Kämpfe um die Menschenwürde - Manfred Baldus - E-Book

Kämpfe um die Menschenwürde E-Book

Manfred Baldus

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Beschreibung

Ob Juristen, Philosophen oder Theologen, ob Publizisten oder Politiker: Alle berufen sich auf die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit. Doch niemand vermag genau zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Manfred Baldus versucht in seinem Gang durch die jüngere deutsche Rechts- und Ideengeschichte zu erklären, wie es zu dieser paradoxen Lage kommen konnte. Er berichtet von christlichen Dominanzgewinnen und verzweifelten Positionsbehauptungen, ideologiekritischen Eindämmungsversuchen, soziologischen Gegenkonzepten und ausgefeilten Minimierungsstrategien, kurz: von mitunter erbittert geführten Meinungsschlachten. Und er fragt, ob es einen Ausweg aus der verfahrenen Lage gibt, sich also klären lässt, was es mit der Menschenwürde auf sich hat.

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2Ob Juristen, Philosophen oder Theologen, ob Publizisten oder Politiker: Alle berufen sich auf die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit. Doch niemand vermag genau zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Manfred Baldus versucht in seinem Gang durch die jüngere deutsche Rechts- und Ideengeschichte zu erklären, wie es zu dieser paradoxen Lage kommen konnte. Er berichtet von christlichen Dominanzgewinnen und verzweifelten Positionsbehauptungen, ideologiekritischen Eindämmungsversuchen, soziologischen Gegenkonzepten und ausgefeilten Minimierungsstrategien, kurz: von mitunter erbittert geführten Meinungsschlachten. Und er fragt, ob es einen Ausweg aus der verfahrenen Lage gibt, sich also klären lässt, was es mit der Menschenwürde auf sich hat.

Manfred Baldus ist Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs.

3Manfred Baldus

Kämpfe um die Menschenwürde

Die Debatten seit 1949

Suhrkamp

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2199.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Manfred Baldus

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-74864-0

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Hinweise für den Leser

Kapitel 1: Verstörende Lage

Kapitel 2: Parlamentarischer Rat

Kapitel 3: Kontexte

Kapitel 4: Erste Anwendungen und Deutungen

Kapitel 5: Gegenkonzepte und ihre Folge

Kapitel 6: Expansionen

Kapitel 7: Weitere Wachstumsschübe

Kapitel 8: Fakultäten- und Glaubenskämpfe

Kapitel 9: Facetten der Selbstbestimmung

Kapitel 10: Jüngere Metadebatten

Kapitel 11: Bilanz und Prognose

Anmerkungen

Namenregister

Sachregister

7Vorwort

Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt mich die Frage, wie das vorzustellen und zu denken ist, was gemeinhin mit »Würde des Menschen« benannt wird – und natürlich, was diese Norm genau zu bedeuten hat, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von dieser Würde spricht. Das vorliegende Buch ist ein Ergebnis dieser Beschäftigung, es enthält allerdings keine neuen Antworten auf diese Fragen. Ich möchte darin nur berichten und erklären, warum diese Norm nach Ende des Zweiten Weltkrieges an den Anfang der deutschen Verfassung gesetzt wurde und wie sie sich in den Folgejahrzehnten zu einer alles überstrahlenden Leitgröße in Recht und Politik hat entwickeln können.

Vielen ist an dieser Stelle zu danken, vor allem aber denen, die mir in den letzten Jahren ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, wenn ich wieder einmal, was nicht selten geschah, das Gespräch auf das Thema »Menschenwürde« zu lenken versuchte. In besonderem Maße ist indessen Michael Stolleis zu nennen, nicht nur wegen der Unterstützung, die er mir auch bei diesem Buch hat zuteilwerden lassen. Zu danken ist auch Ulrike Will, Sabrina Hörning, Falk Streubel, Nils Kepeschziuk und Martin Mayer; sie waren mir an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt in ganz unterschiedlicher Weise behilflich. Hans Peter Bull und Ralf-Uwe Beck, die Teile des Textes durchgesehen haben, dürfen ebenfalls nicht vergessen werden, und erst recht nicht Jan-Erik Strasser. Durch ihn habe ich zum ersten Mal erfahren dürfen, was Lektorieren tatsächlich bedeutet und wie wertvoll es sein kann. Außerdem durfte ich in den letzten Jahren Thesen und Inhalte des Buches vorstellen, und zwar am Lehrstuhl von Christoph Enders in Leipzig, bei Vorträgen an den Juristischen Fakultäten der Universität Bochum sowie der Keio-Universität in Tokio und nicht zuletzt in Jeriwan im Rahmen einer Konferenz des armenischen Verfassungsgerichtshofs, an der Verfassungsrichter aus west- und osteuropäischen Ländern sowie den Kaukasus-Staaten teilnahmen. Ein sehr wichtiger Arbeitsschritt gelang mir im Übrigen während eines Forschungsfreisemesters, das mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierte.

8Literatur und Rechtsprechung zum Menschenwürdethema, die nach dem 31.12.2015 erschienen bzw. ergangen ist, habe ich nicht mehr berücksichtigen können.

Dieses Buch möge denen nützlich sein, die sich nach wie vor schwer damit tun, von der Menschenwürde im Tonfall unerschütterlicher Gewissheit zu sprechen. Ich widme es Helge, Max und Simon, die mir die Nächsten sind. Ihnen danke ich für all das, was an dieser Stelle nicht näher zu bestimmen ist.

Manfred Baldus, im Frühjahr 2016

9Hinweise für den Leser

Soweit direkt aus Quellen zitiert wurde, sind die Textstellen kursiv gesetzt und mit Anführungszeichen versehen. Autorinnen und Autoren, die mit markanten Äußerungen zur Würdenorm Stellung genommen haben, sind in der Regel unmittelbar im Text genannt; der Name steht dann, in Klammern gesetzt, direkt hinter der jeweiligen Äußerung. Die zahlreichen Nachweise finden sich in den Anmerkungen am Ende des Bandes, so dass der Lesefluss nicht unnötig unterbrochen werden muss.

11Kapitel 1: Verstörende Lage

I. Norm aller Normen – doch große Unbekannte

Sie ist eine Norm der Superlative. Die Würde des Menschen – wie oft ist dies zu hören oder zu lesen – ist oberster Wert des Grundgesetzes und oberster Zweck alles Rechts. Doch mehr noch: Ihre Garantie in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ist tragendes Konstitutionsprinzip, oberstes und unverfügbares Prinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, Leitstern, Fundamentalnorm der Verfassung und Grundnorm der Rechtsordnung, Staatslegitimations- oder Staatsfundamentierungsnorm, Ausgangs- und Mittelpunkt des Staatsverständnisses, juristisches Axiom eines Verfassungskonzepts, norma normans des Grundgesetzes, archimedischer Punkt des Verfassungsstaates, der Rechtsordnung, der Sozialphilosophie, ja, sie ist der Brennpunkt, in dem die obersten Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sich sammeln und dessen Strahlen beherrschend auf alle materiellen Bestimmungen der Verfassung zurückwirken.1

Diese Würdenorm soll also alles halten, alles tragen, der feste Boden sein, auf dem das Ganze steht. Doch zugleich haftet ihr etwas merkwürdig Rätselhaftes an: So zentral und so gründend sie ist, so ungesichert ist ihr Gehalt. Niemand vermag klar zu sagen, unmissverständlich und ohne mit einem Einwand rechnen zu müssen, was mit diesem Satz des Verfassungsrechts genau gemeint, wie er genau zu verstehen ist. Es gibt kaum eine Facette dieser Norm, bei der man mit einer übereinstimmenden Antwort rechnen darf. So hoch auch die Gestimmtheit, mit der sie beschrieben, so zahlreich auch die Fälle und Themen, bei denen sie eingesetzt wird: Die so große Norm von der Würde des Menschen ist doch auch eine der großen Unbekannten des deutschen Verfassungsrechts.

Natürlich mangelt es nicht an Versuchen, den Gehalt der Norm, ihren Sinn, zu bestimmen. Es existiert dazu sogar eine beeindruckende Anzahl nicht selten ausgesprochen anspruchsvoller Theorien. Doch ihr Ergebnis ist Ratlosigkeit. Die zahlreichen Versuche, die Norm zu deuten und ihren Inhalt zu beschreiben, lassen sich in ihren Kernaussagen, Prämissen und Konsequenzen kaum miteinander vereinbaren. Denn wie ist die Würde des Menschen im 12Sinne der grundgesetzlichen Fundamentalnorm nun zu verstehen? Bringt sie die Freiheitsfähigkeit des Menschen zum Ausdruck? Ist sie ihm eigen, weil er sich seiner selbst bewusst werden, sich selbst bestimmen und seine Umwelt gestalten kann? Befähigt sie ihn zum »Selbstentwurf« und zur »Partizipation an der Kultur«? Oder meint sie doch nur die innere Freiheit des Menschen? Folgt sie aus dem christlichen Menschenbild, mithin aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, seiner Gottesnähe, und damit aus seiner Sonderstellung in der Natur? Oder liegt sie im menschlichen Dasein »um seiner selbst willen«? Muss dagegen bei ihrer Bestimmung »die Soziabilität des Menschen« im Vordergrund stehen, etwa mit der Folge, dass sie sich in Momenten der Kommunikation ergibt, in Momenten, in denen der Mensch sich und damit sein Selbst den anderen darstellt? Wenn dies aber wiederum abwegig sein sollte: Ist sie dann vielleicht eher im Modell des Gesellschaftsvertrages zu denken? Konstituiert sie sich in sozialer Anerkennung, durch positive Bewertung von sozialen Achtungsansprüchen? Ist sie gar im Kern als mitmenschliche Solidarität zu begreifen? Entsteht sie just in dem Augenblick, in dem ein Mensch einen anderen Menschen als autonom und damit als Person anerkennt? Liegt sie dementsprechend »im wechselseitigen (nicht-reziproken) Erkennen der irreduziblen Einzigkeit und Verletzlichkeit des Anderen, seiner wehrlosen Nacktheit und seinem Ausgesetztsein zum Tode«? Oder lässt sie doch nur in empirisch nachweisbarer Form den Unterschied zwischen Mensch und Tier erkennbar werden? Sagt sie überhaupt etwas aus über die Stellung des Menschen in der Welt? Oder beschränkt sie sich nicht etwa allein darauf, aus dem empirischen Menschen einen Träger von Rechten und Pflichten zu machen, mithin ein Rechtssubjekt? Worin besteht sie nun? Am Ende möglicherweise doch nur im Interesse der Menschen, nicht erniedrigt und gedemütigt zu werden? Und so weiter und so fort.2

