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Mit psychologischem Feingefühl und sehr spannend erzählt Bret Anthony Johnston in seinem Debütroman von einer Familie unter Schock. Vor vier Jahren ist Justin Campbell, damals 12 Jahre alt, entführt worden.
Seine Eltern und sein Bruder, die nie aufgehört hatten, nach ihm zu suchen, haben unterschiedliche Wege gefunden, mit diesem Erlebnis umzugehen. Wege, die die Familie eher auseinanderdriften lassen. Da wird Justin wie durch ein Wunder ganz in der Nähe entdeckt und seinem Entführer entwunden – der inzwischen 16jährige kehrt in die Familie zurück. Aber ist der Wiedergefundene nicht doch verloren? Und was geschieht mit dem Täter, der vor Gericht gestellt wird und auf „nicht schuldig“ plädieren will?
Bret Anthony Johnston zeigt sich in diesem Roman als hoch begabter, raffinierter und kluger Erzähler, der glaubwürdige und faszinierende Charaktere zeichnen kann und ohne Effekthascherei ins Herz der Dinge vorstößt.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Bret Anthony Johnston
JUSTINS
HEIMKEHR
Aus dem Englischenvon Sylvia Spatz
C.H.Beck
Mit psychologischem Feingefühl und sehr spannend erzählt Bret Anthony Johnston in seinem Debütroman von einer Familie unter Schock. Vor vier Jahren ist Justin Campbell, damals zwölf Jahre alt, entführt worden. Seine Eltern und sein Bruder, die nie aufgehört hatten, nach ihm zu suchen, haben unterschiedliche Wege gefunden, mit diesem Erlebnis umzugehen. Wege, die die Familie eher auseinanderdriften lassen. Da wird Justin wie durch ein Wunder ganz in der Nähe entdeckt und seinem Entführer entwunden – der inzwischen 16-Jährige kehrt in die Familie zurück. Aber ist der Wiedergefundene nicht doch verloren? Und was geschieht mit dem Täter, der vor Gericht gestellt wird und auf «nicht schuldig» plädieren will?
Bret Anthony Johnston zeigt sich in diesem Roman als hochbegabter, raffinierter und kluger Erzähler, der glaubwürdige und faszinierende Charaktere zeichnen kann und ohne Effekthascherei ins Herz der Dinge vorstößt.
Bret Anthony Johnston, 1971 geboren, veröffentlichte den Erzählungsband «Corpus Christi» (2004), gab 2008 den Band «Naming the World and other Exercises for the Creative Writer» heraus und schrieb das Drehbuch zum Dokumentarfilm «Waiting for Lightning» (2012). «Justins Heimkehr» ist sein Romandebüt. Johnston unterrichtet Fiction Writing an der Harvard University.
Sylvia Spatz arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Französischen, Englischen und Italienischen. Für C.H.Beck übersetzte sie François Gardes Debütroman «Was mit dem weißen Wilden geschah» (2014).
PROLOG
ERSTER TEIL
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
ZWEITER TEIL
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
DRITTER TEIL
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
VIERTER TEIL
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
EPILOG
«Wenn es aber sonst niemanden gibt, wenn man sonst nirgendwohin gehen kann!»
Fjodor Dostojewski, Verbrechen und Strafe
«I’ve laid with the devilCursed god aboveForsaken heavenTo bring you my love»
PJ Harvey, «To Bring You My Love»
Über die Hafeneinfahrt von Corpus Christi spannte sich die Harbor Bridge. Sie bestand aus einem riesigen Stahlbogen, hoch genug, dass Kähne und Frachtschiffe in der Fahrrinne unter ihr passieren konnten, und befand sich genau dort, wo einst die alte Zugbrücke gewesen war. Für die Namensgebung hatte die Stadt einen Wettbewerb ausgeschrieben. Die Gewinnerin – eine Hausfrau, die draußen bei der Ölraffinerie wohnte – hatte die Ehre, als Erste im Auto über die Brücke zu fahren. Das war 1959 gewesen. Sie hatte einen Pillbox-Hut und weiße Handschuhe aus Satin getragen. Anschließend posierte sie für ein Foto mit dem Bürgermeister. Viele Jahre später versammelten sich ihre Angehörigen nach ihrem Tod in der Mitte der Brücke und streuten ihre Asche in die Wellen.
Der Bogen war elegant und weit geschwungen wie ein nach unten geöffneter Krummsäbel. Von der Brücke erhob sich ein Geflecht aus Stahlstreben, das ein verworrenes Schattennetz auf die Fahrbahn warf. Die Verbindungen zwischen den Streben, seit Jahrzehnten der salzigen Luft des Hafens ausgesetzt, waren verwittert, mit Rostflecken übersät und hatten angefangen, sich zu lockern. Jedes Jahr zu Weihnachten, sofern die Stadt das Geld dafür aufbringen konnte, wurde die Brücke mit Lichterketten geschmückt. Ein Bild von der glitzernden Brücke, die sich im Wasser spiegelt, prangte auf dem Telefonbuch von Corpus. Auf der Brücke waren bislang einige Brautpaare getraut worden; Teenager machten sich strafbar, indem sie Bowlingkugeln klauten und die Fahrbahn hinunterrollen oder ins Wasser plumpsen ließen; und am ersten Wochenende eines jeden Monats traf sich ein Grüppchen von Bürgern, um die Brückenmeile entlangzuspazieren. Sie starteten am Südende und gingen auf dem Fußweg, der von der Fahrbahn durch ein Geländer getrennt war, hinüber nach North Beach. Am Anfang dieses Fußwegs hing ein Schild der Coastal Bend Church of Christ mit der Aufschrift: Verzweifelt? «Wer den Namen des HERRN anruft, wird gerettet werden.» Römer 10:13
Und so kam es, dass am ersten Septemberwochenende jene Gruppe Spaziergänger den Körper vor allen anderen entdeckte. Sie begriffen nicht sofort, was sie da sahen. Das Wasser war vom Sturm in der Woche zuvor schmutzig und aufgewühlt, und der Körper trieb mit dem Gesicht nach unten. Es sah so aus, als würde dort jemand schnorcheln, bis auf einen Arm und ein Bein, die in einem seltsamen Winkel abgeknickt waren. Einer der Spaziergänger musste sich übergeben und ging auf dem Fußweg in die Knie; ein anderer begann zu beten; eine Dritte holte aus ihrer Jackentasche ihr Handy hervor. Die anderen aus der Gruppe starrten nach unten aufs Wasser, rätselten herum und versuchten sich einzureden, dass die Person den Sturz doch vielleicht überlebt haben könnte. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnten sie nicht erkennen, auch das Alter nicht. Sie wussten nur, dass dieser geschundene Körper fortan ein Teil von ihnen war und dass sich sein Anblick für den Rest ihres Lebens in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Schon bald rasten zwei Boote der Küstenwache auf die Fahrrinne zu, und zu beiden Seiten des Hafens erschienen Polizeifahrzeuge. Ein paar der Spaziergänger blieben als Augenzeugen auf der Brückenmitte stehen, doch die meisten gingen schweigend, einer hinter dem anderen, fort. Sie würden nie wieder einen Spaziergang über die Brücke machen, da waren sie sich sicher, und sie hielten das Geländer so fest umklammert, wie sie nur konnten.
Einige Monate zuvor waberte die Junihitze dunstig über Mustang Island. Der Himmel hing tief, bleich wie Salz, kleine Wellen schwappten ans Ufer und trugen den brackigen Geruch von Seetang heran. Die Menschen am Strand harrten aus, hofften auf eine frische Brise vom Golf von Mexiko, doch die heftigen Böen waren feuchtwarm und wirbelten Sand auf, der auf der Haut brannte wie Wespenstiche. Gegen Mittag gaben sie alle auf. Die Fischer schnitten ihre Köder los, die Surfer packten ihre Bretter ein. Sogar hartgesottene Sonnenanbeter schüttelten ihre langen Handtücher aus und breiteten sie über ihre heißen Autositze. Für die Fähre stand man eine halbe Stunde lang an, und es schien endlos zu dauern, bis aus der Klimaanlage im Auto endlich kühle Luft strömte. Möwen segelten im Wind wie Papierdrachen. Tümmler sprangen, die Bäuche rosa glänzend, hinter den Booten aus dem Wasser.
