Kalt erwischt - Heide Fuhljahn - E-Book

Kalt erwischt E-Book

Heide Fuhljahn

4,6
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Diana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Die Angst vor dem Abgrund ist erst der Anfang: Wege aus der Depression

»Du spinnst, bist nicht ganz dicht, reiß dich zusammen.« Jahrelang versucht die Journalistin Heide Fuhljahn gegen ihre Angst vor dem normalen Alltag, ihre tiefe Traurigkeit und ihre ständige Erschöpfung anzukämpfen. Bis sie in der Therapie erkennt, dass sie krank ist, Depressionen hat. Wie vier Millionen Deutsche auch. Tendenz steigend. In ihrem Buch beschreibt sie ihre Krankheit schonungslos und berührend zugleich und erklärt, welche Behandlungsmethoden möglich, wichtig und richtig sind.

Es kann jeden treffen. Depressionen sind vielschichtig, die Ursachen so zahlreich wie die Therapien. Nur, welchen Weg durch den Psycho-Dschungel soll man einschlagen? BRIGITTE-Autorin Heide Fuhljahn ist sowohl Fachjournalistin als auch Patientin. Nach mehreren Klinikaufenthalten und jahrelangen Therapien weiß sie, welche Faktoren Depressionen auslösen und wie die verschiedenen Varianten geheilt werden können. Anhand ihrer eigenen Geschichte zeigt sie, wie komplex die Krankheit ist und dass Frauen besonders und doppelt so häufig wie Männer betroffen sind. Dazu befragt sie Experten und stellt deren Tipps zu Medikamenten und Psychotherapien vor. Und sie macht Mut, denn sie versichert: Depressionen sind heilbar!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 493

Bewertungen
4,6 (36 Bewertungen)
26
6
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Laut Weltgesundheitsorganisation wird die Depression bis zum Jahr 2020 weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein! Momentan leiden etwa fünf Millionen Deutsche daran. Die einen fühlen sich leer, die anderen gehetzt. Depressionen sind vielschichtig, die Ursachen so zahlreich wie die Therapien. Nur, welchen Weg durch den Psycho-Dschungel soll man einschlagen? Heide Fuhljahn ist Fachjournalistin und Patientin. Nach etlichen Klinikaufenthalten, jahrelangen Therapien und umfangreicher Recherche weiß sie, welche Faktoren Depressionen auslösen und wie die verschiedenen Varianten behandelt werden können. Anhand ihrer eigenen Geschichte zeigt sie, wie komplex die Krankheit ist und dass Frauen doppelt so häufig wie Männer betroffen sind. Dazu befragt sie Experten und stellt deren Wissen zu Medikamenten und Therapien vor. Sie lässt ihre Freundinnen zu Wort kommen und stellt Tipps für Angehörige zusammen. Heide Fuhljahn macht Mut, denn sie versichert: Depressionen sind heilbar!

»Eine ganz besondere Mischung aus persönlicher Reflexion, Information und Experten-Interviews. Es ist berührend, knallhart.«

Brigitte

Die Autorin

Heide Fuhljahn, geboren 1974 in Kiel, lebt in Hamburg. Sie studierte Skandinavistik, Strafrecht und Kriminologie. Als freie Fachjournalistin schreibt sie unter anderem für die Brigitte. Ihre Schwerpunkte sind Psychologie, Gesundheit, Ernährung und Reise. Inzwischen ist sie eine gefragte Referentin und hat bereits über 80 Lesungen und Vorträge gehalten: in Kliniken, Beratungsstellen, Behörden und auf Kongressen.

Heide Fuhljahn

Kalt

erwischt

Wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Um den Persönlichkeitsschutz zu wahren, wurden die Beschreibungen von Personen so weit verändert, dass sie nicht in ihrer Identität erkennbar sind.

Abdruck des Gedichtes auf S. 324 mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags: Hesse, Hermann. Sämtliche Werke in 20 Bänden. Herausgegeben von Volker Michels. Band 10: Die Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 7/2019

Copyright © 2013 und dieser Ausgabe © 2019

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik∙Design, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-09025-8V003

www.diana-verlag.de

Für Dr. Theo Piegler – mehr denn je

Inhalt

Einleitung

1 Die Tür zum Inferno – mein Zusammenbruch in Norwegen 2006

2 Mantel aus Blei – wie sich eine Depression anfühlt

3 Planet Psycho – mein erster Tag in der Klinik

4 Der Anfang vom Ende, Kiel 1983

5 Schwierige Kindheit? Stress? – Depressionen und ihre vielfältigen Ursachen

6 Der Teufel trägt Prada – meine Jahre im Internat

7 Wer nicht kämpft, hat schon verloren – vom Abitur bis zum Volontariat

8 Harmoniesüchtig und perfektionistisch – Depressionen und der Faktor Frau

9 Bitte, liebe mich – das letzte halbe Jahr vor dem stationären Aufenthalt

10 Kein Prozac ist auch keine Lösung – Depressionen und Medikamente

11 »Und wie fühlen Sie sich dabei?« – Hilfe durch Psychotherapie

12 Es gibt nicht nur Freud und mich – verschiedene Therapieverfahren

13 Reine Nervensache – Pendlerin zwischen drinnen und draußen

14 Wie es sich anfühlt, wenn man nur noch sterben will

15 Die Angehörigen: Niemand ist eine Insel! Über Familie und Freunde, schmerzhafte Abschiede und treue Seelen

16 Willkommen in Absurdistan – auf der Geschlossenen, März 2011

17 Verrückt nach mir – psychiatrische Stationen

18 Es ist so komplex – Depressionen und verwandte Krankheiten

19 Gesprengte Ketten – Das Tagebuch meiner Mutter und die transgenerationale Weitergabe von Gefühlen

20 Work Hard, Play Hard – Wie passen Job und Krankheit zusammen?

Serviceteil

Anmerkungen

Literatur, Filme und TV-Serien

Register

Dank

Einleitung

Mathilda: »Ich bin schon längst erwachsen, ich werde nur noch älter.« Léon: »Bei mir ist es umgekehrt. Ich bin alt genug. Aber ich muss noch erwachsen werden.«

LÉON DER PROFI

Obwohl die meisten von uns nur Wasser tranken, ließen wir es richtig krachen! Meine Freundin Meike feierte ihren 40. Geburtstag. Es war das perfekte Fest! Mit einer Stimmung wie Champagner tanzten wir die ganze Nacht! Wenn ich gestorben wäre, hätte ich die wundervolle Feier nicht mehr miterlebt. Auch für diesen Abend hat sich das Durchhalten gelohnt.

Anfangs schämte ich mich, weil ich in einem Kreis attraktiver Frauen die Einzige mit deutlichem Übergewicht war – mal wieder. Doch unsere Freundin Tessa zerstreute in ihrer liebevollen Art mein Unwohlsein. Ich ließ mich anstecken von der guten Laune der anderen; ein freudiges Knistern lag in der Luft. Endlich trafen sich alle Freunde wieder gemeinsam an einem Ort. Wer sich länger nicht gesehen hatte (Job, Schulkinder, Familie, Hund, Schlafmangel) fiel sich jauchzend in die Arme. Gestärkt durch Antipasti unterhielt sich sofort jeder mit jedem. Nach zwei Stunden intensiver Gespräche wechselten die Frauen ruckzuck ihre Winterstiefel gegen tanzbare Schuhe. Tina, Tessa, Christine, Meike und ich trafen uns auf der Tanzfläche. Und dort blieben wir; fünf Stunden lang.

Denn meine Freundinnen und ich sind begeisterte Hupfdohlen. Die sorgsam zusammengestellte Playlist vereinte unsere liebsten Partysongs; Ed Sheerans ShapeOfYou gab den Startschuss. Mit ShakeItOff von Taylor Swift schüttelten wir Haters und Fakersab. Die Songtexte von BlameItOnTheBoogie(The Jacksons) und Toxic(Britney Spears) können wir selbstverständlich auswendig. Bei den SingleLadies lachten wir miteinander über unsere Versuche, den Hüftschwung aus Beyoncés Choreografie anzudeuten. Nach Mitternacht schmetterten wir jede einzelne Zeile vonZuspät von den Ärzten und Nenas Irgendwie,irgendwo,irgendwann. Keiner der Eltern, ob tanzend oder nicht, fiel an diesem Abend um 22 Uhr vor Müdigkeit kopfüber in die Suppenschüssel. Stattdessen feierten wir euphorisch die gemeinsame Auszeit von der Rushhour des Lebens.

Bei derart leidenschaftlichem Tanz musste ich mir notgedrungen ab und an ein Mineralwasser besorgen und draußen mein erhitztes Gesicht abkühlen. Nachdem das Glas mit drei großen Schlucken geleert war, sah ich dankbar zu dem strahlend weißen, fast vollen Mond hinauf und dachte an all die Menschen, die mir jahrelang geholfen haben. Ja, das Leben kann schön sein! Glückselig suchte ich nach Sternbildern am schwarzen Nachthimmel. Dann hörte ich die ersten Takte von Queens Don’t Stop Me Now und stürmte jubelnd wieder hinein.