Angesichts dieser wuchernden Fülle von Bestimmungsversuchen ist es auch nicht wirklich verwunderlich, dass sich inzwischen sogar schon angesichts der entscheidenden Vorfrage, mit welcher Methode die Würdenorm zu interpretieren ist, ein eigenes Feld der Kontroverse gebildet hat. So wird etwa eingefordert, bei der Ausdeutung der Würdenorm auf die christliche Theologie, die philosophische Tradition, die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften oder den jeweiligen Stand des gesellschaftlichen Diskurses 13zurückzugreifen. Andere fragen wiederum nach den Funktionen der Würdenorm, vertrauen ihrer Intuition oder wollen ihren Inhalt in interdisziplinär-kulturtheoretischer Weise, völkerrechtsorientiert oder wiederum gänzlich verfassungsautonom ermitteln.3

Die Würdenorm als Norm aller Normen – auf dieses strahlende Bild fallen aber noch weitere Schatten. Die Problematik der Blüte um Blüte treibenden Deutungsvielfalt und die Ratlosigkeit angesichts einer Fülle von Interpretationsmethoden, die zu gänzlich voneinander wegstrebenden Gehalten der Norm führen, haben sich inzwischen noch weiter verschärft. Die Debatten um diese Norm werden nämlich nicht mehr nur innerhalb der Wissenschaft vom Verfassungsrecht ausgetragen. Zahlreiche Autoren aus der Philosophie und Theologie beschränken sich schon seit längerem nicht mehr darauf, allein die Idee der Menschenwürde zu reflektieren, deren Spuren sich weit in die Religions- und Geistesgeschichte zurückverfolgen lassen. Nein, inzwischen formulieren sie ebenfalls diverseste Thesen zur Norm von der Menschenwürde – und dies nicht ohne Selbstbewusstsein, sei doch »die Menschenwürde als solche« gar kein »juristischer Begriff«.4

Und noch dunkler wird das Bild schließlich in den Momenten, in denen man auf gesellschaftliche und politische Debatten blickt, in denen die Würde des Menschen und ihre grundgesetzliche Garantie als Argument eingesetzt werden. So weit entfernt die politischen Parteien sich im politischen Alltag auch stehen, das Bekenntnis zur Würde des Menschen fehlt in fast keinem ihrer aktuellen Programme. Ja, sogar Vertreter gänzlich entgegengesetzter weltanschaulicher oder gesellschaftspolitischer Positionen berufen sich in gleichem Maße darauf. Ein Beispiel aus den letzten Jahren: 2011 erklärte eine Abgeordnete des deutschen Bundestages, sie bleibe der Rede von Papst Benedikt XVI. im Parlament fern, da er Positionen vertrete, »die nicht in Übereinstimmung gebracht werden« könnten »mit dem Satz, dass die Würde des Menschen unantastbar sei«. Und just in dieser Rede führte Papst Benedikt aus, »die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht« und »die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen« sei entwickelt worden »von der Überzeugung eines Schöpfergottes her«. Ein weiteres Beispiel: Die Debatte um ein Verbot der Prostitution. Während eine meinungsstarke Publizistin in einer deutschlandweit bekannten 14sonntäglichen Fernseh-Gesprächsrunde ein solches Verbot mit dem Slogan »Prostitution verstößt gegen die Menschenwürde« begründete, entgegnete in derselben Sendung eine Prostituierte, die in Berlin ein eigenes Bordell betreibt: »Das ist Ihr ganz großer Fehler. Frauen, die es freiwillig tun, die fühlen nicht, dass sie ihre Würde in einem Bordell verlieren. Sie sind sehr stolz. Das ist keine Frage vom Verlust der Menschenwürde. Das unterstellen Sie einfach den Frauen. Aber das ist ein vollkommen falscher Gedankengang.«5

II. Fragen

Die Würde des Menschen als Essenz einer Supernorm des deutschen Verfassungsrechts, zugleich aber bedrückende Ungewissheit über ihren genauen Gehalt: Angesichts einer solchen Lage sehen manche Beobachter in ihr nur mehr einen »windigen Begriff« (Malte Hossenfelder), ein hohles Schlagwort, abgegriffen, weil beliebig verwendbar, fähig, etwas und zugleich sein Gegenteil zu begründen und zu rechtfertigen. Und gerade deshalb werde auch, so meinen andere, das »Gerede über die Menschenwürde« (Michael Pawlik) munter weitergehen.

Doch sind diese Einschätzungen vielleicht ganz und gar überzogen, vor allem aber irreführend? Möglicherweise wird dabei verkannt, dass die Würdenorm ihre exzeptionelle Stellung gerade dieser zunächst prekär erscheinenden inhaltlichen Offenheit verdankt? Und außerdem: Gibt es nicht auch noch das Bundesverfassungsgericht? Liefert dieses Gericht, ausgestattet mit der Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung, nicht immer wieder maßgebliche Urteile, um diese irritierende, ja verstörende Lage zu überwinden und die mitunter erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Menschenwürde zu befrieden?

Diese Fragen sind ohne Zweifel berechtigt und wichtig. Doch bevor sie erörtert werden, soll einer ganz anderen Frage nachgegangen werden, nämlich der, wie es überhaupt zu dieser Lage kommen konnte. Im folgenden Bericht wird geschildert, wie sich die Würdenorm zur herausragenden Größe der deutschen Rechtsordnung entwickeln konnte und welche Kräfte dabei wirkten. Aber nicht nur das: In ihm wird auch zu sehen sein, wie zugleich die Gewissheit über den Gehalt dieser Norm, ihre dogmatischen Eigenheiten 15und ihre Rechtsfolgen mehr und mehr verloren ging. Der Bericht setzt ein mit den Geschehnissen im Bonn der Jahre 1948 und 1949, mit der Umsetzung des Auftrags der drei westlichen Besatzungsmächte, eine Verfassung für Westdeutschland zu erarbeiten – und der dabei getroffenen Entscheidung, an die Spitze dieser Verfassung des neu zu errichtenden westdeutschen Teilstaates jene Norm zu setzen, die die Würde des Menschen für unantastbar erklärte und überdies alle staatliche Gewalt verpflichtete, sie zu achten und zu schützen.

16Kapitel 2: Parlamentarischer Rat

Ohne die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, die neue Verfassung gleich mit dieser Norm von der Würde des Menschen beginnen zu lassen, hätte diese wohl kaum jene herausragende und alles überwölbende Stellung erreichen können. Aber war dies vom Parlamentarischen Rat beabsichtigt? Was bewog ihn bei seiner Entscheidung, die, aus der Retrospektive betrachtet, von so außerordentlicher Wirkung war? Und: Welche Vorstellungen verband er mit dieser Norm?

Schon seit längerer Zeit wird intensiver diskutiert, was die Mitglieder des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948 und 1949 motiviert hat. Die Diskussion kreist um die folgenden Fragen:

–  Wollte der Parlamentarische Rat die Grundrechte durch die Würdenorm naturrechtlich verankern? Ging er davon aus, dass dem positiven staatlichen Recht ein Komplex naturrechtlicher Normen vorgelagert ist, ja jenem zugrunde liegt und ihn im Kollisionsfall verdrängt?

–  Hatte er vor, mit dieser Norm Stellung zu nehmen zu einem großen Thema der Philosophie- und Theologiegeschichte, zu Fragen wie der nach der Stellung des Menschen in der Welt, seinen Attributen, den Merkmalen, die ihn gegenüber anderen Lebewesen auszeichnen?

–  Beabsichtigte der Rat, mit dieser Norm eine Brücke zu bauen hin zu den zahlreichen, kaum zu überschauenden Würdekonzepten der Geistesgeschichte, damit sich die späteren Rechtsanwender ermächtigt sehen konnten, diese Konzepte zu ermitteln und sie dann bei ihren Argumentationen und Entscheidungen zugrunde zu legen? Zielte er also darauf, eine offene Formel zu installieren, die im Grunde zur Rezeption jener Konzepte aufforderte?

–  Reagierte der Parlamentarische Rat mit der Würdenorm allein auf die nationalsozialistische Vergangenheit oder auch auf die 1948 und 1949 bekannten Erscheinungsformen bolschewistischer Herrschaft der UdSSR, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges bestrebt war, die von ihr besetzten Gebiete in Osteuropa 17zu sowjetisieren? Oder hatte er einen von der unmittelbaren historischen Realität völlig losgelösten Umgang mit der Menschenwürde im Sinn?

–  Welche konkreten Inhalte legte der Parlamentarische Rat der Würdenorm bei?