Nach einer kurzen Fahrt über die Laguna Madre legte die Fähre an der nördlichen Mole an; die Autos fuhren aufs Festland und weiter durch die kleine flach hingestreckte Stadt Southport in Texas. Sie kamen an einem Monument in der Form eines Ankers vorbei, auf dem die Worte Willkommen an Bord eingemeißelt waren, an Läden für Fischereibedarf, Verkaufsständen für Köder und an alten verrosteten Pick-ups, an denen Männer in Kühlboxen gelagerte Shrimps verkauften. Im Westen, hinter den windschrägen Palmen mit ihren ausgetrockneten pergamentbraunen Wedeln, verlor sich die Bucht dunstig am Horizont. Es gab dort einen öffentlichen Bootsanleger, einen Jachthafen und das halb zerfallene Teepee Motel mit seinen wenigen zeltförmigen Lehmziegelhütten, die um einen nierenförmigen trockengelegten Pool gruppiert waren. Über den Parkplätzen auf der Main Street hing schlaff ein verblichenes Banner, das ein Stadtfest namens Shrimporee ankündigte. Wind kam auf, und das Banner spannte sich; das Fest fand im September statt. Auf dem Asphalt erschienen Hitzelachen, flirrten, verdunsteten. Fischrestaurants und einige kitschig bemalte Souvenirläden säumten die Station Street, und kurz bevor die Stadt am dunklen Asphalt des Highways endete, lag ein Burger-Restaurant, Whataburger, ein Supermarkt, H.E.B. Grocery, und das Leihhaus Loan Star Pawnshop, auf dessen Schild geschrieben stand: Wir kaufen Klimaanlagen. Auf dem mit Muschelschalen bedeckten Parkplatz ging es zu dieser Jahreszeit lebhaft zu – Shrimpsfischer verpfändeten zwischen ihren Fängen Geräte, Surfer waren auf der Suche nach günstigen Neoprenanzügen, Angehörige der Küstenwache fachsimpelten über Angelruten, Gewehre und Außenbordmotoren. An diesem Tag, dem letzten Mittwoch des Monats, versuchte ein Mann, einem der Pfandleiher einen alten Cadillac zu verkaufen, einen cremefarbenen Fleetwood Brougham. Die Kühlhaube war geöffnet, das Dach des Kabrioletts zurückgeklappt und die beiden Männer standen in der bleichen Sonne – blinzelnd und feilschend, wie Gestrandete.
Auf der anderen Seite der Stadt, in der Wohnanlage Villa Del Sol, stand Eric Campbell unter einer kalten Dusche und lauschte. Ihm war, als hätte sein Handy geklingelt, aber entweder hatte das Brummen aufgehört oder er hatte sich getäuscht. Er hatte das Handy zusammen mit Uhr und Ehering auf dem Nachttisch abgelegt. Er schlug den Duschvorhang zurück, lehnte sich aus der Wanne und wartete. Alles, was er hörte, waren das Wasserrauschen aus dem Duschkopf und das Surren der Klimaanlage im Zimmer; er zog den Vorhang wieder zu und wusch sich die Seife ab. Durch das Dachfenster fiel schräg die Nachmittagssonne. Er fragte sich, ob das Thermometer heute auf über 38 Grad klettern würde, vielleicht war es auch schon so weit. Er war froh, dass er seinen Truck in der Garage geparkt hatte.
Die Eigentumswohnung gehörte Kent Robichaud. Er war Chirurg, und obwohl er und seine Ehefrau in Corpus am Ocean Drive wohnten, hatten sie in Southport eine Wohnung gekauft, damit sie es an den Wochenenden nicht so weit zum Jachthafen hatten. Sie waren beide Ende dreißig und stammten ursprünglich aus dem Mittleren Westen; sie besaßen ein großes Wohnmobil namens Thistle Dew. Bei seinen Nachmittagen mit Tracy gab Eric sich Mühe, nicht an Kent zu denken. Zurzeit unterrichtete er Sommerklassen, und sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, dass er Tracy mittwochs nach der Schule besuchte. Tracy kam an diesem Tag mit dem Auto aus Corpus und las in der Frühstücksecke in der Wochenzeitung Southport Sun, bis Erics Truck um die Ecke bog. Dann öffnete sie per Fernbedienung das Garagentor, ging langsam ins Schlafzimmer und zog sich aus.
Wenn er aus dem Truck stieg, kontrollierte Eric stets seine Mailbox. Für gewöhnlich gab es nichts Neues. Zu Hause lag Griffin meist noch schlafend im Bett oder vertrieb sich die Zeit mit Videospielen, bis es kühl genug zum Skateboarden war. Griff musste seine Eltern um Erlaubnis fragen, wenn er das Haus verlassen wollte. Als Eric unter der Dusche glaubte, sein Telefon zu hören, ging er davon aus, dass es sein Sohn war. Der jüngere. Griff war gerade vierzehn geworden. Natürlich machte Eric sich Sorgen, dass es seine Frau sein könnte, aber eigentlich war das unbegründet, das wusste er. Laura rief ihn nur noch selten an. Am Mittwoch übernahm sie in der Reinigung zwar die Frühschicht, doch während der vergangenen paar Monate war sie nach der Arbeit immer zum Sea Lab, dem Laboratorium für Meeresbiologie, in Corpus gefahren. Sie half dort mehrere Male pro Woche ehrenamtlich aus und kam dann erst zum Abendessen nach Hause. Oder noch später. Eric (und auch Griff, befürchtete er) hielt ihren Gesichtsausdruck für eine einstudierte Maske der Zufriedenheit. Sie erzählte ihnen das Neueste aus dem Sea Lab – im Augenblick kümmerte man sich um einen großen Tümmler, der an der Küste gestrandet war –, und anschließend hörte sie sich Griffs und Eric Tagesberichte an. Bei Griff ging es für gewöhnlich ums Skateboarden, bei Eric um seine siebte Klasse und Lehrerkollegen. Wenn es nichts Neues gab, dachte Eric sich eine nette oder lustige Geschichte aus, um die Stimmung zu heben. Jeden Mittwoch machte er sich innerlich darauf gefasst, dass Laura fragte, was er den Nachmittag über gemacht habe, doch sie erkundigte sich nie. Eines von den Themen, denen sie aus dem Weg gingen. Irgendwann stand sie vom Tisch auf, küsste Griff aufs Haar und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Oft stand die Sonne dann noch am Himmel wie eine Siruplache und verbreitete ein weiches rötliches Licht, das alles in Kupfer tauchte.
Als Eric die Dusche abstellte, war nur das Surren der Klimaanlage zu hören. Vielleicht lag Tracy noch auf dem Bett, mit geschlossenen Augen, das Haar wüst um ihren Kopf ausgebreitet, oder sie hatte bereits die Bettwäsche abgezogen und sie in die Waschmaschine gesteckt. Er trocknete sich mit einem flauschigen Handtuch ab und stieg vorsichtig aus der Wanne. Seit Jahren hatte er eine Heidenangst davor, im Bad zu stürzen und seinen Kopf am Porzellan anzuschlagen. Er kannte niemanden, dem das passiert war, und trotzdem betrachtete er dieses Szenario als ein Risiko, mit dem er rechnen musste, so als wäre er beim Duschen unversehens gealtert und schwächlich geworden. Der Toilettentisch in Tracys Badezimmer hatte eine Oberfläche aus Marmor, teuer und mit scharfen Kanten. Die gesamte Eigentumswohnung strotzte vor Erneuerungen – Terracotta-Fliesen aus Mexiko, sündhaft teure Armaturen und jeweils eine Klimaanlage für den ersten und den zweiten Stock. Der verschwenderische Luxus verdarb ihm jede Woche aufs Neue die Laune, er versuchte, alles hier nur oberflächlich zu betrachten. Während er sich die Stiefel anzog, wünschte er sich bereits fort.
Man hatte Villa Del Sol gebaut, nachdem Southport bei der Ausschreibung für den Flottenstützpunkt verloren hatte. Die meisten der Eigentumswohnungen aus Sandstein gehörten Einwohnern aus Corpus oder sogenannten Snowbirds, weißhaarigen Rentnern, die ihre Winter an der Küste verbrachten und auf ihre Gehstöcke gestützt die Souvenirläden an der Station Street unsicher machten. «Es schneit», pflegte Laura zu sagen, wenn sie von einem betagten Autofahrer aufgehalten wurde. Sie lebten in einem Farmhaus mit drei Zimmern, unweit des Hauses, in dem Eric auf die Welt gekommen war und in dem sein Vater noch immer wohnte. In ihrem Heim zog es an allen Ecken und Enden, sie brauchten ein neues Dach und hatten für die Belohnung eine weitere Hypothek aufnehmen müssen. Alle zwei Jahre mussten sie das Fundament mit Wagenhebern neu aufbocken.
Als Villa Del Sol gerade fertiggestellt worden war, hatte Eric Laura und die Jungen zu einem der Musterhäuser gefahren. Justin war damals neun gewesen, Griff sieben. Sie alle hatten sich in Schale geworfen.
«Wer kann sich so was bloß leisten?», sagte Laura im Wohnzimmer. «Jedenfalls niemand, den wir kennen.»
«So absurd ist das gar nicht», sagte Eric und versuchte, überzeugt zu klingen. «Außerdem, gucken kostet nichts.»
Die Jungen suchten im Garten nach Steinen. Griff hatte vor Kurzem angefangen, welche zu sammeln, weil Justin das auch tat. Laura sah ihnen durch das Erkerfenster zu. «Rat mal, was Justin mich gestern Abend gefragt hat», sagte sie.
