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Schockierend, profunde und mitreißend erzählt: Wie die Kalaschnikow ein Zeitalter der Kriege beeinflusst; vom Vietnamkrieg bis zum Gaza-Konflikt
Taxi, Cola, Kalaschnikow. Diese drei Worte versteht jeder Mensch auf der ganzen Welt. Kaum eine Waffe hat den Lauf des 20. Jahrhunderts mehr geprägt. Es ist die Waffe, die in der Geschichte der Menschheit die meisten Todesfälle verursachte. Nicht ohne Grund wurde die AK-47 zu einem Symbol der Revolte, der Massaker und Völkermorde.
Mit beispielsloser Kenntnis des Themas, mit Faktentreue und mit einer erzählerischen Wucht, die das Buch zum einem starken Plädoyer gegen die Verrohung des Menschen macht, nähert sich der preisgekrönte Kriegsreporter Domenico Quirico dieser Waffe auf zwei Ebenen: über die Autobiografie ihres Erfinders, Michail Kalaschnikow, und über eigenen Erinnerungen an die Orte, an denen er der Waffe begegnete – von Mosambik über Gaza und Somalia, bis Syrien, Tschetschenien und der Ukraine. Dabei zeigt er die Kalaschnikow nicht als Instrument des Fortschritts, sondern der Gewalt, und ermöglicht uns ein neues Verständnis der Konflikte unserer Zeit, die alle durch diese Waffe vereint sind.
»›Kalaschnikow‹ ist ein hartes Buch, aber eines, das das Verdienst hat, dass es uns Teile der Welt verstehen lässt, die sonst schwer zu bewerten wären.«
Provincia Granda
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Taxi, Cola, Kalaschnikow. Diese drei Worte versteht jeder Mensch auf der ganzen Welt. Kaum eine Waffe hat den Lauf des 20. Jahrhunderts mehr geprägt. Es ist die Waffe, die in der Geschichte der Menschheit die meisten Todesfälle verursachte. Nicht ohne Grund wurde die AK-47 zu einem Symbol der Revolte, der Massaker und Völkermorde.
Mit beispielloser Kenntnis des Themas, mit Faktentreue und einer Wucht, die das Buch zu einem starken Plädoyer gegen die Verrohung des Menschen macht, nähert sich der preisgekrönte Kriegsreporter Domenico Quirico dieser Waffe auf zwei Ebenen: über die Autobiografie ihres Erfinders, Michail Kalaschnikow, und über eigenen Erinnerungen an die Orte, an denen er der Waffe begegnete – von Mosambik über Gaza und Somalia, bis Syrien, Tschetschenien und der Ukraine. Dabei zeigt er die Kalaschnikow nicht als Instrument des Fortschritts, sondern der Gewalt, und ermöglicht uns ein neues Verständnis der Konflikte unserer Zeit, die alle durch diese Waffe vereint sind.
Zum Autor
Domenico Quirico, geboren 1951 in Asti, zählt zu den renommiertesten Kriegsberichterstattern Italiens. Er hat als Auslandskorrespondent für die Turiner Zeitung La Stampa viele Kriege dieser Welt vor Ort verfolgt, in Darfur, Uganda, Tunesien, Libyen und Syrien, wo von Rebellen der al-Qaida entführt wurde. Dank der Intervention des italienischen Staates konnte er nach fünf Monaten heimkehren. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Indro-Montanelli-Preis und 2015 mit dem Bracanti-Preis für sein Buch »Il grande califfato«.
Domenico Quirico
Kalaschnikow
Wie eine Waffe unser Zeitalter der Konflikte prägt
Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen
Die italienische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Kalashnikov« bei Rizzoli in der Verlagsgruppe Mondadori, Mailand.
Die »Zwischenspiele« paraphrasieren teilweise Texte der 2003 in Frankreich unter dem Titel »Ma vie en rafales« bei Éditions du Seuil erschienenen und gemeinsam mit Elena Joly verfassten Autobiografie von Michail Kalaschnikow. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Mein Leben« im Antje Kunstmann Verlag.
© 2024 Mondadori Libri S.p.A., originally published by Rizzoli, Milano, Italy
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 ∙ 20354 Hamburg
Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverabbildung von Peter Zelei Images / Getty Images
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN9783749908295
www.harpercollins.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheber und des Verlags bleiben davon unberührt.
Einführung
Vierzig Dollar
»Die Geschichte ist […] nicht / die zerstörende Raupe, für die man sie hält. / Sie hinterlässt Unterführungen, Krypten, Löcher / und Verstecke. […] / Die Geschichte wühlt den Grund auf / wie ein Schleppnetz […].«
– Eugenio Montale, »La storia«, aus Satura (1971)
Um eines gleich zu Beginn klarzustellen: Dieses Buch handelt nicht von einer Waffe. Wer etwas über die Benutzung der Kalaschnikow, ihre technischen Parameter oder die Gefechtstaktiken erfahren will, bei denen sie seit siebzig Jahren in Dschungel-, Wüsten- oder Straßenkämpfen von regulären Truppen, Guerillas und Kriminellen eingesetzt wird, braucht gar nicht weiterzulesen. Dieses Buch ist eine Abhandlung über das Böse. Und dieses Böse hat einen Zeitrahmen, der sich genau eingrenzen lässt. Er reicht von den 1950er-Jahren, dem Beginn des Kalten Krieges, bis in die heutige Zeit, das dritte Jahrtausend. Vor allem das dritte Jahrtausend.
Ich habe niemals an die Existenz eines metaphysischen, abstrakten Bösen geglaubt. Der Teufel manifestiert sich auch nicht als physische Präsenz auf Bocksbeinen, mit Hörnern, Schwanz und rötlichem Teint wie auf den Fresken des Mittelalters. Vielmehr gedeiht das Böse überall dort, wo es auf etwas trifft, das die Fähigkeit zu leiden besitzt. Das macht es so entsetzlich real und erbarmungslos alles durchdringend. Zugleich ist das Böse wandelbar, vielgestaltig, kosmopolitisch und polyglott. Nicht umsonst führt der Teufel im Neuen Testament Jesus in der Wüste in Versuchung, indem er ihm unter anderem die Macht über alle Reiche der Welt anbietet. Diese Ahnung scheint also seit jeher tief im Menschen verwurzelt zu sein.
Das Böse findet sich bei Gebildeten ebenso wie bei Ungebildeten. Diesbezüglich kennt es keine Präferenzen. Es gibt jedoch etwas, woran man seine Anwesenheit zweifelsfrei erkennen kann, nämlich die Ausübung von Zwang und Gewalt – selbst dann, wenn die betreffenden Maßnahmen als »gerecht« angesehen werden. Seine Saat sprießt, sobald Menschen Mangel, gewaltsame Übergriffe, Fehlschläge, geistige und körperliche Einschränkungen oder die Zerstörung ihrer Träume erdulden müssen.
Das Böse ist Leiden, denn das eine beinhaltet das andere, wie es Leopardi im »leidenden Garten« in seinem Zibaldone so wunderbar beschreibt. Böses zu tun bedeutet, Leid zuzufügen und bestehendes Leid zu vergrößern. Es ist die Fata Morgana der absoluten Macht über Leben und Tod. So gesehen ist die Kalaschnikow, die AK-47, das perfekte, um nicht zu sagen diabolische Instrument des zeitgenössischen Bösen, seine Synthese und sein Symbol. Denn alles, was ich gerade über das Böse gesagt habe, jeder einzelne Gesichtspunkt, lässt sich auf das sowjetische Sturmgewehr übertragen.
Wer glaubt, dass die Technik, die erlösende Kraft der Vernunft, realitätsnahe soziale Lösungen und die Kultur das Böse schon früher oder später ausmerzen werden, den muss ich leider enttäuschen. Der Erfinder des seinen Namen tragenden Gewehrs belehrt uns eines Besseren. Seine Lebensgeschichte, die aufs Engste mit diesem Schreckenswunder verwoben ist, erteilt uns eine wahrhaft ernüchternde biografische Lektion, denn sie steht für das grausame Jahrhundert am Übergang zum dritten Jahrtausend. Der Krieg ist da, Seite um Seite, man kann seinen heißen Atem im Nacken spüren, er ist das Ungeheuer, das der Menschheit im Dunkeln auflauert. Ob in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika oder den Vorstädten, überall, wo verbrecherische Regierungen den Rechtmäßigen die Macht entrissen haben, werden die Opfer vom Gestank seiner Ausdünstungen geplagt. Das Ungeheuer schnüffelt an ihnen, zielt auf sie und legt den Sicherungshebel um. Mit oder ohne Kolben, mit Klebeband geflickt, verrostet oder verziert, die Kalasch, wie die Guerilla sie nennt, geht aus jedem Krieg gestärkt hervor, ganz gleich, wer ihn gewonnen hat. Sie vermehrt und verbreitet sich, aus zehn Millionen werden fünfzig, dann hundert Millionen, es scheint keine Grenze zu geben. Sie ist billig, schon für vierzig bis zweihundert Dollar zu haben. Patronen kosten neun bis zwölf Cent pro Stück. Von Bagdad bis Tripolis, Moskau und Peking, überall wird Metall in Form gepresst und gehämmert, vom Morgengrauen bis spät in die Nacht. Doch was stellen sie her, diese eifrigen Priester des Waffenhandwerks? Frieden vielleicht? Eine bessere, wohlhabendere und klügere Welt?