Bei meinen Vorträgen und Lesungen werde ich oft gefragt, was eine Depression von Trauer, der Pubertät oder den schmerzhaften Abschieden des Alters unterscheidet. Neben den Diagnosekriterien der WHO nenne ich dann die Fähigkeit, sich zu freuen. Und zwar über die Zutaten eines normalen Lebens: Wie rosa blühende Kirschbäume oder den Sommerurlaub in Südfrankreich. Dass ich bei der Party meiner Freundin so ausgelassen feiern konnte, ist ein herrlicher Beleg für meine voranschreitende Gesundung. Ein weiterer: Trotz heftiger Krisen fand ich immer wieder die Motivation, mein zweites Sachbuch fertig zu schreiben. Als Von Wahn und Sinn –Behandler, Patienten und die Psychotherapie ihres Lebens 2017 im Springer Nature Verlag erschien, fühlte ich mich nach den arbeitsreichen Monaten erschöpft, aber auch stolz und glücklich.

Leider war aber das krank sein noch nicht vorbei. 2016 und2017, als es um den Abschied von meiner ambulanten Psychotherapie ging, dachte ich nahezu jeden Tag ernsthaft über Suizid nach. Es war eine entsetzliche Quälerei. Doch die hatte weniger depressive Ursachen, es lag an Flashbacks, welche durch eine Traumafolgestörung (PTBS) ausgelöst wurden. Im Gefühl war ich wieder das verlassene Mädchen im Kinderheim. Bis heute fordert mich die Bewältigung des Abschieds sehr. Aber ich bin erleichtert, dass ich nicht mehr depressiv bin.

Wie die Krankheit das alltägliche Leben versteinern kann, weiß ich natürlich weiterhin. Und sie betrifft so viele Menschen! Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden Depressionen bis zum Jahr 2020 weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein! Die Zahl der Betroffenen nimmt auch in Deutschland rasant zu, momentan sind es etwa fünf Millionen. Im Gesundheitsreport 2018 der DAK heißt es: »Nach epidemiologischen Studien gehören psychische Erkrankungen zu den häufigsten und auch kostenintensivsten …« Denn bei den Fehltagen von der Arbeit entfielen 2017 mehr als die Hälfte (53,9 Prozent) auf das Muskel-Skelett-System, seelische Erkrankungen lagen mit rund 16,7 Prozent wieder an zweiter Stelle. Wer an der Psyche leidet, fehlt durchschnittlich 35,5 Tage im Job, das ist von allen Erkrankungen die längste Zeit. Innerhalb der Seelenkrankheiten werden, mit großem Abstand, die meisten Arbeitsunfähigkeits-Tage durch Depressionen verursacht! Auch die Zahlen der Debeka bestätigen die Entwicklung: Die Versicherungsgruppe veröffentlichte 2016 die häufigsten Gründe für Berufsunfähigkeit von ihren etwa 560 000 dagegen Versicherten. Seelische Krankheiten lagen 2015 mit 41,7 Prozent weiterhin vorn.

Prinzipiell sind Depressionen gut behandel- und auch heilbar! Für die Betroffenen ist es allerdings bitter, dass ein typisches Symptom die Überzeugung ist, dass es nie wieder aufhört. Man fühlt sich scheußlich und kann einfach nicht glauben, dass es je besser wird. Das empfinden die meisten Menschen so, die unter einer Depression leiden. Ihre sonstigen Symptome aber unterscheiden sich sehr. Depression, das klingt nach einer klar umrissenen Krankheit. Doch sie hat viele Gesichter. Ihre Ursachen sind ebenso komplex und unterschiedlich wie ihr Verlauf und die Behandlung. Klassischerweise sind Depressive traurig, erschöpft und überfordert; sie können sich nicht konzentrieren und schlafen schlecht. Es gibt aber auch Menschen, die aktiv sind und unter Rückenschmerzen und dem diffusen Eindruck leiden, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Andere fühlen sich vollkommen leer, empfinden gar nichts mehr. Manche trifft die Depression aus heiterem Himmel, andere als Folge eines Herzinfarkts. Bei vielen schleicht sie sich über Jahre ein, weil die Belastungen des Lebens immer größer geworden sind.

Weit über die Hälfte der Betroffenen sind Frauen! Auch das zeigen die Fehltage im Gesundheitsreport 2018 der DAK. Bei Frauen stehen psychische Krankheiten sogar beim Gesamtkrankenstand auf dem ersten Platz (19,8 Prozent). Dafür gibt es vielfältige Gründe: Die Hormone, Doppelbelastung durch den Beruf und die Pflege von Kindern, Eltern und/oder Schwiegereltern, Armut (gerade bei Alleinerziehenden). Dazu typisch weibliche Eigenschaften wie ein übersteigertes Streben nach Harmonie – oder eine Mischung aus alldem. Doch erstaunlicherweise werden die Geschlechterunterschiede in vielen populärwissenschaftlichen Publikationen oft nicht ausreichend beschrieben. Dabei ist das ganz wichtig: Je besser Patientinnen und Behandler die Zusammenhänge verstehen, desto schneller und erfolgreicher können Frauen gesunden.

Wirklich erfreulich ist, dass über Depressionen wesentlich mehr publiziert wird – was zur Aufklärung und Akzeptanz beiträgt. Seit mindestens einem Jahrzehnt berichten die großen Medien – wie DerSpiegel, Die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung – differenziert, umfassend und gleichzeitig anschaulich über seelische Krankheiten. Auch über die Kunst, die oft daraus entsteht. So sendete ttt – Titel, Thesen, Temperamente – 2019 einen Fernsehbeitrag über die Fotoausstellung »Crazy« in Berlin. Prominente bekennen sich, so die amerikanische Lyrikerin Melissa Broder bei Twitter und die manisch-depressive Feministin und Autorin Sophie Passmann in der Brigitte. Verschiedene Aktionen setzen sich für mehr Offenheit ein, zum Beispiel die MUT-Touren. Dabei radeln Depressionserfahrene und Gesunde in Tandems durch Deutschland. Oder der Patientenkongress – er findet im September 2019 zum fünften Mal in Leipzig statt. Die englische Komikerin Ruby Wax gründete die »Frazzled Cafes«, in denen sich Betroffene aussprechen können. Das Stigma ist noch nicht weg, aber es wird kleiner!

In meiner Kindheit in den 1970er-Jahren war das noch anders. Seitdem bin ich seelisch krank, als Erwachsene litt ich Jahrzehnte an Depressionen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist, wenn man an seiner Trauer fast erstickt und der Alltag sich anfühlt wie ein Marathonlauf. Am 30. März 2011 war ich noch so verzweifelt, dass ich eine Überdosis Tabletten nahm. Als ich wieder aufwachte, war ich enttäuscht, aber auch schockiert über mich selbst. Ich beschloss: Einen Anlauf nehme ich noch. Mehrere Psychotherapien, verschiedenste Medikamente, unzählige Krankenhausaufenthalte und eine schier übermenschliche Geduld waren nötig, bis ich meine Depressionen überwinden konnte. Ich lebte sieben Jahre lang den größten Teil des Jahres in der Psychiatrie. Doch zu meinem Erstaunen fand ich doch noch einen Weg aus der Krankheit. Anschließend führte ich endlich ein richtig gutes, weitgehend normales Leben! Und auch jetzt bin ich sicher, dass ich noch gesünder werden kann.

Kalterwischt habe ich geschrieben, weil ich dazu beitragen möchte, dass andere Frauen leichter, schneller und in kompakterer Form Hilfe finden als ich. Denn zu oft wird eine Depression nicht als solche erkannt. Da ich dieses Buch als Patientin und Journalistin verfasst habe, hat es zwei Ebenen. Der rote Faden ist die Erzählung meines Lebens mit der Depression. Wie sie sich anfühlt, wie sie entstanden ist, wie ich sie mehr und mehr überwand, und was ich heute mache, klopft sie wieder bei mir an. Manchmal mag für die Leser einiges widersprüchlich erscheinen, aber auch das gehört zum Krankheitsbild. Dazwischen finden sich Sachkapitel zur Depression und zu verwandten Erkrankungen, Kästen und Interviews mit Experten, die besonders für Frauen wichtig sind. So beschreibe ich beispielsweise meine Kindheit, wie ich sie subjektiv erlebt habe, danach folgt ein Interview, in dem es um die objektiven Kriterien von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen geht. Weiterhin werden entscheidende Fragen beantwortet – zum Beispiel, ob Antidepressiva süchtig machen, wie eine Psychotherapie hilft oder ob jemand verrückt ist, wenn er in eine psychiatrische Klinik muss. Meine Tipps sollen einen Weg aus dem Psychodschungel und der Krankheit weisen, sie sind eine Kombination aus eigenen Erfahrungen und gründlicher Recherche.

In dieser Neuauflage habe ich die notwendigen Stellen aktualisiert und die Kapitel 12 und 15 ergänzt; ebenso den Blick in die weitere Zukunft und den Serviceteil. Neu hinzugekommen ist das Kapitel 20: WorkHard,PlayHard – Wie passen Krankheit und Job zusammen? Denn für einen Großteil der Menschen ist ihr Beruf nicht nur wegen des Gehalts ein Grundpfeiler ihres Lebens. Welche Wege gibt es hier für depressive Patienten?

Besonders wichtig ist natürlich die Frage nach der richtigen Therapie. Wie bekommt man möglichst schnell eine Behandlung von hoher Qualität? Leider ist die Versorgung von seelisch Kranken unter anderem vom Wohnort, sozialen Status, Alter und Bildungsgrad abhängig. Die junge Buchhändlerin aus München findet eher einen ambulanten Therapieplatz als ein Rentner, der im Dorf nahe der polnischen Grenze lebt. Auch deswegen gibt es bei Depressionen keine einfache Patentlösung.

