurch identifizieren, dass man den Zweck der Vorschrift ermittelt. Zweck der Vorschrift ist die künstliche Stärkung mindestens eines Interesses. Mit der Ermittlung des Zwecks hat man zugleich diese(s) Interesse(n) bestimmt. Zu Ermittlung des/der Gegeninteresses/en ermittelt man die Nachteile der Vorschrift. Alternativ lassen sich die kollidierenden Interessen dadurch identifizieren, dass man die Vor- und Nachteile einer Verschärfung der Vorschrift ermittelt.

Beispiel (in Anknüpfung an vorheriges Beispiel):

Warum muss eine Kommune Bauaufträge ab etwas über 5 Mio. € in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ausschreiben? Die Ausschreibungspflicht soll gewährleisten, dass die Kommune ein möglichst wirtschaftliches Angebot auswählen und die eingesetzten Steuergelder möglichst sparsam verwenden kann. Zudem sollen Korruption und Vettern­wirtschaft verhindert werden. Das sind die schwächeren Interessen, die durch die Vorschrift gestärkt werden sollen. Gegen die Vorschrift spricht aber, dass eine europaweite Ausschreibung mit einem gewissen bürokratischen Aufwand verbunden ist und zu Zeitverzögerungen führt. Der Interessenkonflikt lässt sich mithin wie folgt beschreiben: Interesse an sparsamem Mitteleleinsatz und Korruptionsvermeidung gegen Interesse an zügigem und unbürokratischem Verwaltungshandeln.

Eine Verschärfung der Vorschrift (z. B. europaweite Ausschreibung ab 20.000 €) würde den bürokratischen Aufwand und den Zeitverzug erhöhen, zugleich aber stärker korruptionspräventiv wirken und die Chancen auf einen sparsamen Mitteleinsatz durch Auswahl des besten Angebots erhöhen. Mithilfe dieses Gedankenspiels lässt sich der Interessenkonflikt also in gleicher Weise identifizieren.

Es existieren zwei Wege, um ein Interesse mittels einer Regel zu stärken: Die Regel kann zum einen ein bestimmtes Ergebnis vorschreiben, das die Kräfteverhältnisse im Interessenkonflikt unmittelbar beein­flusst. Vorschriften dieser Art werden als materielle Vorschriften bezeichnet, in ihrer Gesamtheit bilden sie das materielle Recht.

Beispiele:

So legt der Gesetzgeber jährlich gesetzlich fest, wie hoch der Regelsatz für das Arbeitslosengeld II beträgt. 2021 betrug er 446 €.

§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GastG bestimmt, dass eine Gaststättenerlaubnis bei Unzuverlässig­keit des Antragstellers zu versagen ist.

Eine Regel kann zum anderen aber auch lediglich einen bestimmten Prozess vorschreiben, der von den Beteilig­ten bei der Auflösung des Interessenkonflikts zu beachten ist. Mithilfe des vorgeschriebenen Verfahrens sollen möglichst günstige Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Beteiligten selbst zu einer Konfliktlösung mit einem maximalen sozialen Nutzen gelangen. Vorschriften dieser Art werden je nach konkreter Ausgestaltung als Verfahrens- oder Formvorschriften bezeichnet, in ihrer Gesamtheit bilden sie das formelle Recht.

Beispiel (in Anknüpfung an vorheriges Beispiel): Es liegt ein Antrag auf Erteilung einer Gaststättenerlaubnis vor. Der zuständige Beamte will diesen Antrag nach § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GastG ablehnen, weil der Antragsteller bei Abgabe seines Antrags stark nach Alkohol riecht (§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 „…dem Trunke ergeben…“). Bevor er diese Entscheidung trifft, muss er den Antragsteller zuvor gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG anhören und ihm die Gele­genheit geben, sich noch einmal zum Sachverhalt äußern zu können. § 28 VwVfG ist eine typische Verfahrens­vorschrift. Bleibt der Beamte nach der Anhörung bei der Ablehnung, muss er diese Entscheidung nach § 39 Abs. 1 S. 1 VwVfG begründen. § 39 Abs. 1 S. 1 ist eine Formvorschrift. Die Anhörungspflicht und die Begründungs­pflicht haben keinen unmittelbaren Einfluss auf das Ergebnis. Auch nach der Anhörung kann der zuständige Beamte bei seiner ursprünglichen Absicht bleiben und den Antrag zurückweisen. Die Anhörung zwingt ihn aber noch einmal, sich mit den Argumenten des Antragstellers zu beschäftigen. Die Begründung zwingt ihn, seine Ablehnung genau zu reflektieren. Beides verringert die Gefahr von Fehlentscheidun­gen.

Kapitel 2: Rechtsquellen und ihre Rangordnung

Die Rechtsordnung setzt sich aus einer Fülle einzelner Rechtsquellen zusammen, die in einem bestimm­ten hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen.

I Internationales Recht

1 Völkerrecht

Völkerrecht ist die Summe der Vereinbarungen zwischen Staaten. Sie binden grundsätzlich nur die Staaten selbst, nicht die innerstaatlichen Akteure wie z. B. die Verwaltung. Um auch innerstaatlich verbindlich zu werden, muss das Völkerrecht durch ein innerstaatliches Gesetz transformiert werden (vgl. Art. 59 Abs. 2 S. 1GG).

Beispiel: Bereits 1950 hat die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Menschenrechts­konvention (EMRK) gemeinsam mit anderen Staaten ins Leben gerufen. Sie ist durch ein Bundesgesetz transformiert worden und bindet damit alle Akteure staatlicher Gewalt unmittelbar. Dies ist auch praktisch bedeutsam. Zwar sind die in der EMRK festgeschriebenen Menschenrechte im Wesentlichen auch im Grundgesetz verankert. Aber die EMRK gibt jedem Bürger eines Unterzeichnerstaates die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straß­burg anzurufen und die Verletzung eines der in der EMRK festgeschriebenen Menschenrechte zu rügen. Die Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte binden die Gerichte und Verwaltungsstellen in Deutsch­land unmittelbar (s. als Beispiel den spektakulären Fall „Görgülü“, zu recherchieren bei Wikipedia unter dem Stichwort „Görgülü“).

2 Europarecht

Europarecht (oder juristisch korrekter Europäisches Unions­recht) ist die Summe aller Rechtsakte der Europäischen Union (EU). Dabei nehmen die Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten den obersten Rang ein. Sie fungieren als „Verfassung der EU“. Besonders bedeutsam sind der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Sie regeln insbesondere das Organisationsgefüge der Europäischen Union und schreiben einige Grundsätze fest (z. B. freier Warenverkehr in Art. 34 AEUV).

Von Bedeutung sind weiterhin die EU-Verordnungen. Sie binden alle staatlichen Stellen in den EU-Mitgliedsstaaten unmittelbar.

Beispiel: Die gesamte Landwirtschaft wird überwiegend durch EU-Verordnungen rechtlich gesteuert. Die nationale Gesetzgebung spielt für diesen Wirtschaftszweig nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die übergroße Mehrzahl europäischer Rechtsakte sind allerdings EU-Richtlinien. Diese entfalten keine unmittelbare Wirkung, sondern verpflichten die EU-Mitgliedsstaaten die Richtlinie innerhalb des von ihr gewährten Spielraums in nationales Recht umzusetzen. Typisch ist, dass eine EU-Richtlinie gewisse Mindeststandards setzt, die von der nationalen Gesetzgebung nicht unterschritten, wohl aber überschritten werden dürfen.

Beispiel: Wer Ware kauft, die einen Mangel aufweist (z. B. defekter Fernseher), kann vom Verkäufer die Reparatur der Ware oder ein neues Exemplar verlangen. Früher galt, dass dieser Mangel innerhalb von 6 Monaten nach dem Kauf auftreten musste. Nach Ablauf dieser Frist hatte der Käufer keine Ansprüche mehr. Eine EU-Richtlinie zum Verbraucherschutz verpflichtete die EU-Mitgliedsstaaten, diese Frist auf mindestens zwei Jahre heraufzusetzen. Deutschland hat diese Vorgabe erfüllt. Seit dem 1.1.2002 beträgt die Frist zwei Jahre (umgangssprachlich häufig als „Garantie“ bezeichnet). Der Gesetzgeber hätte die Frist auch auf drei Jahre erhöhen können. Dagegen hätte Deutschland gegen die Richtlinie verstoßen, wenn es die Frist nur auf ein Jahr erhöht hätte.

---ENDE DER LESEPROBE---