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Walter Keller

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Beschreibung

Begleitbuch zur Ausstellung 
Kapital: Kaufleute in Venedig und Amsterdam
im Landesmuseum Zürich, 14.9.2012 – 17.2.2013

Kapital erzählt von den Ursprüngen unseres heutigen Wirtschaftssystems in der historischen Seerepublik Venedig und dem Goldenen Zeitalter Amsterdams. Ergänzt werden die Essays durch ein Glossar zur Geschichte des Kapitals. Venedig ab dem 13. Jahrhundert und Amsterdam im 17. Jahrhundert: Beide Städte spielten in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Westens eine zentrale Rolle. Beide orientierten sich zum Meer hin, bauten Schiffe, betrieben Fernhandel, erlitten Verluste, nahmen Risiken auf sich, ersetzten verlorene Schiffe und machten hohe Gewinne. Mit steigendem Wohlstand wurden jedoch Kultur und Genuss attraktiver als das Risiko. So begannen die Investitionen in Kultur und Luxus – und auch der wirtschaftliche Niedergang.

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INHALT

» Über die Autoren

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTOREN

PROF. BERND ROECK, Historiker und Renaissance-Spezialist,

DR. DORIS STÖCKLY, Historikerin und Quelleneditorin,

DR. ULRICH UFER, Kulturanthropologe und Historiker,

DR. KEES ZANDVLIET, Leiter Forschung und Ausstellungen, Amsterdam Museum.

Mit einem Glossar, verfasst von Wirtschaftshistorikern der Universität Zürich.

Herausgegeben von WALTER KELLER, Gastkurator am Landesmuseum Zürich.

ÜBER DAS BUCH

KAPITAL erzählt von den Ursprüngen unseres heutigen Wirtschaftssystems in der historischen Seerepublik Venedig und dem Goldenen Zeitalter Amsterdams. Ergänzt werden die Essays durch ein Glossar zur Geschichte des Kapitals. Venedig ab dem 13. Jahrhundert und Amsterdam im 17. Jahrhundert: Beide Städte spielten in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Westens eine zentrale Rolle. Beide orientierten sich zum Meer hin, bauten Schiffe, betrieben Fernhandel, erlitten Verluste, nahmen Risiken auf sich, ersetzten verlorene Schiffe und machten hohe Gewinne. Mit steigendem Wohlstand wurden jedoch Kultur und Genuss attraktiver als das Risiko. So begannen die Investitionen in Kultur und Luxus – und auch der wirtschaftliche Niedergang.

VORWORT

Andreas Spillmann,Direktor Schweizerisches Nationalmuseum

Die Wirtschaft sind wir alle. Wie und wann aber ist unsere Ökonomie entstanden? Wann und wie entwickeln und organisieren sich Märkte? Wie und warum entstanden Handels-, Kredit- und Finanzwesen? Dieses Buch begleitet die Ausstellung KAPITAL. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Buch und Ausstellung behandeln Schlüsselbegriffe und -werte, die uns bis heute täglich beschäftigen. KAPITAL lädt zu einer Zeitreise ein, welche vor mehr als tausend Jahren in Ober-italien begann.

KAPITAL erzählt von den Ursprüngen unseres Wirtschaftssystems in der Seerepublik Venedig und in der Fernhandelsstadt Amsterdam. Venedig ab dem 13. und Amsterdam im 17. Jahrhundert: Beide Städte spielen in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Westens eine zentrale Rolle. Ihre Kaufleute erfanden Finanzierungs-, Kredit- und Handelsformen, die wir heute noch nutzen. Beide orientierten sich zum Meer hin, nahmen Risiken auf sich, bauten Schiffe, betrieben Fernhandel, erlitten Verluste, erzielten aber auch hohe Gewinne. Für beide Städte gilt allerdings ebenso: Mit dem erreichten Wohlstand wurde der Genuss attraktiver als der risikoreiche Fernhandel. So begannen Investitionen in Kultur und Luxus – womit auch das Ende der Blütezeit beider Städte eingeleitet wurde. Es ist diese Dynamik von Aufstieg, Niedergang und geografischer Ver-lagerung, welche im Zentrum des Projekts KAPITAL steht.