–  Welche Art von Norm hatte der Rat im Sinn? Wollte er sie als Grundsatz oder als Grundrecht verstanden wissen? Sollte sie allein gegenüber dem Staat oder auch zwischen Bürgern gelten?6

Zu diesen Fragen lassen sich den edierten Quellen zur Arbeit des Parlamentarischen Rates Schlüsselzitate entnehmen, die im Folgenden wiedergegeben werden. Diese Zitate stammen von Teilnehmern des Verfassungskonventes von Herrenchiemsee, von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und zudem von Richard Thoma, der als Verfassungsexperte eine kritische Würdigung zu dem vom Grundsatzausschuss beschlossenen Grundrechtskatalog verfasst hatte. Diese Würdigung war den Mitgliedern des Rates zur Kenntnis gebracht und in die Beratungen eingeführt worden.

I. Vorstellungen und Absichten

1. Naturrechtliche Verankerung?

Im Abs.1 wird ausgedrückt, daß die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur aus gegeben sind.

(Ludwig Bergsträsser; SPD, September 1948)

Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird. […] Die Sätze des Naturrechts wurden daher in den auf Art.1 folgenden Grundrechtsartikeln, auf die Abs.3 verweist, aufgezeichnet und in die für die unmittelbare Rechtsanwendung erforderliche Form gebracht. Diese Verweisung stellt für die Auslegung fest – es ist wichtig, sich das klar zu machen–, daß die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann. […] So besteht die Möglichkeit, die naturrechtlichen Auffassungen in die Grundrechte, wie sie hier gefaßt worden sind, stets neu hinein zu interpretieren. […]. Art. 1 gibt die Möglichkeit, auf Grund 18der Verweisung auf das Naturrecht die Grundrechte den Erfordernissen und Bedürfnissen der Zeit anzupassen.

(Hermann von Mangoldt, CDU, September 1948)

Nun ist Abs.1 schon eine bedenkliche Sache. […] Nicht zu allen Zeiten hat man an Rechte, die einem von Natur zustehen, so geglaubt, wie heute. Ich erinnere da an den Satz des erstaunlichen Burke, der im Gegenstoß gegen die französische Revolution das Wort sagte, ›von Natur aus‹ habe der Mensch überhaupt keine Rechte; was als konkrete Rechte der Menschen in Erscheinung trete, seien Dinge, die dem Menschen geschichtlich zugewachsen sind, Produkte von Dezisionen, Institutionen im Lauf seiner Geschichte. […] wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ›Naturrecht‹ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen, ist eine gefährliche Sache. […] Wenn wir an dem Satz von dem naturgegebenen Recht festhalten, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit jedermann freistellen, zu sagen, Naturrecht, wie ich es auffasse. Man muß enumerativ vorgehen und so eine zu willkürliche Ausdehnung ausschließen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1949)

Es ist an sich richtig, die Betonung der Vorverfassungsmäßigkeit der Grundrechte führt zu einer gewissen Uferlosigkeit. Die Rückkehr zum Naturrecht, die wir heute erleben, ist die Reaktion auf einen falsch verstandenen Rechtspositivismus. […] Ich bin der Auffassung, dass man keine Naturrechtssätze unmittelbar anwenden kann.

(Georg August Zinn, SPD, September 1948)

Vielmehr müssen wir von einem historischen Naturrechtsbegriff, der nur scheinbar eine contradictio in adjecto ist, ausgehen und sagen: In dieser Sphäre der geschichtlichen Entwicklung sind wir Deutsche nicht bereit, unterhalb eines Freiheitsstandards zu leben, der den Menschen die und die Freiheiten als vom Staate nicht betreffbar garantiert.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Aber ich glaube nicht an die von Natur aus eigenen Rechte.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

19Man kann nicht alles aus dem Naturrecht ableiten. Aber das Naturrecht ist gleichwohl wichtigste Grundlage.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Ich möchte das Naturrecht als Katalog von Rechtsverbindlichkeiten nicht nehmen, sondern das Naturrecht nur als Basis und Mittel einer moralischen Überprüfung ansehen. […] In meinem Vorschlag steht die »Würde des menschlichen Wesens« als nicht interpretierte These. Deshalb sage ich nicht, daß sie vom Staate geschützt wird, sondern daß sie im Schutze der staatlichen Ordnung steht. Ich sehe darin schon eine Abwendung vom Staat als Machtapperatur. Auch hier gilt der Satz: Homo homini lupus. (Theodor Heuss, FDP, September 1948)7

2. Brücke zu Würdekonzepten aus Philosophie und Theologie?

Im übrigen haben wir Wert darauf gelegt, die Artikel so zu formulieren, daß sie eine gewisse Wirkung haben, gut klingen, aber auch die ethische Grundlage des neuen Gebildes klar herausstellen.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

Was ist die Menschenwürde? Das müsste definiert werden.Die Verfassung von Württemberg-Baden hat eine solche Definition zu geben versucht.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Der erste Satz muss sozusagen das Ganze decken. Ich habe da vor mir selber ein Gefühl der Unsicherheit. Ich möchte bei der Formung des ersten Absatzes von der Menschenwürde ausgehen, die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen kann.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

Es bleibt dem Einzelnen unbenommen, ob er von religiösen, philosophischen, ethischen oder geschichtlichen Einsichten ausgeht. Aber daß wir in der geschichtlichen Stunde die Würde des Menschen an den Anfang der Verfassung stellen, halte ich für sehr bedeutsam.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Die Formulierung beginnt sehr zweckmäßig mit der Würde, eine Eigenschaft, die bestimmend für den Menschen ist und den Menschen 20von anderen Geschöpfen unterscheidet. Der Mensch ist innerhalb der Schöpfungsordnung ein Wesen, dem eine spezifische Würde zukommt. Dann wird gesagt: Die Würde, dieses Attribut des Menschen, steht im Schutze der staatlichen Ordnung. Die Würde ist das Primäre, der Schutz durch die staatliche Ordnung das Sekundäre.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Die Formulierung »Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung« […] löst […] beim einfachen Mann, der sich nicht in philosophischen Gedankengängen zu bewegen pflegt, eine gewisse erhebende Wirkung aus.

(Anton Pfeiffer, CSU, September 1948)

Um eine Antwort auf die Frage, worin die eigentümliche Würde begründet ist, die wir allem, was Menschenantlitz trägt, zusprechen, müssen sich Philosophen und Theologen bemühen. Der Verfassungsgesetzgeber kann diese Antwort nicht geben und jedenfalls ist die Menschenwürde nicht »in ewigen Rechten« begründet, sondern sind umgekehrt die Menschenrechte aus der Menschenwürde abzuleiten. In dem Maße, in dem sich die in der Ethik des Christentums wurzelnden humanitären Postulate der Aufklärungsphilosophie durchgesetzt haben und weiterhin durchsetzen, fordert das geläuterte Rechtsbewußtsein der Nationen des abendländischen Kulturkreises einen Ausbau seines Straf-, Prozeß-, Zivil-, Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtes, welcher die Würde eines jeden Menschen respektiert und durch Schaffung von Rechtspositionen, subjektiven Rechten und Rechtsschutzsansprüchen in die Sphäre des positiven institutionell geschützten Rechts emporhebt.

(Richard Thoma, Oktober 1948)

Wenn in der Eingabe von Herrn Prof. Thoma gesagt worden ist, daß das Verhältnis der Menschenrechte zu der Menschenwürde eine Angelegenheit sei, die man den Philosophen überlassen müsse, so kann ich dem nicht ganz beipflichten. Ich werde das gleich an der Präambel der Menschenrechte zeigen, die von einer Kommission der Vereinten Nationen herausgebracht worden ist.

(Hermann von Mangoldt, CDU, November 1948)

Aber Menschenwürde ist doch der tragende Grundpfeiler von allem menschlichen Dasein. […] Der eine sieht die Menschenwürde begründet in der Humanität, der andere in der christlichen Auffassung von der 21Gottähnlichkeit des Menschen. Aber in dem Begriff der Menschenwürde als dem in der Diesseitigkeit höchsten Wert stimmen wir überein.

(Adolf Süsterhenn, CDU, Januar 1949)8

3. Reaktion auf Nationalsozialismus und Sowjetherrschaft?

Im Absatz 2 haben wir absichtlich erklärt, daß das deutsche Volk sich nach den bitteren Erfahrungen in der Nazizeit erneut zu ihnen als der Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft bekennt.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

Nein, wir können die Geschichte nicht nur als eine Pointierung gegen den Nationalsozialismus auffassen.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

Es handelt sich nicht darum, etwas gegen den Nationalsozialismus zu pointieren. Eine Verfassung ist sehr häufig eine metanoia, eine Umkehr im Denken, im Fühlen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Wir wollten mit der Fassung des Art. 1 insbesondere auch den Gegensatz zu dem ausdrücken, was wir in der unmittelbaren Vergangenheit erlebt haben. Die Verletzung der Menschenwürde hat unter dem Nazi-Regime eine große Rolle gespielt. Worin hat sie bestanden? Sie hat gelegen in der Verletzung der Rechtspersönlichkeit des Menschen, in der Verletzung des Mindeststandards an Rechten, die die Rechtspersönlichkeit ausmachen.

(Hermann von Mangoldt, CDU, September 1948)

Viele unter uns und Tausende andere haben die Würde in der Nazizeit hochgehalten, haben dafür Opfer gebracht und sind dafür in den Tod gegangen. Aber die Würde wurde getreten, wie es schlimmer nicht möglich war.