Doch die Krankheit hat leider meist zur Folge, dass das Leben knüppelhart wird. Daher sollte man sich selbst grundsätzlich so behandeln, wie man sich gegenüber seiner besten Freundin oder seinem besten Freund verhalten würde: fürsorglich, Anteil nehmend, liebevoll, unterstützend, wertschätzend. Die weitverbreitete Strategie, gegenüber anderen noch netter zu sein, noch mehr Aufgaben zu übernehmen und sich noch mehr zusammenzureißen, sorgt in der Regel dafür, dass die Depression schlimmer, wenn nicht sogar chronisch wird – ein deutlich unterschätztes Risiko! Die »preußische Härte« ist eine Sackgasse! Selbstfürsorge statt Selbstdisziplin: Niemand muss sich mit der Depression als einem nicht behandelbaren Lebensschicksal abfinden. Auch ist die Depression keine automatische Begleiterscheinung des Alters. Gerade Frauen neigen dazu, sich und ihr Leid klein zu machen. Was deshalb gar nicht oft genug gesagt werden kann in unserer nach Leistung strebenden Gesellschaft: Depressionen sind kein Zeichen von Schwäche oder Faulheit. Nie!

1 Die Tür zum Inferno – mein Zusammenbruch in Norwegen 2006

Ich habe Todesangst. Ich fühle mich wie eine Hülle kurz vor dem Zerbersten. Es ist der 3. August 2006, ein später Donnerstagnachmittag, ich bin auf dem Weg zum Hamburger Flughafen, um einen Flieger nach Norwegen zu besteigen. Mit einer Gruppe von Journalisten aus England, Dänemark, Portugal und Russland werde ich in den nächsten Tagen auf einem Forschungsschiff von Bergen aus, der Hafenstadt am Inneren Byfjord, Richtung Norden fahren, genauer gesagt nach Trondheim. Man möchte uns über den hiesigen Fischfang informieren. Unterwegs rufe ich vom Handy meine Freundin Birgit an. Wir kennen uns seit dem gemeinsamen Skandinavistik-Studium, also seit fast zehn Jahren. Birgit stammt aus Franken, ist dreißig, hat eine makellose Haut und auch sonst alles, was ich nicht habe: eine heile Familie, einen loyalen Freund, eine Größe-36-Figur und viel Charme. Erst rauscht es in der Leitung, dann höre ich sie.

»Jesses, wieso bist du denn noch im Bus g’sessen, dein Flieger geht doch gleich?«, fragt sie.

»Ich weiß«, antworte ich, »es ging nicht schneller. Ich pack diesen Trip nicht. Aber ich kann doch jetzt nicht umdrehen?«

Sie spricht mir Mut zu: »Du schaffst das, Heide, ganz bestimmt.«

Wir beenden das Gespräch, weil ich am Flughafen Fuhlsbüttel angekommen bin. Wie in Trance bewege ich mich zum Check-in-Schalter, gehe mit meinem Rucksack durch die Pass- und Sicherheitskontrollen. Durch den vorgegebenen Ablauf komme ich nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, ob ich umkehren soll oder nicht. Als ich dann endlich angeschnallt im Flugzeug sitze, bin ich vollkommen erschöpft, obwohl die Reise gerade erst begonnen hat. Doch das hat Gründe. Hinter mir liegt das schlimmste halbe Jahr meines Lebens. Mein Freund Philipp hat sich im Februar von mir getrennt, und seitdem gehe ich durch die Hölle. Das Schreckliche ist, dass es jetzt, gut sechs Monate später, jeden Tag noch genauso schmerzt wie am ersten Tag. Es fühlt sich an, als hätte man einen Teil von mir herausgerissen. Ich heule permanent: nach dem Aufwachen, auf der Toilette im Büro, beim Einkaufen im Supermarkt, auf dem Weg zum Sport und vor dem Einschlafen. Jeden Morgen schreibe ich in mein Tagebuch: »Ich kann nicht mehr«, und jeden Abend: »Ich will nicht mehr.« Philipp liebt mich nicht mehr, ich kann das einfach nicht begreifen, und ich vermisse ihn so sehr, dass es mich körperlich zerreißt.

Seit April gehe ich einmal in der Woche zur Psychotherapie bei Dr. Levi, einem ausgewiesenen Experten für Depressionen, der gleichzeitig Psychiater ist. Ich nehme Beruhigungs- und Schlafmittel sowie Antidepressiva – doch der Trennungsschmerz quält mich weiterhin. Ständig. Nie wieder werde ich mit Philipp schlafen, nie wieder werden wir spazieren gehen, nie wieder werden wir zusammen essen. Das »Nie mehr« kann ich nicht ertragen. Immer noch bin ich davon überzeugt, dass er der Mann meines Lebens ist und ich ohne ihn nicht leben kann.

In den ersten Wochen lag ich nur zu Hause im Schlafzimmer und weinte. In dem Versuch, etwas an meiner Situation zu ändern, besorgte ich mir ein neues Bett, ein schmales – ich hielt »unser« breites Bett nicht mehr aus. Es nützte nichts. Ich starrte weiterhin durch die Türöffnung auf den hellblau gestrichenen Flur mit dem dunklen Holzfußboden. Stundenlang. In den letzten Wochen habe ich alles versucht, was Trennungsratgeber empfehlen und Antidepressiva möglich machen: Ich stürzte mich in die Arbeit, verabredete mich mit Freunden, ging viel zum Sport und kaufte mir neue Stiefel. Auch all das hat nicht geholfen. Im Gegenteil: Es wurde immer schlimmer. So schlimm, dass ich inzwischen jeden Tag überlege, wie ich mich umbringen kann. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, wie ein Selbstmord am schmerzfreiesten zu realisieren ist. Für mich ist klar: Selbst wenn die Qualen in drei Monaten weniger werden sollten, bis dahin würde ich es nicht überleben.

Wir landen. Ich fühle mich gefangen wie in einem düsteren Albtraum, dabei ist draußen strahlendes Wetter. Das ist nicht selbstverständlich. Bergen gilt mit rund 250 Tagen Niederschlag im Jahr als die regenreichste Stadt Europas. Jetzt, am frühen Abend, sind es immer noch 30 Grad Celsius. Ich steige in ein Taxi, und wir kommen am Hafen vorbei, die alten Holzkontore der Hansezeit am Bryggen leuchten in der Sonne in Rot, Gelb und Weiß. Ich registriere es, kann mich aber nicht an diesem schönen Bild erfreuen.

Im Hotel angelangt, checke ich ein, nehme meinen Zimmerschlüssel in Empfang und will nur noch meine Ruhe. Meinen Rucksack packe ich nicht aus, sondern werfe mich sofort weinend aufs Bett. Es tut so weh, dass ich Philipp nicht mehr anrufen kann, um ihm zu sagen, dass ich gut an Norwegens Westküste gelandet bin.

Wie üblich schlafe ich schlecht, und am nächsten Morgen wache ich ganz zerschlagen auf. Da wir uns erst mittags an dem Forschungsschiff treffen, reicht die Zeit noch, um über den Markt im Zentrum der Stadt zu laufen. Dort höre ich sehr viel Deutsch und beobachte einen Hund meiner Lieblingsrasse, einen schwarz-weißen Landseer. Ich versuche mich abzulenken, doch es gelingt mir nicht. Auch wie immer.

Nach dem kurzen Stadtrundgang mache ich mich mit meinem Rucksack auf den Weg zum Boot. Der Horror trifft mich mit voller Wucht, als wir uns um zwölf Uhr vor der Johan Hjort treffen, die Pressefrau vom Institut für Meeresforschung, der leitende Wissenschaftler dieser Einrichtung, der Leiter des staatlichen Direktorats für Fischerei, die Journalisten aus den anderen Ländern und ich. Gedanken wie: Keiner darf merken, dass ich total neben mir stehe und auf der Stelle in Tränen ausbrechen könnte, hämmern auf mich ein. O Gott, ich bin hier, um zu arbeiten. Wie soll ich das nur bewältigen? Um meiner Hilflosigkeit zu entkommen, leihe ich mir einen Stift und einen Zettel und notiere einiges, etwa dass der russische Kollege aussieht wie der Böse in einem James-Bond-Film. Natürlich soll ich nicht über die anderen Journalisten, sondern über den Fischfang vor Norwegen schreiben. Aber wer weiß, so ermutige ich mich selbst, nebensächlichste Eindrücke können beim Verfassen eines Artikels auf einmal wichtig werden.