Die Kalaschnikow verleiht dem Naturgesetz, dass jedes Leben vom Tod anderer Leben lebt, eine rund drei Kilo schwere materielle Gestalt aus Stahl und Holz mit einem einfachen Mechanismus. Ungeachtet aller Fortschritte in unseren weltlichen und religiösen Überzeugungen, der (niemals wirklich universellen) Menschenrechte und der höheren Ideale, töten Menschen weiterhin, um zu überleben. Das Böse in Form des Leides, ganz gleich, ob es nun durch Untätigkeit entsteht oder aktiv herbeigeführt wird, erzeugt rechtsfreie Räume, in denen es das Töten für rechtmäßig, ja verdienstvoll erklärt. Die Rechtfertiger und Fanatiker, die Ideologen und von Idealen beseelten Vollstrecker, sie alle berufen sich auf den vermeintlichen Willen des Volkes, die Notwendigkeit zur Verteidigung des Stammes oder des Wirtschaftsmodells, die Sicherheit, den Willen Gottes und sogar auf die These, dass wir töten müssen, um das Leid zu verringern und dem Guten zum Sieg zu verhelfen – womit natürlich stets das jeweils eigene Gute gemeint ist. Ja, selbst das Heilige scheint ab und zu des Bösen zu bedürfen. Was auf den ersten Blick wie eine ungeordnete Abfolge erscheint wird verständlich, sobald man sich einige Bilder ins Gedächtnis ruft: die Serienhinrichtungen der iranischen Revolutionswächter und der Schergen Gaddafis etwa, die ethnischen Säuberungen in Ruanda, Darfur und Bosnien, die neuen Welten, in denen Pol Pot oder das Kalifat Ströme von Blut vergießen … Und die Kalaschnikow ist das am meisten ausgereifte, am weitesten verbreitete und preiswerteste Tötungsinstrument, das diesen Leuten jemals zur Verfügung stand.
Wie viele Bilder von Kalaschnikows haben wir als friedliche, unschuldige Westler in unserem Gedächtnis gespeichert? Denken Sie einmal darüber nach, und Sie werden sich wundern. Nehmen wir zum Beispiel Salvador Allende, der sich mit der Kalaschnikow, die ihm Fidel Castro geschenkt hat, auf den Tod vorbereitet. Im Nachhinein fragt man sich, ob in dieser Gabe nicht sogar schon eine Vorahnung mitschwang. »Das ist es, was die Revolution braucht, das muss dem Volk gegeben werden, keine Träume, sonst wirst du hinweggefegt, Genosse Präsident«, sagte der Máximo Líder, als er ihm die Waffe überreichte. Allende verlässt den Palacio de La Moneda durch die Puerta de Morandé, begleitet von zwei, mit Sturmgewehren bewaffneten Leibwächtern in Zivil, die den Himmel nach den Schergen Pinochets absuchen.
Dann wird es rätselhaft. Was ist wirklich passiert, denn es gibt unterschiedliche Versionen des Geschehens. Der ersten zufolge sitzt Allende kurz vor Ablauf des halbstündigen Ultimatums von Oberst Guillard – »Ergib dich oder wir bombardieren« – auf einem Sofa im Salón Independencia, klemmt sich seine Kalaschnikow zwischen die Beine und erschießt sich. So die offizielle, von Pinochet bevorzugte Darstellung, die Allende als einen Rivalen schildert, der nicht mehr kämpfen kann und als Eingeständnis seiner Niederlage Selbstmord begeht. In der zweiten Version stellt sich Allende dem eindringenden General Palacios und seinen Vollstreckern mit dem Gewehr in der Hand und dem Ruf »Traidor!«, Verräter, entgegen, bevor er sich erschießt. Ein heldenhafter Allende also, der sich weigert, mit einem Flugzeug aus dem Land zu fliehen, und lieber durch eigene Hand stirbt, als sich von seinen Gegnern ermorden zu lassen.
Und Bin Laden? Wer erinnert sich nicht an das unauslöschliche Bild des Terror-Milliardärs? Ich meine ihn persönlich, nicht die Aufnahmen von den einstürzenden Türmen, seinem grauenhaften Meisterwerk. Das verschwommene, absurd bukolische Bild zeigt einen alten Mann mit grau meliertem Bart in Dschallabija und Turban gehüllt, der auf einem Felsen in einer afghanischen Berglandschaft sitzt und zu seinen Leuten spricht. An seiner Seite, wie beiläufig an den Fels gelehnt, eine Kalaschnikow.
Oder Bin Laden in einem Ausbildungslager von al-Qaida, wie er im gleißenden Wüstenlicht eine neue Kalaschnikow testet und mit zufriedener Miene kurze Feuerstöße abgibt. Sie ist die bevorzugte Waffe der Terroristen, auch wenn sich seine 9/11-Apostel notgedrungen mit Messern und Pilotenlizenzen begnügen mussten.
Ihre Vorläufer vom Schwarzen September dagegen, jene acht Palästinenser, die am 5. September 1972 das Attentat in München verübten, hatten Kalaschnikows. Was den Anschlag so ungeheuerlich machte, war der Umstand, dass er gegen alles verstieß, wofür Olympia steht. Die Terroristen hatten ihre Waffen in Seesäcken unter Frauenunterwäsche verborgen, etwas, das sich die deutsche Polizei offenbar nicht vorstellen konnte. Schließlich waren es die Olympischen Spiele, das Gegenteil von Krieg und Hass! »Geld bedeutet uns gar nichts und unser Leben genauso wenig«, sagten die Entführer dem ägyptischen Unterhändler, der sich um die Freilassung der Geiseln bemühte. Das war der Anfang. Der dunkle Abgrund hatte sich aufgetan. Das Sturmgewehr – und hier wird es eschatologisch – galt ihnen als der letzte Ausweg der Gedemütigten, gleichmachende Vergeltung der Unglückseligen und Lichtstrahl in der Dunkelheit. Uns, die wir noch nicht einmal mehr an unsere eigenen Schatten glauben, bleibt nichts anderes übrig, als diejenigen als Nihilisten zu bezeichnen, die fest ans himmlische Paradies und das Geschlecht der Engel glauben.
Ihre Kalaschnikows setzten sie gleich im Olympischen Dorf zum Töten ein und später auch am Flughafen, wo es zu einem tragischen Showdown mit Handgranaten und Gewehrfeuer kam. Doch damit war es nicht vorbei, denn die Israelis rächten sich, indem ihr »Komitee X« die Drahtzieher des Attentats einen nach dem anderen ausschaltete. Dabei fiel den Killern des Mossad auch ein unschuldiger marokkanischer Kellner zum Opfer, der das Pech hatte, dem Anführer des Schwarzen September in Europa ähnlich zu sehen. Sie erschossen ihn im norwegischen Lillehammer, vor den Augen seiner schwangeren Frau.
Dann ist da noch Arafat mit all seinen Widersprüchen und offenen Fragen. Was symbolisiert seine Ambivalenz, seine Motivationen und Schwächen am besten? Die Kufiya vielleicht, die als Palästinenser- oder Arafattuch Berühmtheit erlangte? Nein. Wenn überhaupt, dann sind es die Bilder von ihm vor den Vereinten Nationen, die sein Leben zwischen Olivenzweig und Kalaschnikow offenbaren. Er präsentiert sich auf ihnen als Held und Opfer zugleich, zwei Kategorien, die sich heutzutage allzu oft überschneiden. Das Gewehr und der Olivenzweig, sie stehen für das Paradoxon eines Anführers, der seinem Volk eine ganze Reihe unvergleichlichen Leids beschert hat und doch immer ein Symbol blieb. Seine Autorität und seine Machtposition wurden niemals ernstlich in Frage gestellt.