(Josef Schrage, CDU, September 1948)

Der Sozialismus, aber auch andere Strömungen der Zeit, gehen nicht von der Würde des Menschen aus, sondern unmittelbar vom Staat und stellen den Menschen unter den Staat, geben ihm keine Rechte vor dem Staat.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Angesichts der entsetzlichen, die Würde des Menschen unter die Füße tretenden Entrechtungen, Erniedrigungen, Versklavungen, grausamer 22Quälereien und Massenmorden, deren sich die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland schuldig gemacht hat und deren sich die bolschewistische Gewaltherrschaft noch immer schuldig macht, ist es zu begrüßen, daß der Grundrechtskatalog sofort in seinen ersten Sätzen die Würde des Menschen unter den Schutz des Staates stellt.

(Richard Thoma, Oktober 1948)

Der Art. 1 war für uns von grundsätzlicher Bedeutung, indem er zunächst die Würde des Menschen herausstellte, deren wir uns nach den Ereignissen der Vergangenheit zu allererst annehmen mußten.

(Hermann von Mangoldt, CDU, November 1948)

Gerade nach den Erfahrungen im Dritten Reich scheint es mir notwendig zu sein, die Menschenwürde hervorzuheben. Menschenwürde ist ein sehr treffender, einfacher und schlichter Ausdruck.

(Helene Weber, CDU, November 1948)9

4. Konkrete Gehalte der Norm

Würde des Menschen. Art. 1 soll auch Privatpersonen verpflichten. Zu denken ist etwa daran, daß ein privater Unternehmer sich an der Arbeitsversklavung beteiligt. Die Verletzung der menschlichen Würde kann zwar als solche noch unter keine Sanktion gestellt werden, sie wird aber da, wo es auf die Rechtswidrigkeit des Verhaltens ankommt, nunmehr einen solchen Vorwurf begründen.

(Verfassungsausschuss der Ministerpräsidentenkonferenz, August 1948)

Die grundsätzliche Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist die Abwehr der Bedrohung der persönlichen Freiheit und Würde des Menschen. Diese Bedrohung ergibt sich zunächst aus der Verelendung der Massen, aus der Herrschaft der Technik über die Menschen, die durch die Verödung der geistigen und seelischen Kräfte eingetreten ist, aus der Umwandlung des Rechtes auf Arbeit in Arbeitszwang und Zwangsarbeit, aus der Übersteigerung des Staates zur Totalität der Lebensregelung und damit zum polizeistaatlichen Terror, zur Diktatur einer frechgewordenen Bürokratie, zum Untergang des Rechtsstaates und zum Triumph der Macht-vor-Recht-Einstellung gegenüber den Menschen, damit letzten Endes zur Vermassung der arbeitenden und schaffenden Menschen.

(Hans-Christoph Seebohm, DP, September 1948)

23Vor dem Staat soll der Mensch kommen. Wir vindizieren dem Menschen Rechte, die er für sich beansprucht, ehe er anfängt, dem Staat andere Rechte zuzuerkennen. Vielleicht könnte man diesen Gedanken in der Formulierung des Art. 1 Ausdruck verleihen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Es handelt sich um eine Entscheidung, das staatliche Leben nach einer gewissen Richtung hin zu formen. Diese Entscheidung kann der Parlamentarische Rat treffen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Es ist der einzelne Mensch, dessen Würde geschützt werden soll. Wenn wir vom menschlichen Leben sprechen, dann wird das mit einer Reihe anderer Artikel kollidieren.[…] Wir lehnen die Vergottung des Staates ab, wie wir sie unter dem Nazi-Regime erlebt haben.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

Ich erinnere an das schöne Gleichnis des Epiktet von dem an seine Bank angeschmiedeten Galeerensklaven, der immer noch seine immanente Menschenwürde bewahrt. Wenn ich von der »Würde des menschlichen Daseins« ausgehe, ist dieses Attribut des Menschen als auszeichnend anerkannt.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Die Würde des Menschen ruht in ihm selber; aber ihre Anerkennung innerhalb der sozialen Gemeinschaft setzt einen anderen voraus. Dieser Andere ist der organisierte Andere, der Träger des Gemeinschaftslebens.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

Um so mehr sollte man diesen Worten unmittelbar die Tat folgen lassen, in Gestalt eines Rechtssatzes, welcher aller öffentlichen Gewalt durch Verpflichtung zur Achtung und Schonung der Menschenwürde eines jeden und sei es auch niedrigen und strafwürdigen Menschen eine unantastbare Grenze setzt, und der so entschieden und allgemein gestaltet ist, daß er einzelne Aufzählungen von verbotenen Humanitätsmißachtungen (wie Grausamkeiten aller Art, Zwangssterilisierungen, Sippenbestrafungen, Unterstützungsverweigerungen, Versklavung und Brandmarkung) entbehrlich macht.

(Richard Thoma, Oktober 1948)

24Uns stand klar vor Augen, daß diese Würde des Menschen irgendwie in engstem Zusammenhang mit den Freiheitsrechten steht.

(Hermann von Mangoldt, CDU, November 1948)

Ohne die Anerkennung einer verantwortungsbewußten und in sich freien Persönlichkeit gibt es keine Menschenwürde. Das wollen wir hier zum Ausdruck bringen.

(Hermann von Mangoldt, CDU, November 1948)

Menschenwürde schließt jeden Zwang aus, gegen seine Überzeugung zu handeln. Dies scheint mir eins der wichtigsten Merkmale der Menschenwürde zu sein. Menschenwürde schließt aus, daß jemand geprügelt wird.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, November 1948)

Man müsste sagen: »Keinesfalls dürfen die Mindestanforderungen für Nahrung, Kleidung und Wohnung in Frage gestellt werden« oder so ähnlich. […] Man darf einen nicht verhungern lassen. […] Das ist Inhalt der Menschenwürde. Wenn einer da ist, muß man ihn entweder zurückstellen oder man muß ihm die Mindestforderungen gewähren. […] Das entspricht der Menschenwürde. Man kann einen nicht verhungern lassen. Aber das Zurückschicken kann man nicht verhindern. Es gibt Fälle, wo das durchaus gerechtfertigt ist.

(Hermann von Mangoldt, CDU, Dezember 1948)10

5. Art und Eigenschaften

Es ist selbstverständlich, daß, wenn auf der einen Seite für den einzelnen dieser Schutz gegenüber Übergriffen des Staates gefordert wird, auf der anderen Seite die Gemeinschaft ein Recht hat auf den Schutz gegen solche verantwortungslosen Elemente, die die Freiheit und Würde des Menschen mißbrauchen.

(Hans-Christoph Seebohm, DP, September 1948)

Wir sind im Laufe unserer Diskussionen darauf gekommen, daß es doch wohl richtig wäre, an die Spitze der Grundrechte einige Sätze zu stellen, die Absicht, Sinn und Grund der Grundrechte ganz kurz deutlich machen.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

25[…] stellt gewissermaßen die Generalklausel für den ganzen Grundrechtskatalog auf. In seiner systematischen Bedeutung ist er der eigentliche Schlüssel für das Ganze.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Schließlich ist notwendig, daß Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung die Grundrechte, auf denen die Würde des Menschen beruht, als unmittelbar verpflichtendes Recht anerkennen.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Worin liegt die Würde begründet, worauf ruht sie? Auf Rechten, die den Menschen jedermann gegenüber Schutz bieten, Menschen und Obrigkeiten. Damit ist der Mindeststandard charakterisiert, von dem wir ausgehen wollen, die absolute Schranke, die gegenüber der Staatsraison aufgerichtet ist. Die von niemand bestrittene notwendige Staatsraison muß an einer bestimmten Barriere halt machen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Dieses »erneut« soll die Menschenwürde abgrenzen gegen eine übertriebene Staatsraison, nicht nur nach außen, sondern nach innen. Der Staat muß bestimmte Rechte des Menschen anerkennen, einerlei, ob ihre Außerachtlassung für einen augenblicklichen staatlichen Zweck nützlich wäre oder nicht. Von diesem Staatsraison-Utilitarismus wollen wir loskommen. […] Wenn wir von der Würde des Menschen sprechen, so sind wir uns im Unterausschuss darüber klar gewesen, daß wir nicht einen Katalog allgemeinster Grundrechte, auch sozialer Grundrechte, sondern nur einen Katalog echter Grundrechte schaffen wollten.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

Denn jeder Artikel für sich gewährleistet ein Stück Freiheit, das notwendig ist, um die Menschenwürde zu gewährleisten.

(Hermann von Mangoldt, CDU, November 1948)

In dem ersten Satz ist klargestellt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Das ist eine absolute Feststellung, die sich gegen jedermann wendet, sowohl gegen die staatliche Gewalt wie auch gegen jeden Privaten und jede gesellschaftliche Institution. […] Außerdem ist es sachlich nicht ganz richtig, daß jedermann verpflichtet ist, die Würde des Menschen zu schützen. Diese Schutzfunktion ist Aufgabe der öffentlichen Gewalt des Staates. Dagegen die Menschenwürde zu achten ist Verpflichtung für jedermann.

(Adolf Süsterhenn, CDU, Januar 1949)11

26II. Erkenntnisse und Folgerungen

Die vorstehenden Äußerungen von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates sowie von Richard Thoma erlauben folgende Schlussfolgerungen:

Keinen Konsens gab es hinsichtlich der Frage, ob die Würdenorm als Bindeglied zwischen Grundrechten und Naturrecht gedacht werden sollte. Soweit dieser Gedanke thematisiert wurde (Bergsträsser, von Mangoldt, Weber) traf er auf Kritik und Ablehnung (Zinn, Schmid, Heuss). Es gab Bestrebungen, mit der Würdenorm bestimmte philosophische oder theologische Konzepte von der Würde des Menschen in das Grundgesetz aufzunehmen und diese verfassungsgesetzlich festzuschreiben (Schmid, von Mangoldt). Diesen Bestrebungen wurde jedoch mit dem Argument entgegengetreten, die Würde des Menschen könne in sehr unterschiedlicher Weise verstanden werden. Inhaltlich sollte keine Festlegung erfolgen, die Würdenorm also offen bleiben (Heuss, Weber, Thoma, Süsterhenn).