Danach gebe ich reihum allen die Hand und stelle mich etwas verspätet vor, auf Englisch und auf Schwedisch: »Hello, my name is Heide Fuhljahn, I’m coming from Germany – hej, jag heter Heide, jag kommer från Tyskland.« Die Norweger antworten sehr herzlich: »Hei Heide, velkommen.« Dass ich sie auf Schwedisch begrüße, wird von ihnen begeistert registriert. Die skandinavischen Sprachen ähneln sich, und jeder Ausländer, der eine der Sprachen kann, wird interessiert aufgenommen. Daher komme ich schnell mit allen in Kontakt. Scheinbar ein guter Start. Doch nur nach außen hin ist alles in Ordnung – innerlich plagt mich weiterhin das Gefühl, gleich sterben zu müssen. Das verstärkt sich sogar noch, als wir nach der Begrüßung an Bord gehen, unsere Kajüten beziehen, das Schiff den Hafen von Bergen verlässt und der erste Vortrag auf unserem Zeitplan steht. Denn da wird alles auf Englisch erklärt. Ich verstehe kaum ein Wort, obwohl mein Englisch ganz gut ist. Aber nicht, wenn es um Fischfang geht, um seine wissenschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen. Noch heute weiß ich, dass immer wieder drei Buchstaben genannt wurden: IUU. Damals war mir diese Abkürzung fremd, sie steht für »illegal, unreported and unregulated fishing«, was so viel heißt wie »illegales, nicht reguliertes, nicht gemeldetes Fischen«.

Mit steigender Panik höre ich zu. Da ich nach meiner Ausbildung erst seit einem Jahr als Journalistin arbeite, bin ich längst nicht so routiniert wie die anderen. Ich will alles richtig machen und schreibe deshalb hektisch in einem lautschriftlichen Englisch mit. Zum Glück habe ich in einer Pause in einem kleinen Nebenraum einen Computer mit Internetzugang entdeckt, den wir benutzen dürfen. Meine Rettung. Unter www.leo.org suche ich die passenden Übersetzungen für die Lautschriften. Cod ist also Kabeljau (auf meinem Block steht »kodd«), und der ist, so erfahre ich, dramatisch überfischt.

Trotz dieser Hilfe habe ich jede Sekunde Angst, das Entscheidende zu verpassen. Ich versuche interessiert auszuschauen, fühle mich in meinem Innern aber wie eine Blenderin. Ich kann nicht sehen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren deutlich die Jüngste in der Gruppe bin. Das hätte mich beruhigen können, auch dass ich keine Expertin bin, was das Thema Fischfang betrifft. Doch in meinem Kopf trommelt wie eine Pauke nur die eine Erkenntnis: Zweifellos bist du die Falsche für einen fundierten Artikel über die Fangsituation vor Norwegen! Doch genau den soll ich liefern, und zwar schon in der nächsten Woche.

Endlich sind die Vorträge beendet, wir haben frei. Die Gruppe zerstreut sich, einige gehen zurück in ihre Kajüte, andere schauen sich die Brücke an oder rauchen draußen an der Reling eine Zigarette. Ich stehe ebenfalls dort, rauche aber nicht, sondern weine um meine verlorene Beziehung. Von einem Elend gerate ich ins nächste. Auch wenn ich es abstellen möchte, es gelingt mir nicht. Die zerstörerischen Bilder tauchen unweigerlich in meinem Kopf auf und lassen sich nicht verdrängen: Philipp hat eine neue Freundin. Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer im Bauch umdrehen. Trotzdem funktioniere ich noch irgendwie. Ich ermahne mich: Reiß dich zusammen! Dann wische ich meine Tränen weg und erkunde das Schiff. Es ist fünfundsechzig Meter lang, recht neu, von 1990, und hat mehrere Decks, die alle weiß gestrichen sind. Viele Räume, an deren Türen ich rüttle, sind abgesperrt, dahinter befinden sich die Forschungseinrichtungen: Kühlkammern, Labore, Messbereiche. Hinten am Heck ragen mehrere orangefarbene und gelbe Kräne in den Himmel, mit ihnen werden in den nächsten Tagen Netze ins Wasser gelassen und Fische und Meerestiere gefangen.

Kurz danach essen wir an Bord zu Abend, es gibt Lachs, wie passend. In meiner Verzweiflung lasse ich mich auf einen Flirt mit einem witzigen englischen Journalisten ein. Doch eigentlich denke ich nur an Philipp und bin noch trauriger als zuvor.

Am nächsten Morgen läuft die Johan Hjort in den Hafen von Älesund ein, und ich nehme das als Möglichkeit, um einkaufen zu gehen. Nein, nicht shoppen, es ist kein Spaß damit verbunden, sondern eine Notwendigkeit, denn ich habe nahezu alles zu Hause vergessen. Das ist mir allerdings erst am zweiten Abend aufgefallen, weil ich im Hotel in Bergen nur die Zahnbürste ausgepackt habe. Sogar einen Block und einen Stift muss ich mir besorgen. Ich schäme mich dafür, dass ich offenbar nichts mehr richtig auf die Reihe kriege. Außerdem fehlen mir Haarbänder, Shampoo und ein Deo. Erst jetzt und damit viel zu spät habe ich auch begriffen, dass es am Ende der Reise eine große Pressekonferenz geben wird. Ich habe jedoch ausschließlich Shorts im Marinelook in meinem Rucksack verstaut. Also kaufe ich mir bei H&M ein schwarzes Hemdblusenkleid – und heule in der Umkleidekabine, weil mir nur Größe vierundvierzig passt.

Während ich mit meinen Einkäufen durch die Gassen von Älesund gehe, denke ich daran, dass ich im letzten halben Jahr so gut wie gar nicht mehr geschlafen habe – an Bord ist es nicht anders. Das Bett in meiner Kabine ist schmal, das Schiff schaukelt auf den Wellen, und ich komme einfach nicht zur Ruhe. Zu sehr stehe ich unter Druck. Und auch hier, so weit weg von meiner Heimatstadt, denke ich jeden Tag an Selbstmord. Ich stelle mir vor, wie ich eine Überdosis Tabletten nehme. Meine Kräfte sind restlos erschöpft, das spüre ich. Jeden einzelnen Tag durchlebe ich wie in Watte. So gern würde ich Philipp meine Scham über diese Reise anvertrauen, mich von ihm trösten lassen. Doch ich darf ihm nicht einmal eine SMS schicken. Wir sind nicht mehr zusammen, und er will keinen Kontakt mehr.

Am vierten Tag der Reise bin ich derart am Ende, dass ein weiterer Faden meiner Vernunft reißt. Ich pfeife auf die Absprache, die ich mit Dr. Levi getroffen habe, und nehme das Beruhigungsmittel jetzt so, wie ich es brauche, und nicht, wie ich es nehmen darf. Achtzig Milligramm Oxazepam statt der verordneten fünfundzwanzig Milligramm. Mehr als die dreifache Dosis. Mir doch egal, ob das süchtig macht – jetzt geht es ums nackte Überleben! Oxazepam ähnelt in seiner Wirkung dem Beruhigungsmittel Valium (Diazepam), ein gesunder Mensch würde bei der Menge auf der Stelle einschlafen. Ich jedoch bleibe trotz der hohen Dosis in einer nicht enden wollenden Panikattacke stecken, bin so außer mir, dass ich die ganze Zeit heulen und schreien könnte. Mein Herz rast, ich zittere und fühle mich, als ob ich in einem Auto sitze, welches auf einen Baum zurast. Das Beruhigungsmittel beruhigt mich längst nicht mehr, es sorgt nur dafür, dass ich den Tag durchstehe: Nach außen komme ich mir mehr und mehr wie ein Roboter vor, kein Wunder, denn ich funktioniere wie eine Maschine. Stehe auf, ziehe mich an, frühstücke, gehe, spreche, arbeite. Innerlich bin ich vollkommen aufgelöst.

Es ist der letzte Tag, wir sind in Trondheim angekommen. An Land findet vormittags die abschließende Konferenz statt. Vertreter von Behörden und wissenschaftlichen Instituten aus verschiedenen europäischen Ländern geben ihre Statements zum Thema IUU ab, zum illegalen Fischen. Inzwischen habe ich das Gefühl, nicht mehr Teil meines Körpers zu sein. Je länger ich die Vortragenden sprechen höre, desto ängstlicher werde ich. Nach der Veranstaltung interviewe ich die Pressesprecherin vom Deutschen Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die ganze Zeit bin ich schweißgebadet, weil ich nicht weiß, ob meine Fragen mich als völlig unwissend entlarven.

Am Abend gehe ich mit der Truppe von der Johan Hjort zum letzten Mal gemeinsam essen. Wir sitzen draußen in der Sonne vor einem kleinen italienischen Lokal, auf schönen Korbstühlen. Eine ausgelassene Runde, die das Ende der Reise feiert. Wenn ich mir heute die Fotos von diesem Kreis ansehe, erschrecke ich – denn man sieht mir nichts an. Ich sehe mich strahlend lächeln, weiß aber genau, wie elend ich mich in diesem Moment gefühlt habe. Heute bin ich erstaunt, wie schlank ich war, damals fühlte ich mich fett und hässlich. Auf den Bildern entdecke ich nicht den geringsten Hinweis von dem Martyrium, in dem ich mich befand. Gar nichts.

Am nächsten Tag, es ist ein Mittwoch, verpasse ich fast meinen Rückflug. Es scheint, als ob ich inzwischen nur noch in Zeitlupe funktioniere. Außerdem fällt es mir schwer zu rechnen. Wenn um 14 Uhr mein Flieger geht, wann muss ich dann das Hotel verlassen, um rechtzeitig am Flughafen anzukommen? Irgendwie sitze ich dann doch im Bus zum Airport von Trondheim. Benommen sehe ich aus dem Fenster: Bewaldete Hügel, im Tal kleine Häuser mit spitzen Dächern, und immer wieder fahren wir über Brücken, über Ausläufer des Fjords. Die Farben leuchten, da ist das Hellblau des Himmels, das Dunkelblau des Meeres, das Grün der Wälder, das Rot der Häuser. Doch diese Schönheit erscheint mir fern, wie ein Gemälde. Ich fühle mich wie abgespalten von der Welt.