«Ob Rainbow drinnen schlafen darf?», sagte Eric. Rainbow war der schwarze Familienlabrador; Eric hatte die Hündin von einem Mann gekauft, der auf der Station Street von der Ladefläche seines Trucks herunter mit Welpen handelte. Doch neuerdings musste sie draußen an der frischen Luft bleiben; Eric hatte sie dabei erwischt, wie sie einen seiner Stiefel zerkaute.
«Das auch, aber es geht um was anderes», sagte Laura.
«Schon wieder um Schimpfwörter? Vor Kurzem hat er mich gefragt, ob es welche gibt, die er sagen kann, ohne Ärger zu bekommen.»
«Er hat um meine Hand angehalten.»
«Oh», sagte Eric. «Kluges Bürschchen.»
«Findest du das nicht seltsam?»
«Ich finde, er beweist einen guten Geschmack, was Frauen angeht.»
Laura durchquerte das Zimmer mit verschränkten Händen. Sie wirkte wie eine Museumsbesucherin, die sorgfältig darauf bedacht war, nicht zufällig gegen ein Ausstellungsstück zu stoßen. Hätte er sie nicht bereits gekannt, wäre Eric bei ihren geschmeidigen Bewegungen von einer Welle des Verlangens erfasst worden. Seine Frau war schön, die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Sie kehrte zum Fenster zurück und betrachtete die Jungen.
«Was machen wir eigentlich hier, Honey? Wir sind nicht …»
«Ich dachte, es wäre ein netter Ausflug.» Er kauerte vor dem offenen Kamin und versuchte herauszufinden, ob er funktionstüchtig war. Man konnte sich ihn ja einfach mal anschauen, dachte er.
«Ich möchte nicht woanders leben, die Jungen auch nicht. Wir mögen das Haus, in dem wir wohnen.»
«Es war als Zeitvertreib gedacht.»
«Manchmal mache ich mir Sorgen, dass du das Gefühl hast, du müsstest immer noch mehr für uns tun.»
Soweit er zurückdenken konnte, hatte er niemals ein anderes Gefühl gekannt. Laura wusste es noch nicht, aber er hatte gerade Klassen für den Sommer angenommen. Er wollte seine Familie mit einem Weihnachtsurlaub überraschen. Die Jungen waren noch nie aus Texas rausgekommen.
«Es fehlt uns an nichts», sagte sie. Draußen versuchte Griff, seinen Bruder auf sein Fundstück, einen Brocken Kalkstein, aufmerksam machen.
«Und was hast du ihm geantwortet?», fragte Eric und erhob sich.
«Wem?»
«Deinem jungen Verehrer.»
Sie lächelte, als habe er ihr ein Kompliment gemacht, behielt aber nach wie vor ihre Söhne im Blick.
«Ich habe ihm gesagt, ich würde ihn sehr lieben, sei aber schon verheiratet.»
«Das hat ihm sicher das Herz gebrochen.»
«Er war fix und fertig, so richtig niedergeschlagen, aber dann habe ich ihm geholfen, Rainbow in sein Zimmer zu locken, und das hat ihm anscheinend gutgetan.»
Als Eric aus dem Bad kam, stand Tracy mit dem Rücken zu ihm am Fenster. Sie spähte durch die Schlafzimmerjalousien und beobachtete die beiden Schwestern, denen das Haus auf der anderen Seite des Innenhofs gehörte. Die beiden waren über achtzig, gingen gebückt und hatten festes weißes Haar. Tracy gefiel es, sie zu beobachten. Sie hatte sich ein Bettlaken umgeschlungen, das sich am Boden bauschte und ihren Rücken unbedeckt ließ. Die Wirbel sahen aus wie Muscheln im Sand. Lauras Körper mochte jetzt dem von Tracy gleichen, überlegte Eric. Während der vergangenen vier Jahre hatte sie abgenommen, zehn Kilo, vielleicht auch mehr. Und seit Justin als vermisst galt, hatte sie ihr Haar wachsen lassen, als eine Art Protest oder als ein Akt der Solidarität. Sie rasierte sich auch die Achseln und Beine nicht mehr. Eric konnte sich nicht erinnern, wann er seine Frau zuletzt nackt zu Gesicht bekommen hatte.
«Meiner Meinung nach ist bei den Schwestern die Klimaanlage kaputt», sagte Tracy. «Sie sitzen am Küchentisch und fächeln sich Luft zu.»
Er wollte schon den Vorschlag machen, zu ihnen hinüberzugehen und seine Hilfe anzubieten, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück. Für ihr Alter kamen sie gut zurecht. Sie waren immer mit einem Lincoln Continental unterwegs.
«Geh rüber, sobald ich weg bin, und sag ihnen, sie sollen jemanden holen, der das Kühlgas kontrolliert.»
«Mein sexy Handwerker, ich wollte gerade zum Leihhaus fahren und mich bei deinem Vater erkundigen, ob er eine Klimaanlage fürs Fenster hat, die würde ich ihm für die beiden abkaufen.»
«Gestern hatte er noch zwei. Sie werden zum Preis von achtzig Dollar angeboten, er hat sie für dreißig erstanden. Am Ende wird er sechzig verlangen.»
«Du steckst voller nützlicher Infos. Gibst du mir zehn Minuten deiner kostbaren Zeit, damit ich dich belohnen kann?»
Eric schob das Handy in die Hosentasche, band sich die Uhr ums Handgelenk und steckte den Ehering wieder an. «Ich muss los.»
Tracy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, schob die Lamellen der Jalousie auseinander. «Wie geht’s dem Wal in dieser Woche?»
«Es ist ein Delphin. Ich glaube, er hat Fieber.»
«Der Arme.»
«Ich muss einen Stapel Handzettel holen und sie aufhängen.»
«Die muss man immer wieder erneuern, nehme ich an.»
Die Handzettel hingen in den meisten Schaufenstern von Southport zwischen Kleinanzeigen und Werbung für Windsurf-Unterricht. Sie waren von Corpus bis Ingleside angeschlagen und an der Zufahrtsstraße nach San Antonio; es gab auch einige gespendete Anschlagtafeln, eine stand kurz vor Southport. Wechselte man die Handzettel nicht aus, verblichen Bild und Schrift in der Sonne. Eric kontrollierte sie gewissenhaft. Heute wollte er einen Stapel bei dem Stand für Feuerwerkskörper, Alama Fireworks, draußen am Highway ablegen. Das war etwas Handfestes, das man tun konnte. Ganz zu Anfang waren aufgrund der Handzettel viele Hinweise eingegangen. Jetzt waren es nur noch vier oder fünf pro Monat, meist von Verrückten oder Leuten, die sich einen schlechten Scherz erlaubten. Sie hatten Justins Foto aus dem Jahrbuch der fünften Klasse verwendet. Darauf trug er ein Cowboyhemd, und sein Haar war zu kurz. Eric hatte es ihm die Nacht zuvor in der Garage stümperhaft geschnitten und Justin als Geste der Wiedergutmachung die Schere gereicht und ihn an seinen Kopf gelassen.
Als sie wieder ins Haus kamen, sagte Laura: «Habt ihr anstatt der Schere den Rasenmäher genommen?» Und Griff quengelte so lange, bis Eric und Justin auch ihn zurechtstutzten. Noch Monate später wuselten Haare von seinem Sohn wie Spinnen über die Werkbank. Als die Polizei eine DNA-Probe machen wollte, verbrachte Eric Stunden auf allen vieren in der Garage, fand aber kein einziges Haar mehr. Laura hatte dann einfach ein paar aus der Bürste auf Justins Kommode gezogen.
Damals war der Junge elf, fast zwölf Jahre alt gewesen und hatte sich auf die Middle School gefreut. Er fuhr leidenschaftlich gern Skateboard, war ein Fan der Blue Angels und hasste den Strand.
«Ich muss noch beim Jachthafen vorbei und fürs Abendessen ein paar Shrimps besorgen.»
«Für dein berühmtes Rezept», sagte Tracy.
«Griff hat in den letzten Tagen wenig gegessen. Ich glaube, er hat Ärger mit seiner Freundin.»
«Ist die nicht ein bisschen älter als er?»
«Wenn sie ihn sitzenlässt, ist er mit den Nerven am Ende. Die meisten seiner Freunde gehen ihm aus dem Weg.»
«Ich erinnere mich», sagte sie.
«In den Sommerferien kommen sie leichter damit durch. Während der Schulzeit geht es ihm besser. Dann wird er zu Geburtstagen und kleinen Campingausflügen eingeladen.»
«Wenigstens lässt er sich nicht mehr auf Raufereien ein», sagte Tracy.
«Wenigstens das.»
Sie ließ die Lamellen zurückschnellen. Als sie sich vom Fenster abwandte und ins Bett zurückkehrte, sah Eric, dass sie geweint hatte. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Er schaute hinunter auf seine Stiefel.
«Tut mir leid», sagte sie.