Mehrheitlich wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass mit den in das Grundgesetz aufzunehmenden Grundrechten und insbesondere mit der Würdenorm eine Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit dokumentiert werden sollte (Bergsträsser, Heuss, von Mangoldt, Schrage, Weber). Doch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates blickten nicht nur zurück, sondern auch nach Osten: In der Würdenorm sollte sich auch die Ablehnung der Erscheinungsformen bolschewistischer Gewaltherrschaft manifestieren (Heuss; Thoma; Weber; von Mangoldt, der die Würdigung Thomas in die Beratungen durch Verlesung eingeführt hatte). Die Würdenorm wurde mithin als Absage an die damals bekannten Formen des Totalitarismus verstanden, als antitotalitäre Grundnorm der neu zu schaffenden Verfassung.

Dieser Grundaussage entsprach es, dass die Norm gegen jegliche Form einer Verabsolutierung des Staates gerichtet war (Seebohm, Schmid, Weber, Bergsträsser). Dabei wurden auch ganz konkrete, mit der Würde des Menschen unvereinbareSachverhalte und Tatbestände benannt. Im Einzelnen waren dies:

–  Arbeitszwang und Zwangsarbeit,

–  Übersteigerung des Staates zur Totalität der Lebensregelung und damit zum polizeistaatlichen Terror (Seebohm);

27–  Arbeitsversklavung (Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten);

–  Entrechtungen,

–  Erniedrigungen,

–  Versklavungen,

–  grausame Quälereien,

–  Massenmorde,

–  Zwangssterilisierungen,

–  Sippenbestrafungen,

–  Brandmarkungen (Thoma);

–  Zwang, gegen seine Überzeugung zu handeln,

–  Prügel (Bergsträsser);

–  Unterstützungsverweigerungen (Thoma);

–  Infragestellung der Mindestanforderungen für Nahrung, Kleidung und Wohnung,

–  Verhungern lassen,

–  Verletzung der Rechtspersönlichkeit des Menschen, des Mindeststandards an Rechten, die die Rechtspersönlichkeit ausmachen (von Mangoldt).

In Äußerungen von zwei Mitgliedern des Parlamentarischen Rates finden sich zudem positive Umschreibungen der Würde des Menschen. Es war die Rede von

–  einer Eigenschaft des Menschen,

–  der Bewahrung immanenter Menschenwürde als ein den Menschen auszeichnendes Attribut,

–  der Würde des menschlichen Daseins (Schmid) sowie

–  der Anerkennung einer verantwortungbewussten und in sich freien Persönlichkeit, ohne die es keine Menschenwürde gebe (von Mangoldt).

Die Art der Norm wurde nicht weiter präzisiert. Ausschließen lässt sich aber, dass sie als eigenes, selbständiges Grundrecht gedacht war (Bergsträsser, Schmid, Weber, von Mangoldt). Entweder wurden die Grundrechte als Grund der Menschenwürde (Weber), als Mittel zur Gewährleistung der Menschenwürde (von Mangoldt) oder aber, umgekehrt, die Menschenwürde als Grund der Grundrechte (Bergsträsser, Schmid) verstanden. Zudem sollte die Würdegarantie 28als absolute Schranke gegenüber Staatsraison-Vorstellungen dienen (Schmid, Bergsträsser). Betont wurde schließlich ihre Wirkung auch zwischen Privatpersonen (Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten, Schmid, Süsterhenn) sowie die von ihr ausgehende Verpflichtung des Staates zu ihrem Schutz (Seebohm, Schmid, Süsterhenn).

Im Kern ging es der Mehrheit der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die sich zur Würdenorm äußerten, also nicht um eine Stellungnahme zu einem in der Sache schon mehr als zweitausend Jahre lang erörterten Thema der abendländischen Philosophie und Theologie. Es ging der Mehrheit eher um ein Wort, um eine sprachliche Wendung, mit der sie eine unwiderrufliche Abkehr von totalitären Herrschaftsformen artikulieren und einen ideellen Grundstein der neu zu errichtenden Ordnung legen konnte.

Diese Norm enthielt als antitotalitäres Versprechen eine Absage an jeglichen Staatsabsolutismus, also an das kollektivistische Staatsdenken sowohl des Nationalsozialismus wie auch des Bolschewismus. Mit dieser Norm sprach sich der Parlamentarische Rat für ein individualistisches Staatskonzept mit dem prinzipiellen Vorrang des Einzelnen vor dem Staat aus.12

Diesem zentralen Anliegen entsprach es, dass der Rat in dieser Norm eine Verpflichtung des Staates sah, jedem Menschen einen Mindeststandard an Rechten zuzuerkennen. Aber er ging auch darüber hinaus: Er betrachtete diese Norm auch als Grund einer staatlichen Pflicht, konkrete würdewidrige Tatbestände in der neu zu schaffenden Ordnung gar nicht erst entstehen zu lassen oder sie gegebenenfalls zu beseitigen.

Zu betonen ist schließlich noch: Der Rat reflektierte nicht, ob sich spätere Rechtsanwender durch diese Norm ermächtigt sehen sollten, aus der Vielzahl philosophischer oder theologischer Würdekonzepte eine Auswahl zu treffen oder eine Synthese zu bilden. Ebenfalls fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die Würdenorm eine alles überstrahlende und alles erfassende Supernorm der neu zu schaffenden Verfassungsordnung werden sollte.

29Kapitel 3: Kontexte

I. Verfassungen der Länder

Der Parlamentarische Rat war nicht die erste gesetzgebende Körperschaft in Deutschland, die sich entschied, eine Würdenorm in eine neu auszuarbeitende Verfassung aufzunehmen. Entsprechende Beschlüsse hatten zuvor schon die Verfassungsgeber in Württtemberg-Baden, Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Bremen und im Saarland, aber auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg und Sachsen gefasst. Welche Vorstellungen und Zwecke verbanden sie damit?

1. Würdemissachtung als Kennzeichen des Nationalsozialismus

Einige Landesverfassungen reagierten mit der Wendung von der Würde des Menschen zunächst auf die erschütternde geistig-moralische Bilanz, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft zu ziehen war. Mit ihr sollte beschrieben und benannt werden, was vor 1945 geschehen war. Besonders deutlich kam dies in der im Dezember 1946 beschlossenen Verfassung Bayerns zum Ausdruck. Sie sprach – ähnlich wie rund zehn Monate später die bremische Verfassung – in ihrer Präambel von einem »Trümmerfeld […], zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt« habe. Zugleich ordnete die bayerische Verfassung in ihrem Abschnitt über Grundrechte und Grundpflichten an, dass »die Würde der menschlichen Persönlichkeit […] in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege zu beachten« (Artikel 100) sei.

Maßgeblich verantwortlich war dafür Hans Nawiasky. Er hatte bis 1933 mit großem Erfolg als Staatsrechtslehrer an der Münchener Juristischen Fakultät gewirkt, war dann nach St. Gallen emigriert und nach 1945 wieder zurückgekehrt. Nach seiner Rückkehr arbeitete Nawiasky im bayerischen Verfassungsausschuss. Während der Beratungen warb er um die Aufnahme dieser Würdenorm in die bayerische Verfassung. Es sei »unbedingt notwendig«, »nach den 30Geschehnissen der vergangenen Zeit« einen solchen Satz aufzunehmen; »diese Würde der menschlichen Persönlichkeit« sei »in der Weise niedergetreten worden, daß die neue Verfassung das ausdrücklich hervorheben« solle. Dieses Argument überzeugte offenkundig, der Beschluss zur Aufnahme der Norm wurde einstimmig gefasst.13

In jenen Jahren war es durchaus verbreitet, mit Hilfe dieser Rede von der Würde der menschlichen Persönlichkeit oder von der Würde des Menschen zum Nationalsozialismus Stellung zu nehmen. Die exzessive Missachtung der Menschenwürde als dessen hervorstechendes Merkmal: In diesem Sinne äußerten sich etwa sozialdemokratische Politiker in Programmschriften, Konrad Adenauer in Grundsatzreden als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union der Britischen Zone, Friedrich Meinecke in seiner Schrift über »Die deutsche Katastrophe« oder auch der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini in seinem Versuch, die Rasselehre und den Züchtungsgedanken des Nationalsozialismus zu deuten. Die Ausführungen in Guardinis Schrift Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik aus dem Jahre 1946 sind dabei besonders aufschlussreich. Nach Guardini wurde in der Rasselehre »alles herabgesetzt und zurückgedrängt, was Urteilsfähigkeit, Überzeugung, Gewissen, Freiheit des Einzelnen, Wahrheit, Recht heißt; mit einem Wort, alles, was in der Würde und Verantwortung der Person wurzelt. Das ganze Denken wurde biologisiert. Der Mensch wurde daran gewöhnt, sich selbst als ein Lebewesen anzusehen, das zwar entwickelter, begabter, wertvoller als das Tier ist, wesentlich aber in dessen Reihe steht. […]. An einem Grundgedanken tritt das besonders klar hervor, dem der Züchtung. Trotz aller Fragwürdigkeiten im Einzelnen war man vorher doch gewöhnt, das Wesentliche des Menschen in der Persönlichkeit, ihrer Eigenart, ihrer Würde und Verantwortung, ihrem zeitlichen und ewigen Wert zu sehen. […]. Jetzt wurde der Schwerpunkt ganz in die Gattung gelegt. Der Einzelne war nichts als ein Glied in ihr. Sein Wert bestand darin, die Werte der Gattung zu verwirklichen. Sache der maßgebenden Instanzen, das heißt aber des Staates, war es, dafür zu sorgen, daß die jetzt lebenden Individuen immer bessere, dem aufgestellten Idealbild immer mehr entsprechende hervorbringen – das aber hieß »züchten«. […]. Dieser Begriff wurde nun – maßgebenderweise durch Nietzsche, praktisch durch die Weltanschauung und Pädagogik des NS-Regimes – der Behandlung des Menschen zugrunde gelegt. […]. Und immer mehr verschwand, was dem Menschen Halt in sich selber 31gibt: das Gefühl geistiger Würde, die Fähigkeit zu persönlichem Urteil, das Bewußtsein vom ewigen Wert des Einzelnen.«14