Als der Bus hält, merke ich, dass ich viel zu spät dran bin. In letzter Minute erreiche ich die Maschine. Als ich auf meinem Platz sitze, schlucke ich erneut mein Oxazepam. Ich nehme es jetzt, als würde ich zu Bonbons greifen. Doch es hilft mir nur so weit, dass ich mich noch aufrecht halten kann. Alles, was ich will, ist, nach Hause zu kommen, zu Philipp. Doch er ist nicht mehr mein Zuhause. Wenn ich wenigstens zu meiner Familie fahren könnte, aber meine Mutter ist tot. Ein Zuhause, in dem ich das Kind bin, habe ich schon ewig nicht mehr.

Am Hamburger Flughafen nehme ich ein Taxi zu meiner Wohnung. Ich kann nicht mehr in einen Bus einsteigen. Nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, wanke ich ins Bett. Am nächsten Morgen rufe ich – zum ersten Mal in dem halben Jahr der Behandlung – meinen Therapeuten an. Ich schluchze und weine, sage: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.« Er klingt ruhig und abgeklärt wie stets, aber ich nehme wahr, dass er meine Not sehr ernst nimmt. Er antwortet: »Frau Fuhljahn, wenn es gar nicht mehr geht, können Sie jederzeit über die Notaufnahme in eine Klinik gehen. Jederzeit! Ansonsten kommen Sie bitte morgen früh um neun zu mir. Dann besprechen wir, wie es weitergeht.«

In meinem Kopf existiert nur noch dieser Termin. Die Stunden bis dahin verbringe ich unter einer Medikamentenglocke. Nur zu einem Telefonat mit meinem Redaktionsleiter kann ich mich noch zwingen. Gott sei Dank ist es kein Problem, dass wir den Artikel über IUU erst mal nicht bringen. Als ich endlich vor Dr. Levi sitze und meine Probleme während der Norwegenreise schildere, sagt er: »Gehen Sie ins Krankenhaus, bitte!« Ich nicke, erkläre mich damit einverstanden, doch ich weiß nicht, welche Klinik ich wählen soll, welche für Fälle wie mich gut ist. Mein Therapeut nimmt mir die Entscheidung ab: »Das Universitätskrankenhaus in Hamburg ist zwar am nächsten, doch ich würde Ihnen empfehlen, sich für eine Klinik in Schleswig-Holstein zu entscheiden. Ich kenne die Therapeuten dort sehr gut, und ich glaube, dass die Ihnen am besten helfen können.«

Noch während der Sitzung meldet er mich telefonisch zu einem Vorgespräch für die psychiatrische Station an. In den letzten sechs Monaten hatte ich mich strikt geweigert, ein Krankenhaus aufzusuchen, obwohl es mir der Therapeut mehrfach geraten und auch meine Freundin Birgit immer wieder diesen Vorschlag gemacht hat. Doch ich hatte Angst, dass es in der Psychiatrie so sein könnte wie in dem Horrorfilm Rosemarys Baby: Die New Yorker Ehefrau Rosemary sucht während ihrer Schwangerschaft Hilfe bei einem Gynäkologen, aber der gehört, genau wie ihr Mann und die Nachbarn, zu einer Gruppe von Satanisten, und am Ende gebiert sie einen Säugling, der vom Teufel gezeugt wurde. Nur ist meine Todesangst jetzt so groß, größer als alles andere, dass diese Furcht an Bedeutung verliert.

Während Dr. Levi weiter in das Telefongespräch verwickelt ist, denke ich nur eines: Hoffentlich nehmen sie mich dort auf.

Zugleich toben in mir die widersprüchlichsten Gefühle: Auf der einen Seite will ich nichts lieber als sterben, auf der anderen Seite fürchte ich mich davor. Dass diese Zerrissenheit typisch ist für Menschen, die sich umbringen wollen, erfahre ich erst viel später. Jetzt will ich allein, dass dieser Ausnahmezustand, in dem ich seit Monaten stecke, einfach aufhört. Und wäre ich gesund, ich hätte erst einmal gründlich recherchiert, welche Klinik mein Therapeut da überhaupt empfiehlt. Genau hätte ich mich informiert, mit dem zuständigen Arzt diskutiert, wäre skeptisch gewesen. Diese Motivation ist nicht mehr vorhanden. In meinem Kopf gibt es nur Platz für einen einzigen Gedanken: Hilfe!

Am nächsten Tag hole ich mir einen Überweisungsschein fürs Krankenhaus. Meine Hausärztin fällt fast vom Stuhl, als ich ihr sage, dass ich achtzig Milligramm Oxazepam nehme – und zusätzlich Antidepressiva und Schlaftabletten. Sie sagt: »Na, Ihr Psychiater weiß hoffentlich, was er tut! Gut, dass Sie in die Klinik gehen, das erscheint mir dringend angebracht.« Nachdem ich die Praxis verlassen habe, fahre ich mit Bus und Bahn anderthalb Stunden in den Norden, verlasse die Stadtgrenze von Hamburg; es kommt mir so vor, als wäre ich auf einem psychedelischen Trip. Ich weine ununterbrochen, aber niemand reagiert.

Beim Vorgespräch in der psychiatrischen Klinik sitze ich einem Oberarzt gegenüber. Dr. Steinhausen sieht aus wie Sigmund Freud: hohe Geheimratsecken, markante Nase, Spitzbart. Doch statt eines weißen Kittels oder eines dreiteiligen Anzugs trägt er tatsächlich einen bunten Pullover, Jeans und Turnschuhe. In seinem Büro steht eine Couch, ansonsten ist das Zimmer eingerichtet wie eine Studentenbude. Überall Bücher, Poster an den Wänden, der Schreibtisch ist unter Papierbergen begraben. Als Erstes gebe ich ihm meinen Überweisungsschein.

Der Arzt schaut mich verblüfft an und fragt: »Wieso haben Sie den noch geholt? Sie hätten auch ohne ihn kommen können.«

»Ich wollte einen guten Eindruck machen«, antworte ich ehrlich. Meine Angst, dass man mich nicht aufnimmt, ist so groß, ich hätte alles Mögliche gemacht, wenn es nötig gewesen wäre.

»Dr. Levi hat mir schon einen Überblick über Ihre Situation gegeben«, sagt Dr. Steinhausen, »aber ich würde gern von Ihnen selbst hören, wie Sie die einschätzen und empfinden.«

Wieder erzähle ich von meinem Inferno und von meiner Hoffnung, zwei Wochen in der Klinik sein zu können. Nachdem ich meine Ausführungen beendet habe, meint der Mediziner, dass man mich für zwei Wochen nicht aufnehmen würde. Ich müsste mindestens sechs bis acht Wochen bleiben, da eine stationäre Therapie Zeit brauche, um zu wirken. Mit zwei Wochen würde ich nur die Spitze des Eisbergs angehen.

Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich das vernehme. Doch ich kann die Verzweiflung nicht mehr aushalten, nicht den Druck, die Schlaflosigkeit, die Anspannung, die Trauer. Ich weiß: Wenn der Arzt mich in dieser Klinik nicht aufnimmt, bringe ich mich um. Also streiche ich in Gedanken meinen Job, an dem ich so sehr hänge und den ich im letzten halben Jahr krampfhaft versucht habe zu halten. Im Geiste streiche ich auch meinen geplanten Türkei-Urlaub. Dort wollte ich segeln, seit Jahren habe ich von dieser Reise geträumt. Schließlich willige ich ein, mindestens sechs Wochen in der Klinik zu bleiben. Es ist meine letzte Chance.

Fünf Tage später ist ein Platz frei. Ich packe meine Sachen für die psychiatrische Station. Hätte ich diesen Schritt nicht getan, ich wäre heute tot.

2 Mantel aus Blei – wie sich eine Depression anfühlt

Meistens wachte ich früh um sechs Uhr auf – und schon war der Tag gelaufen. Allein das Aufstehen erschien mir unendlich schwer. Denn vor mir lag eine ermüdende Kette voller Anstrengungen. Schon der Gedanke an das, was ich alles tun musste, erschöpfte mich. Zwei Stunden lang drehte ich mich immer wieder im Bett um, denn ich wünschte mir so sehr, nur fünf Minuten tief und fest zu schlafen. Mich erholen zu können. Doch es nützte nichts – ich konnte mich nicht entspannen, um Schlaf zu finden. Wenn ich arbeiten musste, rief Birgit mich meist um acht Uhr an: »Guten Morgen, Heide, komm, wir starten jetzt zusammen in den Tag.« Trotz ihrer freundlichen Begrüßung wäre ich am liebsten liegen geblieben. Aber ich riss mich zusammen. »Okay, ich stehe jetzt auf.« Also angelte ich auf dem Nachttisch nach meiner Brille, schlug die Decke zurück und setzte mich auf die Bettkante – und weinte. Die fünf Meter zu meinem Badezimmer kamen mir vor, als sollte ich einen Berg hochklettern. Doch ich musste mich ja fertig machen.

Mit der Zeit entwickelte ich ein Notprogramm. Duschen? Höchstens jeden dritten Tag. Deo ersetzte Wasser und Seife. Gesicht waschen und eincremen? Erst nur morgens. Später nur einmal die Woche. Irgendwann gar nicht mehr. Haare waschen? Das wurde sozial ein ernsthaftes Problem. Ich war froh, als ich herausfand, dass es noch Trockenshampoo gibt. Schminken? Dann, wenn ich einen wichtigen beruflichen Termin hatte. Ich lackierte mir nicht mehr die Nägel, benutzte weder ein Peeling noch eine Beauty-Maske, ließ den Rasierer für die Beinrasur stehen. Die damit einhergehende Verlotterung störte mich sehr, doch die Mühe war einfach zu groß, um es zu ändern.

Blickte ich auf das vergangene halbe Jahr zurück, wusste ich nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal gefreut hatte. Mich leicht fühlte und unbeschwert. Oder normal. Oder war dieser Zustand vielleicht sogar normal? Ich hatte einfach keinen sicheren inneren Maßstab mehr. Ich wusste nur, dass mir nichts mehr Spaß machte. Der Grad meiner Erschöpfung verschlimmerte sich jeden Tag, sodass ich alles, was ich tat, nur noch danach bewertete, wie sehr es mich auslaugte. Es war, als hätte ich – nacheinander – eine Grippe, eine Erkältung, eine Magen-Darm-Infektion, schweres Fieber. Und danach ging es wieder von vorn los. Mein ganzer Körper schmerzte, ich fühlte mich schwach und niedergeschlagen. War der Kühlschrank leer, ging ich notgedrungen zum Supermarkt. Der Hinweg durch die drei kleinen Straßen kam mir ewig vor. An der Kasse konnte ich die Münzen nicht mehr zählen. Auf dem Rückweg schnitt mir das Plastikband von der Einkaufstüte schmerzhaft in die Hand. Wieder zu Hause, war ich so matt, dass ich mich ins Bett legen musste. Schließlich ging ich nicht weiter als zum Kiosk um die Ecke. Von meinen normalen Verpflichtungen erledigte ich außer dem Einkaufen nur noch das absolut Notwendigste. Im Schneckentempo. Manchmal stand ich minutenlang vor meinem aufklappbaren Wäscheständer. Darauf lagen Jeans, meine schwarzen Hosen, Tops und Unterwäsche. Auch wenn ich die schwarze Hose brauchte, ich konnte sie nicht vom Wäscheständer nehmen. Als ich noch ein Kind war, besaß mein Vater einen imposanten Mantel aus Wolfspelzen. Heimlich probierte ich ihn eines Tages an – und ging aufgrund seines Gewichts in die Knie. Nun fühlte ich mich, als würde ich einen Mantel aus Blei tragen. Ich bekam die Arme nicht mehr hoch, um ebendiese schwarze Hose abzuhängen.

Genauso wenig konnte ich putzen. Oder Musik hören. Nicht im Internet surfen. Immer seltener zwang ich mich, etwas »Konstruktives« zu tun. Etwa mit meiner Freundin Meike zum Sport zu gehen. Es kam mir vor, als sollte ich bei den Bundesjugendspielen antreten. Meikes Haare glänzten seidig, ihre Fingernägel erinnerten mich an rosafarbene Magnolienblüten. Eines Tages fragte ich sie auf dem Weg zum Training: »Sag mal, steigst du eigentlich jeden Morgen einfach unter die Dusche, oder denkst du vorher darüber nach?« Sie sah mich verdutzt an. »Wenn nicht gerade Neujahr ist und ich an Silvester lange gefeiert habe, gehe ich in die Dusche, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Wieso fragst du?«

Saß ich morgens auf der Bettkante, war ich verzweifelt, dass ich meinen Pyjama ausziehen musste, um den Tag zu starten. Im Bad musste ich den Duschvorhang auf- und zuziehen, den Warmwasserhahn aufdrehen, Kaltwasser dazugeben. Die richtige Temperatur mit der Hand fühlen. Kopf und Körper nass machen. Das Shampoo greifen. Öffnen. Die Haare einseifen. Das Duschgel nehmen und etwas herausdrücken. Ich weinte die ganze Zeit. Auch während des Abduschens, auch als ich das Handtuch nahm und mich damit ins Bett legte.

Was immer ich tat, es kostete enorm Kraft. Ich schrieb damals für eine Segelzeitschrift. Zu meinem Teilzeitjob prügelte ich mich, weil ich kaum Geld, Vermögen sowieso nicht und nur einen befristeten Vertrag hatte. Wenn ich nicht arbeiten musste, lag ich im Bett. Gemacht habe ich so gut wie nichts, aber mich auch nicht erholt. Manchmal sah ich nur fern, doch selbst das war keine Regeneration, sondern nur Anstrengung. Noch nie habe ich so viel ferngesehen wie in dieser Zeit. Irgendwann fiel mir auf, dass ich jeden Abend in die Glotze guckte. Was aber zu keiner Veränderung führte. Im Gegenteil: Ich fing an, schon nachmittags DVDs anzusehen. Zusammengerollt lag ich im Jogginganzug auf meinem Klippan-Sofa unter einer grünen Decke, auf dem Tisch vor mir drei Tafeln Kinder-Schokolade. Oft schaute ich mir eine Staffel Emergency Room an. Danach war ich aber nicht aufgemuntert, sondern nur deprimierter – denn in der Notaufnahme, um die es in dieser amerikanischen Fernsehserie ging, war so viel Elend. Das erreichte mich noch. Schmerz, Trauer, Leid – das konnte ich noch fühlen. Doch das machte es letztlich nur schlimmer. Am Anfang hatte ich sogar ein klitzekleines bisschen Spaß dabei, mir eine ganze Staffelbox meiner Lieblingsserie reinzuziehen. Es erinnerte an einen entspannten Sonntagnachmittag, den man auf dem Sofa herumlümmelnd verbringt. Doch schnell war auch das öde. Danach streifte ich traurig durch die Wohnung: Ich stand planlos vor meinem Bücherregal und versuchte die Buchtitel zu lesen. Dann ging ich in mein Schlafzimmer, stellte mich ans Fenster und blickte in den Hof. Auf dem Regal, dem Fensterbrett, überall lag eine zentimeterhohe Staubschicht. Sollte ich nicht sauber machen? Müsste ich nicht dringend meine Wohnung reinigen? Oder sollte ich mich nicht besser verabreden, wie Ratgeber es empfahlen? In meiner Traurigkeit rief ich Birgit an und klagte ihr mein Leid:

»Ich hab schon wieder so wenig Energie. Mir tut alles weh. Immer bin ich traurig.«

»Es wird vorbeigehen, Heide, ganz bestimmt«, sagte sie.

»Aber es fühlt sich nicht so an«, erwiderte ich, den Tränen nah.

»Ich weiß. Aber du musst bitte durchhalten!«

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, legte ich mich erneut aufs Sofa. Für mehr fehlte mir die Kraft.

Lesen mochte ich nicht mehr. Aber irgendwie musste ich die Zeit totschlagen. Und zu viel Freizeit kann eine Katastrophe sein. Über diesen Satz würde meine Freundin Maren nur lachen. Maren ist Anfang vierzig, sie hat schöne grünbraune Augen, eine zierliche Nase und einen großen Mund mit strahlend weißen Zähnen. Sie ist klein, schlank, hat promoviert und arbeitet als Anwältin. Wir kennen uns von der Uni, ich hatte Strafrecht als zweites Hauptfach. Maren war meine Tutorin. Heute arbeitet sie Vollzeit und hat zwei Kinder. Ihr Leben ist von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends straff durchorganisiert. Sie sagt oft: »Ich muss noch so viel erledigen: einkaufen, zum Schuster, aufräumen, bügeln, die Waschmaschine anschmeißen, den Geschirrspüler ausräumen, ein Geschenk einpacken, kochen, eine Akte durcharbeiten, einen Vortrag schreiben – ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.«

Dann fragt sie mich: »Und was machst du am Wochenende?«

»Gar nichts.«

Wie die meisten meiner Freunde hat Maren chronisch zu wenig Zeit. Früher hatte ich auch so ein pralles, vollgestopftes Leben wie sie. Bei vielen meiner Freundinnen wurde ihr Leben durch die Kinder noch intensiver. Bei mir wurde es wegen der Depressionen so leer, dass ich mich mit Erschrecken fragte, ob es sich so wohl anfühlt, wenn man im Altersheim ist. Langeweile den ganzen Tag, die einzig durch die Mahlzeiten unterbrochen wird. Denn nicht nur hatte ich keine Lust mehr zum Lesen, ich konnte es auch kaum noch. Doch es fiel mir extrem schwer, das zu akzeptieren. An einem Sonntag versuchte ich mich an Plädoyer eines Irren von August Strindberg. Der Titel sprach mich an. Ich setzte mich an den Küchentisch, schaltete das Radio aus und zwang mich zur Konzentration. Es musste doch möglich sein, ein anspruchsvolles Werk aus dem Studium zu lesen. Doch nach den ersten zwanzig Seiten gab ich auf. Das Buch des schwedischen Autors, eine Autobiografie über seine qualvolle erste Ehe, war geistreich und originell geschrieben. Doch kaum hatte ich die Sätze gelesen, wusste ich nicht mehr, worum es ging. Es blieb mir nichts anderes übrig, als einzusehen: »richtige« Romane, die Sonntagszeitung, Fachzeitschriften – das war vorbei. Birgit wollte mir einmal Adler und Engel leihen, gleichzeitig eine Liebesgeschichte und ein Politthriller von Juli Zeh. Es war mir peinlich, ihr sagen zu müssen: »Tut mir leid, aber das ist im Moment zu anspruchsvoll für mich.«

Mein Nicht-lesen-Können empfand ich als persönliches Versagen, es war mir nicht klar, dass es eine Nebenwirkung der Depression war. Ich konnte mich höchstens noch auf Jugendbücher konzentrieren. In diesen Monaten las ich alle Bände von Dolly, Hanni und Nanni, Bille und Zottel sowie Britta. Ronja Räubertochter überforderte mich schon; die Geschichte war komplex, sie verlangte eine Aufmerksamkeit, die ich nicht hatte. Die Krankheit hatte meine Lesefähigkeit einfach aufgefressen. Konzentrationsmangel ist eine der schlimmsten und eine der am meisten unterschätzten Beeinträchtigungen der Depression. Neben den Jugendbüchern reichte es bei mir nur noch dazu, Zeitschriften wie Gala und Bunte durchzublättern. Wenn ich die Schlagzeile des Hamburger Abendblatts nicht lesen konnte, fürchtete ich um meinen Verstand. Ging es mir besser, merkte ich das zuerst daran, dass ich wieder einen Zeit-Artikel durchlesen konnte.

Was hatte ich eigentlich in der Phase nach der Trennung von Philipp gemacht? Bei den meisten Menschen strukturiert der Job den Tag. Das war bei mir auch so gewesen. Doch weil ich in Teilzeit arbeitete, mich nur drei bis vier Tage in einem Büro aufhielt, war ich den Rest der Woche zu Hause. Eigentlich wollte ich währenddessen frei für andere Zeitschriften schreiben, mich als Journalistin etablieren. Doch es ging nicht. Und wenn man nicht arbeiten kann, sind da auf einmal täglich acht, neun Stunden, die gefüllt werden müssen. Für die meisten meiner Freunde, für Birgit, für Meike, für Maren, wäre die Aussicht auf einen freien Tag sicher himmlisch. Aber wenn es jede Woche vier Tage sind, an denen man sich sterbenselend fühlt und nichts mit sich anzufangen weiß, ist das grauenhaft.

Die Last der freien Zeit wurde in der Krise schleichend schlimmer. Auf meinem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer stapelten sich neben meinem Computer die Briefe. Ich musste meine Steuererklärung machen, eine Reisekostenabrechnung, der Krankenkasse fristgerecht zurückschreiben. Müde hob ich jedes einzelne Blatt Papier hoch, las zerstreut, was der Absender von mir wollte, merkte, dass ich es nicht begriff, und legte das Schriftstück wieder auf den wachsenden Stapel neben meiner PC-Tastatur. Dumpf, wie unter einer Käseglocke, starrte ich auf meinen Bildschirm. Siebzehn E-Mails im Posteingang. Eine von einer Freundin aus England, ich hatte mich lange nicht bei ihr gemeldet. Doch die E-Mail zu beantworten kam mir vor, als sollte ich eine Hausarbeit schreiben. So beendete ich das Programm, schaltete den Computer aus und legte mich wieder ins Bett.

Meine Schlafstörungen hatte ich lange Zeit als gottgegeben akzeptiert, auch weil ich wusste, dass Schlafmittel süchtig machen können. Aber als ich mich nicht mehr an regelmäßige Aufgaben im Büro erinnerte und deswegen zum Chef zitiert wurde, war eine Grenze erreicht. Im Juni konnte ich meinen Therapeuten endlich überzeugen. »Es geht so nicht weiter«, beschwor ich ihn. »Seit vier Monaten habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen. Jeden Tag fühle ich mich, als hätte ich Fieber. Alles erscheint mir merkwürdig verzerrt. Ich kann nicht mehr!« Dr. Levi verschrieb mir Zolpidem, drei Tage die Woche durfte ich abends zehn Milligramm nehmen. Zu arbeiten, zu funktionieren, wurde damit leichter. Doch nicht, wenn man den Tag mit irgendwas füllen musste. Wenn ich genügend Geld gehabt hätte, hätte ich mir die Trostlosigkeit angenehmer gestalten können. Ich hätte mir zum Beispiel eine Massage in einer Wellnessoase gebucht und in dem Spa bequemer herumdümpeln können als auf dem Sofa. Doch an meiner inneren Verfassung hätte das wohl auch nicht viel geändert.

Früher habe ich viel Sport gemacht, fünf Stunden die Woche. Und inzwischen fahre ich auch wieder dreimal wöchentlich zum Training. Der Clou dabei war und ist: Wer regelmäßig übt, wer sich über einen gewissen Zeitraum kontinuierlich anstrengt, kann irgendwann fünf Kilometer joggen, zehn Liegestütze absolvieren oder Discofox tanzen. Primaballerina werde ich leider nicht mehr, aber meinen ersten farbigen Gürtel im Ju-Jutsu trage ich mit Stolz. Egal, wie sehr der Schweinehund am Anfang beißt: Setzt man sich ein Ziel, kämpft und hält ein paar Wochen oder Monate durch, fallen einem die Bewegungen sogar leicht und bringen Spaß. Diese Rechnung geht im Sport – zumindest bei moderaten Zielen – zu 100 Prozent auf. Beim Jogging fliegt man dahin und kann sich kaum noch vorstellen, dass es einmal mühselig war. Bei der Depression funktioniert es so in der Regel nicht. Eine derartige Belohnung bleibt aus. Niemand bekommt für sein langes Leid, für Schweiß, Tränen und Durchhalten eine Medaille.

Und ganz paradox: Durch noch mehr Anstrengung wird es meist nicht besser, sondern schlimmer. Eine gewisse Struktur zu behalten ist wichtig. Doch genauso, auf sich selbst Rücksicht zu nehmen. Man therapiert einen verletzten Knochen heute nur noch selten starr mit einem Gipsverband, aber Skilaufen mit gebrochenem Knöchel ist unmöglich. Wer depressiv ist, ist ebenfalls krank und kann einfach nicht so viel leisten wie ein gesunder Mensch. Die Chance, dass es sich ändert, dass die Krankheit heilt, ist groß. Trotzdem ist es extrem schwierig, bis dahin die eigenen Wünsche und Ansprüche aufzugeben und sich einzugestehen, dass man eingeschränkt ist. Ich musste, frustriert bis zum Anschlag, lernen, mit meinen Kräften hauszuhalten. Lernen, dass ich nicht mehr so belastbar, so fit und so gesund war wie einst.

Doch warum hatte ich mich die ganze Zeit so unter Druck gesetzt, warum wollte ich so tadellos funktionieren? »Reiß dich mal zusammen«, das hören Depressive oft. Wenn nicht von anderen, dann von sich selbst. Gerade Ältere haben diese eherne Maxime tief in sich verwurzelt (siehe Seite 346 ff.). Nicht nur von meinem Vater habe ich Disziplin als Lebensziel mitbekommen. Es erwischte mich kalt, dass ich trotz dieser Ansage zusammenbrach. Heute würde ich sagen: wohl auch deswegen. Die Kontrolle zu verlieren ist höchst beängstigend. Sich zusammenreißen, wenn das denn nur ginge, nicht minder. Wenn man sich einfach nur in den Hintern treten könnte. Wenn es doch nur daran läge, dass man einzig ein bisschen in die Pötte kommen muss. Aber weit davon entfernt.

Bei einer Depression tut alles weh, Körper und Seele, beide verlangsamen bis zur Erstarrung. War der Schmerz der Anstrengung zuerst da oder die Depression? Irgendwann wird diese Frage egal. War man zuerst traurig, oder macht einen das ständige Nichtkönnen traurig? Auch das ist irgendwann egal. Birgit wurde bei unseren täglichen Telefonaten nicht müde, mich zu fragen: »Geht es denn heute ein kleines bisschen besser?« Und jeden Tag erwiderte ich: »Nein. Es wird immer schlimmer. Ich kann nicht mehr, es soll bitte nur noch aufhören. Egal wie.« Ich hatte ihr sehr viel zugemutet in dieser Zeit, meinen Frust, meine Hoffnungslosigkeit. Sie hatte mir immer wieder geraten, in ein spezialisiertes Krankenhaus zu gehen. Doch davor hatte ich panische Angst. In die Klapse? Niemals! Also vegetierte ich weiter zu Hause vor mich hin und zwiebelte mich zur Arbeit.

Was hatte mir geholfen, diese Phase zu überstehen? Zum einen der Schatten der Disziplin, es erschien mir normal, mich zu quälen. Vor allem waren es zwei Worte, die ich mit Leben zu füllen versuchte. Aushalten. Und: durchhalten. Ich musste aushalten, ertragen, dass es mir Tag und Nacht hundeelend ging. Das war schwer. Sehr, sehr schwer. Es ging nur, weil viele Menschen mir halfen, das Leid zu tragen, weil es Medikamente und Therapiesitzungen gab, die Pausen ermöglichten. Und ich musste, oft gegen mein Gefühl, daran glauben, dass es besser werden würde. Eben durchhalten. Glauben, dass es »nur« eine Periode war, die auch wieder vorbeigehen würde, selbst wenn das im schlimmsten Fall Monate dauern sollte. Genau das ist in jeder Depression so schwierig, da man das sichere Gefühl hat, es hört nie wieder auf. Doch das tut es, und je mehr Hilfe man sich dafür holt, desto besser. Es ist wichtig, möglichst früh gegen die Depression anzugehen, damit sie nicht wieder und wieder kommt oder gar chronisch wird. Wer eine Grippe hat, geht auch nicht bei Minusgraden einzig mit einem Hemd bekleidet nach draußen, um nur ja eine Lungenentzündung zu bekommen. Neben der Chronifizierung drohen auch bei Depressionen Folgeschäden, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Demenz.1 Wenn ich das doch nur früher gewusst hätte. Ich hatte mich in dieser Zeit total überfordert, und so dauerte meine Depression weiter an.

Und was hatte mir aber neben den beiden Worten »Aushalten« und »Durchhalten« am meisten geholfen? Dass ich nicht mutterseelenallein mit meiner Krankheit geblieben war. Dass ich in der Therapie jammern und klagen und heulen und hoffnungslos sein durfte. Denn das Aushalten, das tägliche, quälende, einschränkende Leid war sehr hart. Deswegen todtraurig, auch mal wütend oder zum Sterben verzweifelt sein zu dürfen half mir sehr. Die depressive Episode wurde bei mir eben nicht nur durch die Trennung von Philipp ausgelöst. Es kam noch viel mehr dazu. Es sei wichtig, die Gründe für die Depression zu entschlüsseln, das hatte mein Therapeut wiederholt gesagt. Diese zu kennen würde es leichter machen, aus der Krankheit wieder herauszufinden. So kam es auch.

Ganz enorm half mir das Verständnis meiner Freunde. Von mir hörten sie immer wieder: »Es tut so weh, ich kann nicht mehr.« Doch sie wurden nicht müde, mir zu antworten: »Bitte, halt durch. Du schaffst es. Wir schaffen es.« Sie waren mir nicht böse, wenn ich kurzfristig eine Verabredung absagte – und das passierte häufig, wenn ich mal wieder irgendwo nicht mitkommen konnte. Im Gegenteil: Sie ermutigten mich, gut für mich zu sorgen – auch wenn das hieß, dass ich zu Hause blieb. Sie verstanden, dass für mich jede Form von Reizüberflutung zu viel sein konnte, selbst so etwas Schönes wie ein Konzert oder eine Geburtstagsparty. Meine Freunde teilten die Last, die ich für sie war, unter sich auf. Bei Birgit konnte ich regelmäßig übernachten, wenn ich völlig verzweifelt war und dachte, es hört nie mehr auf. Oft rief meine Freundin Maren an: »Willst du nicht heute Abend zum Essen kommen? Es gibt Apfelpfannkuchen.«

»Ja, sehr gern. Um halb sieben bin ich da, okay?«

»Prima, bis dann. Die Kinder freuen sich auch schon auf dich!«

Zu solchen Einladungen fuhr ich immer nach der Arbeit, wenn ich eh unterwegs war. Ich war sehr dankbar, dass Maren für mich kochte, Birgit mir das Gästebett bezog: dass ich den Abend nicht mit mir allein bleiben musste. Das war ganz wichtig für mich, dass ich nicht ausgeschlossen wurde aus dem normalen Leben. Dass ich weiter gemocht wurde, obwohl ich krank war. Auch wenn ich aus Krankheitsgründen traurig, unzuverlässig, nicht belastbar und anstrengend geworden war: Meine engsten Freunde ließen mich nicht allein. Gott sei Dank.

Doch was ist eine Depression genau? Der Begriff taucht in den Medien immer häufiger auf, so auch nach den Suiziden des ehemaligen Nationaltorwarts Robert Enke, der britischen Sängerin Amy Winehouse oder des amerikanischen Schauspielers Robin Williams. Ist man schon depressiv, wenn man tagsüber nicht den sonstigen Elan aufbringt? Deprimere heißt im Lateinischen »herunterdrücken«, und eine Depression ist eine psychische Krankheit, bei der sich die meisten Patienten ständig »heruntergedrückt«, niedergeschlagen, leer, antriebslos und erschöpft fühlen. Viele Patienten klagen darüber, dass sie nichts mehr empfinden können, weder Trauer noch Freude. Sie fühlen sich stumpf und versteinert, man spricht dann von einem »Gefühl der Gefühllosigkeit«. Sehr viele haben auch körperliche Beschwerden wie zum Beispiel Schlafstörungen.

Depressive leiden unter ihrer Erkrankung oft deutlich mehr als andere Menschen mit schweren Krankheiten. Das hat damit zu tun, dass eine Depression die ganze Persönlichkeit, das ganze Ich infrage stellt. Das kann so weit gehen, dass man glaubt, es wäre für alle am besten, wenn man nicht mehr leben würde. Rückenschmerzen oder Tumorschmerzen lassen sich meist vom eigenen Selbst trennen. Wir sagen: »Ich habe Rückenschmerzen. Ich habe Tumorschmerzen.« Niemand würde sagen: »Ich bin Rückenschmerzen.« Aber es heißt: »Ich bin depressiv.« Eine Depression ist daher eine schwere, alles umfassende, also seelische und körperliche Krankheit.

Depressive haben normalerweise mehrere der folgenden Symptome, und zwar länger als zwei Wochen:

Sie sind ständig »schlecht drauf«, fühlen sich traurig oder vollkommen leer.Sie fühlen sich grundsätzlich ausgelaugt und erschöpft.Sie haben wenig Energie und Kraft, und sei es nur zum Zähneputzen.Sie zweifeln an sich selbst und an ihren Gefühlen.Sie haben Schlafprobleme, sowohl beim Ein- wie auch beim Durchschlafen.Es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren.Sie grübeln in einer Endlosschleife.Sie fürchten, dass es nie wieder besser wird.Sie können sich nicht mehr freuen.Sie haben Schuldgefühle, oft aus dem Grund, weil sie ihrer Meinung nach so viel weniger leisten können als andere.Manche haben andauernd Angst.Sie fühlen sich unruhig und gehetzt.Sie verlieren den Appetit und nehmen mehrere Kilo ab.Sie haben Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen.

Das Krankheitsbild Depression ist bei jedem Betroffenen dennoch anders – das zu wissen ist sehr wichtig. Depressionen können sich daher auch durch andere Symptome wie beispielsweise Vergesslichkeit, Ekzeme auf der Haut oder Schwindel bemerkbar machen.

Die oben genannten Diagnosekriterien wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt und sind für alle Ärzte verbindlich. Je nachdem, wie viele Depressionssymptome jemand hat und wie schwerwiegend diese sind, spricht man von einer leichten, mittelgradigen oder schweren Episode. Bei einer leichten Episode müssen beispielsweise mindestens zwei Wochen nach der Diagnose die folgenden Symptome auftreten: niedergedrückte Stimmung, Verlust von Freude, Verminderung des Antriebs und schnelleres Ermüden. Es gibt auch Depressionen, die mit einer Psychose einhergehen, mit Angst, mit untypischen Symptomen wie Gewichtszunahme (atypische Depression) oder mit massiven körperlichen Beschwerden (lavierte Depression). Eine Depression kann auch durch Lichtmangel ausgelöst werden. Liegt eine leichte Depression vor, die aber mindestens zwei Jahre lang anhält, spricht man von Dysthymie. Genau definiert werden die unterschiedlichen Formen nach ICD-10-GM-2019 – ICD steht für: »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und dazugehörender Gesundheitsprobleme), 10 kennzeichnet die zehnte Ausgabe der ICD, GM (German Modification) die Version für Deutschland, 2019 das Jahr der Definitionszuschreibung.

Jedes Kürzel, welches bei Patienten auf ihrer Krankschreibung steht, dem »Gelben Schein«, ist eine Kennziffer dieses Systems, die beschreibt, woran der Patient leidet. So steht das Kürzel »F41.2« für die Diagnose »Angst und depressive Störung, gemischt«. Depressionen gehören zu den sogenannten affektiven Störungen. Affekte meint Gefühle, das heißt, durch die Kennzeichnung wird die psychische Grundstimmung festgehalten. Dabei unterscheidet man mehrere affektive Störungen. Außer der Depression gibt es zum Beispiel die Manie (das Wort mania stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Raserei«). Die Stimmung der Betroffenen ist extrem euphorisch, sie sind getrieben, leichtsinnig und voller Ideen. Bei sogenannten bipolaren Erkrankungen wechseln sich wiederum manische und depressive Phasen ab. Thomas Melle schreibt in Die Welt im Rücken sehr eindringlich darüber. Depressionen sind so vielschichtig und komplex, wie der Mensch selbst ist.

3 Planet Psycho – mein erster Tag in der Klinik

Herzlich willkommen«, sagte die junge Frau mit dem sympathischen Lächeln. »Ich bin Frau Wulf, Krankenschwester auf dieser Station.«

Meine Freundin Birgit und ich wechselten einen überraschten Blick, so freundlich hatten wir uns die Aufnahme in die Psychiatrie nicht vorgestellt. Es war Mittwoch, der 16. August 2006. Nie hätte ich gedacht, dass ich diesen Tag einmal herbeisehnen würde. Doch nach meinem Zusammenbruch nach meiner Rückkehr aus Norwegen hatte ich mich zu Hause nur noch mit Tabletten betäubt, um die Zeit bis zur Aufnahme zu überbrücken.