»Je mehr Zerstörung ich um mich herum sehe, desto stärker werde ich«, sagte er einmal. Arafat, ewiger Herr der Heimatlosen und Besiegten, der Verdammten, Enteigneten und Häretiker – so viele Bezeichnungen für ein einziges Schicksal …
Und was ist mit Saddam? Der irakische Diktator zeigte sich ebenfalls gerne mit Waffen, mit Pistolen oder Schrotflinten etwa, vor allem aber mit Kalaschnikows. Zwei von ihnen hatte er bei sich, als ihn amerikanische Soldaten in einem Erdloch aufstöberten. Sein Sohn Udai besaß sogar ein vergoldetes Exemplar. Die Worte von Diktatoren bleiben uns zumeist nicht im Gedächtnis haften, denn sie haben im Grunde nicht viel zu sagen. Allenfalls erinnern wir uns an ihren Anblick mit Bajonetten und Sturmgewehren, so, als sähen wir einen Gangsterfilm oder eine Nachrichtensendung über den jeweiligen Politschurken vom Dienst. Und dieser Waffe, der Kalaschnikow, widmete der irakische Ra‘īs sein hinterhältigstes stalinistisches Lächeln, bevor er Giftgas zur Massenvernichtung einsetzte. Und im Jahr 2001 errichtete er eine Moschee mit vier Minaretten, geformt wie die Läufe einer AK-47.
Zur Biografie des Schlächters von Bagdad gehören aber auch die ein wenig seltsamen Aufnahmen jenes amerikanischen Soldaten, der mit einem gezielten Schuss aus einer erbeuteten Kalaschnikow die Schlösser von Saddams Palast sprengt, dieser architektonischen Kitschversion von Tausendundeine Nacht. Und dann, beinahe so, als wolle er sich für die Wahl seiner Waffe entschuldigen, sagt er: »It’s a great gun!« Es ist ein tolles Gewehr.
Die jüngere Geschichte Afghanistans lässt sich nicht adäquat zusammenfassen. Sie ist viel zu dicht und tragisch, als dass ihr eine simple chronologische Abfolge gerecht werden könnte. Die russische Invasion, die Mudschaheddin, dann die Taliban, die Amerikaner, die für zwanzig Jahre kamen und doch nichts erreichten, und schließlich wieder die Taliban. In Zeiträumen lässt sich dieses Drama nicht bemessen, sondern nur in Tod, Schmerz und Leid. Denn es gibt einen stets präsenten Gegenstand, dessen verlässlicher Mechanismus das Geschehen bestimmt und auf zeitlose Weise alles miteinander verbindet: die Kalaschnikow. Ein Gegenstand, der grausame, unauslöschliche Bilder erzeugt.
Mit dieser Waffe in Händen besiegten Kämpfer mit Pantoffeln an den Füßen und einem Pakol auf dem Kopf die beiden modernsten und mächtigsten Armeen der Geschichte. Aus der Kalasch der heldenhaften Mudschaheddin, die wir dafür priesen, dass sie russische Kommunisten töteten, wurde die Kalaschnikow der uns verhassten, Frauen quälenden Taliban. Dabei ist es derselbe Fanatismus, dasselbe Faible für Burka und Scharia, dieselbe Effizienz im Guerillakrieg und dieselbe Gewissheit, dass die Zeit auf ihrer Seite steht. Es sind Menschen, die noch im Tode siegen, weil sie seine Diener sind. Das macht aus der Kalaschnikow ein Symptom für den Niedergang des Westens.
Ich glaube, es gibt keine Bilder, die Abu Bakr al-Baghdadi mit einer Kalaschnikow zeigen. Gleich nachdem er sich bei seinem einzigen öffentlichen Auftritt im Jahr 2014 in der Großen Moschee von Mossul als Prophet des Zweistromlandes geriert und das Kalifat des Islamischen Staates ausgerufen hat, entschwindet der Kalif des Bösen wieder ins ikonografische Nirwana. Von Geheimnissen umwoben leitet er aus dem Verborgenen seine Anhänger an, die wie Roboter des Bösen blutige Geschichte schreiben. Al-Baghdādī hat sich entschieden, das dumpfe, namenlose Böse zu verkörpern, das kein Erbarmen kennt, ja darin aufzugehen und auf diese Weise die Grundlage für Legenden zu erschaffen.
Seine Männer dagegen lieben Bilder und setzen sie geschickt ein, um zu drohen, zu terrorisieren oder neue Anhänger zu gewinnen. Sie schlitzen Kehlen mit Messern auf, wie es schon Abrahams alter Opferritus vorsieht, benutzen aber Kalaschnikows, um zu erobern und zu annektieren. Vom Sand der Ebenen Ninives, wo alles begann, über die von Boko Haram beherrschten Wälder Nigerias und die Sahelzone der fanatisierten Tuareg bis hin nach Mosambik schießt und tötet das universelle Kalifat mit der Automat-Kalaschnikow, die einst das Symbol der Roten Armee und der kommunistischen Guerilla war. Auf diese Weise erschaffen seine Mitglieder Orte des Gottesfriedens, eines stummen, einsamen und eisigen Friedens, der alles, was das eigene Leben bis dahin bestimmt hat, für null und nichtig erklärt. Und als wäre dieser Vorgang an sich nicht schon ungeheuerlich genug, scheint er durch die Gleichsetzung von Tod und Erlösung mit der Zeit auch noch den Gestank von Hass und Schlechtigkeit zu verlieren.
Die Kalaschnikow der Dschihadisten ist Lust am Nichts, sie kennt keine Schmerzen, dafür fehlen ihr die Sinne. Sie ist der Tod ohne die Gier des Todes – ein Feuerstoß genügt, und die Unreinen landen in der Grube, die sie selbst gegraben haben. Die Kalaschnikow führt Gott und den Teufel, das Gute und das Böse auf wundersame Weise zusammen, vertauscht Tod und Gnade, die sich beide derselben Materie und derselben Taten bedienen.
Das Gebet, die Opfergabe und das Menschenopfer, die jedem Gebrauch der Waffe vorausgehen, sind Akte der Hingabe an Gott, aber auch der Hingabe an das Gebot der Verzweiflung. Denn die Sehnsucht nach Gott ist zugleich eine Sehnsucht nach Tod und Sünde.
Vielleicht hat Michail Kalaschnikow das alles in seinem wohlgeordneten, mit Magazinen und Zündern angefülltem Frankenstein-Labor nicht bedacht. Und vielleicht war er sich nie ganz bewusst, welches Ausmaß das von ihm mitverursachte Übel hatte, als er in einer Art Miniaturversion der Reue, die Alfred Nobel empfand über seine Erfindung des Dynamits, seine Bestürzung darüber zum Ausdruck brachte, dass seine Waffe doch tatsächlich in Hände von »Terroristen« gelangt war. Und er bedauerte, stattdessen nicht lieber einen Rasenmäher erfunden zu haben …
Es gibt ein Foto, das zeitlos ist und nichts an Aktualität eingebüßt hat. Bei seinem Anblick möchte man heulen. Es zeigt einen unbekannten Kindersoldaten mit einer AK-47 über der Schulter; das Gewehr ist beinahe größer als er selbst. Man hat es ihm nicht nur für dieses Foto in die Hand gedrückt, nein, es ist seine Waffe, sie funktioniert, und sie tötet. Die Aufnahme hätte so oder so ähnlich in vielen Dörfern Afrikas entstehen können, vom Kongo bis nach Liberia, von Äthiopien bis in den Tschad. Die Kalaschnikow ist eine so effektive, billige und einfach zu bedienende Waffe, dass sie Kinder in Killer verwandeln kann. Der Ingenieur Kalaschnikow hat das schmutzige Handwerk des Tötens auch für die Jüngsten erlernbar und zu einem Bestandteil der Kindererziehung gemacht, hat ihr Spielzeug durch sein Gewehr ersetzt und den Blicken der Kinder alle Lebensfreude geraubt.
In Kambodscha hat er den im menschenleeren Phnom Penh patrouillierenden Kindern der Roten Khmer jede Leichtigkeit genommen. In ihrer viel zu neuen, an den Knien ausgebeulten Einheitskleidung, so schwarz wie die Dunkelheit in ihren Augen, mit dem Krama um den Hals und der AK-47 in der Hand, leichenblass und nach monatelangen Dschungelaufenthalten an Vitaminmangel leidend, liefen sie an zerbrochenen Fenstern und Türen vorbei, wichen zerschlagenen Möbeln aus, traten achtlos auf weggeworfene Kleider und Bücher, die zerrissen worden waren, damit niemand mehr sie lesen konnte. Die letzten Vertreter dieser bürgerlichen Welt starben auf den Reisfeldern an Hunger, Erschöpfung und Krankheit oder wurden, um Munition zu sparen, mit Hacken erschlagen.
»Chop, halt!« Das Kind in schwarzer Uniform schießt lässig auf einen Mann, den es in einem Haus bemerkt, ein Vergessener des kambodschanischen Völkermords, auf der Suche nach Essen oder Erinnerungen. Hier, wo der Tod so nah ist, dass man seinen Hauch spüren kann, hier, wo niemand dem Schrecken entrinnt, hier ist das Herrschaftsgebiet der Kalaschnikow.
Kinder und die Kalasch, das ist wie das perfekte Verbrechen, denn man vertraut sie jenen an, die leicht zu manipulieren sind und keinen Widerstand leisten. Obendrein sind sie billig und töten gut. In Kinderarmeen braucht es weder eine ideologische Schulung noch Pflichtbewusstsein, Heroismus oder die eingeimpfte Sorge um das Schicksal des Proletariats. Man muss den kleinen Kämpfern einfach nur eine AK-47 in die Hand drücken und ihnen sagen: »Tötet!« Ein Gefangener wird an einen Pfosten gebunden oder auf die Knie gezwungen, damit das Kind ihn nicht verfehlen kann. Ein Feuerstoß. Das Opfer zuckt im Rhythmus der Treffer, sackt in sich zusammen, und das Blut spritzt. In diesem Moment entdeckt das Kind die Faszination des Tötens. Als Erwachsene töten sie umso leichter, wenn die Kindheit nur noch eine verschwommene Erinnerung ist, so als hätten sie gar keine gehabt.
Ohne die Erfindung des Genossen Kalaschnikow wäre dieser Horror nicht möglich. Niemand würde den kleinen Guerilleros ein teures Sturmgewehr aus dem Westen anvertrauen, das nicht nur schwerer zu bedienen ist, sondern auch sorgfältig gewartet werden muss, um zu funktionieren. Die Kalaschnikow dagegen stellt keine hohen Anforderungen an ihren Benutzer. Und wenn sie doch einmal kaputtgeht, kauft man sich für vierzig Dollar eben eine neue.
Als Pol Pots Kindersoldaten im Januar 1979 vor den anrückenden vietnamesischen Truppen in den Urwald flohen, hinterließen sie Spuren im Tuol-Sleng-Gymnasium. Hier wurden unzählige zum Tode verurteilte Gefangene fotografiert und registriert, bevor man sie hinrichtete, nur weil sie der alten Welt angehörten, die verschwinden sollte. Die jungen Khmer-Soldaten hatten es eilig. Sie ließen Ketten, Haken, Ochsenziemer, Zangen und mit Blut verkrustete Peitschen zurück, dazu Käfige für Spinnen, Schlangen und Skorpione, die bei der Folter verwendet wurden, eine Tonne für Urin und einen Kasten für AK-47-Munition, in dem mit Blut vermischte Fäkalien aufgefangen worden waren … Das ist alles, was übrig blieb vom Projekt zur Erschaffung eines neuen, geläuterten Menschen, für das alles Alte buchstäblich zu Grabe getragen werden musste.
In Vietnam gab es keine Kindersoldaten, aber der blutige Mythos der Kalaschnikow erblühte auch hier und erschuf unauslöschliche Bilder: Vietcong-Kämpfer mit den selbstgewissen Blicken von Siegern, auf Panzern, Motor- oder Fahrrädern unterwegs zum Präsidentenpalast im eroberten Saigon. Sie halten ihre Sturmgewehre in Händen, stellen sie zur Schau, klammern sich geradezu an ihnen fest. Und das mit gutem Grund, denn die Kalaschnikow hat ihnen zum Sieg verholfen, dem unglaublichsten aller Siege, hat ihnen die Macht und revolutionären Ruhm beschert.
Als die nordvietnamesischen Truppen den Stadtrand Saigons erreichen, stoppen sie ihren Vormarsch zunächst. Es soll ehrenvoll vonstattengehen, wenn der Vietcong die korrupte Hauptstadt des Südens befreit und damit dreißig Jahre Krieg beendet. Es ist politisches Kalkül der neuen Machthaber, die aller Welt demonstrieren wollen, dass es sich nicht um einen Einmarsch, eine Invasion, sondern um eine Volksbefreiung handelt. Es ist aber auch eine Würdigung der Rolle, die die barfüßigen Kalaschnikow-Kämpfer, die Helden der Reisfelder, in den Kämpfen gespielt haben.
Der Mythos der AK-47 als Waffe der Revolution ist ein Kind jener Tage, geboren aus der Demütigung der Amerikaner, die panisch auf das Dach ihrer Botschaft flüchten und sich in Hubschraubern davonmachen. Vor den Toren der Vertretung drängen sich Scharen verzweifelter Vietnamesen, die den Versprechen der Amerikaner geglaubt hatten und nun auf einen Platz in einem der Helikopter hoffen. Aber die Tore werden von den letzten verbliebenen Marineinfanteristen bewacht, die durch die Menschen hindurchsehen, als wären sie gar nicht da. Der Verrat des Westens – es war nicht der erste und sollte nicht der letzte bleiben. Kurden und Afghanen können ein Lied davon singen. Und wer weiß, was noch kommt.
Der Mythos der Revolutionswaffe, des Racheinstruments der Verdammten, entsteht in Saigon, als die letzten Autokolonnen – eine Familie entkommt sogar auf einem Leichenwagen – vor dem anrückenden Vietcong fliehen. Doch wohin sollen sie gehen? Es gibt keine Rettung mehr, die Niederlage hat jede Zuflucht verschlungen. Die Türen der Gebäude um das Hotel Continental, einem der Orte, an dem die Lügen des Krieges ersonnen und aufgeschrieben wurden, sind eingeschlagen. Heraus kommen Kinder mit Beute beladen, meist Kisten mit Coca-Cola oder kleine Büromöbel.
Die Kalaschnikows haben das alte, das verdammte, das außergewöhnliche Saigon einmal gründlich ausgefegt. Die Stadt der endlosen Blechdächer, die im Sonnenschein glänzen und vom Regen reingewaschen werden, endlose Passagen bedecken und unaufhaltsam ins Zentrum drängen, es überwältigen und unter einer gigantischen Gleichförmigkeit begraben. Das turbulente, das schmutzige und zerbrechliche Saigon, das wie ein Termitenhügel brodelt, die Stadt, von der man nicht sagen kann, wo sie anfängt und aufhört. Die Kalaschnikows der einrückenden Guerillakämpfer fegen alles hinweg. Die GIs sind nicht mehr da, geflohen, verschwunden.
Die Soldaten General Giáps überqueren die kleine Phan-Tan-Gian-Brücke und schlängeln sich durch ein Gewirr aus Hütten, erbaut aus Pappe, Holz und Bierkästen. Ab und zu stoßen sie dabei auf ein richtiges Backsteinhaus, das einst der Landsitz eines reichen französischen Pflanzers war, mit der Zeit aber so nachhaltig von der Stadt verschlungen wurde, als hätten die Hütten es in Geiselhaft genommen. Sie fahren die Straße Nummer 1 hinauf, die nach Kambodscha führt. Wie aufs Stichwort passieren sie den großen Friedhof, das nun leere Chí-Hòa-Gefängnis und das wie ausgestorben daliegende Gebäude des südvietnamesischen Generalstabs. Bis zum Vortag herrschte hier von morgens bis abends ein Spektakel aus Menschenmassen, durch die man sein Fahrrad schieben musste und auch mit dem Motorrad nur im Zickzack vorankam. Triumphierend durchqueren sie das Khánh Hội-Viertel, in das sich Ausländer nicht wagen. Aber auch der Vietcong betritt es nur, um dort diskret einige Kader einzuschleusen. In Khánh Hội, wo die Menschen von der Hand in den Mund leben und Mütter ihre Töchter für ein paar Dollar anbieten, herrscht nicht die lärmende Betriebsamkeit eines asiatischen Babylons, sondern die Melancholie und Gleichgültigkeit der Hoffnungslosen.
Waffe der Reaktion gegen Waffe der Revolution – auf der einen Seite das amerikanische M16, ausgeklügelt und tödlich, aber auch komplex und störungsanfällig, auf der anderen die einfache und robuste AK-47, der weder Sand, Schlamm, Kälte noch Hitze etwas anhaben können und die vor allem fünfmal billiger ist. Der globale Norden und der globale Süden auf zwei Gegenstände reduziert, könnte man sagen. Oder etwa nicht?
Der Westen betrachtet sich als fortschrittlich und sonnt sich in seiner technologischen Überlegenheit. Hier ist sogar der Krieg in das umsichtige Konzept eines Glückes eingebunden, das auf Fitness und langen Wochenenden beruht. Ihm gegenüber steht die sogenannte Dritte Welt, in der Opfer und Hunger an der Tagesordnung sind und nur der Kampf im Namen Gottes oder für die Revolution ewige Freuden verspricht. Wenn auch erst im Jenseits. Kapitalismus gegen Kommunismus. Es lässt sich nicht leugnen, auch bei uns hat dieses dank seiner Schlichtheit so verführerische Schema verfangen, in dem die Rolle des Bösewichts diesem Teil der Welt vorbehalten ist. Und das Symbol für den Sieg des verarmten Volkes über die reichen Imperialisten ist natürlich die Kalaschnikow. So sehr wurde sie mit Revolution und Unabhängigkeit in Verbindung gebracht, dass sie auf der Landesfahne von Mosambik verewigt wurde, dem Frontstaat gegen die Apartheid, der sich seine Unabhängigkeit von Portugal, der letzten unbelehrbaren Bastion des europäischen Kolonialismus im 20. Jahrhundert, mit Waffengewalt erkämpfen musste. Die Kalaschnikow findet sich aber auch auf der Flagge der Hisbollah, der islamistisch-schiitischen Parteimiliz im Libanon.
Auch andere Waffen wurden zu Symbolen. Die Sten Gun zum Beispiel, eine Maschinenpistole, war die Waffe des Partisanenkampfes gegen den Nazifaschismus. Die Briten haben während des Zweiten Weltkriegs vierhunderttausend Stück über dem besetzten Europa abgeworfen. In vielerlei Hinsicht ähnelt sie der Kalaschnikow, denn sie ist ebenso tödlich, robust und einfach zu handhaben.
Und der Bogen? Oder die Arkebuse? Waren das nicht auch Waffen der Revolution? Einfache Bürger und selbst Leibeigene mussten nicht sonderlich in der Kriegskunst bewandert sein, um einen Adligen damit aus der Distanz vom Pferd zu schießen. Weder eine teure Rüstung noch ein mächtiges Schwert, mit dem er seine Gegner im Nahkampf in zwei Hälften gehauen hätte, konnten etwas gegen diese Waffen ausrichten. Tatsächlich geht die Demokratie des Todes der Demokratie in Parlamenten und Versammlungen oftmals voraus und ist sogar eine Vorbedingung für die Teilhabe des Volkes …
Die Kalaschnikow und die Revolution, oder besser gesagt die Kalaschnikow und die Befreiungskämpfe. Nachdem das Zeitalter der Pfeile und Lanzen vorüber ist, hat die von Frantz Fanon beschworene rechtmäßige Gewalt endlich das passende Instrument gefunden. Der Kampf findet nun auf Augenhöhe statt. Seht euch vor, Kolonialisten!
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Revolutionen allerdings verschwunden. Ich meine die echten, die mit den Barrikaden, auf denen der kleine Gavroche mit seinen großen Brüdern gegen den alten Adel, die Despoten und die Ausbeuterklassen kämpfte. Das alles gibt es nicht mehr, wir wissen kaum noch, wie es war. Wir haben uns an die samtenen Revolutionen gewöhnt, die orange- und jasminfarben mit ihren strahlenden weiblichen Ikonen daherkommen – mit blauen Augen und schneeweißer Haut jene des Ostens, mit schwarzen Augen und dunklem Teint jene des Südens, aber beide liebenswürdig und bereit, alles zu verstehen und zu glauben. Fälschungen und Fotoromane. Revolution ist zu einem Wort mit einem angenehmen Beiklang geworden, während es früher verboten war und leicht das Leben kosten konnte. Denn es war noch jung und dampfte vor Blut, musste skandiert, geschrien und ständig wiederholt werden: Revolution!
Mittlerweile sind Revolutionen zu Events geworden, bei denen sich alle umarmen und miteinander verbrüdern, um flüchtige Zeichen des Friedens auszutauschen – sogar Ausbeuter und Ausgebeutete. Es sind Revolutionen aus Pappmaché, manierierte Ballettaufführungen, bei denen bloß politische Reden geschwungen werden.
Die Kalaschnikow als Waffe der Revolution ist also eine Fiktion, denn sie kam viel zu spät. Als sie erfunden wurde, hatten sich die Revolutionäre in Russland längst im bürgerlichen Kommunismus etabliert. Gleichzeitig waren ihre Ableger im Westen und in der sogenannten Dritten Welt zumeist nichts weiter als Befehlsempfänger, die zu gehorchen pflegten, wenn aus Moskau die Anweisung kam, einzulenken oder zu verhandeln. Oder sie hatten sich bereits in bürgerlichen Ritualen des Entgegenkommens eingerichtet und mit der Rolle einer höflichen Opposition abgefunden, die tagsüber Krawatten trug, um es sich nach Feierabend in Pantoffeln bequem zu machen. So viel nur zum Thema Barrikaden.
Mir ist jedenfalls kein einziges Beispiel dafür bekannt, dass mithilfe der Kalasch ein Innenministerium gesäubert oder die Zentrale eines Energieversorgers gestürmt worden wäre. Ich wüsste auch nicht, ob irgendwo die Überbleibsel der alten Eliten, jene korrupten Exzellenzen, noch im Pyjama aus ihren luxuriösen Behausungen geholt wurden, vor Wut und Angst bebend, angesichts der ungeheuerlichen Beleidigung, die ihnen widerfährt. In Wahrheit dient die AK-47 eher dazu, rebellische Tendenzen und das Streben nach Freiheit in Schach zu halten oder gewaltsam zu unterdrücken. Dafür gibt es Beispiele zuhauf, sei es in Budapest 1956, in Prag 1968 oder 1989 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Mit anderen Worten, die Kalaschnikow kommt immer auf der anderen Seite zum Einsatz, sobald Menschen Anstalten machen, ihr Leben auf einer neuen, revolutionären Grundlage umzugestalten, mit Pflastersteinen in der Hand, in improvisierten Schützengräben, derer sich die Revolutionäre in ihrem naiven Enthusiasmus oftmals gar nicht richtig zu bedienen wissen. Es sind jene historischen Momente, in denen in Radio und Fernsehen plötzlich nur noch die feierlichen Klänge klassischer Musik zu hören sind. Ja, wir leben in einer Epoche widersprüchlicher und immer wieder enttäuschter Hoffnungen, einem Zeitalter des Aufblühens und Verwelkens, des kosmischen Glanzes und der quälenden Ernüchterung.
Denn die Kalaschnikow ist die Waffe der Guerillas und Rebellen, die sich gegen Ordnung und Gesetze ihres Landes auflehnen oder auch ganz allgemein mit der Weltordnung hadern. Sie ist die Waffe derer, die im Tod den wahren Sinn des Lebens sehen. Mudschaheddin und Contras, Tupamaros und Dschihadisten, Palästinenser und Mitglieder der kolumbianischen FARC, Rebellen in El Salvador, Tuareg, Sahrauis, tschetschenische Separatisten und Boko Haram, Karen und Kurden, bewaffnete Bauern und Koranstudenten, Ziegen- und Kamelhirten, Nuba und entwurzelte Intellektuelle, die alles hingeworfen haben, um ein Sturmgewehr in die Hand zu nehmen. Sie alle gehören zu unserer Zeit und unserer Welt, ebenso wie Einschusslöcher in den Wänden und Orte, an denen es kaum möglich ist, Gott von ganzem Herzen für das Geschenk des Lebens zu danken.
Ja, ich weiß, so manchen Leser treibt es gerade auf die Barrikaden. Fanatische Mörder und hehre Idealisten kann man doch nicht einfach über einen Kamm scheren. Das ist ja beinahe schon … kriminell! Aber ich bleibe dabei. Kalaschnikow-Kämpfer gebieten über die Nacht und überlassen den Tag ihren Feinden. Dieser speziellen Art von Männern bedeutet das Sturmgewehr des Genossen Kalaschnikow wirklich alles. Es durchdringt ihr Innerstes und bestimmt ihre Erinnerungen, die von geduldigen Hinterhalten und überstürzten Rückzügen geprägt sind, von feindlichen Städten voller Fallstricke und undurchdringlichen Wäldern, die Sicherheit versprechen. Sie handeln aber auch von Helden, die nicht selten zugleich Verbrecher sind und dennoch zu Legenden werden. Es sind schlichte Mythen, die nur ihnen gehören. Sie setzen sich aus wenigen Komponenten zusammen: der Held, der grausame Feind, treue Frauen, die Toten – ihre Toten. Und natürlich die Waffe, ihre Kalaschnikow, ohne die sie nicht existieren würden.
Solange es Rebellen gibt, wird es auch diesen Teil der Welt geben, in dem die Kalaschnikow einen quasireligiösen Status hat – gerade weil sie keine kriegsentscheidende Waffe ist. Über eine Luftwaffe, Geschütze, Drohnen und KI-gestützte Waffensysteme verfügen nur die anderen. Sicher, einige Kriege wurden nur mit Kalaschnikows gewonnen, in Afghanistan etwa von den Mudschaheddin und den Taliban. Aber der Sieg war nicht das Ergebnis einer entscheidenden militärischen Auseinandersetzung, sondern der Ablehnung des Krieges durch die sowjetische beziehungsweise die amerikanische Gesellschaft. Die Feinde zogen sich zurück, weil sie nicht wussten, wie sie gewinnen sollten, weil sie es einfach leid waren und keine Geduld mehr hatten, aber nicht, weil sie auf dem Schlachtfeld geschlagen wurden.
Ihre strategische Bedeutungslosigkeit macht diese Waffe zum perfekten Begleiter für all jene, die sich einem säkularen oder religiösen Dschihad verschrieben haben, in der Überzeugung, dass der Kampf letztlich wichtiger ist als der Sieg.
Das Leben eines mit einer Kalaschnikow bewaffneten Rebellen ist mit keinem anderen vergleichbar. Von religiösem, ethnischem und nationalistischem Hass durchdrungen, kämpft er aus dem Hinterhalt, führt kurze, harte Gefechte, jagt Verräter und Kollaborateure, die dann kaltblütig eliminiert werden. Er ist listig und ein Meister der Tarnung, taucht plötzlich auf und schlägt überraschend zu. Gefangene werden nicht gemacht, weil sich niemand Gefangene leisten kann. Wer diese Art von Krieg führt, muss den Tod einkalkulieren, die Möglichkeit zu töten und getötet zu werden. Das menschliche Leben wird zu einem entbehrlichen Gut, und der Respekt davor schwindet unweigerlich, wenn man dreißig Schüsse in zwei Sekunden abgeben kann.
Richtschütze und Pilot eines Flugzeugs können mathematische Berechnungen anstellen, wo sie treffen müssen – hundert Meter in die eine Richtung, und das Ziel ist getroffen, hundert Meter in die andere, und es kommt zu Kollateralschäden. Im Guerillakrieg gibt es diese Möglichkeit nicht, denn man ist unmittelbar mit dem Tod konfrontiert. Die Auslöschung des Feindes oder auch des eigenen Lebens wird zu einem modernen Blutopfer an die Götter des Krieges.
Doch damit nicht genug. Mittlerweile haben auch gewöhnliche Kriminelle die Symbolkraft der Waffe für sich entdeckt. Seit einiger Zeit schon ist die Kalaschnikow so etwas wie die Rolex des organisierten Verbrechens. Sie findet ebenso in den Banlieues von Marseille wie bei den kolumbianischen und mexikanischen Narcos, der neapolitanischen Camorra oder den russischen und den anderen osteuropäischen Mafiaorganisationen Verwendung. Die Kalaschnikow ist ein Talisman für Kriminelle geworden, ganz gleich, ob sie schon lange im Geschäft sind oder erst am Anfang ihrer ruchlosen Karriere stehen. Die Waffe ist ein Symbol für Männlichkeit, mit dem man Opfer einschüchtern, Rivalen in Schach halten oder Rechnungen begleichen kann. An eine Kalaschnikow zu kommen, ist sogar in Europa erschreckend einfach, denn auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien lagern seit Ende des Bürgerkriegs große Bestände, die nur darauf warten, benutzt zu werden. Von hier aus werden sie mithilfe der zahllosen Lastwagen verschoben, die sich täglich aus Slowenien, Kroatien und Serbien nach ganz Europa aufmachen – fünf oder sechs Kalaschnikows lassen sich problemlos unter den normalen Waren verstecken. Der Preis liegt bei etwa fünfhundert Euro, obwohl manche Kunden auch bereit sind, eintausendfünfhundert oder zweitausend zu bezahlen.
Im russischen Afghanistankrieg war die Kalaschnikow der neuesten Generation – die dritte oder vierte, die Michail in seinem obsessiven Streben nach mörderischer Perfektion konstruiert hatte – ein Statussymbol der Einheimischen. Jeder Mudschaheddin-Kommandeur, der etwas auf sich hielt, musste eine besitzen. Im Laufe des Krieges kam sie jedoch ein wenig aus der Mode, als Stinger-Raketen an ihre Stelle traten. Sie waren ein Geschenk der CIA, das die russischen Piloten in Angst und Schrecken versetzte. Um nicht abgeschossen zu werden, mussten sie in sehr großer Höhe fliegen oder eine Spur aus Täuschkörpern hinter sich herziehen, um die Sensoren der Raketen in die Irre zu leiten.
Die Verführung durch die Kalaschnikow funktioniert leider überall auf dieselbe Weise. Afghanische Kinder, die anfangs noch als Ziegenhirten mit dem alten Gewehr ihrer Ururgroßeltern aus dem Kampf gegen die Briten in den Krieg gezogen waren, hatten nun ein Wunderding zur Verfügung, mit dem sie Speznas und Marines in Schach halten konnten. Es machte sie vor der Zeit zu Erwachsenen, so wie es auf ähnliche Weise immer wieder geschieht. Junge Burschen aus den Vorstädten und Ghettos des Westens etwa, ohne Schulbildung und Vorbilder, aber begierig auf das reiche Glitzerleben, das sie von ihren Smartphones kennen, sind leichte Beute für Anwerber aus der Unterwelt. Und sichtbares Zeichen für ihren Aufstieg innerhalb der kriminellen Organisationen ist die Überreichung einer Kalaschnikow.
Lernen wir nun Michail Timofejewitsch Kalaschnikow kennen. Er selbst – denn wer könnte das besser? – lässt in der ersten Person sein Leben Revue passieren. Es dauerte vierundneunzig Jahre und endete am 23. Dezember 2013 in Ischewsk, wo er – wie man so schön sagt – »friedlich« verstarb, nachdem er in seiner Wohnung im dritten Stock eines Gemeindehauses einen Schwächeanfall erlitten hatte. Dort hatte er die letzten Jahre damit verbracht, sein Gewehr mit der Akribie eines Uhrmachers immer wieder zu zerlegen und zusammenzusetzen, bis sein Körper zu einer Erweiterung der Waffe geworden war. Unterbrochen hatte er die Arbeit nur, um illustre Gäste durch »seine« Fabrik und sein Mausoleum zu führen, auf das er schon zu Lebzeiten Anspruch hatte. Gegen Ende seines Lebens machte ihm etwas schwer zu schaffen – allerdings nicht die Erkenntnis, dass seine Schöpfung dazu genutzt wurde, um von Afghanistan bis in den Kongo und vom Irak bis in den Jemen Konflikte zu schüren und Menschen zu verstümmeln, zu verletzen oder einfach abzuschlachten. Nein, was ihn wirklich betrübte, war der Umstand, dass der riesige militärisch-industrielle Staatskonzern Rostec beschlossen hatte, sich nach Waffen, Drohnen und Jachten nun auch dem Bau eines nicht gerade innovativen Elektroautos zu widmen, das auf einem Modell aus der Sowjetzeit basierte.
Sich mit der Vergangenheit eines bereits Verstorbenen zu befassen, hat den Vorteil, dass man ganz am Ende beginnen kann, bei seiner Beerdigung, die oftmals wichtige Rückschlüsse auf sein Leben zulässt. Es kommen sechzigtausend Menschen, um Michail Kalaschnikow die letzte Ehre zu erweisen. So weit im Osten wurde die Geschichte, anders als in Moskau und Sankt Petersburg, architektonisch noch nicht umgeschrieben. Wer weiß, ob die Zeit und vor allem der Rubel bleiben werden. Hier gibt es sie jedenfalls immer noch, die windigen, grauen Plätze mit ihren Betonkolonnaden, auf denen in schwarze Schals gehüllte Bäuerinnen ihr Obst verkaufen. Überall wehen Flaggen wie kleine Licht- und Farbkleckse vor dem Grau der Mausoleen und Denkmäler. Der Doppeladler der Russischen Föderation und die alte rote Fahne hängen nebeneinander an Laternenpfählen oder flattern im Duett auf den Kotflügeln von Autos und Lieferwagen. Ja, inzwischen tauchen sie sogar zusammen in Werbeanzeigen des neuen konsumorientierten Russlands mit seinen vollen Schaufenstern auf. Soldaten in schicken Wintermänteln erweisen beiden mit geistlosen Gesichtern die Ehre.
Aber in dieser anonymen Menge zählt in Wahrheit nur einer, nämlich Wladimir Putin. Seit dreizehn Jahren ist er da schon Russlands Präsident oder auch mal Ministerpräsident, denn er wechselt die Titel mit demokratischer Nonchalance. Es gibt Autokratien, die es gar nicht nötig haben, immer hoheitsvoll zu erscheinen, weil sie das, worauf es ankommt, niemals wirklich aus der Hand geben. Der neue Zar schwebt im Hubschrauber heran. Die Nachrichtenbilder zeigen ihn, wie er, flankiert von Soldaten, einen Strauß roter Rosen am Fuß des Sarges niederlegt, auf dem Gesicht das ewige Lächeln, das so freundlich wirkt und doch Vernichtung verheißt. Drei donnernde Kalaschnikow-Salven ehren den Mann, der die Waffe zu einem so großen und weltweiten Erfolg gemacht hat, dass es mittlerweile Hunderte Millionen davon gibt.
Verteidigungsminister Schoigu, ein willfähriger Hofschranze, findet emotionale Worte für den Erfinder: »Sein Name ist ein Symbol für die Effizienz und den Ruhm der russischen Streitkräfte.«
Der Putinismus hat im Grunde nichts anderes getan, als den langen Lebensfaden von Kalaschnikow, dieses perfekten »homo sovieticus«, wieder aufzunehmen – einen Faden, den es zu entwirren und vom alles überdeckenden Mythos seiner Erfindung zu trennen gilt. Er reicht von der Revolution bis ins dritte Jahrtausend und steht im Zeichen einer maßlosen Macht, für die sich jedes Opfer lohnt und der Schmerz der Einzelnen nicht von Belang ist, weil sie letztlich nichts weiter als unbedeutende Schachfiguren der Geschichte sind. Es ist kein Zufall, dass die sterblichen Überreste Kalaschnikows als erste nach denen des unbekannten Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg im militärischen Pantheon von Mytischtschi bei Moskau bestattet wurden.
Wenn man die Jahrzehnte seines Lebens – immer eifrig, gehorsam und scheinbar auch unter der Knute glücklich – Revue passieren lässt, möchte man ihn stellvertretend für das gesamte russische Volk fragen: »Wo liegt deine Grenze, ab wann bist du zum Widerstand bereit? An welchem Punkt machst du der Regierung klar, dass es so nicht weitergehen kann?« Michail Kalaschnikow war zwar zurückhaltend in Bezug auf die Ereignisse nach der Jahrtausendwende, aber ich glaube, er hat Putins Aufstieg begrüßt. Nach meinem Eindruck hegte er, ungeachtet gewisser Zweifel, die ihn in seinen letzten Lebensjahren plagten, zumindest unbewusst den Wunsch, Russland möge zu jener despotischen Gesellschaftsordnung zurückkehren, die seine Erfindung erst möglich gemacht hatte.
Ein Besuch in seinem Museum ist enttäuschend. Von dem kriegsgefangenen deutschen Ingenieur, der ihm die Funktionsweise des Sturmgewehrs der Wehrmacht nahebringen sollte, fehlt jede Spur. Der Name seines wertvollsten Mitarbeiters wird nirgends erwähnt.
Ebenso fehlt jeder Hinweis auf den Erfinder, der Kalaschnikow vielleicht am ähnlichsten ist. Auch er wurde nie am finanziellen Erfolg der Waffe beteiligt, die er entwickelt hat und die nach wie vor ein Bestseller ist und der israelischen Militärindustrie Jahr für Jahr viele Millionen einbringt. Sein Name ist Uziel »Uzi« Gal, und er ist der Schöpfer der nach ihm benannten Uzi-Maschinenpistole. Sie ist robust, zuverlässig und kann mit einfachen Maschinen kostengünstig aus mechanischen Bauteilen hergestellt werden – klingt wie ein Zitat über die AK-47, oder? Ob Leibwächter amerikanischer Präsidenten oder Kriminelle, alle benutzen sie. Und es gibt noch weitere Ähnlichkeiten, denn auch Uzi Gal lebte in einem bescheidenen kleinen Haus und bereute niemals, ein so perfektes Tötungsinstrument konstruiert zu haben. »Der Mensch ist ein recht wackeliges Waffengestell«, klagte er einmal, denn die Beantwortung ethischer Fragen hielt er nicht für seine Aufgabe. Dasselbe hätte auch Kalaschnikow sagen können.
Michail starb kurz bevor Putin damit begann, das Versprechen einzulösen, das er den Russen zu Beginn des Jahrtausends gegeben hatte. Er werde, so hatte er gesagt, den Russen die Macht zurückgeben, die sie in den Jahren der »großen Demütigung« nach dem Zerfall der Sowjetunion verloren hatten. Doch Michail erlebte den russischen Sieg im Syrienkrieg nicht mehr mit, der es dem moskautreuen Verbündeten Bashar al-Assad ermöglichte, an der Macht zu bleiben, und Russland dank der Trägheit der Amerikaner wieder zu einem entscheidenden Machtfaktor im Nahen Osten machte. Gleiches gilt für die Besetzung der Krim und die Anfänge des heimtückischen Krieges gegen die Ukraine.
Er wäre jedoch zufrieden gewesen, denn das war sein Russland, ein Ort, dessen Herrschaftssysteme sich seit jeher auf die Vorstellung von der totalen Formbarkeit des verfügbaren Menschenmaterials gründen – von Peter dem Großen über Stalin bis hin zu Putin. Hier zählt nicht politische Logik, sondern allein der schöpferische Wille. Und Kalaschnikows Leben ist der Beweis für die Wirksamkeit dieser Methode, denn er stellte es ganz und gar in den Dienst seines Landes, obwohl es ihn dafür nur mit ein paar Orden und Auszeichnungen abspeiste. Aus dem Sohn von Gulag-Opfern wurde ein Held, dessen sich erst Stalin, dann Breschnew, Gorbatschow und schließlich auch Putin bedienten. Er war ein bescheidenes Chamäleon, das sich immer wieder anpasste, um zu überleben, und ein Beispiel für diese spezielle russische Lebensart, die Gewohnheit, sich zu ernähren, die Natur zu lieben und zu feiern.
Auf einem Foto ist er neben dem noch jungen Putin zu sehen. Er wirkt zierlich, mit seinen schlohweißen Haaren und den Orden am Jackett. Zum x-ten Mal, aber immer wieder gern, erzählt er die Geschichte seiner revolutionären Waffe, dieser kleinen prometheischen und mechanischen Hybris, die der Anmaßung des von ihm geliebten stalinistischen Kommunismus doch so ähnlich ist. Der andere, der KGB-Mann, der niemals einen Schuss auf dem Schlachtfeld abgegeben, sondern immer nur Dossiers zusammengestellt hat, starrt gleichgültig vor sich hin. Doch die neben dem Wodka weltweit berühmteste russische Schöpfung ist ausgerechnet das Sturmgewehr des Genossen Kalaschnikow. Auch nach einem Jahrhundert Kommunismus und Postkommunismus hatte Schigalew in Dostojewskis Dämonen immer noch recht: »Alle sind Sklaven und in diesem Sklavenzustande untereinander gleich.«
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Die Flagge
Mosambik
In den 1960 er-Jahren wird Afrika unabhängig. Es ist die Zeit der Väter des Vaterlandes, des tropischen Marxismus und der Verheißung von Fortschritt. Nur die portugiesischen Kolonien bleiben bei dieser Entwicklung zunächst außen vor, weil das kleine Land, das selbst unter einem autoritären Regime, des Estado Novo, leidet, unbekehrbar bleibt und nicht von seinen Kolonien ablassen will. Mosambik, Angola und Guinea-Bissau führen blutige Unabhängigkeitskriege, müssen aber bis zur unblutigen »Nelkenrevolution« von 1974 warten, um unabhängig zu werden. Doch kaum zwei Jahre später wird der Traum in Mosambik zum Albtraum. Die FRELIMO (Mosambikanische Befreiungsfront), mit Unterstützung der Sowjetunion federführend im Kampf gegen Portugal und nun Regierungspartei, entfesselt mit ihrer Politik der Höchstforderungen die Rebellion der RENAMO (Nationaler Widerstand Mosambiks), einer bewaffneten konservativen Bewegung aus Banditen und Dissidenten. Das südafrikanische Apartheidregime schürt den Konflikt. Der erbitterte, mit Kalaschnikows geführte Bürgerkrieg verwüstet das Land und dauert bis 1992. Es kommt zu zahlreichen Massakern, bevor die Gemeinschaft Sant’Egidio mit ihrer Diplomatie des guten Willens den Frieden bringt. Die FRELIMO wendet sich vom Marxismus ab und ist immer noch an der Macht. Der Krieg geht allerdings weiter, wenn auch mit neuen Protagonisten. Nun sind es Dschihadisten mit Verbindungen zum IS im öl- und gasreichen Norden.
Das Polana-Hotel in Maputo ist ein luxuriöser Fünf-Sterne-Turm zu Babel, in dem die Gäste den Leichnam Mosambiks wie die Schmeißfliegen umschwirren. Einige wollen ihn zwar wieder zum Leben erwecken, viele andere aber gelüstet es nach seinen Überresten, um daraus politisches oder finanzielles Kapital zu schlagen. Es heißt, das Hotel gehöre einem südafrikanischen Unternehmen. Unmöglich, denke ich, denn Südafrika versorgt die Guerillas der RENAMO mit Geld und Waffen. Sie haben sich den Sturz der marxistischen Regierung zum Ziel gesetzt und zerstören wie ungeduldige Termiten alles, was sie nur können. Da Mosambik direkt an Südafrika grenzt, spielt die Regierung in Maputo eine entscheidende Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem rassistischen Regime in Pretoria. Manche der unabhängigen Länder des südlichen Afrikas warten vielleicht darauf, dass westliche Sanktionen endlich ihre Wirkung entfalten, aber wer weiß schon, wie lange das dauern wird. Dennoch scheinen die Gerüchte über die Hotelbesitzer zu stimmen.
Im üppig begrünten Garten fliegen schwalbenartige Vögel mit blauschwarz schimmerndem Gefieder umher. Am Pool steht ein Grill, auf dem Fleisch brutzelt, während in den gefüllten Wein- und Biergläsern die Eiswürfel klirren. Ein niedergeschlagen wirkender Kellner bedient die Gäste. Er trägt eine makellos weiße Jacke und befüllt die Teller mit gesenktem Blick. Im Swimmingpool ziehen die »russischen Berater« ihre Bahnen, als würden sie für die Spartakiade trainieren. Die britischen Piloten dagegen genießen ihre Ruhezeit, denn bald schon besteigen sie wieder die Flugzeuge des Welternährungsprogramms, um die Mosambikaner, die vor dem Krieg in die Wälder geflohen und angesichts zerstörter Straßen, Brücken und Eisenbahnen nun von allem abgeschnitten sind, mit Lebensmitteln zu versorgen.
Das Polana ist auch die bevorzugte Residenz von Beamten der Vereinten Nationen und Angehörigen humanitärer Organisationen. Sie brauchen die Annehmlichkeiten eines Luxushotels, damit nichts sie von der Aufgabe ablenkt, einen Teil der Menschheit zu retten. Mit ihren grellen T-Shirts und Baseballkappen sehen sie allerdings eher aus wie Partygäste in einem Londoner Vorort. Natürlich dürfen auch die Journalisten nicht fehlen. Immer auf der Suche nach Hunger, Krieg und Sensationen, ziehen viele es vor, von hier zu berichten, anstatt unbequeme und gefährliche Reisen in die Wälder zu unternehmen. Ihnen reicht es schon, in Maputo zu sein.
Und schließlich die Chinesen und Nordkoreaner, rätselhaft, zurückhaltend, schweigsam. »Entwicklungshelfer«, erklären die teilnahmslosen Männer der regierenden FRELIMO allen, die neugierige Fragen stellen.
In Maputo kursieren jedoch Gerüchte, dass es sich vor allem bei den Nordkoreanern um Spezialisten für Folter, Verhöre und innere »Sicherheit« handelt. Das Überleben der FRELIMO, der Mosambikanischen Befreiungsfront, hängt nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit ab, auch noch die hintersten Ecken von Verrätern und ideologisch unzuverlässigen Kantonisten zu säubern. Mit verstohlenen Gesten und knappen Worten wird man auf ein Haus, eine Villa hingewiesen. Die Portugiesen haben sie mit jenen hübschen blauen Kacheln verziert, als wollten sie die Wände ihrer Häuser mit einer Schicht aus Saudade und Nostalgie bedecken. Die Villa liegt versteckt hinter Jacarandas und einer hohen, mit Stacheldraht bekrönten Mauer, die auch jetzt noch nützlich ist, da die einstigen Besitzer geflohen sind. Der starke Duft der lilafarbenen Blüten überdeckt den Gestank brutaler Verhöre und schmutziger Abrechnungen.
Im Polana scheint die Geschichte stehengeblieben zu sein. Freunde und Feinde schleichen sich für eine Weile aus ihren Schützengräben und treffen sich hier im Niemandsland, um zu plaudern und sich zu verbrüdern. Manche werden bei einem Drink oder Hummer sogar zu Verrätern. Es ist ein Wunder oder ein Skandal, je nachdem wie man es sieht, in einem zerstörten Land, das angefüllt ist mit Toten und hungrigen Geistern.
Vor dem Polana hängt die farbenfrohe Flagge Mosambiks an einer Fahnenstange, die kurz genug ist, um alle Details gut zu erkennen. Sie ist groß und flattert munter im kräftigen Wind, der von Bucht und Ozean herüberweht. Die Sonne steht grell am Himmel, die wenigen Wolken können sie nicht abschirmen. Die würfelförmigen Häuser am Ufer erscheinen weißer und die Luft ist angenehmer. An den beinahe menschenleeren Docks löscht ein aus Odessa kommender sowjetischer Frachter seine Ladung aus Waffen, Munition und Lkw-Reifen. Der große Bruder aus dem Osten hält die Revolution am Leben, ist der ideale Verbündete für die Ausweitung des Kalten Krieges in Afrika. Niemand führt irgendwelche Kontrollen durch, nur ein paar Soldaten sehen den Schauerleuten gelangweilt bei der Arbeit zu. Das Wasser hat die Farbe von Zinn. Die Beine der Männer, die in den Einbäumen stehen, wirken überlang, weil ihre Schatten sich im Wasser spiegeln. Vielleicht war das ja das Wunder auf dem See Genezareth.
Die Flagge von Mosambik ist schön, aber recht aufwendig gestaltet. Sie besteht aus drei horizontalen Balken in Grün, Schwarz und Gelb, dazwischen je ein schmaler weißer Streifen, und einem roten Dreieck. Darin befindet sich ein Emblem: ein gelber Stern, auf dem ein aufgeschlagenes Buch, eine kurzstielige afrikanische Hacke und eine Kalaschnikow mit aufgepflanztem Bajonett dargestellt sind, eindeutig zu erkennen an der Silhouette mit dem gebogenen Magazin.
Es ist eine junge Flagge, die auf die Unabhängigkeit im Jahr 1975 zurückgeht und auf dem Banner der FRELIMO basiert. Und es ist die erste Nationalflagge der Welt, die keine mittelalterlichen Schwerter, Bogen, Speere oder Dolche, sondern eine moderne Waffe zeigt.
Jeder Bestandteil der Fahne hat eine ganz bestimmte Bedeutung. Der gelbe Stern symbolisiert die internationale Solidarität der Mosambikaner, oder zumindest die Hoffnung darauf, und vielleicht auch den Glauben an einen mehr oder weniger wissenschaftlichen Sozialismus. Das Buch steht für Bildung, von der man sich Befreiung erhofft – ein sehr ehrgeiziges Ziel für ein Land, in dem in zwanzig Jahren Krieg mindestens zweitausend Schulen zerstört wurden. Die Hacke meint die Bauern und die ländliche, maoistisch-revolutionäre Klasse, die als einzige in einem rückständigen Land existiert, das vom portugiesischen Kolonialismus rücksichtslos ausgeplündert wurde. Das Sturmgewehr schließlich, mit dem die Partisanen der FRELIMO für die Unabhängigkeit kämpften, symbolisiert die Entschlossenheit des Volkes, seine Freiheit zu verteidigen, die es nach der unblutigen Nelkenrevolution erlangt hatte, die zur Beseitigung der Diktatur in Portugal führte.
Ich betrachte die gehisste Flagge und vergleiche ihre Verheißungen mit den Geheimnissen und Geschichten, die ich in den klimatisierten Räumen des Polana zu hören bekomme. Natürlich stammen sie alle von einer garantiert zuverlässigen Quelle und werden mir wie ein exklusives Geschenk zugeflüstert: »In Memba, einer Stadt im Norden, mussten die Bewohner noch letzte Woche Ratten essen, um nicht zu verhungern.«
Jemand anderes dagegen versichert mir: »Die Ernährungssituation ist absolut unter Kontrolle, denn es hat dieses Jahr reichlich geregnet, und die Einführung des freien Marktes hat wahre Wunder bewirkt. Sicher, es gibt ein kleines Transportmittelproblem, aber langsam wird alles besser. Zumal an der Küste nun endlich auch die internationalen Hilfen ankommen …«
Doch es ist nur zu offensichtlich, dass die »Gerüchte«, die Optimismus verbreiten sollen, von Sicherheitsbeamten gestreut werden, die im Polana nach Spionen oder Verrätern Ausschau halten und nebenbei die Notizbücher leichtgläubiger Journalisten füllen.
»Aber sicher, die Hungersnot, die in einigen Provinzen während der furchtbaren Dürre von 1983/84 herrschte, ist vorbei. Dieser Schrecken liegt hinter uns … Inzwischen gibt es Fortschritte. Glauben Sie mir, die Armut ist besser verteilt …«
Besser verteilt … Die Worte dieses deutschen UN-Beamten, der auf einer Couch liegend genüsslich an seinem Portwein nippt, verblüffen mich schon ein wenig. Er wirkt müde und angewidert.
Ich denke an die Kalaschnikow auf der Flagge, die für den Mut und die Zähigkeit des Volkes steht. Das Volk … das Volk. Sie glauben, mit diesem Wort sei alles gesagt. Ja, das heldenhafte Volk.
Und die fünftausend Toten in Memba, wo die Hungersnot wütete? Oder waren es siebentausend, wie die humanitären Hilfsorganisationen sagen? Oder sogar zehntausend, wie die Informanten im Polana behaupten, die es eigentlich wissen müssten? Und in diesem Fall wissen sie es leider wirklich. Auch diese Toten gehörten dem Volk an, oder etwa nicht? Aber wie findet man die genaue Opferzahl heraus?