2. Achtung der Menschenwürde als Verpflichtung der neuen Ordnungen

Bei der Entscheidung der Verfassungsgeber, Würdenormen in ihre Landesverfassungen aufzunehmen, wirkte allerdings noch ein weiterer Impetus. Mit diesen Normen sollten die neu zu errichtenden Ordnungen einer zentralen Verpflichtung unterworfen werden. So legten die Landesverfassungen allgemein fest, die Menschenwürde anzuerkennen, zu achten und zu sichern; Bayern und Bremen deklarierten die Achtung der Menschenwürde sogar als Bildungs- und Erziehungsziel, und die Verfassung Hessens sprach zum ersten Mal davon, dass neben Leben, Gesundheit und Ehre auch die Würde des Menschen »unantastbar« sei, auch wenn dies offenbar nicht »uneinschränkbar« heißen sollte.15

Auch für diese Art, die Rede von der Würde des Menschen einzusetzen, gab es Vorbilder, insbesondere in den politisch-programmatischen Schriften der vierziger Jahre. Schon der deutsche Widerstand hatte »die Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenden Rechts- und Friedensordnung« gefordert, so der Kreisauer Kreis in seinen Grundsätzen für die Neuordnung von August 1943, oder, kaum anders, Carl Friedrich Goerdeler in den »Aufgaben der deutschen Zukunft«. Ähnlich klangen Stellungnahmen aus den Reihen des deutschen Katholizismus: Es sei »heute heilige Pflicht, die personhafte Würde und Stellung des Menschen energisch in Schutz zu nehmen«. Und nicht zuletzt: Mit einer im Kern identischen Ausrichtung gebrauchten zudem der Londoner Vorstand der SPD im Jahre 1945 die Wendung von der menschlichen Würde, die Liberaldemokratische Partei sowie der Zonenausschuss der Christlich-Demokratischen Union in der britischen Zone. Im März 1946 formulierte dieser: »An der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person findet die Macht des Staates ihre Grenzen.«16

323. Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins

Es gab sogar noch eine dritte Variante, in der die Wendung von der Menschenwürde in die Verfassungen der neuen Länder einfloss. Diese Variante wird bei der Betrachtung wirtschaftspolitischer Bestimmungen erkennbar. Die »Ordnung des Wirtschaftslebens«, so lauteten etwa die Verfassungen Bayerns, Badens und Bremens, müsse den »Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen«, und das Ziel dieser Ordnung sei »die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins«; diese Ziel begrenze die »wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen«. Die bayerische Verfassung hob für den Agrarsektor sogar besonders hervor, dass der »landwirtschaftlichen Bevölkerung« ein »menschenwürdiges Auskommen auf der ererbten Heimatscholle gewährleistet« werde. Zudem verlangten die Verfassungen allgemein, die »Arbeitsbedingungen« so zu gestalten, dass neben der Existenz, dem Familienleben und den kulturellen Ansprüchen der Arbeitnehmer auch deren »Würde« gesichert sei.

Dieses generelle Gebot, die Wirtschaftsordnung unter das Ziel zu stellen, ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, hielt aber nicht nur Einzug in die Verfassungen der westlichen Länder. Die zwischen Dezember 1946 und Februar 1947 beschlossenen Verfassungen Thüringens, Sachsen-Anhalts, Mecklenburgs und Sachsens enthielten ebenfalls, allesamt wortlautidentisch, eine solche Klausel. Offenkundig war sie dem Entwurf der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) für eine Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik entnommen, den der Parteivorstand der SED im November 1946 veröffentlicht hatte.17

Siebzig Jahre später – und vor allem nach den Revolutionen von 1989 – mag es überraschen, dass damals länder- und zonenübergreifend, ja über die Grenzen der großen politischen Ideenlager hinweg diese wirtschaftspolitischen Würdeklauseln in nahezu identischer Weise verwendet wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lagen die ordnungspolitischen Vorstellungen der bestimmenden politischen Kräfte indessen sehr nahe beieinander. Es war eine Zeit, in der sich etwa die Christlichen Demokraten Kölns zu einem »wahren christlichen Sozialismus« bekannten, die nordrhein-westfälische CDU in ihrem Ahlener Programm sogar für eine Verstaatlichung des Bergbaus und der Schwerindustrie eintrat und die Christlich-Soziale Union wie selbstverständlich »das 33Anrecht eines jeden auf ein menschenwürdiges Dasein« und darüber hinaus »den Anspruch eines jeden auf ausreichende Arbeit, Nahrung, Kleidung und Wohnung, auf Familiengründung und ein sorgenfreies Alter« anerkannte.

Es hatte indes einen einfachen Grund, warum die Bestimmungen in den Länderverfassungen bis in den Wortlaut und die Satzstellung hinein übereinstimmten: Die Verfassungsgeber hatten auf Artikel 151 der Weimarer Verfassung zurückgegriffen; er lautete: »Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.« Dieser Artikel war die »Generalklausel des Weimarer Sozialstaatsprogramms« (Ernst Rudolf Huber), durch die 1919 eine wesentliche Forderung der Sozialdemokratie verfassungsrechtlich umgesetzt worden war. Diesen Artikel, mit dem der Abschnitt über das Wirtschaftsleben begann, nutzten die Länder nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft als Vorlage.18

II. Gerichte und juristische Fachliteratur

1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Die Formel von der Würde des Menschen als eine Art Gegenbild, mit dem die nationalsozialistische Unrechts- und Terrorherrschaft erfasst und charakterisiert werden konnte: In dieser Weise wurde sie vor dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rates auch in Gerichtsurteilen und rechtswissenschaftlichen Texten verwendet – und zwar im Kontext der Diskussion um den Straftatbestand der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Der Alliierte Kontrollrat hatte im Dezember 1945 das Kontrollratsgesetz Nr.10 erlassen, das diesen rechtsstaatlich äußerst problematischen, weil denkbar weit gefassten Tatbestand enthielt. Er umfasste »Gewalttaten und Vergehen«, einschließlich der »nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung; Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen.«

34Doch nicht nur wegen dieser Weite war dieser Tatbestand problematisch. Er war im Dezember 1945 in Kraft gesetzt worden, um Personen zu bestrafen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit »schuldig gemacht« hatten. Damit sollte er auch Taten erfassen, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch gar nicht unter Strafe standen oder aufgrund von Rechtfertigungsgründen, die zu jenem Tatzeitpunkt galten, strafrechtlich nicht geahndet werden konnten. Dem Tatbestand der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« stand daher offenkundig das Prinzip nulla poena sine lege (Keine Strafe ohne Gesetz) entgegen.

Das Landgericht Konstanz war eines der ersten Gerichte, das bei der Interpretation dieses Tatbestandes mit der Würde des Menschen argumentierte. Im Verfahren gegen die Mörder des Weimarer Reichsfinanzministers Matthias Erzberger entschied das Gericht im Februar 1947, Schutzgut dieses Tatbestandes sei »der Mensch mit seinen fundamentalsten Rechten, wie sie die abendländische Kultur, die Kultur der zivilisierten Völker« offenbare. Und zu diesen Rechten zählte es, unter Verweis auf die »vier großen Freiheiten«, die der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1941 formuliert hatte, das Recht auf Leben und den eigenen Körper, die Freiheit des Gewissens und der Religion, auf Ehe und Familie und auf den Erwerb des Lebensnotwendigen sowie »das Recht darauf, nicht in einer der Würde des Menschen widersprechenden Weise fremden Zwecken unterworfen zu werden«.

»Diese elementarsten Menschenrechte und damit auch die kulturelle Auffassung von der Menschenwürde« seien, so das Gericht, seit dem Ersten Weltkrieg in Gefahr geraten, weil politische Bewegungen »Begriffe wie Volk, Nation, Rasse zu absolut gültigen Werten erklärt« hätten: Die Bewegungen, so erklärte das Gericht, »entwürdigten den Menschen einmal dadurch, daß sie ihre eigenen Anhänger sich zu bedingungsloser Gefolgschaftspflicht ohne eigenes Recht auf Meinung und Geltung unterwarfen und weiter auch dadurch, daß sie alle Außenstehenden für vogelfrei erklärten und sie mit aller Rücksichtslosigkeit und unter Mißachtung aller Menschenrechte bekämpften. Diese Herabsetzung des Kulturwertes Mensch war nicht nur die Folge des eigenen kollektiven machtpolitischen Gestaltungswillens, seine Verneinung entsprang vielmehr einer weltanschaulichen Umwertung bisher anerkannter Kulturwerte. Eine ungeheure Zersetzung der ganzen 35abendländischen Kultur bereitete sich vor, der die grundlegenden Begriffe von Menschenrecht und Menschenwürde zum Opfer zu fallen drohten.« Der Nationalsozialismus habe dieser Strömung »die letzte Richtung ins Radikale gegeben«. Die Formen, in denen er sich durchgesetzt habe, müsse »als ein neues politisches und auch kriminelles Phänomen bezeichnet werden«, das bislang »strafrechtlich noch nicht bekannt« gewesen sei.