Und ihn durchfuhr wie so oft der Gedanke: Wie konnte es nur so weit kommen? Die Versatzstücke, die sein Leben ausmachten, schienen aus dem Alltag eines anderen zu stammen: die Geborgenheit, die er und Laura einander zu geben versuchten, diese trostlosen und schweißtreibenden Nachmittage mit Tracy. Sogar dass er mittlerweile vierundvierzig Jahre alt war, konnte er nicht glauben. Meistens wachte er morgens auf und fühlte sich immer noch wie der Junge, der einen Football in einer perfekten Spirale über sechzig Meter weit werfen konnte. Und dann natürlich Justin. Mitunter ging er an seiner Zimmertür vorbei und vergaß in einem Augenblick schierer Glückseligkeit, dass der Junge nicht mehr da war. Wie oft war er in den vergangenen vier Jahren nah dran gewesen zu klopfen? Wenn er dann wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt war, fühlte er sich innerlich ausgelaugt und wie betäubt und quälte sich durch die Tage, als hätte er bei einem Unfall ein Körperteil verloren, einen Arm oder ein Bein, dessen Gewicht er immer noch spürte. Er wusste, dass es fehlte, und fühlte dennoch das Pulsieren des Blutes und den brennenden Nervenschmerz.
Tracy raschelte mit den Laken, klemmte sich ein Kissen unter den Kopf. Sie spielte mit ihren Haaren, zwirbelte einzelne Strähnen zwischen ihren Fingern und untersuchte sie auf Spliss. Er lächelte und wollte, dass sie es sah. Vielleicht würde sie zurücklächeln, verhalten und flüchtig. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche und erzeugte ein lautes Geräusch.
«Es hat geklingelt, als du unter der Dusche warst. Wenn du allein sein willst, kann ich unterdessen die Laken in die Waschmaschine stecken.»
«Bestimmt Griff, der mir nur sagen will, dass er zum Skaten geht», sagte er, ohne nachzuschauen. «Ich ruf ihn gleich zurück, wenn ich draußen bin.»
«Ich habe nicht wegen dir geweint.»
«Da bin ich froh», sagte er.
«Ich weine auch wegen dir, aber meistens halte ich diese Orgien des Selbstmitleids erst ab, wenn du weg bist. Wenn ich allein bin.»
«Ich bin es nicht wert …»
«Diesen Monat bin ich in Alaska», sagte Tracy. Sie verfasste Artikel für ein Reisemagazin, suchte die Orte, über die sie schrieb, aber niemals auf. Jeden Monat schickte ihr der Redakteur eine große Mappe mit Zahlen und ausführlichen Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten, aus denen Tracy dann eine Geschichte machte. Ich bin in San Paolo, sagte sie etwa. Oder: Ich bin in Sag Harbor. Jetzt sagte sie: «Als ich den beiden alten Damen beim Luftfächeln zusah, sind mir die Polarbären eingefallen und dass die Welt um sie herum wegschmilzt.»
«Keine Ahnung, aber Alaska klingt als Ferienort für den Sommer richtig gut.»
«North to the Future», sagte sie.
«North to the Future?»
«Das Motto des Staates Alaska.»
Er blickte zum Fenster; durch die Jalousie fiel das Licht in dünnen Streifen aufs Bett. Die Klimaanlage brummte. Tracy war immer noch mit ihren Haaren beschäftigt.
«Ich muss los», sagte er.
«Lass das Garagentor offen, ich mache es zu, wenn ich die Laken in die Waschmaschine stecke.»
«Alles klar.»
«Du bist ein guter Vater, Eric. Auch wenn du denkst, das stimmt nicht, wegen uns, und du bist auch ein guter Ehemann.»
Hin und wieder machte Tracy solche Bemerkungen, aber Eric hatte den Verdacht, dass sie sich selbst damit ebenso überzeugen wollte wie ihn. Sie gingen seit einem Jahr miteinander ins Bett. Eric hatte immer mehr den Eindruck, dass er und Laura nur noch der Form halber zusammen waren und so lange durchzuhalten versuchten, bis Griff aus der Schule war. Ein guter Ehemann. Ein guter Vater. Irgendwann einmal hatte das alles gestimmt, auch wenn er sich kaum noch daran erinnern konnte. Er betrachtete die grellen Lichtstreifen, die durch die Jalousien fielen, und die in der Luft tanzenden Staubpartikel.
«Es ist wegen der Polster an ihren Pfoten», sagte Tracy.
«Um was geht’s?»
«Um die Polarbären», sagte sie. «Etwas an den schwarzen Polstern an ihren weißen Pfoten bringt mich zum Weinen.»
Er lehnte sich über das Bett und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Wie jedes Mal, wenn er sie verließ, fühlte er sich gestärkt und beschämt zugleich. Das kann doch nicht mein Leben sein. Das ist nicht mein Leben. In ihm machte sich ein Gefühl von Auslöschung breit, als ob ihre Zeit miteinander ihn schrumpfen, auf einen harten Kern zusammenschmelzen ließ, von dem aus ein Neuanfang denkbar war. Er würde sich bessern. Er würde die ausgehängten Handzettel kontrollieren, beim Feuerwerksstand und am Jachthafen vorbeifahren, später Shrimps frittieren. Nach dem Essen würde er Laura ein heißes Bad einlassen. Am folgenden Tag hatten sie beide frei, vielleicht könnten sie mit Griff zum Skate-Park in Corpus fahren, damit er auf andere Gedanken kam und seinen Herzschmerz vergaß. Eric lief durchs Haus und in die Garage wie ein Mann, der spät dran war, wie jemand, der seine Familie zu lange hatte warten lassen. Er fuhr gerade den Truck rückwärts aus der Garage, als sein Handy erneut klingelte.
Jahre später erinnerte er sich nur noch vage an jenen Nachmittag. Erinnerte sich nicht mehr, dass er auf der Straße angehalten hatte, um sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Erinnerte sich nicht mehr, dass er annahm, Tracy würde dran sein, um ihm weiter von Polarbären zu erzählen, oder dass in seinem Kopf die vage Idee aufkam, Laura und Griff auf eine Reise nach Alaska einzuladen. North to the Future. An jenem Nachmittag ließ das Licht alle Farben verblassen; der Asphalt sah in der flirrenden Hitze aus wie Kalk. Eric spürte, dass jemand ihn ansah – vielleicht Tracy, die durch die Jalousie spähte, während sie ihn anrief, weil er etwas auf dem Nachttisch vergessen hatte. Doch als er das Handy vor sich hatte, sah er eine Nummer mit der Vorwahl von Corpus, und so vermutete er, dass Laura ihn vom Sea Lab aus anrief. Sie würde ihm bestimmt ausrichten wollen, dass sie erst spät nach Hause komme und dass er und Griff ruhig mit dem Essen anfangen sollten. Aus ihrer Stimme würden Kummer und Gram herausklingen, und trotz seines Entschlusses wenige Augenblicke zuvor wollte er sich dem jetzt nicht aussetzen. Für den Rest seines Lebens würde Eric sich deutlich daran erinnern, dass er den Anruf um ein Haar nicht entgegengenommen hätte.
Auf der anderen Straßenseite fächelten Ruth und Beverly Wilcox sich weiter Luft zu und warteten darauf, dass sich die Klimaanlage einschaltete. Bev war in der Nacht wieder wegen Geldsorgen aufgewacht; und so blieb die Anlage aus, bis es Ruth irgendwann wirklich zu heiß wurde und sie das Thermostat herunterstellten. Gerade beobachteten sie Justin Campbells Vater in seinem Truck. Im ersten Moment dachten sie, der Motor wäre wieder abgesoffen, doch dann sahen sie, dass er telefonierte. Ruth bezeichnete seine Nachmittage mit der verheirateten jungen Frau als «die Soap». «Zeit für die Soap», sagte sie, und Bev konnte nicht an sich halten vor Entzücken über die Romanze. Sie wussten beide, was er durchgemacht hatte, was er und seine arme Frau verloren hatten. Alle wussten es. Während sie an ihrem Nachmittagskaffee nippten, fragten sich Ruth und Beverly schweigend, wie man danach weitermachen konnte und nicht einfach aufgab und starb. Sie waren beide Witwen, Ruth hatte ihren Mann durch Krebs verloren, Beverly ihren im Koreakrieg, doch ein Kind zu verlieren, war ein ungleich schlimmerer Schmerz, es war eine Narbe, mit der man all seine Sünden sühnte. Und in ihren Augen war er von Narben übersät. Der Schmerz hatte ihn entstellt, es war, als wäre alle Spannung aus ihm gewichen. Mit jeder Woche schien er mehr in sich zusammengezogen. Ruth war aufgefallen, dass manche Leute ihm beim Gottesdienst selbst nach all den Jahren noch mitleidige Blicke zuwarfen. Als habe er eine Brandwunde erlitten, als sei sein Teint wächsern und fleckig vor Unglück. Ihr war auch aufgefallen, dass seine Frau irgendwann nicht mehr zum Gottesdienst erschienen war. Sollte er seine Frau doch ruhig ein bisschen betrügen, dachte sie. Sollte er sich doch ein bisschen Freude gönnen.