Ausstellung und Begleitbuch zeigen die Entwicklung unserer Ökonomie zwar am Beispiel zweier von der Schweiz weit entfernt liegender Städte. Doch auch die Wirtschaft unseres Landes mit ihren Handelshäusern, ihrer Industrie und ihrer Finanzindustrie basiert auf einem Instrumentarium, das Kaufleute und Händler südlich der Alpen und am Atlantik entwickelt haben. So zeigt die Ausstellung historische Beispiele dafür, wie international vernetzt die Ökonomie nicht erst seit unserer Zeit ist. Bei der Lektüre dieses Buches wird es Ihnen vermutlich so ergehen wie uns, die wir das Projekt von Beginn an begleitet haben: Was historisch und weit weg zu sein scheint, entpuppt sich mit Blick auf die täglichen Nachrichten als erstaunlich aktuell. Viele der Herausforderungen, denen sich Wirtschaft und Staat in der Vergangenheit gegenübersahen, sind die gleichen, mit denen wir auch heute konfrontiert sind.

Für das Zustandekommen der Ausstellung und des vorliegenden Begleitbuches gilt unser Dank dem Projektleiter und Ausstellungskurator Walter Keller, der mit der Idee an uns herantrat, die Ursprünge unseres Wirtschaftssystems in Form einer Ausstellung zum Thema unserer Institution zu machen. Ebenso möchten wir dem Szenografen Raphael Barbier für die gelungene räumliche Umsetzung und Gestaltung der Ausstellung danken. Der Autorin und den Autoren dieses Begleitbuches gilt unsere Verbundenheit für ihre kenntnisreichen und konzisen Texte. Wir danken ebenfalls unseren vielen Leihgebern: der Fondazione Musei Civici di Venezia, Museo Correr; dem Amsterdam Museum; der Stiftung Jakob Briner, Winterthur; dem Couvent des Cordeliers / Franziskanerkloster, Freiburg i. Ü.; der Galerie Urs Meile, Beijing – Lucerne; dem Zeeuws Archief, Middelburg, The Netherlands, Collection community of Veere; dem Westfries Archief, Hoorn, Oudarchief Enkhuizen; der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze; Guido Ercole, Trento; John Davis, Venedig; Dino Beraldo, Sona; Gianfranco Vianello, Padua; Andrea Devalle, Turin; der Zentralbibliothek Zürich; dem Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZH); dem Textilmuseum St. Gallen; der Stiftsbibliothek St. Gallen; der Schweizerischen Nationalbank. Ein großer Dank geht schließlich auch an die vielen anderen Beteiligten, die zum Gelingen von Ausstellung und Buch beigetragen haben.

UMWEGE INS JETZT

Walter Keller

Der Weg in historische Zeiten, den die Essays und das Glossar dieses Buches beschreiten, ist ein Kunstgriff mit dem Ziel der Verdeutlichung. Über den Umweg des Eintauchens in uns scheinbar fremde, Jahrhunderte zurückliegende Welten ergeben sich sogleich Einsichten in die Wirklichkeit, wie wir sie heute leben.

Die Seerepublik Venedig zum Beispiel erfindet im 14. Jahrhundert ein System, in dem der Laderaum von Handelsgaleeren – diese baut der Stadtstaat in der eigenen Werft Ar-senale selbst – privaten Kaufleuten angeboten wird. Jede bis zur Grundausrüstung fertiggestellte Galeere wird in 24 Anteile geteilt, die sogenannten carati. Die Händler können die Anteile des Laderaums in einer Versteigerung ganz oder in Teilen erwerben. Um Mannschaft, Werkzeug, Ersatzteile, Navigations-instrumente und Gegenstände des täglichen Lebens müssen sie sich selbst kümmern. Diese frühe Form einer Public Private Partnership, wie sie Doris Stöckly beschreibt, erinnert an die heute von Staaten organisierte Versteigerung von Mobilfunkfrequenzen. Der Staat beansprucht wie damals die Hoheit, Privaten obliegt die Ausgestaltung von Handel und Vertrieb. Private Containertransporte auf staatlichen Eisenbahnschienen gehen als Prinzip auf eine Idee zurück, die vor rund 700 Jahren am Rialto geboren wird.