Wie argumentierte also das Gericht? Im Kern nahm es hinsichtlich der nationalsozialistischen Verbrechen eine Strafbarkeitslücke an, die durch das Kontrollratsgesetz geschlossen wurde. Die außergewöhnliche Weite des Tatbestandes »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begrenzte es, indem es nicht jeden Mord als darunter subsumierbar ansah: Vielmehr müsse die jeweilige Tat »unter dem Einfluss eines politischen Machtwillens und einer Idee« begangen worden sein, »die das anerkannte Recht auf Menschenwürde verneint« habe. In dem Umstand, dass die Taten, als sie begangen wurden, noch gar nicht unter Strafe standen, sah das Gericht sodann kein Strafbarkeitshindernis. Die Begründung lautete: Der Grundsatz »nulla poena sine lege« sei kein Gemeingut aller zivilisierten Völker; insbesondere im angelsächsischen Strafrecht werde er »nicht durchgeführt«.19

Die strafrechtliche Literatur begrüßte dieses Urteil nicht nur, Gustav Radbruch lobte es sogar als »hochwertige juristische Leistung«; es sei ein »wichtiger Fortschritt in der Erfassung der Humanitätsdelikte«. Zudem verwies er darauf, dass die Literatur bei ihrer eigenen Interpretation des Tatbestandes »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ebenfalls auf die Menschenwürde abstelle. Das »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sei »in jenem dreifachen Sinne der Grausamkeit gegen menschliches Dasein, der Entehrung der Menschenwürde und der Zerstörung menschlicher Bildung zu deuten«. Es umfasse »Fälle der Entwürdigung, die von unserem Strafgesetzbuch in ihrem eigentlichen Kern nicht getroffen würden, z.B. den Fall, daß im KZ Gesinnungsgenossen genötigt wurden, sich gegenseitig zu ohrfeigen, oder daß ein Gefangener durch Prügel zu dem Ausrufe gezwungen wurde: ›Mein Vater ist ein Landesverräter‹.« Auch andere Strafrechtler äußerten sich in dieser Weise. So sah Thomas Würtenberger in dem »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« »Taten, die über die einzelnen Rechsgutsverletzungen des Strafgesetzbuches hinausgehend, dem Menschen offensichtlich zugleich das sittliche Recht der Persönlichkeit, also die Menschenwürde als solche« absprächen. Als 36Hauptfall nannte er »Morde an Geisteskranken«. Die »Mißachtung der Menschenwürde« offenbare sich allgemein »in einer weit vorangetriebenen Versachlichung des Mitmenschen, in der die Verneinung der sittlichen Werthaftigkeit der Person zum Gipfel geführt wurde«.20

2. Kern einer neuen naturrechtlichen Begründung des Rechts?

Die Rede von der Würde des Menschen tauchte indessen in der rechtswissenschaftlichen Literatur zwischen Kriegsende und Beginn der Arbeiten am Grundgesetz noch in einem weiteren Diskussionszusammenhang auf, nämlich anlässlich der Frage nach einer neuen, naturrechtlichen Begründung des positiven Rechts.

Nach 1945 machte sich bei vielen eine moralische Bestürzung breit, die nicht nur die Frage drängend werden ließ, auf welchem geistig-ideellen Grund die neu zu schaffende politische Ordnung stehen sollte. In den Vordergrund schob sich auch die damit zusammenhängende Frage, ob nicht auch das positive Recht auf ein neues Fundament gestellt werden müsse. In der Rechtsordnung des nationalsozialistischen Staates wurzelte die Geltung und Verbindlichkeit des Rechts im Führerprinzip; seine materialen Gehalte erfuhr es aus dem Rassegedanken oder dem Grundsatz, dass Gemeinnutz immer vor Eigennutz gehe. Hingegen genügte es in der Nachkriegszeit vielen nicht mehr, den Grund der Geltung positiven Rechts in seiner Rückführbarkeit auf einen staatlichen Akt der Setzung und Durchsetzung zu sehen, so wie dies bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein die herrschende Vorstellung gewesen war.

Gustav Radbruch hatte 1945 diese rechtstheoretische Grundsatzfrage nach einem »übergesetzlichen Recht« auf die Tagesordnung gebracht, einem Recht, dessen Geltung über der des positiven, staatlich gesetzten Rechts steht und dieses im Konfliktfall verdrängen kann. In einem Beitrag für die Rhein-Neckar-Zeitung hatte Radbruch geschrieben: »Es gibt Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht.«

Zu diesen »Rechtsgrundsätzen« setzte in der Folgezeit eine breite Debatte ein, in der eine Äußerung Helmut Coings als beson37ders markant herausragt. »Daß die Rechtswissenschaft«, so begann Coings 1947 erschienene Schrift über die »Obersten Rechtsgrundsätze des Rechts«, »sich vom Positivismus befreien und wieder einer an die Rechtsidee gebundenen Auffassung vom Recht zuwenden müsse, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden, die man sich beinahe scheut auszusprechen. Es ist auch verständlich, daß die Erschütterungen unserer Zeit, wo sie nicht zu Verzweiflung und Skepsis gegenüber dem Recht überhaupt führen, zu naturrechtlichen Überzeugungen drängen; sie allein scheinen gegenüber den Ansprüchen der politischen Macht und der nackten Gewalt dem Recht einen Halt zu gewähren.«21

Doch worauf sollten diese – wie Coing es ausdrückte – »naturrechtlichen Überzeugungen« beruhen? Aus welchen Ideen sollten sie bestehen? Problemträchtig waren diese Fragen auch deshalb, weil gerade der Protestantismus der Vorstellung eines inhaltlich feststehenden Naturrechts traditionell mit großer Skepsis begegnete. Coings Antwort verwies auf die Idee vom Menschen, also darauf, dass er sich durch seine Würde auszeichne; die »naturrechtlichen Überzeugungen« fanden ihren Grund in einem würdebestimmten Menschenbild. Der Mensch, so Coing, sei »vor allem ein geistig-sittliches Wesen«, »fähig, sittlich zu handeln und Träger sittlicher Werte zu sein«. Als »Person«, »als Einzelner«, besitze er »einen unvertauschbaren Eigenwert«; in diesem Wert verkörpere »sich eine besondere und einmalige Zusammenfassung geistig-seelischer und vitaler Werte«. Und daraus fließe »seine besondere Würde«, deren Ausdruck »die Freiheit […] als Wesen alles echten geistigen Lebens« sei.

Dieser Gedanke blieb dabei nicht nur im Abstrakten. Für die Gestalt der sozialen Ordnung folge daraus, dass diese »den Eigenwert des Menschen« achten müsse. Sie dürfe ihn »niemals zum bloßen Mittel zur Erreichung eines Zweckes erniedrigen, sei es eines Mitbürgers, sei es der Gemeinschaft selbst«. Mehr noch: Die »Würde der Person« sei nicht nur Kernelement einer ethischen Fundierung der neuen Ordnung, nicht nur rechtsethisches Postulat. Sie umschließe auch konkrete »Ansprüche«, nämlich solche »auf Zuerkennung und Schutz von privatem Eigentum überhaupt und auf Sicherung eines gewissen tatsächlichen Mindesteinkommens«. Kurz: »Die Personwürde« begründe »also bestimmte Grundrechte des Menschen«.

Zurückhaltender äußerte sich dagegen Ernst Forsthoff, denn für die »Erneuerung des Rechts« waren seiner Auffassung nach keinesfalls »neue Normen« notwendig, sondern »die Wiederherstellung von 38Ordnungen und Institutionen«. Gleichwohl verwies auch er auf das von Coing aktualisierte christliche Menschenbild. Durch dieses sei »ein Maß gegeben«. Forsthoff berief sich dabei auf den Schweizer Theologen Emil Brunner: Es sei zum einen »der abgefallene, der Versuchung des ›eritis sicut deus‹ ausgesetzte Mensch, der als solcher der disziplinierenden Ordnung« bedürfe; zudem sei es »aber nicht weniger der durch den Kreuzestod Christi in seiner Würde wieder hergestellte Mensch, der als solcher den Anspruch auf Ehre, Achtung und Freiheit« habe und »nicht zum Mittel irgendwelcher, und sei es auch noch so hoher, Zwecke herabgewürdigt werden« dürfe.22

3. Erste Deutungen einer verfassungsgesetzlichen Würdenorm

Bevor der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufnahm, erfuhr schließlich eine der frühesten landesverfassungsgesetzlichen Würdenormen eine erste Interpretation und rechtsdogmatische Einordnung. Im Frühjahr 1948 hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof über eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, in der der Beschwerdeführer rügte, durch die Nichtbehandlung einer Strafanzeige und eine bewusst unwahre Auskunftserteilung der bayerischen Justiz sei sein in der Würdenorm der Verfassung (Artikel 100) enthaltener Achtungsanspruch verletzt worden. Er behauptete, ein Staatssekretär des Justizministeriums habe die Staatsanwaltschaft angewiesen, eine Strafanzeige nicht zu verfolgen und ihren Eingang nicht zu bestätigen.