«Mit wem spricht er bloß?», fragte sie jetzt.
«Woher in aller Welt soll ich das wissen?»
Ruth waren die Worte herausgerutscht, aber sinngemäß war es das, was sie hatte sagen wollen. Das Leben des jungen Mannes hatte sie schon interessiert, bevor er angefangen hatte, seinen kleinen Toyota-Truck in der Garage auf der anderen Straßenseite zu parken. Vielleicht erinnerte er Ruth an ihren Sohn, vielleicht hatte sie eine Schwäche für ihn, vielleicht verlieh ihm seine Traurigkeit eine besondere Ausstrahlung, zu der auch Tracy Robichaud sich hingezogen fühlte. Bevor sein Sohn als vermisst galt, hatte er ihr und Beth einmal im Castaway Café unten am Jachthafen die Tür aufgehalten. (Ruth wusste, dass dort sein Vater jeden Morgen seinen Kaffee trank. Cecil war ein stattlicher Mann mit einem harten, traurigen Blick. Laut Gerüchten hatte er in seinem Leben Gewalt erlebt. Oh, sie fand ihn einfach hinreißend.) Nachdem sie und ihre Schwester das Café betreten hatten, folgte die Frau mit den beiden Söhnen. Die Jungen waren ungestüm und wuselten ihr um die Beine. Einer der beiden rannte Ruth fast um – Ruth war überzeugt, dass es Justin gewesen war, aber Bev behauptete, es habe sich um den jüngeren Bruder gehandelt –, und beinahe wäre sie gestürzt. Justin Campbells Vater bestand darauf, dass der Junge sich bei ihr entschuldigte. Ziemlich peinlich, das Ganze. Sie hatte gespürt, wie sie errötete. Ruth erinnerte sich noch immer an seine Hand auf dem Rücken des Jungen und daran, dass er ein Lächeln unterdrücken musste, als sein Sohn die Entschuldigung vorbrachte. Nach dem Abendessen war der Junge dann zu ihnen an den Tisch gekommen und hatte ihr schüchtern ein Stück Quarz in die Hand gedrückt. «Das habe ich für Sie gefunden», sagte er. Sie setzte ein erfreutes Gesicht auf und sagte ihm, wie gut ihr der Stein gefiele – er grinste unterdessen, hielt den Blick auf seine Schuhe gesenkt und verschwand wieder in der Sitzecke seiner Eltern. Dann zeigte sie ihrer Schwester den Stein so, dass es auch alle sehen konnten, und ließ ihn schließlich in ihrer Geldbörse verschwinden. Als der Vater des vermissten Jungen jetzt plötzlich in seinem Truck die Straße hinunter und um die Ecke raste («Wahrscheinlich ist die Frau früher nach Hause gekommen», sagte Beth kichernd), wünschte Ruth sich, sie wüsste, was aus dem kleinen Quarz geworden war. Sie hätte ihm den Stein gern am Sonntag in der Kirche überreicht und ihm gesagt, dass sie sich noch immer daran erinnern könne, welche Mühe er sich damals gegeben hatte, seinem Sohn Manieren beizubringen. Vielleicht würde sie damit aber nur in der Wunde herumstochern. Wie auch immer. Sie hatte den Stein seit ihrem Umzug nach Villa Del Sol nicht mehr gesehen. Ein solch kleiner Gegenstand ging einfach zu leicht verloren.
Sie war ein junger, vielleicht fünf Jahre alter Tümmler. An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich kühlen Aprilmorgen hatte Eddie Cavasos, ein Angestellter des Nationalparks, der nach Meeresschildkröten Ausschau hielt, sie im Padre Island National Seashore nahe der Meilenmarkierung 18 gefunden. Auf den ersten Blick ging er davon aus, dass der Delphin verendet war, doch als er herantrat, schlug das Tier mit der hinteren Flosse auf den Sand. Eddie sprang zurück. Er schaute sich nach Hilfe um, aber der Strand war menschenleer. Er wusste, dass er sie nicht zurück ins Wasser schieben durfte, weil sie dann entweder ertrinken oder an einem anderen Küstenabschnitt erneut stranden würde. Viel weiter reichte sein Wissen über Delphine jedoch nicht. Er funkte die Warte an, und von dort wurde per Pager ein Signal ans Sea Lab geschickt. Eddie wartete. Immer wieder glaubte er Trucks zu hören, die aber nicht kamen. Er funkte weiter die Warte an. Zwei endlose sorgenvolle Stunden vergingen, in denen er den Delphin immer wieder mit Wasser besprengte, seine Flanken und die Brustflossen streichelte und ihm sogar Lieder von seiner Großmutter vorsang, was das Tier offenbar beruhigte. Dann endlich kam die Rettungsmannschaft, fuhr das Tümmlerweibchen zum Sea Lab und setzte es in ein vier Fuß tiefes Becken aus, das mit hundertfünfzigtausend Liter Wasser gefüllt war. Lungenentzündung, schwere Dehydrierung und eine Darminfektion, lautete die Diagnose. Und am schlimmsten war, dass sie sich nicht über Wasser halten konnte. Ohne Unterstützung sank sie auf den Boden des Beckens, und das Wasser schlug dicht und dunkel über ihr zusammen. Bei einem Gewicht von fast dreihundert Pfund mussten vier, manchmal auch fünf freiwillige Helfer sie an der Wasseroberfläche halten. In Schwimmanzügen und mit Mundschutz hielten sie den Körper des Tieres sanft umklammert. Wenn es die Nahrungsaufnahme verweigerte, wurde es künstlich mit Fischsuppe ernährt. Niemand rechnete damit, dass der Delphin überleben würde.
Eine Woche später bäumte sie sich während einer Nachtschicht – alle nannten sie mörderische Schichten – mit einem Mal auf, befreite sich aus den Armen der freiwilligen Helfer und begann, im Becken herumzukreuzen. Das Tier schwamm am Grund entlang, kam nach oben, um Luft zu schöpfen, und tauchte wieder ab. Die Helfer, zu denen auch Laura gehörte, verließen das Becken und verfolgten das Ganze von einer Beobachtungsplattform aus. Der Delphin war glatt, glänzend und gleichsam körperlos wie ein Wolkenschatten, der übers Wasser gleitet. Innerhalb weniger Tage nahm das Weibchen feste Nahrung auf, fetten Hering und Kapelan, in den Antibiotika gespritzt worden waren. Es legte an Gewicht zu, spielte mit Bällen und Reifen und sogar mit einem aufblasbaren Krokodil, das Laura eingepackt in ihrer Garage gefunden hatte. Wenn der Delphin sich ärgerte, klapperte er mit dem Maul und schnaubte; wenn er Aufmerksamkeit wünschte, sprang er in einem Bogen aus dem Wasser oder ließ seinen Kopf wie ein Periskop herausragen. Zu Hause an Lauras Kühlschrank hing, von einem Magnet gehalten, zwischen Werbecoupons, Erics Unterrichtsplan für den Sommer und der Postkarte aus Kalifornien auch ein Bild von dem Delphin, wie er aus dem Wasser lugte. Die Zähne des Tieres sahen aus wie eine Kette aus kleinen, perfekten Perlen.
Es war unmöglich, eine Erklärung dafür zu finden, warum das Tier gestrandet war. Aufgrund der Bluttests konnten Hirnhautentzündung und eine Infektion mit dem Morbillivirus ausgeschlossen werden. Vielleicht waren blühende Algen oder eine Wasserblüte irgendwo draußen im Golf die Ursache gewesen. Oder das Tier hatte sich verirrt und war erschöpft gewesen. Für einen jungen Delphin, der draußen im offenen Meer lebte, war seine Masse zu gering, doch einige der Seepocken, die er mitgebracht hatte, kamen nur in den Tiefen des Meeres vor. Diese Seepocken würden es aus logistischen und bürokratischen Gründen sehr schwer machen, das Tier im offenen Meer auszusetzen – Fish and Wildlife würde unzählige Tests verlangen, um herauszufinden, woher der Delphin ursprünglich stammte und wo man ihn in die Freiheit entlassen konnte. Doch das waren im Augenblick irrelevante Sorgen. Er würde noch ein halbes Jahr, vielleicht auch ein ganzes, im Sea Lab verbringen, je nachdem, welche Fortschritte er machte. Der Bedarf an weiteren freiwilligen Helfern, an Spendengeldern und einem Namen für das Tier waren ungleich dringendere Probleme. Laut Tradition durfte der Finder des jeweiligen Tieres ihm auch einen Namen geben. Und so setzte sich der Rettungsleiter, sobald man sicher sein konnte, dass der Delphin überleben würde, mit Eddie Cavasos in Verbindung. Spontan wollte Eddie sich für den Namen seiner Tochter entscheiden, machte dann aber einen Rückzieher: Falls es der Delphin doch nicht schaffte, war das vielleicht wie ein Omen. Und so nannte er ihn Alice. Es war der Name seiner Großmutter, einer resoluten und robusten Frau, die zwanzig Jahre zuvor im Schlaf gestorben war.
Das ehrenamtliche Engagement im Sea Lab bestand vor allem darin, alles aufzuschreiben. Ungefähr zwölf freiwillige Helfer notierten täglich systematisch, wie oft Alice zum Atmen auftauchte, wann sie was zu sich nahm, in welche Richtung sie schwamm, wann sie Töne von sich gab oder spielte oder kotete. Es war eine nervenaufreibende Arbeit. «Euer Job besteht darin, genau hinzugucken», sagte Paul Perez, der Rettungsleiter, stets zu neuen Freiwilligen. Laura empfand die Eintönigkeit als Trost. Vor ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Sea Lab hatte sie sich oft angespannt gefühlt und Dinge angestellt, die sie sich davor im Leben nicht hätte vorstellen können. Einmal hatte man sie in Gewahrsam genommen, weil sie in einem Drugstore Nagellack geklaut hatte. Sowohl dem Polizisten als auch dem Geschäftsführer des Ladens war sie bekannt – was hieß, sie wussten über Justin Bescheid –, und so ließen sie sie mit einer Verwarnung laufen. Sie war außer sich vor Wut gewesen. Wie hätte sie ihnen erklären können, dass sie der Nagellack nicht interessierte und dass sie richtiggehend enttäuscht war, weil man sie nicht festnahm? Darüber hinaus hatte sie in den vergangenen Jahren ihre Finger voller Absicht in Schreibtischschubladen eingeklemmt und im Café Castaway einer dicken Frau süßen Tee ins Gesicht geschüttet, weil die gesagt hatte: «Ich kann immer noch nicht fassen, was mit Ihrem Jungen passiert ist.» An anderen Tagen schloss sie sich im Bad ein, setzte sich in die leere Wanne und sah zu, wie der Tag zur Neige ging und es Nacht wurde. Zwei Mal verlor sie in der Öffentlichkeit derart die Fassung, dass jemand Eric in der Schule anrief, damit er sie abholen kam. «Vielleicht sollten wir überlegen, ob du nicht doch Hilfe brauchst», sagte er. Sie nickte zustimmend, um ihn zu beruhigen, und dachte dabei, vielleicht ist diese Welt wirklich zu viel für mich. Vielleicht bin ich für alles zu klein geworden.
Die Stunden im Sea Lab hingegen beruhigten sie, waren das Einzige, was in ihr Optimismus weckte – anders als die kirchlichen Selbsthilfegruppen. Beyond Grief. Comforting other Parents who have Experienced Sorrow (C.O.P.E.S.). Anger Management. Bereaved Families. Mitunter brachte auch der Job Zerstreuung, wenn ein Kunde sie mit einem besonders hartnäckigen Fleck aufsuchte, Schmutz, der schier nicht verschwinden wollte, für dessen Beseitigung Geduld und Erfindungsgabe notwendig waren. Doch in den meisten Fällen ging es lediglich darum, Hemden zu waschen und Hosen zu bügeln. Nur das Sea Lab verschaffte ihr Ruhe. Sie wusste, dass Eric glaubte, sie arbeite ehrenamtlich, um den Kopf frei zu kriegen, aber das Gegenteil war der Fall: Für sie war das Engagement Nahrung für Geist und Seele, sie nahm sie auf und verarbeitete sie, um für das Leben draußen gestärkt zu sein. «Wie Fischtran», sagte sie einmal im Versuch, ihm das begreiflich zu machen oder ihn wenigstens zum Lachen zu bringen. Sie erreichte weder das eine noch das andere. Mitunter lud sie ihn aus Pflichtgefühl ein, mitzukommen – ein Versuch, die zahllosen Risse in ihrer Ehe zu kitten –, und war dann immer froh und beschämt zugleich, wenn er dankend ablehnte. Die Arbeit im Sea Lab war ein kleiner Trumpf. Dort wusste niemand, wer sie war. In die Formulare für ihre ehrenamtliche Tätigkeit hatte sie ihren Mädchennamen eingetragen.
Am letzten Mittwoch im Juni stand Laura am Beckenrand und sah Alice zu, die ruhig und gelassen herumkreiste. Ihre Schicht war seit zwanzig Minuten zu Ende und der nachfolgende Freiwillige bereits eingetroffen, aber sie blieb noch. Die Luft in der Halle war feucht und salzig; es war recht dunkel, denn durch die vereinzelten Plexiglasscheiben im Dach fiel nur diffuses graues Licht. Das Sea Lab lag in der Nähe der Harbor Bridge und der Fahrrinne von Corpus Christi, etwa eine Fahrstunde von Southport entfernt. Wenn sie jetzt gleich aufbrach, würde sie je nach Verkehr gegen sechs, halb sieben zu Hause sein. Doch sie war innerlich noch nicht zum Aufbruch bereit. Alice hatte seit ein paar Tagen Fieber, und man erwartete den Tierarzt mit den aktuellen Werten. Nur noch fünf Minuten, dachte sie. Vom Sitzen auf der Beobachtungsplattform beim Becken schmerzte ihr der Rücken, und ihre Venen pulsierten vor Müdigkeit. Sie hatte die Nacht zuvor nicht gut geschlafen – ohne eine Schlaftablette gelang ihr das mittlerweile nur noch selten – und dann in der Reinigung die Frühschicht hinter sich gebracht. Allein beim Gedanken daran musste sie gähnen. Sie zog ein Gummiband vom Handgelenk und band ihr langes Haar zu einem losen Pferdeschwanz zusammen. Ein Spatz irrte zwischen den Dachsparren der Halle herum, bis er sich irgendwann niederließ und zu zwitschern anfing. Laura fragte sich, ob Alice den Vogel hören konnte, ob sie ihm pfeifend antwortete. In der vergangenen Nacht hatte sie, als sie nicht schlafen konnte, das Geschirr abgewaschen und über Schallsignale unter Wasser gelesen.
Sie wollte gerade aufbrechen, als ihr auffiel, dass der Freiwillige etwas Wichtiges übersehen hatte. Er war mit Texten beschäftigt gewesen. Laura ließ ihr Handy stets aus Überzeugung im Auto zurück, und es ärgerte sie, wenn andere Freiwillige auf der Beobachtungsplattform Nachrichten lasen oder Anrufe entgegennahmen. Das kam ziemlich oft vor. Manchmal fragte sie sich, was die freiwilligen Helfer damals bei ihrer Suche nach Justin aus Unachtsamkeit übersehen hatten. Herausfinden würde man das nie. Die Polizei hatte ihr und Eric nur ganz selten gestattet, aktiv zu werden. Die Eltern eines vermissten Kindes verführten zu Unaufmerksamkeit.
Der Freiwillige hier mochte vielleicht Mitte dreißig sein. Ein Mexikaner mit Stiernacken und kräftigen Armen. Er erinnerte Laura an einen Armee-Anwerber.
«Entschuldige», sagte sie. «Das müssen wir notieren.»
«Was?»
Sie zeigte auf die dunkle Wolke, die sich im Wasser ausbreitete. Der Freiwillige sah hin, aber es fiel ihm nichts auf.
«Sie hat gekackt.»
«Scheiße», sagte er.
Ganz genau, dachte sie.
Der Mann sah auf seine Uhr, dann kritzelte er eine entsprechende Notiz auf sein Datenblatt. Über ihnen war der Spatz wieder aufgeflattert und flog gegen die Wände an. Alice schwamm gegen den Uhrzeigersinn. Laura hoffte, sie würde sich auf eine Seite drehen und sie beim Vorbeigleiten ansehen, aber sie blieb unter der Wasseroberfläche.
«Ich bin für meine Frau eingesprungen. Sie ist krank», sagte der Mann, den Blick auf Alice gerichtet. «Sie hat mir gerade getextet – sie möchte ein Jalapeño-Maisbrot und einen Milchshake. Wir sind, na ja, schwanger.»
Ach, dachte Laura bei sich. Sie blickte ins trübe Wasser, es war mehr Chlor nötig. «Herzlichen Glückwunsch», sagte sie.
«Danke.» Er klang schüchtern, als wäre ihm der Gedanke an die bevorstehende Vaterschaft immer noch ein wenig fremd.
Alice rieb ihren Rücken und eine Seite der Rückenflosse an dem festen orangefarbenen Seil, das über das Wasser gespannt war. Sie glitt langsam daran entlang, machte kehrt und begann mit der anderen Seite. Der Freiwillige notierte. Am Ende der Schicht würde das Datenblatt voller Striche sein, die anzeigten, wie oft sie das Seil aufgesucht hatte.
Laura warf einen Blick auf die große Tafel, auf der die medizinischen Daten von Alice notiert waren. Vielleicht war der Tierarzt in seiner Klinik aufgehalten worden, oder er steckte, was wahrscheinlicher war, auf der Harbor Bridge im Stau. Im Juni nahm der Verkehr zu, und es war unmöglich vorauszusagen, wann sein Auto auf dem Parkplatz auftauchen würde. Sie überlegte, ob sie beim Supermarkt vorbeifahren und nachsehen sollte, ob es beim Zeitungsstand ein neues Skateboard-Magazin gab. Griff hatte eine harte Woche. Liebeskummer. Ihr freundlicher Sonnenschein. Sie nannten ihn beide Lobster mit Spitznamen, was ihnen weit besser gefiel als ihm. Immer, wenn er in ein Zimmer kam, flog ihr Herz ihm entgegen.
Sie wollte gerade aufstehen, als der Freiwillige sagte: «Meine Frau hat sich am Fußgelenk einen Delphin tätowieren lassen.»
«Sehr hübsch», sagte Laura.
«Während unserer Hochzeitsreise, in Cancún. Wir sind mit ein paar Delphinen in einer kleinen Bucht herumgeschwommen, und ehe ich mich versah, fand ich mich in einem Tätowierungsstudio wieder. Ich bin fast umgefallen. Ich bin wirklich hart im Nehmen, aber diese Nadeln haben mir zugesetzt.»
Laura hätte ihm von dem Delphinanhänger erzählen können, den Eric und Griff ihr geschenkt hatten, aber sie unterließ es. Sie wusste, sie sollte ihn öfter tragen, war sich darüber im Klaren, dass sie dachten, sie hätten ihr das Falsche geschenkt. Er gefiel ihr aber sehr. Sie betrachtete ihn nur lieber in ihrem Schmuckkästchen. Schmuck hatte für sie seine Bedeutung verloren; das galt eigentlich für alles, was vom Wesentlichen ablenkte.
Alice schwamm eine weitere Runde am Beckenrand entlang und kehrte dann zu dem Seil zurück. Kleine Wellen durchbrachen die Wasseroberfläche, fingen Licht von oben ein, reflektierten es und liefen langsam aus. Heute Abend würde sie Eric von dem Gespräch mit dem Freiwilligen und der Hochzeitsreise des Paars erzählen, nahm Laura sich vor. Etwas miteinander zu teilen, durchbrach die Routine. Im Stillen würde sein Herz beim Gedanken an Cancún einen Satz machen, und er würde sich ausmalen, wie sie dort Ferien verbrachten. Vielleicht würde sie ihren Anhänger tragen. Ihr Mann, ein wunderbarer, hartnäckiger Träumer. Wenn er in ein Zimmer kam, wurde ihr warm ums Herz.
«Schauen Sie», sagte der Freiwillige. «Ihr gefällt das Seil.»
«Sie reibt sich alte Hautpartikel ab.»
Im Büro telefonierte Paul Perez und verhandelte über eine Spende von Salzsäcken. Seine Stimme wurde immer wieder lauter und leiser.
Der Freiwillige wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. «Heute hatten wir beinahe 38 Grad, aber den Rekord haben wir –»
«War Ihre Frau schon schwanger, als Sie auf Hochzeitsreise gegangen sind?»
«Die Antwort hängt davon ab, wer diese Frage stellt», sagte er.
Über ihnen ein flatterndes Geräusch: Der Spatz kreuzte pfeilschnell unter dem Dach, prallte auf der Suche nach einem Weg nach draußen gegen Ecken.
«Also», sagte Laura, «die Delphine in der Bucht wussten bestimmt Bescheid. Während ihr im Wasser wart, haben sie einen Ultraschall gemacht. Sie mögen schwangere Frauen und Menschen, die Metallteile im Körper haben. Sie können uns durchleuchten.»
«Warten Sie, ich weiß, was Sie meinen: das mit dem Klicken?»
«Genau», sagte sie. Wahrscheinlich hatte ihm seine Frau von Echo-Ortung erzählt. Vielleicht stapelten sich auf ihrem Nachttisch, so wie bei Laura, ausgeliehene und längst fällige Bücher über Wale. Bei einigen von Lauras Büchern war die Leihfrist seit einem Jahr nicht verlängert worden. Sie hatte aber immer noch keine Mahnung erhalten. Wenn man in der Bücherei sah, dass Justin Campbells Mutter, eine einstmals hübsche und lebenstüchtige Frau, die Werke ausgeliehen hatte, markierte man sie als verloren.
Die Beckenpumpe änderte tuckernd ihren Rhythmus, und Laura wurde bewusst, dass sie dieses Geräusch den ganzen Nachmittag lang gehört hatte. Ihr Kopf fühlte sich dumpf an, als wäre er aus Gummi, und sie kam sich vor, als stünde sie an einem Abgrund, als befände sie sich in einem ständigen Balanceakt zwischen Vernunft und Chaos. Zeit zu gehen, dachte sie. Eric wollte heute Abend Shrimps frittieren. Laura konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie seit dem Frühstück etwas gegessen hatte. Vielleicht hatte sie auch das letzte Mal am Vorabend etwas zu sich genommen.
Der Spatz flog einen Balken weiter und begann zu zwitschern. Alice stieß eine Wolke aus Wassertröpfchen aus, die silbrig in der Luft hingen. Der Freiwillige notierte den Atemvorgang; Laura wurde klar, dass er soeben etwas gesagt hatte.
«Wie bitte?», sagte sie.
«Ich habe nur gefragt, seit wann Sie hier schon arbeiten?»
«Ich bin nur eine Ehrenamtliche», sagte sie geschmeichelt. «Und eine Mutter. Das ist alles», fügte sie hinzu.
Bevor sie die Halle verließ, trug Laura sich für zwei Wochenendschichten ein. Sie hinterließ auf der Tafel auch eine kurze Bemerkung zu dem möglicherweise fehlenden Chlor – Lösen sich die Tabletten auch wirklich vollständig auf? –, legte eine Tüte mit gefrorenem Hering in die Spüle und ließ warmes Wasser darüberlaufen. Dann wusch sie sich die Hände und trocknete sie am Hemd; es war eins von Erics alten Männerhemden; sie hatte in ihrem Wagen immer welche fürs Sea Lab dabei. Das Hemd stammte ursprünglich aus der Reinigung. Wenn Kunden etwas nicht abholten, brachte sie es mit nach Hause. Für Eric beschaffte sie viele Kleidungsstücke auf diese Weise. Auch für sich selbst. Alice atmete aus, und Laura sah dabei zu, wie der Freiwillige einen entsprechenden Vermerk machte. Zum Abschied winkte sie Paul in seinem Büro zu – er war immer noch am Telefon und rollte übertrieben die Augen wegen des Gesprächs –, dann verließ sie die Halle und trat nach draußen ins grelle Sonnenlicht.
Der Himmel war alabasterfarben, die Luft feuchtwarm und wie nasse Wolle auf der Haut. Sie beschirmte die Augen mit einer Hand, und eine Welle von Müdigkeit warf sie fast um. Sie blieb stehen und spürte der Leere in ihrem Körper nach, doch war sie keinesfalls unangenehm. In ihrer Anfangszeit hatte Eric sie oft zum Flundernfischen mitgenommen. Sie selbst hatte nie geangelt, aber sie liebte es, in die Gummistiefel zu schlüpfen, in das brackige, mondbeschienene Wasser zu waten und dabei den Sand zu spüren, der unter ihren Fersen leicht nachgab. Sie kehrten immer erst bei Tagesanbruch nach Hause zurück; die Haut spannte vom Salzwasser, das Haar war voller Sand, und jede Körperzelle pulsierte vor Müdigkeit. Während sie duschte, frittierte er die Flundern. Sie aßen sie mit Zitrone und Tabasco. Wenn sie danach zu Bett gingen, rollten die Wellen immer noch in ihrem Magen. Manchmal schliefen sie miteinander, aber oft ergaben sie sich einfach nur in die Bewusstlosigkeit des Schlafs und erwachten beim hellen Tageslicht.
Sie hörte einen Wagen von der Straße in die Zufahrt einbiegen. Sie bestand aus hartem Sandboden und verlief auf der gegenüberliegenden Seite der Halle entlang der zum Sea Lab gehörenden Rotbarschzucht. Sie konnte das Auto nicht sehen, wusste aber, dass es Dr. Frye war. Einige Möwen segelten um die Halle, das Autogeräusch hatte sie von ihren Brutplätzen aufgeschreckt. Kies klackerte von unten gegen die Karosserie. Er fuhr zu schnell für ihren Geschmack. Schlechte Nachrichten, dachte sie. Vielleicht zeigten Alices Blutwerte eine Infektion oder einen anderen Darmparasiten. Sie wollte nicht ausgerechnet jetzt wegfahren, ohne zu erfahren, was der Tierarzt herausgefunden hatte. Nur noch fünf Minuten, dachte sie, und wandte sich wieder der Halle zu. Eine der Möwen setzte sich in das trockene gelbe Gras am Parkplatz, die andere auf den Haufen übrig gebliebener Kapelane, die die Helfer dort entsorgten. Neben dem Abfall parkte ein 4x4 mit erhöhter Ladefläche, wahrscheinlich gehörte er einem der Freiwilligen. Der Wind frischte auf, trug den Gestank aus der Fahrrinne heran und verfing sich in den Ästen eines nahen Maulbeerbaums.
Vielleicht erkannte Laura den Truck ihres Mannes am Geräusch, als er neben ihr hielt. Vielleicht auch nicht. Sie war sich später nicht mehr sicher. Sogar als er auf sie einredete, als sie seinen aufgeregten Blick sah und er offenbar rief: «Auf nach Corpus. Wir müssen sofort nach Corpus!», war sie nicht sicher, dass sie begriff. Sie wusste nur, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Das Licht um sie herum wurde schwächer, als hätte man die Sonne hastig beiseitegeschafft. Er drehte die Scheibe herunter, aber vielleicht war sie auch bereits unten gewesen. Sein Gesicht war errötet und verquollen, so wie manchmal, wenn er aus der Garage ins Haus kam und sich weigerte, seine Traurigkeit einzugestehen. Ihn ausgerechnet hier an diesem Ort zu sehen, machte sie benommen. Sie ließ ihre Schlüssel fallen, hörte, wie ein Hallentor geöffnet wurde, man erwartete eine Lieferung Salzsäcke. Merkwürdigerweise erinnerte sie sich daran, wie Griffin sich für Halloween als Schaf verkleidet hatte. Er hatte die Füllung eines Kopfkissens auf einen Taucheranzug geklebt, den sein Papaw aus dem Leihhaus mitgebracht hatte. Das Tor hob sich mit Kettengerassel. Sie spürte, wie Staub in ihrer Nase kitzelte, langsam und deutlich ihre Knie nachgaben und die Fußgelenke schwach wurden. Ihr wurde übel. Der Motor des Trucks lief im Leerlauf. Sie wollte etwas sagen, aber ihr Mund war wie voll Sand. Ihr fiel kein einziges Wort ein. Sie hatte die Sprache verloren. Mit einem Mal war sie von ganzem Herzen dankbar, dass ihre Eltern bereits gestorben waren, dankbar, dass sie das hier nicht miterleben mussten und nicht mitbekamen, was ihre Tochter durchmachte.
Eric öffnete die Autotür und bewegte sich auf sie zu, er rief sie beim Namen, während die Welt vor ihren Augen die Konturen verlor, sich auflöste und in unendlich viele kleine Lichtpunkte zerstob. Wäre sie klar bei Verstand gewesen, hätte sie sich vielleicht an die perverse Schönheit jener ersten Nächte erinnert, in denen sie in den Dünen nach Justin gesucht hatten. Der Schein der Taschenlampen glitt über den Sand, wurde zu einem konturlosen Körper zusammengeschmolzen, hell wie blühende leuchtende Algen. Oder sie hätte an den Nachthimmel gedacht und daran, dass sie dort manchmal vergeblich nach der Sternenkonstellation Delphinus Ausschau hielt. Aber ihre Gedanken waren unscharf. Sie begriff nichts mehr. Sie löste sich von ihrem Körper und stieg immer weiter auf, bis sie auf alles hinunterblicken konnte. Ein Mann, der seine Frau in den Armen hielt, Schlüssel, die am Boden aufblitzten, das Wasser in der Fahrrinne für die Schiffe, grau und still wie eine Lithographie. Bevor alles um sie herum schwarz wurde, bemerkte sie einen winzigen Spatz, der durch das Garagentor der Halle entkam. Mit einem Flügelschlag nahm er den Wind auf und wurde himmelwärts getragen.
Cecil Campbell ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er war siebenundsechzig Jahre alt, Witwer und Großvater, von Beruf Pfandleiher, mit einer Vorstrafe wegen Glücksspiels. Und er hatte gelernt, dass Ungeduld oft nichts als Arroganz war. Nichts als Überheblichkeit. Eitelkeit. Und so nahm er, als Ivan Martinez ihm die telefonische Nachricht von Eric überbrachte – sie war in Martinez’ deutlicher Handschrift auf die Rückseite eines Leihscheins notiert –, die wenigen Worte in aller Ruhe in sich auf, als müsse er sie erst in eine andere Sprache übersetzen: Hol Griff ab. Kein Fernsehen, Radio oder Internet. Alles klar, dachte er. Alles klar, das krieg ich hin.
Er stand bei den Schmuckauslagen im Loan Star, mehrere Klimaanlagen wirbelten die Luft im Laden herum. Sie war so kühl und rein, dass Cecil am liebsten die Augen geschlossen hätte. Ivan sprach schnell und entschuldigte sich, er habe Eric gebeten, dranzubleiben, habe losrennen und dessen Vater holen wollen. (Cecil war unterdessen auf dem Parkplatz gewesen und hatte einem Seemann, dessen Landurlaub zu Ende ging, einen Cadillac abgekauft.) Aber Eric wollte nicht warten, er hatte einen anderen Anruf in der Leitung und legte auf. Cecil nickte. Jemand hatte Glitzerschmuck an den Belüftungsschächten des Leihhauses befestigt, er hätte nicht sagen können, wer das gewesen war und seit wann der dort hing. Er bemerkte ihn zum ersten Mal. Er blieb noch einen Augenblick lang stehen, dann ließ er die Schlüssel für den Caddy über den Tresen zu Ivan schlittern, klopfte mit den Knöcheln gegen das Glas und marschierte zur Tür.
Sein Ford-Pick-up stand neben dem Schild mit der Aufschrift: Wir kaufen Klimaanlagen! Als er aus der Parklücke fuhr, stieg kein Staub von den Reifen auf. Er bog langsam auf die Straße.
Cecil hielt sich an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit. Er überlegte, ob er noch kurz zu Hause vorbeischauen sollte, um sein Handy zu holen, entschied aber, dass das Zeitverschwendung war. Geduld bedeutete nicht, sich Zeit zu lassen, herumzulungern. Trotzdem wünschte er sich, er hätte das Telefon mit zur Arbeit genommen. Ganz zu Anfang hatten sie alle ihre Handys immer und überall dabeigehabt. Er hatte seins zu Hause gelassen; falls ihn jemand erreichen wollte, wusste derjenige, wo. Er hatte seine Routinen. Morgens trank er seinen Kaffee im Castaway Café, dann ging er ins Loan Star und nach der Arbeit zum Abendessen nach Hause. Normalerweise aß er Tamales oder Bohnen mit Reis oder paniertes Steak, doch mitunter tauschte ein Shrimpsfischer ein Stück Schwertfisch oder Haifischfleisch gegen etwas aus dem Leihhaus, das ihm gefiel, und Cecil holte seinen japanischen Grill hervor. Manchmal werkelte er abends noch in der Garage, spielte Solitär oder ging Flundern fangen, doch meistens fuhr er in der Gegend herum und kontrollierte die Handzettel an den Tankstellen und Raststätten. Auf diesen Runden nahm er sein Handy mit, für den Fall, dass es etwas Neues gab. Die Handys waren eine Spende, ebenso wie die unbegrenzte Sprechzeit, und ganz am Anfang hatte Cecil geglaubt, sie würden weiterhelfen. Man klammerte sich an jede Hoffnung. Doch ihn hatte seit Jahren niemand auf dem Handy angerufen. Er war nicht einmal sicher, dass er die Nummer noch wusste. Aber es war ihm egal, denn das Gewicht dieses Teils in seiner Hosentasche erinnerte ihn doch nur an alles, was sie verloren hatten.
In dem Ford war das Lenkrad glühend heiß, und er legte ein Taschentuch unter seine Handfläche. Von seinen Achseln troff der Schweiß, und der dünne Baumwollstoff seines Hemds klebte feucht zwischen seinem Rücken und der Lehne aus Kunstleder. Er suchte nach einem Sender, aber es gab nichts als Musik und Werbung und einen Priester aus Corpus. Er mochte den Sender mit Infos für Surfer und Fischer, manchmal kamen auch Nachrichten, und so stellte er den ein. Er war auf dem Weg zum Haus seines Sohnes in der Longcommon Road. Griff, das wusste er, verbrachte die Sommernachmittage mit Videospielen, und er stellte sich vor, wie der Junge sich bei dieser Hitze auf die Couch lümmelte, die Daumen an der Konsole. Vor dem Verlassen des Pfandhauses hätte er doch noch mal im Büro vorbeischauen sollen; am Wochenende hatte ein Mann ein paar Videospiele versetzt, und er hatte sie vorsorglich für Griff beiseitegelegt. Wahrscheinlich besaß Griff sie bereits – die Leute hatten doch alle mehr oder weniger die gleichen Spiele –, aber Cecil hätte gern etwas dabeigehabt, wenn er an der Tür klopfte, irgendetwas, dass den Jungen davon ablenkte, dass der Papaw scheinbar grundlos vor der Tür stand und auch nicht recht wusste, was er hier wollte.