Ulrich Ufer wiederum berichtet, wie sich in Amsterdams »Goldenem Zeitalter« dem 17. Jahrhundert, Frühformen einer heutigen Wohlstandsgesellschaft herausbilden. Selbstverständlich gibt es die dominierende Oberschicht und ist die Mehrheit der Bevölkerung arm; von einer Marktwirtschaft, die den sozia-len Ausgleich sucht, kann noch keine Rede sein. Oder vielleicht in Ansätzen doch? Jedenfalls gehört bereits ein Viertel der Bevölkerung zur Mittelschicht, zum breede middenstand. Und diese Tatsache spiegelt sich nicht zuletzt im Aufkommen eines städtischen Konsum-Ambientes: Shopping wird für breitere Kreise als nur für den Adel erschwinglich. Im Amsterdam des 17. Jahrhunderts entsteht, was wir heute als urbanes Lebensgefühl leben.

Dies sind nur zwei Beispiele für soziale Prozesse, die einsetzen, wenn sich die wirtschaftliche Aktivität dynamisiert.

Sogar in einer Standesgesellschaft wie in Venedig mit seinem Patriziat ist es möglich, durch Arbeit und Handel in die Oberschicht aufzusteigen. In Amsterdam wiederum müssen sich die Wohlsituierten aufgrund der Popularisierung von ehemaligen Statusobjekten nach neuen Statussymbolen umsehen, weil sich plötzlich zu viele Leute die gleichen Kleider leisten können wie sie. Die Geschichte des Kimonos etwa, die Ulrich Ufer erzählt, ist eine amüsante Illustration dieses Vorgangs. Importiert werden die zunächst exklusiven Kleidungsstücke aus Japan; dann stellen holländische Handwerker Kopien her, und schließlich lässt die Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) – die erste Aktiengesellschaft der Welt – Billigversionen in einem Drittland produzieren. Kees Zandvliets Text über diese Fernhandelsgesellschaft liest sich wie die Story einer multinationalen Unternehmung von heute.

Apropos Fernhandel: Bernd Roecks Ana-lyse der venezianischen Verfassung und Politik, die während Jahrhunderten konsequent Wirtschaftspolitik ist, erinnert nicht nur indirekt daran, dass auch heute noch zwischenstaatliche Konflikte auf die Wahrung von Handelsinteressen zurückgehen. Und apropos Staatsverschuldung, die heute täglich die Wirtschaftsseiten der Presse füllt: Der Wirtschaftshistoriker Gerhard Rösch zitiert in seinem Buch Venedig. Geschichte einer Seerepublik den venezianischen Dogen Tommaso Mocenigo, der 1423 zu seinen Räten spricht: »Ich teile Ihnen mit, dass wir in unserer Zeit vier Millionen Staatsanleihen getilgt haben, jenes Darlehen, das von der Kammer für den Krieg mit Padua, Vicenza und Verona ausgegeben wurde, so dass sich unsere Staatsschuld auf sechs Millionen beläuft. Außerdem haben wir darauf gedrängt, dass jedes halbe Jahr auf die Staatsschuld Zins gezahlt wurde und alle Behörden und Regierungsämter und alle Ausgaben des Arsenals und was immer wir sonst noch geben müssen, und so ist es geschehen.« Manch heutige Regierung wäre glücklich, könnte auch sie mit der Verkündung der erfolgreichen Rückzahlung von Staatsschulden vor das Parlament treten.

Und schließlich: Wenn Bernd Roeck die Rolle von Kunst und Pracht in der Lagunenstadt beschreibt, öffnen sich weitere überraschende Parallelen zur Gegenwart, in der Reichtum, Mäzenatentum und Wohlfahrt ebenso eng miteinander verflochten sind wie im historischen Venedig.

Die Essays und das Glossar in diesem Buch thematisieren die Entstehung des Kapitalismus. Sie diskutieren ganz bewusst nicht dessen heutige Form. Das Projekt KAPITAL entstand, weil wir zwar alle jederzeit bereit sind, unsere Meinungen zur gegenwärtig weltweit dominierenden Form der Ökonomie zu äußern, dabei aber viel zu wenig über das Wann, Wie und Warum ihrer Entstehung wissen. Bei KAPITAL liegt der Fokus auf der Entstehung relevanter Kapitalisierungs- und Finanzinstrumente ab dem späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Und auf den Kaufleuten und Händlern, welche diese Instrumente erfanden.

Zusätzlich beschreiben die vorliegenden Texte die Dynamik von Risiko, Aufstieg, Blüte, Wohlstand und Niedergang, die der bekannte Ökonom Adam Smith (1723–1790) einst in die Formel fasste: »Kaufleute haben in der Regel den Ehrgeiz, Gutsbesitzer zu werden.« Ob und was das mit unserer heutigen Wirklichkeit in Westeuropa zu tun hat, mögen Sie selbst entscheiden.

Der deutsche Künstler Joseph Beuys schuf 1972 ein Selbstporträt mit dem Titel La Rivoluzione Siamo Noi. Nach der Lektüre dieses Lesebuches könnte man ihm entgegnen: »Il capitalismo siamo noi«, »Der Kapitalismus sind wir« – als Investoren in unsere Renten- und Pensionskassen, als Bausparer, Darlehensnehmer, Zinszahler oder als Kleinaktionäre.

VENEDIG –GÖTTIN DES GELDES

Bernd Roeck

Auf einer der mit vergoldeten Ornamenten bestückten Holzdecken in Venedigs Dogenpalast, im Versammlungsraum des Rats der Zehn, zeigt ein in den 1550er Jahren entstandenes Gemälde Paolo Veroneses die römische Göttin Juno, wie sie Venezia reich beschenkt. Aus einem Füllhorn fallen der Dame Venezia ein Lorbeerkranz als Zeichen ihres Ruhmes, eine Krone – jene Zyperns –, der Dogenhut, Geschmeide und goldene Münzen in den Schoß. Unter den zahlreichen Identitäten, unter denen Juno in der Antike auftrat, hat sich Veronese für die der »Juno Moneta« entschieden, der in alter Zeit auf Roms Kapitol ein Heiligtum errichtet worden war. In Beziehung zur Münze, zur moneta, geriet die Göttin, weil sich in der Nähe ihres Tempels die Münzstätte Roms befand. Jetzt, Jahrhunderte später, schwebte sie in Venedig über den Köpfen der Dieci, des 1310 eingerichteten, geheimnisumwitterten Gremiums, das für die Verfolgung von Staatsverbrechen zuständig war und über Betrüger, Ketzer und Homosexuelle zu richten hatte. Hier, im Ostflügel des Dogenpalasts, wurde über die intimsten Angelegenheiten des Staates beraten, über Leben und Tod entschieden. Und hier hatte auch die Schwarze Legende Venedigs als eines eiskalten Staates, der Spitzel unterhielt und mit Folter und heimlichen Hinrichtungen seine Macht wahrte, ihren Kern.

Veroneses Bild führte dem Rat der Zehn den Reichtum und Glanz Venedigs vor Augen, dessen Geschicke er lenkte. Der Rat mochte das als Aufforderung lesen, bei seinen Entscheidungen Umsicht walten zu lassen, damit dem Stadtstaat die Gunst der Göttin des Geldes erhalten bleibe; Junos Füllhorn ent-hielt auf Veroneses Bild ja noch weitere Preziosen. Dass der Zenit von Venedigs Größe überschritten war, als man das Gemälde um die Mitte des 16. Jahrhunderts an der Saaldecke befestigte, ahnte damals freilich wohl kaum einer der würdigen Räte. Ein Vierteljahrhundert später sollte Zypern von den Osmanen erobert werden; die Weltwirtschaft befand sich zum Nachteil Venedigs im Umbruch.

Ein wenig melancholisch ließ sich zu jener Zeit zurückblicken auf eine Vergangenheit, die sich, mit Marcel Prousts Worten und Veroneses berühmtem Kolorit, in buchstäblich »wunderbarer Beleuchtung« zeigte. Golddukaten funkelten darin; dass die Göttin des Geldes ein Bild erhielt, war selbstverständlich für einen Staat, der durch den Handel groß geworden war. Geld war auch für die Venezianer der »Nerv der Dinge«, der Zauberstoff, der Wunder wirkte, Glück fabrizierte und ins Unglück stürzte. Geld ließ, wie der italienische Volksmund weiß, Krieg führen und bewirkte Frieden: »I soldi fanno guerra e pace.«

Vom Dogenpalast waren es nur ein paar Schritte zur Zecca, Venedigs staatlicher Münzstätte, die der Staatsarchitekt Jacopo Sanso-vino 1536 für die märchenhaft hohe Bausumme von 30 000 Dukaten errichtet hatte. Ihre Lage – die Fassade ist wehrhaft und abweisend gestaltet – deutete ein magisches Dreieck an, das die Räson venezianischer Politik über Jahrhunderte umschrieb: Neben der Festung des Geldes sind der Markusdom – Zentrum des Glaubens und Staatsheiligtum – sowie der Dogenpalast als Gehäuse der Macht dessen Eckpunkte. Dass die Zecca von der ebenfalls von Sansovino gebauten Bibliothek flankiert wird, erinnert daran, dass auch Venedigs Kultur ein Fundament aus Geld hat.

Vom Geld erzählen die Prachtbauten, die den Canal Grande säumen, die aus dem Halbdunkel von San Marco funkelnden Mosaiken und der goldene, mit Emailbildern geschmückte Altar, die Pala d’Oro; vom Geld und nicht nur vom Glauben reden die Kirchenbauten, die Versammlungshäuser der Bruderschaften. Ohne Dukaten und Zechinen, ja ohne ein ganzes Meer von Geld wären kein Arsenal gebaut und keine Galeerenflotte gebaut worden, auch nicht der Bucintoro, das prunkvolle Staatsschiff der Republik. Ohne Geld wäre Venedig niemals zu jenem einzigartigen Gebilde geworden, das die historischen Zeiten bestaunten und von dem ein Sprichwort sagte: »Più rara cosa il mondo non possiede, che la città dove il Leon risiede«, »Nichts Selteneres besitzt die Welt als die Stadt, in der der Löwe seinen Wohnsitz hat«. Doch wie kam das Geld dorthin, in jene heute von Industrieabwässern verschmutzte Lagune am Nordrand der Adria? Wie kam es zum Wunder Venedig? Blenden wir um gut eineinhalb Jahrtausende zurück, als alles begann.

Anfänge

Am Anfang waren die Furcht und das Meer: die Angst vor Kriegern aus dem Osten und Norden, die im 5. und 6. Jahrhundert das fruchtbare oberitalienische Land heimsuch-ten, und das Meer als Rettung. Ein paar sumpfige, von Gestrüpp überwucherte Inseln im Meer hinter langgezogenen Sandbänken waren sichere Orte, die vor der offenen Adria und ihren Fluten schützten, auch vor Piraten und gefährlichen Ungeheuern, welche man in ihren blauen Tiefen verborgen glaubte. Dorthin zogen sich die Leute vom Festland – Fischer und Bauern – zurück, wenn es buchstäblich brenzlig wurde in ihrer Welt, wenn Plünderung und Tod drohten. Die Weltgeschichte ging vorerst an ihren Inselchen im Brackwasser vorbei. Später nannten sich die Bewohner jener »Biberrepublik« Veneti, nach einem in Oberitalien siedelnden Volk unklarer Herkunft, das von antiken Geografen und Historikern erwähnt wird.

Von der einst ehrfurchtgebietenden Macht des römischen Imperiums war zu jener Zeit nichts geblieben außer Ruinen, den prunkenden Titeln der im fernen Byzanz residierenden Kaiser und einem die Jahrhunderte überstrahlenden Mythos. In das Machtvakuum drangen zuerst Ostgoten, dann Langobarden vor, ein aus dem Gebiet um Böhmen, Mähren und die Slowakei stammendes Volk. Damals, um das Jahr 568, muss die Lagune, die später Venedigs Namen tragen sollte, einen neuen großen Flüchtlingsschub erfahren haben. Nun dürften auch reiche Latifundienbesitzer samt ihren Sippen den Aufenthalt im Wasser dem prekären Dasein auf dem Festland vorgezogen haben. Caorle, Jesolo und einige andere Orte nahmen die Flüchtlinge auf, darunter eine Insel, die man Rivo alto nannte, »hohes Ufer«, da sie den Meeresspiegel deutlich überragte. Noch heute bewegt man sich hier, am Rialto, bei Hochwasser trockenen Fußes, während der Markusplatz und andere Stadtteile schon überschwemmt sind. Dieses trockene Plätzchen wurde zum Siedlungskern der späteren Weltstadt.

Es war eine prekäre Welt um jenes »hohe Ufer«, voller Risiken und Gefahren. In den Teilen, wo kein Salzwasser in die Lagune gelangte, machte sich mit Stechmücken die Malaria breit, jener furchterregende Killer der frühen Neuzeit. Der in Diensten der ostgotischen Könige stehende Senator Cassiodorus (um 485–580), der die Lagunenbewohner um Lebensmittellieferungen für Ravenna ersuch-te, gibt einen lebendigen Bericht darüber, wie es sich damals in der Lagune gelebt haben mag: Reichtum hätten die Bewohner nur an Fischen, ihre Boote seien »wie Haustiere« an die Mauern ihrer Häuser gezurrt, an Häuser, die »wie Wasservögel jetzt auf dem Wasser, jetzt auf dem Lande« säßen. Er rühmt die Leute als geschickte Seefahrer und ihren Fleiß bei der Gewinnung von Salz. »Auf euren emsigen Fleiß sind alle anderen Erzeugnisse angewiesen, denn obwohl es vielleicht jemand geben mag, der nicht nach Gold sucht, so hat es doch noch nie jemanden gegeben, der nicht des Salzes bedurft hätte, das jede Speise schmackhaft macht.« Tatsächlich war der Salzhandel von Anfang an eine Säule der venezianischen Wirtschaft.

Cassiodor lieferte für Venedigs späteren Mythos einen wichtigen Baustein, wenn er behauptete, alle, Arm und Reich, lebten in ihrer Lagune in gleicher Weise zusammen. Sie teilten dieselbe Nahrung, bewohnten ähnliche Häuser und seien frei von Lastern. Dass Letzteres nicht stimmte, sagt der Menschenverstand, dass Ersteres falsch war, ist sicher. Viele der Zugewanderten verfügten ja auf dem Festland über Grundbesitz. Früh finden sich auch Nachrichten, die von Pachtbauern, Abgaben, von Gärten und Obstbäumen berichten. Die Familie Ziani zum Beispiel verfügte im Hochmittelalter in der Gegend um den Rialto über ausgedehnten Grund, auf dem sogar Wein angebaut wurde.

Die Lagunenbewohner sahen sich von Anfang an in einer ebenso heiklen wie chancenreichen Situation zwischen West und Ost. Es gelang ihnen allmählich, Byzanz’ Oberhoheit abzuschütteln und sich, im Schutz der Lagune, Ansprüchen der Kaiser des Westens zu entziehen. Dabei half Venedigs mächtigster Verbündeter: die Geografie. Hinter seinen »Mauern aus Wasser« – so der Ingenieur Sabbadino im 16. Jahrhundert – waren die Vene-zianer meist sicher. Und so gingen sie daran, ihre Umwelt zu gestalten. Die Lagune, wie sie sich heute darstellt, ist alles andere als ein natürliches Gebilde. Vielmehr ist sie ein Kunstwerk, ein Produkt der Arbeit zahlloser Generationen. Kanäle mussten gegraben werden, wieder und wieder waren sie auszuräumen, wenn die Flut sie mit Sand zugespült hatte. Fischgründe mussten erhalten, für guten Frischwasserzufluss gesorgt, Deiche gebaut und Flüsse reguliert werden. Allmählich wurden weitere Inseln in das Siedlungsgebiet einbezogen; eine Quelle des späten 10. Jahrhunderts nannte schon 31 Orte, die dem auf dem Rialto residierenden Dux untertan seien, Murano etwa oder Pellestrina, Sant’Erasmo – heute Venedigs Gemüselieferant – oder Vignole; von dieser »Stadt« hat eine spärlich besiedelte Insel gegenüber dem Arsenal noch heute ihren Namen.

Als wichtigster Marktort erscheint übrigens anfangs nicht der Rialto, sondern vielmehr das nordöstlich der Hauptinsel gelegene Torcello. Die Bedeutung der Insel als Handelsplatz stand dem Rang Venedigs bis ins 10. Jahrhundert nicht nach. Zunehmende Verlandung und wohl auch die Malaria leiteten den Niedergang ein; zu dieser Zeit stieg Rivo alto allmählich zu Venezia auf. Heute ist Torcello – jedenfalls abends, wenn das letzte Vaporetto Richtung Venedig abgelegt hat – ein traumverlorener Ort, der von seiner mit Mosaiken glänzenden Kathedrale und der Erinnerung an einen Aufenthalt Ernest Hemingways in der Locanda Cipriani lebt.

San Marco! San Marco!

Ein weiterer wichtiger Schritt war die Erringung kirchlicher Selbständigkeit. Venedig unterstand in geistlichen Dingen – und die waren im Mittelalter von größter Bedeutung, für die weltliche Macht ebenso wie für das Seelenheil – dem Erzbischof von Aquileia, einem kleinen Ort westlich des Flusses Isonzo im heutigen Friaul. Als die Langobarden kamen, hatte der Erzbischof wie die übrige Einwohnerschaft auf der Insel Grado in der Nähe des heutigen Triest Schutz gesucht; im Gegenzug setzten die Eroberer schließlich einen eigenen Patriarchen auf den verwaisten Stuhl auf dem Festland. Weite Teile Oberitaliens und des Balkans hatten nun zwei Metropoliten, die einander in den folgenden Jahrhunderten argwöhnisch belauerten.

In dieser Situation hatte – neben dem Geld – der zweite große Verbündete Venedigs seinen Auftritt: der heilige Markus, der Tradition nach der Begründer der Kirche von Aquileia. Wie die Legende weiß, hatte sie als älteste Kirche der Christenheit zu gelten, da der Evangelist von hier aufgebrochen sei, um das Patriarchat Alexandria einzurichten. Für Aquileia war diese Geschichte gut, für die Insel Grado, das keine Rolle darin spielte, schlecht – wäre nicht gerade auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die beiden Bischofsthrone »zufällig« bekanntgeworden, dass St. Markus keineswegs direkt nach Nordafrika gereist sei, sondern, zusammen mit dem gerade eingesetzten Bischof Hermagoras, einen Abstecher zum heiligen Petrus nach Rom gemacht habe. Wie damals üblich sollen die beiden per Schiff die Küste entlang- gereist sein. In der Nähe der venezianischen Lagune seien die beiden von einem heftigen Sturm überrascht worden. Mit Not hätten sie sich auf eine unbewohnte Insel retten können. Wie es Gottes Ratschluss wollte, war es keine andere als Rivo alto. Und jetzt bekommt Venedig Worte, die sich von nun an jahrhundertelang, tausendmal und mehr in Stein gemeißelt, in Bronze gegossen, auf Bilder gemalt finden sollten. Ein Engel steht vor dem Evangelisten und seinem Begleiter und grüßt freundlich: »Pax tibi Marce, Evangelista meus, hic requiescit corpus tuum«, »Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist, hier wird einst dein Körper ruhen!«.

Tatsächlich erfüllte sich die Prophezeiung gerade im rechten Moment. Spätere Chronis-ten erzählen, dass es um 829 zwei venezianischen Kaufleuten gelungen sei, den Leichnam des Heiligen aus der ihm geweihten Kirche in Alexandria zu entführen und – verborgen unter Schweinefleisch, das Muslime zu berühren sich scheuten – nach Venedig zu bringen. In der Palastkapelle von Venedigs Dogen fand der Heilige seine würdige Ruhestätte. An ihrem Ort wurde, nachdem der ältere Bau 976 durch Feuer zerstört worden war, der Markusdom errichtet, als Gehäuse für den wertvollsten Besitz des mittelalterlichen Venedig: den Leib des Heiligen. Dass Markus’ Knochen wahrscheinlich schon 976 zu Asche verbrannt waren, störte nicht weiter, wurden sie doch gerade zur Einweihung des neuen Domes, 1094, auf wundersame Weise wiederaufgefunden. Der Bischof behielt übrigens seinen Sitz stets im abgelegenen Castello-Viertel und hatte in der venezianischen Politik nie viel zu sagen.

Die Stadt hatte mit dem Evangelisten einen mächtigen Schutzpatron und, zusammen mit der Gottesmutter Maria, einen einflussreichen Fürsprecher im Himmel. Dank seiner Grabstätte konnten Venedig und Grado dem alten Bischofssitz Aquileia auf Augenhöhe begegnen. Der Heilige Markus galt als das eigentliche Stadtoberhaupt; auf Münzen, Medaillen und Gemälden war er es, der den Dogen mit dem Banner belehnte. Mit seinem Namen auf den Lippen – »San Marco! San Marco!« – zogen die Venezianer in ihre Kriege. Zu ihm beteten sie, wenn auf dem Festland die Rauchsäulen der von den Osmanen in Brand gesteckten Orte zeigten, dass dem Staat höchste Gefahr drohte. Die Beamten, die sich um die Stiftungen und Spenden für die Kirche und ihren heiligen Patron, später auch um andere Einkünfte und Angelegenheiten kümmerten, die procuratori