In diesem Verfahren konnte sich zeigen, ob das maßgeblich für die Deutung und Anwendung der bayerischen Würdenorm zuständige Gericht der Forderung Hans Nawiaskys, des Urhebers der Norm, nachkam, sie nicht nur als pathetische Formel, sondern als eine im realen Rechtsleben relevante Bestimmung zu verstehen. Nawiasky hatte ja während der Beratungen der bayerischen Verfassung argumentiert, ein solcher Satz von der Würde des Menschen sage ganz deutlich, dass »in der ganzen Staatstätigkeit dieses Gut der Würde […] entsprechend richtunggebend« sei. Und zwei Jahre später hatte er in einer ersten Kommentierung der bayerischen Verfassung noch zusätzlich erläutert, wie er dies gemeint hatte: Der Würdeartikel der bayerischen Verfassung habe eine »eminent praktische Bedeutung, insofern er die Legitimation zur Ergreifung von Rechtsschutzmit39teln, z.B. der Verfassungsbeschwerde« gewähre; er könne aber auch bei der Ausfertigung der Gesetze als »Verweigerungsgrund« geltend gemacht werden. Nawiaskys Kernaussage war: »Der Natur der Sache nach handelt es sich um ein Menschenrecht«.

Der Verfassungsgerichtshof verstand diese Norm tatsächlich in diesem Sinne. Er griff eben jenen Satz Nawiaskys ausdrücklich auf, wonach das Gut der Würde der menschlichen Persönlichkeit in der »ganzen Staatstätigkeit richtunggebend sein« solle. Dies sei der Zweck der Norm, der aber wiederum nur erreicht werden könne, »wenn Art. 100 nicht als programmatische Erklärung, sondern als bindender Rechtssatz aufgefasst« werde, »der sämtliche Staatsorgane zu einem entsprechenden Verhalten« verpflichte; im Übrigen gehe sein »zwingender Charakter« aber auch »aus der Formulierung als Muß-Vorschrift (›ist‹ zu beachten) hervor«.

Sodann deutete der Gerichtshof die Norm wertetheoretisch: Wörtlich führte er zu ihrem Tatbestand aus: »Der Mensch als Person ist Träger höchster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen rechtlichen und politischen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber eigenständig und unantastbar ist. Würde der menschlichen Persönlichkeit ist dieser innere und zugleich soziale Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen um dessentwillen zukommt.«

Was aber sollte konkret aus diesem Verständnis der Norm folgen? Welche Konsequenzen hatte ein solcher verfassungsgesetzlicher Schutz eines »inneren und zugleich sozialen Wert- und Achtungsanspruchs«? Im Ergebnis wohl eine Art allgemeines Persönlichkeitsrecht, das auch gerichtlich durchsetzbar sein sollte. Die entscheidende Passage des Urteils lautete: »Art. 100 der Verfassung zeichnet für alle Rechtsgebiete eine einheitliche bindende Richtlinie vor, nach der sich alle Spezialtatbestände des Persönlichkeitsrechts auszurichten haben. Er begründet zugleich ein subjektives öffentliches Recht des einzelnen auf ein Verhalten der vollziehenden Organe ihm gegenüber, das der Rechtsnorm des Art. 100 der Verfassung entspricht. Der Träger eines höchsten sittlichen Wertes, der Würde der menschlichen Persönlichkeit, muß auch selbst berufen sein, ihn gegenüber rechtswidrigen Eingriffen des Staates durchzusetzen. Dafür ist ihm der Rechtsschutz der Verfassungsbeschwerde an die Hand gegeben.«

Das Problem, den Tatbestand der Würdenorm damit sehr weit 40und abstrakt gefasst zu haben, blieb aber bestehen. Der Gerichtshof erkannte dies zwar, rechtfertigte sich jedoch mit dem Argument, der »Mangel einer festumrissenen Begrenzung des gesetzlichen Tatbestandes« sei eben »mit der Übernahme von Werten der Sittlichkeit in die Rechtswelt notwendig verbunden« und hindere »nicht die Annahme einer zwingenden Rechtsnorm und eines daraus entspringenden subjektiven Rechts«; ihre »nähere Konkretisierung unter dem vom Gesetzgeber angegebenen Gesichtspunkt« sei dann »Aufgabe der Rechtsprechung«.

Für diese Konkretisierung gab er lediglich eine Differenzierung vor: die zwischen der Würde eines konkreten Menschen und der Würde als solcher. Für die Annahme einer Würdeverletzung, so das Gericht, müsse »eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitswertes derart vorliegen, daß über die Auswirkung für den Betroffenen selbst hinaus die menschliche Würde als solche ohne Berücksichtigung der Einzelperson getroffen« erscheine. »Die Anerkennung des sittlichen Grundwertes der menschlichen Würde als ›Rechtswert‹« sei »die Voraussetzung für die Anerkennung aller Freiheitsrechte.«

In dem konkret zu entscheidenden Fall brauchte der Verfassungsgerichtshof diese Vorgabe jedoch nicht weiter zu thematisieren. Er war der Auffassung, dass die Verfassungsbeschwerde unzureichend begründet war und einen Sachverhalt betraf, der sich vor dem Inkrafttreten der bayerischen Verfassung ereignet hatte.

Angesichts dieser Entscheidung sah sich Hans Nawiasky, der in den Beratungen zur bayerischen Verfassung die Aufnahme der Würdenorm vorgeschlagen hatte, später dann doch sehr überrascht, obwohl er ja für eine rechtspraktische Bedeutung der Würdenorm argumentiert hatte. Er habe nämlich in keinem Augenblick an »die Aufstellung eines zentralen Rechtsgutes als elementare Grundlage der Grundrechte« gedacht. Problematisch fand er dies jedoch nicht. Er meinte vielmehr, seine »bescheidene legislative politische Anregung« habe so »ein ungeahntes großartiges Schicksal erlebt!«.23

4. Einfluss auf den Parlamentarischen Rat?

Hat der Parlamentarische Rat die Würdenorm des Grundgesetzes nun unter dem Eindruck und Einfluss etwa der Rechtsprechung und der rechtswissenschaftlichen Diskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie der schon existierenden Würdebestimmungen 41in den Länderverfassungen geschaffen? Darüber lässt sich nur spekulieren, auch wenn davon auszugehen ist, dass die Würdenormen, die in die Länderverfassungen Eingang gefunden hatten, sowie die Würdeargumentationen in den Entscheidungen der Gerichte sowie in den rechtswissenschaftlichen Beiträgen den Mitgliedern des Rates bekannt waren.

Eines lässt sich aber aufgrund der Materialien mit Sicherheit ausschließen – dass nämlich der Parlamentarische Rat sich in seiner Mehrheit die Vorstellung von der Menschenwürde als naturrechtlichem Grund des positiven Rechts, die ja durchaus in der wissenschaftlichen Diskussion jener Zeit verbreitet war, zu eigen machte und im Grundgesetz zum Ausdruck bringen wollte.

Allerdings springen zwei Gemeinsamkeiten ins Auge. Die Rede von der Würde des Menschen diente nämlich auch im Parlamentarischen Rat dazu, eine Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen zu artikulieren. Ohne Zweifel gab es in jenen Jahren nicht wenige, die Berichte über Konzentrationslager, Folter und Mord nicht mehr hören und die nationalsozialistischen Verbrechen am liebsten verdrängen, ja vergessen wollten. Doch viele, die sich nach Kriegsende am Aufbau einer neuen politischen und rechtlichen Ordnung beteiligten, dachten anders. Angesichts des vorausgegangenen »Zivilisationsbruchs« hielten sie es für angemessen, sich dieser Hypothek der Vergangenheit zu stellen, sie gerade nicht zu verschweigen und zu übergehen. Die Rede von der Würde des Menschen bot ihnen dabei die Möglichkeit, das – wie man es in jener Zeit ausdrückte und wohl auch empfand – Dämonische und Apokalyptische des Nationalsozialismus zu benennen und sich zugleich davon in komprimierter wie unmissverständlicher Form zu distanzieren.

Ebenso – und dabei handelt es sich um die zweite Gemeinsamkeit – entsprang dieser auf die unmittelbare Vergangenheit ausgerichteten Wendung von der Würde des Menschen ein Versprechen für die Zukunft: Die Würde des Menschen, ihre Achtung und ihre Sicherung, wurde zu einem zentralen Gebot erhoben, zu einer fundamentalen Verpflichtung der neu zu schaffenden politischen und rechtlichen Ordnungen. Ein solches Versprechen erlaubte gewiss nicht, sich von den schweren Lasten der Vergangenheit zu befreien; diese Lasten ließen sich mit ihm aber wohl etwas leichter tragen.24

42III. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, das Grundgesetz mit einer Norm beginnen zu lassen, die von der Würde des Menschen sprach, stand nicht nur in einem nationalen Kontext. Zu diesem Zeitpunkt existierten auch schon zahlreiche völkerrechtliche Dokumente, die ähnliche Bestimmungen enthielten. So begründete im Dezember 1948 die Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren Beschluss einer »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« unter anderem damit, dass

–  »die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt« bilde,

–  »die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarbei geführt« und diese Akte »das Gewissen der Menschheit mit Empörung« erfüllt hätten und

–  »die Völker der Vereinten Nationen in der Charta ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut« bekräftigten.

Darüber hinaus legte die Generalversammlung fest, dass

–  jeder »als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit« habe,

–  zudem einen Anspruch darauf, »durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel des Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich« seien, und ebenfalls

–  jedem, der arbeite, das »Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung« zustehe, einer Entlohnung, »die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz