Kapitalismus - Sven Beckert - E-Book

Kapitalismus E-Book

Sven Beckert

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Beschreibung

Kaum ein Phänomen hat die Menschheitsgeschichte der letzten Jahrhunderte so geprägt wie der Kapitalismus – wie wir leben und arbeiten, wie wir über uns und andere denken, wie wir uns politisch organisieren. Der Historiker Sven Beckert erzählt in diesem monumentalen Werk die Geschichte dieses Wirtschaftssystems über die größtmögliche Dimension von Raum und Zeit hinweg. Statt den Kapitalismus, wie lange üblich, als europäisches Exportprodukt zu betrachten, erfasst er ihn in seiner internationalen Vernetzung. Arabische Kaufleute, indische Weber und versklavte Afrikaner auf karibischen Zuckerplantagen sind in seiner Darstellung ebenso zentral wie Amsterdamer Finanziers oder Stahlindustrielle im Saarland. Beckert hat eine Globalgeschichte des Kapitalismus für das 21. Jahrhundert vorgelegt, sein Interesse gilt neben dem enormen Wachstum, den die kapitalistische Revolution ermöglicht hat, auch den Schattenseiten unseres Wirtschaftssystems: Imperialismus und Kolonialismus, globale Ungleichheit und Ausbeutung, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Zeitalter der Klimakrise. Doch bilanziert Sven Beckert nicht lediglich die Soll- und Habenrechnungen des Kapitalismus, sondern entwirft ein Gesamtbild seiner Geschichte, das uns auch erlaubt, unsere Zukunft neu zu denken.

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Seitenzahl: 2539

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sven Beckert

Kapitalismus

Geschichte einer Weltrevolution

 

 

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Werner Roller, Sigrid Schmid und Thomas Stauder

 

Über dieses Buch

Kaum ein Phänomen hat die Menschheitsgeschichte der letzten Jahrhunderte so geprägt wie der Kapitalismus – wie wir leben und arbeiten, wie wir über uns und andere denken, wie wir uns politisch organisieren. Der Historiker Sven Beckert erzählt in diesem monumentalen Werk die Geschichte dieses Wirtschaftssystems über die größtmögliche Dimension von Raum und Zeit hinweg. Statt den Kapitalismus, wie lange üblich, als europäisches Exportprodukt zu betrachten, erfasst er ihn in seiner internationalen Vernetzung. Arabische Kaufleute, indische Weber und versklavte Afrikaner auf karibischen Zuckerplantagen sind in seiner Darstellung ebenso zentral wie Amsterdamer Finanziers oder Stahlindustrielle im Saarland.

Beckert hat eine Globalgeschichte des Kapitalismus für das 21. Jahrhundert vorgelegt, sein Interesse gilt neben dem enormen Wachstum, das durch die kapitalistische Revolution ermöglicht wurde, auch den Schattenseiten unseres Wirtschaftssystems: Imperialismus und Kolonialismus, globale Ungleichheit und Ausbeutung, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Zeitalter der Klimakrise. Doch bilanziert Sven Beckert nicht lediglich die Soll- und Habenrechnungen des Kapitalismus, sondern entwirft ein Gesamtbild seiner Geschichte, das uns auch erlaubt, unsere Zukunft neu zu denken.

Vita

Sven Beckert ist Professor für Amerikanische Geschichte an der Harvard University. Er hat Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität Hamburg und der Columbia University in New York studiert. Im Jahr 2011 war er Guggenheim Fellow, 2022 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Sein Buch King Cotton (2014) wurde mit dem Bancroft-Preis und dem Philip Taft Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist für den Pulitzer-Preis. «Ein Meisterstück der neuen Globalgeschichte», urteilte die Süddeutsche Zeitung.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «Capitalism. A Global History» bei Penguin Press, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2025

«Capitalism. A Global History» Copyright © 2025 by Sven Beckert

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Karin Schneider, Christof Blome

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Hapag-Lloyd AG, Hamburg; Bernd Steiner/akg-images

ISBN 978-3-644-00033-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1 Inseln des Kapitals

Kapitel 2 Kapitalisten ohne Kapitalismus

Teil I Den Kapitalismus aufbauen

Kapitel 3 Die große Vernetzung, 1450–1650

Kapitel 4 Die Umgestaltung der Landwirtschaft, 1550–1750

Kapitel 5 Die Intensivierung der industriellen Produktion, 1600–1750

Kapitel 6 Der perfekte Sturm

Teil II Der große Sprung

Kapitel 7 Der Aufstieg des Industriekapitalismus, 1760–1850

Kapitel 8 Die Eroberung des Hinterlandes, 1780–1860

Kapitel 9 Eine kapitalistische Zivilisation, 1830–1880

Kapitel 10 Aufstände: die Krise des Kapitalismus alter Ordnung, 1830–1870

Teil III Globale Neuordnung

Kapitel 11 Die Neuordnung des Kapitals, 1870–1914

Kapitel 12 Neuordnung der Arbeit, 1870–1920

Kapitel 13 Einhegungen

Kapitel 14 Zeit der Monster: der Industriekapitalismus, 1918–1945

Kapitel 15 Rebellen

Kapitel 16 Die Zähmung des Industriekapitalismus, 1945–1973

Teil IV Die Zukunft des Kapitalismus?

Kapitel 17 Der Ritt auf dem Tiger: ein neoliberales Zeitalter, 1973–2008

Epilog Die Möglichkeiten einer Insel und die Zukunft des Kapitalismus

Danksagungen

Abkürzungen

Bildnachweis

Namensregister

Ortsregister

Für Noah und Pascal

Vorwort

Die kapitalistische Revolution und ihre Mühen: David Teniers der Jüngere (1610–1690), Der reiche Mann auf dem Weg in die Hölle.

Wir leben in einer Welt, die vom Kapitalismus geschaffen wurde. Die unaufhörliche Anhäufung von Kapital formt die Städte, in denen wir leben, bestimmt unsere Arbeitsweise, ermöglicht einer außerordentlich großen Zahl von Menschen ein zuvor nie dagewesenes Konsumniveau, beeinflusst unsere Politik und gestaltet die Landschaften um uns herum. Es ist unmöglich, die Erde zu betrachten und die weltgeschichtliche Bedeutung des Kapitalismus zu übersehen.

Dies gilt sowohl für die größten Strukturen, in denen wir leben, als auch für die intimsten Bereiche unserer Existenz, sowohl für die Geologie der Welt als auch für unser Selbstverständnis. Zunächst einmal erwerben wir fast alle Güter und Dienstleistungen, die wir konsumieren, über Märkte, was für den größten Teil der Menschheitsgeschichte unvorstellbar gewesen wäre. Auch unsere Arbeitskraft verkaufen wir auf Märkten – was in der Vergangenheit ebenso undenkbar erschienen wäre. Einige von uns handeln vielleicht mit Aktien, entweder als Vollzeitbeschäftigung oder zur Absicherung unseres Ruhestandes; die meisten Menschen hätten diese Art von Handel früher für ein Sakrileg gehalten oder vielleicht sogar eher als Zauberei betrachtet denn als legitime Möglichkeit, Reichtum zu erlangen. Neue Technologien und Wirtschaftswachstum sind alltägliche Gewissheiten, und wir sind davon überzeugt, dass unsere Kinder in einer Welt leben werden, die sich von der, in die wir selbst hineingeboren wurden, stark unterscheiden wird – ein Novum. Unser Konsum verbindet uns mit Menschen in den entlegensten Winkeln der Welt, was ebenfalls für die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte unvorstellbar war. Das T-Shirt, das Sie vielleicht gerade tragen, könnte in Kambodscha genäht, der dampfende Kaffee vor Ihnen mit in Brasilien angebauten Bohnen zubereitet worden sein, der Fernseher, den Sie ausgeschaltet haben, um dieses Buch zu lesen, wurde möglicherweise in Südkorea zusammengebaut, und das iPhone, das verführerisch neben Ihnen liegt, mag in Kalifornien entworfen und von Frauen in riesigen Fabriken in der südchinesischen Stadt Shenzhen zusammengebaut worden sein. Der Handel ist viel älter als der Kapitalismus – nämlich uralt –, neu daran ist jedoch die Intensität der globalen Verknüpfungen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat. Eine Weltwirtschaft.

Die kapitalistische Revolution hat auch Ihre Denkweise beeinflusst: Wenn Sie Nachrichten über Wirtschaftsangelegenheiten hören oder lesen, wird Ihnen darin «die Wirtschaft» als aktives Subjekt präsentiert, das etwas getan hat oder von uns eine bestimmte Mitwirkung verlangt. Seit Jahrtausenden haben Menschen bereits Überlegungen zu Fragen der Produktion, des Konsums und des Handels angestellt, so wie wir es heute tun. Sie hätten es jedoch seltsam gefunden, einer von Menschen geschaffenen Gottheit namens «die Wirtschaft» Opfer darzubringen. Ähnlich fremd war es den Menschen der Vergangenheit, darüber zu sprechen, auf was jemand seine Zeit «verwendet», was jemand «wert» ist oder wie man seine freien Stunden «investiert», so wie wir es heute tun. Oder Sie könnten in einem Universitätsseminar leidenschaftlich über den Kapitalismus streiten: Sie könnten Lobreden auf die enorme Steigerung der menschlichen Produktivität hören, die er ermöglicht hat, Resümees des technischen Fortschritts, den er hervorgebracht hat, und Behauptungen, dass er es so vielen von uns ermöglicht hat, ein längeres, gesünderes und erfüllteres Leben zu führen. Auf der anderen Seite könnte man Ihnen von Ausbeutung erzählen, von Umweltzerstörungen, von gesellschaftlichen Ungleichheiten und dem gravierenden Ungleichgewicht zwischen Weltgegenden, die sagenhaft reich sind, und Regionen des Globus, die erschreckend arm sind. Sie könnten den Kapitalismus als die beste aller möglichen Welten feiern oder ihn für die von ihm verursachten Schäden verantwortlich machen und sein Ende herbeisehnen.

Unabhängig von Ihren Überzeugungen werden Sie mir vermutlich zustimmen, dass man dem Kapitalismus nicht entkommen kann – weder der Debatte über ihn noch seinen Auswirkungen auf unser Leben. Ein Gelehrter hat in einem anderen Zusammenhang über «Hyperobjekte» gesprochen, im Sinne von «Entitäten mit so gewaltigen zeitlichen und räumlichen Dimensionen, dass sie traditionelle Vorstellungen davon, was ein Ding überhaupt ist, zunichtemachen».[1] Der Kapitalismus ist solch ein «Hyperobjekt». Es ist daher nicht überraschend, dass fast jeder schon einmal auf die eine oder andere Weise über den Kapitalismus nachgedacht hat oder eine dezidierte Meinung dazu hat.

Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Allgegenwart wird der Kapitalismus von vielen als selbstverständlich angesehen, nicht wenige halten ihn sogar für einen natürlichen Zustand. Er hat unsere Welt so tiefgreifend geprägt, dass es durchaus möglich ist, ihn kaum zu bemerken. Aber was «natürlich» wirkt, ist noch nicht sehr lange präsent und dazu vollständig von Menschen erschaffen. Wenn Sie in Kairo, Guangzhou oder Florenz leben, dann befinden Sie sich an einem Ort, an dem die Anfänge des Kapitalismus ziemlich weit zurückreichen, womöglich bis zu einem Jahrtausend. Aber solche Orte sind sehr selten. An fast allen anderen Orten ist die kapitalistische Revolution höchstens ein paar Jahrhunderte alt, oft sogar viel jünger. Aus globaler Sicht war der Kapitalismus noch um 1800 auf wenige Inseln in einem riesigen Meer des Wirtschaftslebens beschränkt, das nach anderen Prinzipien organisiert war: Produziert wurde für den Eigenbedarf, es gab Tributpflicht und fast kein Wirtschaftswachstum. Wenn Sie außerhalb der kapitalistischen Kerngebiete wohnen, insbesondere auf dem Land, ist die kapitalistische Revolution bei Ihnen vielleicht erst so jung wie das Jahrtausend, in dem wir gerade leben. Der Kapitalismus ist ein neues Phänomen, und die längste Zeit seiner Logik nur an wenigen Orten auf der Welt anzutreffen.

Vielleicht überraschender ist, dass die kapitalistische Revolution nicht nur in Bezug auf ihre räumliche Ausdehnung, sondern auch hinsichtlich ihrer Durchdringung vieler Bereiche unseres Lebens relativ neu ist. Selbst in den kapitalistischsten Gesellschaften der Welt haben unsere Großeltern und womöglich noch unsere Eltern einen Teil der Lebensmittel, die sie konsumiert haben, selbst angebaut. Sie haben mit ziemlicher Sicherheit selbst gekocht und vielleicht einen Teil ihrer Kleidung selbst hergestellt. Sie haben sich beim Dorftanz verliebt und nicht über eine abonnierte Dating-App. Diese Beispiele erinnern uns daran, dass die kapitalistische Revolution nicht nur neu ist, sondern auch lange Zeit recht schwach war und große Teile des Lebens, sogar des Wirtschaftslebens, unberührt ließ.

Was normal und scheinbar natürlich ist – die Welt, wie sie heute ist –, hat eine Geschichte. Wir können uns fragen, wie und warum sich eine so radikal neue Art des Wirtschaftslebens entwickelt hat. Wie sind wir von einer Welt, in der die Logik des Kapitals auf wenige Bereiche beschränkt war, zu einer Welt gekommen, in der sie fast alles bestimmt? Wie konnten wir jemals etwas, das von uns geschaffen wurde, aber auch außerhalb von uns liegt, mit solchen Superkräften ausstatten? Selbst wenn wir sie für selbstverständlich halten, bleibt diese Explosion des Kapitalismus eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte. Und wir müssen uns damit auseinandersetzen, nicht nur, um herauszufinden, wie wir dorthin gekommen sind, wo wir jetzt sind, sondern auch, um uns in der Gegenwart besser zurechtzufinden und kreativ über unsere Zukunft nachzudenken. Wie ein chinesisches Sprichwort sagt, müssen wir «die Wahrheit aus den Tatsachen lernen».[2]

Doch manchmal sind die Dinge, die uns am vertrautesten sind, am schwierigsten zu begreifen. Der Kapitalismus ist eines davon. Dieses Buch entstand zum Teil aus meiner festen Überzeugung heraus, dass wir diese fast schon geologische Kraft, die unser Leben formt, verstehen müssen. Aber es entstand auch aus einer tiefen Frustration heraus, dass so viele der Geschichten, die uns über den Kapitalismus dargeboten werden, unvollständig und manchmal schlichtweg falsch sind.

Um zu uns selbst zu finden, müssen wir eine Reise durch die tausendjährige Geschichte des Kapitalismus antreten. Dieser Weg – voller Wendungen, Kurven und Sackgassen – wird uns rund um die Welt führen und uns erkennen lassen, wie wir in unseren heutigen Zustand gelangt sind. Und vielleicht werden wir auf der Reise die Instrumente finden, mit denen wir einen Kurs für unsere Zukunft planen können. Ich habe meine berufliche Laufbahn damit verbracht, den Kapitalismus zu studieren; dieses Buch ist eine Wette darauf, dass seine gesamte Geschichte verständlich, wenngleich nicht in allen Details, zwischen zwei Buchdeckel passt.

Dieses Buch ist eine ernsthafte Erörterung eines ernsten Themas, aber ich habe versucht, es für jeden lesbar zu machen, denn egal, wo Sie leben oder was Sie tun, Sie leben im Kapitalismus. Wenn es mir gelungen ist, sollten Sie eine überraschende Vielfalt von Protagonisten finden – von jemenitischen Händlern, die im 11. Jahrhundert die Weltmeere durchquerten, bis hin zu jungen Frauen, die im Jahr 2023 in kambodschanischen Textilfabriken arbeiten. Sie sollten auf eine Vielzahl von Orten auf der ganzen Welt stoßen – einige, die Sie gut kennen und vielleicht sogar als Heimat bezeichnen, andere, die so weit entfernt sind, dass Sie möglicherweise noch nie von ihnen gehört haben –, die zeigen, dass der Kapitalismus, trotz unserer Neigung, in lokalen oder höchstens nationalen Zusammenhängen zu denken, nur global verstanden werden kann. Und Sie sollten Antworten auf eine Vielzahl von Fragen finden, die diese revolutionäre Neugestaltung des Wirtschaftslebens aufwirft. Wie der Kapitalismus selbst wird es eine schwindelerregende Reise sein.

Einleitung

Elisabeth Voigt, Der Maschinenmann, 1932.

Im Herbst 1639 fand sich Robert Keayne vor dem General Court of Massachusetts wieder, der sowohl legislative Behörde als auch oberstes Berufungsgericht der Kolonie war. Der Angeklagte war erst vor Kurzem in die neu gegründete englische Kolonie eingewandert und handelte mit Waren aus dem Mutterland. Laut den Berichten seiner Zeitgenossen war er ein treuer Puritaner, der «zur Verbreitung des Evangeliums herübergekommen war», aber in jenem schicksalhaften Jahr wurde er der «sehr bösen» und «verwerflichen Praxis» beschuldigt, seine Kunden übervorteilt und den Profit über die Bedürfnisse der Gemeinschaft gestellt zu haben. Er wurde zu einer Geldstrafe von 200 Pfund verurteilt, was dem Lohn eines qualifizierten englischen Arbeiters für 2857 Tage entsprach, und vor die Ältesten der First Church of Boston, der «Old Brick», zitiert. Nur knapp entging er der Exkommunikation. Als John Winthrop, der Gouverneur der Kolonie, sich hinsetzte, um den Fall in seinem Tagebuch festzuhalten, erinnerte er sich daran, dass Keayne «unter Tränen sein habgieriges und verdorbenes Herz eingestand und beklagte».[1] Keayne hatte der Gemeinde gebeichtet, «falsche Grundsätze» angenommen zu haben, darunter diese:

Dass ein Mann so teuer wie möglich verkaufen und so billig wie möglich kaufen könne.

Dass ein Mann, wenn er durch einen Schiffbruch o.Ä. einen Teil seiner Waren verliere, den Preis für den Rest der Fracht erhöhen könne.

Dass er in der Höhe verkaufen könne, zu der er gekauft hat, obwohl er zu viel bezahlt hat und obwohl die Ware im Preis gefallen ist.

Dass ein Mann, so wie er sich seine eigene Geschicklichkeit oder Fähigkeit zunutze machen kann, auch die Unwissenheit oder Notlage eines anderen ausnutzen könne.[2]

Keayne beschwerte sich später über die «Unfreundlichkeit», mit der er in Neuengland behandelt worden sei, und über die «tiefe und scharfe Kritik, die an mir geübt […] und mit so viel Bitterkeit und Empörung vorgetragen wurde». Sein Testament nutzte er dazu, eine 158 Seiten lange Rechtfertigung für sein Handeln zu verfassen, in der er argumentierte, dass Gott am besten gedient sei, indem man Reichtümer anhäufe, die später verschenkt werden könnten, um der Gemeinschaft zu dienen. Er bat auch die «Vollstrecker dieses meines Testaments […] das Gericht zu bewegen […] dieses Urteil zu widerrufen oder aufzuheben und die von mir gezahlte Geldstrafe zurückzuerstatten», und fügte hinzu, dass «das, was auf diese Weise zurückgegeben wird, dem Harvard College in Cambridge gespendet werden könnte».[3]

 

Die Taten, zu denen sich Keayne bekannt hatte, waren für viele seiner Zeitgenossen auf den ersten Blick verwerflich. Für unsere modernen Ohren wirken sie hingegen einleuchtend. «So teuer wie möglich verkaufen und so billig wie möglich kaufen» – die Logik, die Keaynes Geschäftsgebaren bestimmte – gilt heutzutage nahezu für das gesamte Wirtschaftsleben, das wir kennen. Es erscheint uns normal, ja geradezu natürlich. Doch solche Ideen wurden, wie Keayne schmerzlich erfahren musste, von seinem Umfeld als ein radikaler Bruch wahrgenommen. Er argumentierte, die «habgierige» Anhäufung von Reichtum diene in Wirklichkeit seiner Gemeinschaft – und nahm damit Adam Smith’ unsichtbare Hand vorweg. Aus der Sicht seiner puritanischen Zeitgenossen verstieß Keaynes hartnäckiges Streben nach Profit jedoch gegen etablierte Normen, die eine lange Tradition hatten. Es sollte noch zwei Jahrhunderte dauern, bis die neue Form des Wirtschaftslebens, die Menschen wie Keayne mit auf den Weg brachten, einen Namen erhielt – Kapitalismus. Dann vergingen noch einmal zwei Jahrhunderte, bis sich der Kapitalismus als die weltweit vorherrschende Form der Organisation des Wirtschaftslebens durchsetzte, bis schließlich ein Wirtschaftswissenschaftler den Zustand der Welt im Jahr 2019 als «alleinigen Kapitalismus» beschreiben konnte.[4]

 

Dieses Buch lädt Sie dazu ein, diese gewaltige Umwälzung zu erkunden: die Entstehung und Ausbreitung des Kapitalismus. Wie begann die kapitalistische Revolution? Wie konnte sich eine Wirtschaftsform, die mit allem Dagewesenen brach, auf der ganzen Welt und in immer mehr Lebensbereichen ausbreiten? Wie gelangten wir von einer Gesellschaft, in der Märkte in soziale Beziehungen eingebettet waren, zu einer Gesellschaft, in der soziale Beziehungen in Märkte eingebettet sind? Wie und warum hat sich der Kapitalismus im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verändert? Und wo stehen wir heute in seiner Geschichte?[5]

Dies sind große und dringende Fragen. Sie werden seit mehreren Jahrhunderten diskutiert und haben nichts von ihrer Relevanz und Vitalität verloren. Erst kürzlich, während der Finanzkrise 2007/2008, waren Diskussionen über den Kapitalismus in vielen Teilen der Welt und in unterschiedlichen politischen Milieus wieder an der Tagesordnung. In der Folge begannen sogar konservative Zeitungen, über die «Zukunft des Kapitalismus» zu debattieren, und Paul Polman, damals Geschäftsführer von Unilever, machte sich in der Zeitschrift McKinsey Quarterly Gedanken über die Perspektiven des Kapitalismus, ein Thema, das auch die Reichen und Mächtigen auf dem Weltwirtschaftsforum 2012 in Davos beschäftigte, als sie sich sorgten: «Hat der Kapitalismus eine Zukunft?»[6] Für Papst Franziskus waren die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Welt so gravierend, dass er sie zu einem wichtigen Anliegen seines Pontifikats machte. In New York, Berlin und Brüssel wurden dem Kapitalismus Museumsausstellungen gewidmet. Und selbst in den 2020er Jahren, als die Finanzkrise schon eine Weile zurücklag, ging die Debatte weiter: Im Jahr 2020 veröffentlichte der japanische Philosoph Kohei Saito die Streitschrift Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, in der er die These vertrat, dass das Wachstum – die grundlegende Dynamik des Kapitalismus – ausgedient habe. Allein in Japan verkaufte er davon eine bemerkenswerte halbe Million Exemplare. Im selben Jahr ergab eine Umfrage, dass nur jeder achte Deutsche glaubte, dass die Wirtschaftsform, unter der er lebte – der Kapitalismus –, ihm zugutekäme, während ganze 55 Prozent der Meinung waren, dass der Kapitalismus insgesamt mehr Schaden als Nutzen bringe. In den USA war der Sozialismus laut Meinungsumfragen bei jüngeren Erwachsenen genauso beliebt wie der Kapitalismus. In einigen Teilen der Welt waren die Regale in den Buchhandlungen befüllt mit Werken, die auf die eine oder andere Weise das bevorstehende Ende des Kapitalismus vorhersagten.[7] Im Frühjahr 2023, fünfzehn Jahre nach der Finanzkrise, sagte Albert Edwards vom französischen Bankengiganten Société Générale sogar folgenden Satz: «Wir stehen möglicherweise vor dem Ende des Kapitalismus.»[8]

Mit entsprechenden Höhen und Tiefen werden solche lebhaften Diskussionen über den Kapitalismus seit mehr als zwei Jahrhunderten geführt. Während nur Spezialisten über unterschiedliche Interpretationen des Feudalismus oder von Jäger- und Sammlergesellschaften streiten, ruft eine Diskussion über den Kapitalismus stets emotionale und oftmals heftige Reaktionen hervor. Unterschiedliche Interpretationen scheinbar unbedeutender Abschnitte seiner Geschichte können die Rhetorik verschärfen und das Gespräch zum Kochen bringen. Diese Leidenschaft zeugt von der Bedeutung des Kapitalismus und dem Umstand, dass zwei diametral entgegengesetzte Geschichten über ihn erzählt werden können. Die eine Geschichte konzentriert sich auf die Steigerung von Wohlstand und Produktion. Im 18. Jahrhundert erlebte die menschliche Produktivität eine Revolution, die ursächlich mit dem Aufstieg des Kapitalismus verbunden war. Der Planet beherbergt heute eine stark gewachsene Bevölkerung von etwa acht Milliarden Menschen – statt einer Milliarde im Jahr 1800 –, die länger leben und einen Lebensstandard genießen, der noch vor einem Jahrhundert unvorstellbar war. Die Menschen sind gesünder, wohlhabender und größer. Armut gibt es zwar immer noch, aber im Vordergrund stehen die Erzeugung eines so unglaublichen Reichtums binnen so kurzer Zeit sowie die Breite seiner Nutznießer.[9]

Die andere Geschichte des Kapitalismus lässt sich ebenso leicht erzählen. Sie konzentriert sich auf Ausbeutung, Gewalt und unermessliches Leid – in ihrem Zentrum stehen verzweifelte Fabrikarbeiter, misshandelte Plantagensklaven, hungernde Bauern in einst sich selbst versorgenden ländlichen Gebieten, enteignete Ureinwohner und alle Opfer von Kolonialismus, Krieg und Vertreibung. Der Vormarsch des Kapitalismus wird dann zu einer Geschichte über teuflische Fabriken, den Transport von Millionen versklavter Afrikanerinnen und Afrikaner nach Amerika, den gigantischen Diebstahl von Land und Rohstoffen während des Kolonialismus und den beispiellosen Angriff eines räuberischen Systems auf unsere natürliche Umwelt. In dieser Geschichte ist der Kapitalismus ein unersättlicher Dämon auf einem den Planeten gefährdenden Weg mit erschütternden sozialen Kosten.

Diese Geschichten machen deutlich, dass der Kapitalismus ein janusköpfiges sozioökonomisches System ist, was zur Folge hat, dass sowohl seine Verherrlichung als auch seine Verurteilung aus verschiedenen politischen Richtungen kommen. Die meisten wissen, dass die Linke ihn verurteilt und die Rechte ihn feiert, aber nur wenige wissen, dass es in seiner langen Geschichte immer wieder auch konservative Kritiker gab oder dass sowohl Karl Marx als auch die Kommunistische Partei Chinas die emanzipatorischen Chancen der wirtschaftlichen Revolution des Kapitalismus begrüßten.[10]

Dieses Buch nimmt die Hitze dieser lebhaften Diskussionen wahr, ist aber letztlich nicht daran interessiert, die Soll- und Habenspalten der gegensätzlichen Geschichten zu füllen. Stattdessen wird in ihm der Kapitalismus aus einer globalen und langfristigen Perspektive untersucht, um seinen Kern zu erfassen: ein radikaler Neuanfang und Bruch im Leben der Menschen. Ich lade Sie, die Leserinnen und Leser, dazu ein, sich dieser Untersuchung mit der Bereitschaft zu nähern, sich zu wundern, zu staunen und sich überraschen zu lassen – nicht weil der Kapitalismus «gut» oder «schlecht» ist, sondern aufgrund seiner die Welt formenden Kraft und weil es für die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft von entscheidender Bedeutung ist, ihn zu verstehen.

Um uns auf diese Reise zu begeben, sollten wir den Kapitalismus nicht mehr als etwas Natürliches betrachten, sondern als eigentümliches, wenn nicht gar bizarres Phänomen. Der Kapitalismus stellte einen grundlegenden Bruch in der Menschheitsgeschichte dar, nicht nur, weil er die Wirtschaft revolutionierte, sondern auch, weil er die menschlichen Beziehungen auf den Kopf stellte, unsere Politik, unsere Gesellschaften und Kulturen infiltrierte, die natürliche Umgebung umgestaltete und die radikale Veränderung zu einem festen Bestandteil des Wirtschaftslebens machte. Die kapitalistische Revolution ist die einzige Revolution, deren Wesenskern darin besteht, dass sie andauert, dass sie einen Zustand der permanenten Revolution erzeugt.

Der Kapitalismus wird oft für «konservativ» gehalten, aber seine Entstehung und Ausbreitung stellte die folgenreichste Revolution dar, die die Welt je gesehen hat. Die puritanischen Geistlichen in der «Old Brick» von Boston, denen die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung am Herzen lag, waren sicherlich derselben Meinung. Kein anderes Ereignis in der Geschichte hat Gesellschaften – und die Welt – so tiefgreifend beeinflusst wie die Ausbreitung des Kapitalismus. Als Produkt menschlichen Handelns hat die kapitalistische Revolution sich verselbstständigt und ist sowohl zur Dienerin als auch zur treibenden Kraft des Anthropozäns geworden. Sie war so wirkmächtig, dass einige Beobachter die Zeit, in der wir leben, als Kapitalozän bezeichnen. Zum ersten Mal zeigt eine von Menschen geschaffene Ordnung eine ähnliche Stärke wie die geologischen Kräfte, die unsere Erde geformt haben. Viele Revolutionen in der Weltgeschichte wurden begrüßt oder verurteilt und ihre Auswirkungen diskutiert. Der Kapitalismus war die einflussreichste Revolution von allen. Ähnlich bedeutend wie das Aufkommen des Kapitalismus war nur der Beginn der sesshaften Landwirtschaft während der neolithischen Wende vor vielen Jahrtausenden.[11]

*

Um den Kapitalismus zu begreifen, müssen wir in der Lage sein, ihn genau zu betrachten. Und das ist schwierig. Viele Menschen glauben, dass wir den Kapitalismus anhand unserer eigenen Erfahrungen verstehen können, was nachvollziehbar ist, wenn man bedenkt, wie stark er unser individuelles Leben strukturiert. Doch leider ist unsere eigene Erfahrung in diesem Fall ein schlechter Ratgeber. Wir sehen stets nur einen winzigen Teil des Ganzen, und uns entgeht die zeitlich und räumlich gewaltige Geschichte, in die der Kapitalismus eingebettet ist. Dieses Phänomen aus unserer eigenen Erfahrung heraus zu verstehen, ist so, als würde man auf einem beliebigen Standbild eines Films ein Detail betrachten und dann versuchen, die Handlung des Films aus dieser Einzelheit abzuleiten. Diese Strategie mag zwar zu einigen Erkenntnissen führen, auch zu brauchbaren, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie uns dabei hilft, das Ganze zu erkennen. Der Kapitalismus als globales Phänomen ist aus einer biografischen, lokalen oder nationalen Perspektive nicht greifbar.

Ein weiteres Problem ist, dass die meisten von uns in kapitalistischen Gesellschaften leben: Wir schwimmen im Kapitalismus wie die Fische im Wasser, weshalb wir ihn nicht aus der Distanz betrachten können. Wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu in einem anderen Zusammenhang feststellte, «wird eine erfolgreiche Institution vergessen».[12] Da der Kapitalismus uns ständig umgibt, entgehen uns oftmals seine Besonderheiten und seine Radikalität. Es fällt uns schwer, zu erkennen, dass der Kapitalismus nicht einfach die Art und Weise ist, wie Wirtschaft zwangsläufig funktioniert, sondern dass er über Jahrhunderte hinweg nur einen sehr kleinen Teil des gesamten Wirtschaftslebens darstellte.[13]

Um den Kapitalismus zu erfassen, müssen wir zunächst festhalten, dass es sich dabei um eine spezielle Wirtschaftsordnung mit einer einzigartigen Logik handelt. Wir werden uns gleich um eine ausführlichere Definition bemühen, aber zunächst ist es wichtig zu konstatieren, dass der Kapitalismus aus vielen Gründen etwas Besonderes ist, unter anderem, weil er darauf beruht, dass wir fast alles, was wir brauchen, auf Märkten erwerben und dabei Geld verwenden. Nahezu alles, was wir benutzen, was wir an uns nehmen und wieder von uns geben, ist zur Ware geworden, die auf Märkten gekauft und verkauft werden kann. Sogar die Arbeitskraft ist eine Ware, da fast jeder auf diesem Planeten seine Arbeitskraft anbietet und nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Menschen sie kauft. Außerdem wird ein Großteil des produzierten Reichtums sofort wieder eingesetzt, um noch mehr Reichtum zu erzeugen. Charakteristisch für den Kapitalismus sind auch die besonderen Formen sozialer Ungleichheit und die globalen Hierarchien, die er hervorbringt. Und er ist einzigartig, weil er eine enorme Steigerung der menschlichen Produktivität ausgelöst hat, was ihn zur dynamischsten Wirtschaftsordnung in der Geschichte der Menschheit macht. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein guter Gradmesser für den materiellen Wohlstand. Und diese ist in die Höhe geschossen: Schätzungen zufolge lag die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1820 weltweit bei 26 Jahren; im Jahr 2020 lag sie bei 72 Jahren, hauptsächlich aufgrund der deutlich gesunkenen Kindersterblichkeit. Diese Entwicklung ist auf nahezu unfassbare Produktivitätssteigerungen zurückzuführen: Für sein Brot musste ein französischer Arbeiter im Jahr 1830 fünfzehn Stunden pro Woche arbeiten; 1970 reichten dafür eine Stunde und zehn Minuten.[14]

Um den Kapitalismus zu erkennen, müssen wir ihn auch in einem angemessenen zeitlichen Rahmen betrachten. Aus einer rein zeitgenössischen Perspektive, in der der Kapitalismus als ein nahezu universeller und sogar natürlicher Zustand der Welt erscheint, wenn auch vielleicht mit verwirrenden Unterschieden zwischen vielen Ländern, lässt sich nur wenig verstehen. Ebenso begrenzt ist der erdgeschichtliche Blickwinkel, der die Geschichte des Kapitalismus wie eine plötzlich auftretende Supernova wirken lässt, die zu einem explosionsartigen Wachstum der Produktivität, der Ressourcennutzung und der menschlichen Bevölkerung führt, die aber letztlich bei diesem Urknall unsichtbar bleibt. Sinnvoller erscheint es, bis zu den Anfängen der modernen Industrie vor etwa 250 Jahren zurückzugehen, allerdings würde ein solcher Ansatz den Kapitalismus mit der Industrie gleichsetzen, eine problematische Entscheidung, die ausblendet, wie Kaufleute die kapitalistische Revolution in Gang gesetzt haben. Stattdessen habe ich einen mittleren Zeitrahmen gewählt und mich auf das vergangene Jahrtausend konzentriert, das Jahrtausend des Kapitalismus. In diesem Zeitraum wird seine Geschichte als die allmähliche Entfaltung einer neuen Wirtschaftslogik erkennbar, begleitet von ständigen Auseinandersetzungen. Wir können seine historische Entwicklung verfolgen: wie Inseln des Kapitals in Städten auf der ganzen Welt entstanden, sich verbanden, ihre Gestalt veränderten, sich ins Hinterland ausdehnten – und schließlich einer kapitalistischen Weltordnung den Weg bereiteten.

Es gibt noch ein weiteres Hindernis, das dem Erfassen des Kapitalismus im Weg steht: die Politik unserer Zeit. Seit mehr als einem Jahrhundert haben sich einige der gravierendsten ideologischen Auseinandersetzungen der Welt um den Kapitalismus gedreht. Diese Debatte war eines der zentralen Schlachtfelder des Kalten Krieges. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts trieben die unerbittliche Verurteilung und die unkritische Verherrlichung des Kapitalismus den Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA an. Dieser Streit war so heftig, dass der sowjetische Historiker Michail Pokrowski, als er 1931 ein Buch veröffentlichte, in dem er argumentierte, dass das Handelskapital – die Kaufleute – für die Entwicklung Russlands von zentraler Bedeutung gewesen sei (eine scheinbar harmlose Aussage), von den Stalinisten gezwungen wurde, seine blasphemische Auffassung zu «widerrufen». Auf der anderen Seite der großen Kluft verfasste Antonio Gramsci, einer der kreativsten Denker des letzten Jahrhunderts zum Thema Kapitalismus, seine Gefängnishefte, während er von Mussolini inhaftiert war. Er verwendete eine verschlüsselte Sprache, um die Zensur seiner Bewacher zu überlisten. Bücher wurden aufgrund ihrer Aussagen über den Kapitalismus verboten und sogar verbrannt; Autoren wurden ins Exil geschickt, in Lagern eingesperrt, verschwanden spurlos und wurden hingerichtet. Diese überhitzte Atmosphäre hat unser Verständnis des Kapitalismus stark beeinträchtigt, nicht nur weil dadurch bestimmte Ansichten unterdrückt wurden, sondern auch, weil sie zu einer Lähmung und Unfähigkeit führte, ihn wirklich zu analysieren. Auf der einen Seite wurden Marx’ Schriften zu heiligen Texten, mithilfe derer die Tagespolitik interpretiert wurde; auf der anderen Seite lasen Gelehrte die Geschichte des Kapitalismus durch die ebenso sakralisierende Linse der Schriften von Adam Smith. Dieses Buch ist bestrebt, beide Extreme zu vermeiden.[15]

Schließlich gibt es noch eine letzte Hürde, die dem Verständnis des Kapitalismus im Weg steht und die davon abhängt, wo Sie dieses Buch lesen. Das Leben unter Reichen und Mächtigen hat viele Vorteile, aber auch einen entscheidenden Nachteil: Es verzerrt Ihre Sicht auf das Leben auf der Erde und dessen Geschichte. Wenn Sie dieses Buch in Europa oder Nordamerika lesen, werden Sie von vielen der Orte und Menschen, von denen Sie auf den folgenden Seiten erfahren, vielleicht überrascht sein: Kaufleute im Hafen von Aden, Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen von Barbados, nationalistische Industrielle im Indien des 20. Jahrhunderts. Auch wenn Sie dies zunächst verwirrend finden mögen, werden Ihnen beim Lesen die Probleme, die durch die eurozentrische Darstellung der Geschichte des Kapitalismus verursacht wurden, nur allzu deutlich werden.

Deshalb nimmt dieses Buch eine dezidiert historische und globale Perspektive ein. In erster Linie ist das Werk bestrebt, den Kapitalismus als Gegenstand für historische Untersuchungen zurückzugewinnen, wobei statische, essenzialisierende, übermäßig abstrakte oder ausschließlich gegenwartsbezogene Ansätze vermieden werden sollen. Es führt uns durch ein Jahrtausend des Wandels und zeigt uns mittelalterliche Kaufmannshäuser, Langstrecken-Daus auf dem Indischen Ozean, tropische Plantagen, Webstuben, Aktienbörsen, Arbeiterwohnungen, Sklavenhütten, Büros und Haushalte kolonialer Bürokraten, Produktionshallen von Industriegiganten des 20. Jahrhunderts, Gewerkschaftstreffen und Versammlungen antikolonialer Kapitaleigner. Ich zeichne nach, wie sich Handel, Landwirtschaft und Produktion veränderten, wie die Produktion intensiviert wurde, wie eine neue Staatsform entstand und sich an der Steuerung des Wirtschaftslebens beteiligte, wie die Schwächsten erfolgreich den Kapitalismus reformierten, wie sich Hierarchien herausbildeten und veränderten, wie sich politische Regime wandelten und wie sich verschiedene Formen der Arbeit entfalteten. Diese Geschichte wird zeigen, dass des Kapitalismus innere Logik das letztendliche Ergebnis mehr als nur ganz ungefähr bestimmt. Ein derartiges Verständnis seiner Vergangenheit eröffnet neue Wege für seine Zukunft und verleiht unserem politischen und wirtschaftlichen Horizont wieder eine Ahnung der uns offenstehenden Möglichkeiten.[16]

Ebenso wichtig ist es, dass ich den Kapitalismus als die globale Wirtschaftsordnung analysiere, die seinem Wesen entspricht und die er schon immer war. Unser Verständnis der Geschichte des Kapitalismus ist in weiten Teilen unvollständig, weil wir Orte isoliert voneinander untersucht haben, um die dort stattgefundene oder eben fehlende Entwicklung anhand ihrer Ressourcen, Politik oder Kultur zu erklären. Doch wie Jawaharlal Nehru bereits 1961 erkannte, ist «die alte Idee, die Geschichte eines einzelnen Landes zu schreiben, zunehmend unzeitgemäß geworden. […] Es ist heute völlig unmöglich, […] Geschichte […] im Hinblick auf eine Nation, ein Land oder ein Gebiet zu betrachten; man muss unweigerlich die Welt als Ganzes ins Auge fassen.»[17] Dem kann ich nur zustimmen. Dieses Buch fasst den Kapitalismus vor allem als eine globale Entwicklung auf, deren lokale Erscheinungsformen ebenfalls nur global verstanden werden können. Die wirtschaftliche Dynamik eines bestimmten Ortes wird unweigerlich durch seine Verbindungen zur Außenwelt bestimmt. Es gibt keinen «französischen Kapitalismus» und keinen «amerikanischen Kapitalismus», sondern es gibt Kapitalismus in Frankreich und in Amerika, der jeweils umkämpfte und komplizierte Beziehungen zum Kapitalismus in anderen Ländern unterhält. Ich pflichte dem brasilianischen Historiker Caio Prado Júnior bei, der bereits 1945 darauf hinwies, dass «es eigentlich keine Wirtschaftsgeschichte dieses oder jenes Landes mehr gibt, sondern nur noch die der gesamten Menschheit».[18]

Da die kapitalistische Revolution an jedem einzelnen Ort immer mit globalen Verbindungen einherging, war das langjährige Bestreben, einen bestimmten Ort als Ursprung des Kapitalismus zu benennen, zum Scheitern verurteilt. Wie dieses Buch zeigen wird, entstand der Kapitalismus nicht an einem einzigen Ort, sondern durch die Verbindungen zwischen verschiedenen Orten. Während Orte und Staaten für seine Geschichte große Bedeutung hatten, war das Kapital zu keinem Zeitpunkt gänzlich auf einen Ort beschränkt oder von staatlichen Grenzen umschlossen. Die treibende Kraft des Kapitalismus war seine Fähigkeit, entfernte Orte miteinander zu verbinden und aus einer vernetzten Vielfalt, die Kontinente und Ozeane umspannte, eine beispiellose Macht zu schöpfen. Ich nehme den Globus in den Blick, weil er der Raum ist, in dem der Kapitalismus entstanden ist und sich entwickelt hat. Wie ich nachweisen werde, ist er die Bedingung seiner Möglichkeit. Im Unterschied zu früheren Formen der Organisation des Wirtschaftslebens, die lokal oder bestenfalls regional waren, war der Kapitalismus immer und von Beginn an eine Weltwirtschaft.

Dies muss ausdrücklich gesagt werden, weil die Erforschung der Geschichte des Kapitalismus leider auch im 21. Jahrhundert noch immer so eurozentrisch ausgerichtet ist wie kaum ein anderer Bereich der Wissenschaft, obwohl eine auch nur oberflächliche Kenntnis des Zustands der Welt jedem die Beschränktheit dieser Perspektive vor Augen führen sollte. Die Art und Weise, wie die Geschichte des Kapitalismus geschrieben wird, folgt allzu oft nahezu passgenau und zweifellos recht bequem der weltweiten Verteilung der Wirtschaftskraft bis in die jüngste Zeit. Diese Art von Narrativ marginalisiert die Mehrheit der Menschheit und dient als ultimative «Geschichte der Sieger», eine Geschichte, in der große Teile der Welt als «Fehlschläge» dargestellt werden, deren Versäumnisse die Errungenschaften Europas noch besser zur Geltung kommen lassen. Tatsächlich stellen sich viele Geschichtsschreibungen des Kapitalismus die Aufgabe, entweder dieses «Versagen» oder den europäischen Erfolg zu erklären, häufig durch kulturelle Bezugnahmen, die bis in die Antike zurückreichen. Das westliche Beispiel wird oft naturalisiert: Der Kapitalismus funktioniert, und der Rest der Welt muss angesichts dieser Tatsache unter verschiedenen Arten von Defiziten leiden. Die vielen Spielarten des Eurozentrismus sind erstaunlich. Einige konzentrieren sich auf Ideen, andere auf Kulturen, Geografien, Innovationen oder Institutionen. Unabhängig von ihrem Schwerpunkt enden sie immer am selben Punkt: Die Europäer waren (und sind) grundsätzlich anders als alle anderen. Einige dieser Darstellungen sind aggressiv formuliert und stellen nicht westliche Menschen als minderwertig dar, die aus kulturellen, religiösen oder sogar biologischen Gründen nicht in der Lage gewesen wären, mit ihren europäischen Zeitgenossen zu konkurrieren.[19]

Solche eurozentrischen Scheuklappen, die zu einer verengten Erzählung der Geschichte des Kapitalismus führen, sind nicht sehr überraschend, wenn man bedenkt, dass die Fächer, die sich mit dem Wirtschaftsleben befassen, nämlich die Sozialwissenschaften, im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind, als ein Großteil der Welt unter Kolonialherrschaft stand. Dieses Buch greift diese Debatten jedoch in einem neuen historischen Schlüsselmoment auf, an dem es viel weniger sicher ist, dass der Nordatlantik weiterhin die herausragende materielle und politische Position innehaben wird, die er in den letzten zwei Jahrhunderten genossen hat. Die Wege Chinas, Japans, Koreas, Brasiliens, Indiens und Nigerias zum Kapitalismus verdienen heute viel mehr Aufmerksamkeit, als sie in den letzten zweihundert Jahren eurozentrischer Diskurse erhielten.[20]

Europa und seine Abkömmlinge, wie die USA, waren zweifellos wichtige Zentren der Entfaltung des Kapitalismus, der sich nicht überall gleichermaßen entwickelt hat. Dieses Buch möchte diese Unterschiede erklären, auch wenn es die Globalität des Kapitalismus betont. Ein wichtiger Aspekt konzentriert sich darauf, dass der scheinbare Sonderweg Europas weniger intrinsische Gründe hatte als vielmehr durch seine besonderen Verbindungen zu anderen Teilen der Welt bedingt war, sodass Akteure in anderen Weltregionen die europäischen Entwicklungen beeinflussten. Sogenannte Erfolge in einigen Gegenden der Welt waren eng mit sogenannten Misserfolgen in anderen Gegenden verbunden. Das Buch wird zeigen, dass der moderne Kapitalismus, selbst in Momenten größter Hierarchie und Ungleichheit, immer eine globale Koproduktion war und nur als solche verstanden werden kann. Der Kapitalismus ist, wie wir sehen werden, eine Gesamtheit, deren Ursprünge und anhaltende Dynamik auf der globalen Integration von Handel, Produktion und Konsum basieren.[21]

Dieser weltumspannende und langfristige Blick lässt uns viele Dinge erkennen, die sonst unsichtbar bleiben könnten, beispielsweise die Entwicklung des ländlichen Raums. Die Erörterung des Kapitalismus wurde bis in die Gegenwart von der Fokussierung auf Städte und Industrie dominiert, aber dieses Buch wird die entscheidende Bedeutung ländlicher Gebiete als Quellen von Arbeitskräften sowie Rohstoffen und als Märkte darstellen und Bauern, Pächter und Sklaven neben Handwerkern, Fabrikarbeitern und Industriearbeitern positionieren. Darüber hinaus ermöglicht uns die Aufmerksamkeit für den ländlichen Raum, die ökologischen Dimensionen der kapitalistischen Entwicklung wahrzunehmen. Die unablässige Ausbeutung landwirtschaftlicher und mineralischer Rohstoffe trieb die kapitalistische Revolution voran und schöpfte aus immer neuen Reservoirs natürlicher Ressourcen, die verbraucht, aber nicht bepreist wurden. Auf diesen Seiten werden wir einigen von ihnen begegnen – darunter Zucker, Indigo, Kaffee und Baumwolle –, um zu untersuchen, wie der Kapitalismus eine räuberische Beziehung zur nicht menschlichen Natur entwickelte. Die Auswirkungen seines Raubbaus an den Gaben der Natur sind so dramatisch, dass Wissenschaftler glauben, dies könne das Überleben unserer Spezies bedrohen.[22]

Dieses Buch rückt auch den sogenannten Handelskapitalismus stärker in den Vordergrund, die von Kaufleuten vorangetriebene politische Ökonomie, die die Geschichte des Kapitalismus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beherrschte. Im Gegensatz zu Geschichtsdarstellungen, die Händler von Produktion und Kapitalismus trennen, zeigt das vorliegende Werk, dass die kategorische Unterscheidung zwischen Zirkulation und Produktion nie vollständig aufrechtzuerhalten war, da das Handelskapital von Anfang an in die Sphäre der Produktion eintrat und Kaufleute wichtige Protagonisten der kapitalistischen Revolution waren.[23]

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Den Kapitalismus sichtbar zu machen, bedeutet, ihn global und historisch verständlich zu machen. Ich werde darlegen, wie der Kapitalismus entstand, wie er sich räumlich und gesellschaftlich ausbreitete und wie er dabei seine Form veränderte. Es gab nichts Vorherbestimmtes an diesem Verlauf; sein Aufkommen und seine Entwicklung waren immer abhängig von ökologischen, sozialen, politischen und technischen Faktoren. Die politischen Strukturen, in die der Kapitalismus eingebettet war, die verschiedenen Arten der Mobilisierung von Arbeitskräften, die er erforderte, und die großen Unterschiede der territorialen Konfigurationen, in denen er existierte – von Stadtstaaten bis zu Kolonialreichen –, stellen drei wichtige Elemente dar, um nur einige zu nennen. Sie wurden immer wieder neu kombiniert und kamen mit einer Vielzahl von Akteuren in Berührung, die sie zu bestimmten Zeitpunkten und an bestimmten Orten bewusst oder unbewusst beeinflussten. Das Buch wird all diese Zusammenhänge untersuchen und erklären.

Ich werde zeigen, dass der Kapitalismus eine globale Ordnung ist, die sich jedoch nicht durch eine «reibungslose» Zirkulation auszeichnet. Lokale, regionale und nationale Kontexte sowie soziale Bewegungen schufen die fragmentierten und hierarchischen Räume, die die kapitalistische Revolution strukturierten, und sorgten so für eine fantastisch anmutende Vielfalt örtlich beschränkter, aber stets miteinander verbundener Ergebnisse: Auf den folgenden Seiten werden wir zum Beispiel sehen, dass zwar einerseits die Rechte an Privateigentum in Europa gestärkt wurden, andererseits aber die europäische Expansion in die Welt mit massiven Enteignungen einherging. Während versklavte Arbeiter auf Baumwollplantagen in den USA schufteten, spannen und webten Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter diese Baumwolle in den Textilfabriken Europas. In einigen Regionen des Globus wurden politische und soziale Rechte erweitert, während in weiten Teilen der kolonialen Welt kategorische Hierarchien – zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, Freien und Versklavten, Weißen und Schwarzen – das Leben strukturierten. [24]

Wie wir sehen werden, war die territoriale Organisation des Kapitalismus ebenso dynamisch und variabel: Sie reichte von einer globalen Wirtschaft, die von riesigen Kolonialreichen bestimmt wurde, bis hin zu Stadtstaaten. Es gab Momente, in denen Warenketten in nationalen Räumen eingehegt wurden, und andere, in denen der globale Handel im Vordergrund stand. Großflächige Territorialstaaten wie die USA integrierten Arbeitskräfte, Rohstoffe und Märkte in ihre Nationalgebiete, während kleine Stadtstaaten wie Singapur und Hongkong zu wichtigen Knotenpunkten des globalen Kapitalismus wurden. Wir werden auf eine Vielzahl politischer Herrschaftsformen stoßen: Während Großbritannien im 20. Jahrhundert prinzipiell liberale politische Strukturen prägten, waren es in anderen Ländern autoritäre oder sogar faschistische Regime, die mit Kapitaleignern kooperierten. Im Widerspruch zu einigen Strömungen der Modernisierungstheorie, die davon ausgehen, dass es eine direkte Verbindung zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie gibt, zeigt dieses Buch, dass der Kapitalismus in eine Vielzahl politischer Rahmenbedingungen eingebettet war, darunter auch eine Reihe illiberaler Varianten.[25]

Die Mannigfaltigkeit an Umständen bezüglich der Ausgestaltung von Kapital, Arbeit, Territorium und politischen Systemen, die in verschiedenen Regionen und Zeiten gegeben waren und auf die wir in diesem Buch stoßen werden, ergab sich zum Teil daraus, dass die kapitalistische Revolution auf ältere soziale und kulturelle Systeme sowie Machtverteilungen stieß und sich mit diesen arrangierte. Dazu gehörten geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen sowie althergebrachte Ungleichheiten, die durch Tributregime geschaffen worden waren. Folglich ist diese erstaunliche Vielgestaltigkeit nicht nur ein schillernder Aspekt der Geschichte des Kapitalismus, sondern auch einer der Gründe seiner Dynamik – der Kapitalismus lebt nicht von Homogenität und Beständigkeit durch Zeit und Raum, sondern von Veränderungen und Unterschieden. Zu Recht nannte der Historiker Kenneth Lipartito den Kapitalismus «eine vielköpfige Hydra».[26] Im Unterschied zu vielen seiner lautstärksten Verteidiger und Kritiker ist der Kapitalismus undogmatisch. Seine große Diversität zu jedem beliebigen Zeitpunkt lässt sich mit einer Formulierung des deutschen Philosophen Ernst Bloch als «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» bezeichnen und betrifft die Prägung des Kapitalismus zu jedem beliebigen Zeitpunkt durch eine Vielzahl historischer Zeiten. Doch wie dieses Buch zeigen wird, blieb der Kapitalismus trotz dieser Differenzen ein Ganzes; es gab keine «Kapitalismen» im Plural, sondern nur sich verändernde und variierende Gestalten einer einzigen gestaffelten und hierarchischen Struktur.[27]

Während sich der Kapitalismus weltweit ausbreitete, wurzelten seine Strukturen in der Verteilung von Macht an ganz bestimmten Orten. Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte des Kapitalismus daher nicht nur aus einer weltumspannenden Perspektive, sondern auch aus einer lokalen Warte. Die Familienbeziehungen in den ländlichen Gebieten Englands tragen bei zur Erklärung der Mobilisierung von Arbeitskräften in den frühen Fabriken, die Sozialstruktur der indischen Landwirtschaft stand im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Plantagensklaverei in Amerika, und die Geografie der Insel La Réunion hilft beim Verständnis der Besonderheiten der Arbeitsregime im französischen Kolonialreich nach der Abschaffung der Sklaverei.

Diese weitreichende Perspektive zeigt, dass es beim Kapitalismus nicht nur um die Ausarbeitung ahistorischer ökonomischer Gesetze geht, die abstrakt, sogar mathematisch analysiert werden können. Der Kapitalismus ist stattdessen das Ergebnis einer Vielzahl politischer Entscheidungen und sozialer Konflikte, die auf unzählige Arten von der Gesellschaft und dem Staat beeinflusst werden. Da der Kapitalismus gleichermaßen eine ökologische, kulturelle, soziale und politische Ordnung ist wie eine wirtschaftliche, kann er nur durch eine Analyse verstanden werden, die die Politik, die Natur, die Verteilung der gesellschaftlichen Macht sowie die verschiedenen Kulturen und Institutionen berücksichtigt.[28]

Dieses Buch hebt diese Faktoren hervor. Ich zeige, dass es falsch ist, Kapitalismus als eine ausschließlich marktbasierte Gesellschaft zu betrachten. Zum einen gab es Märkte auch in nicht kapitalistischen Gesellschaften. Zum anderen sind nicht marktwirtschaftliche Kräfte integraler Bestandteil des Kapitalismus. Den Kapitalismus in erster Linie als Marktgesellschaft zu verstehen wäre vergleichbar damit, den Feudalismus als göttliche Ordnung zu sehen – eine Vorstellung, von deren Richtigkeit die Feudalherren und Kleriker der damaligen Zeit überzeugt waren, mit der sich aber heutzutage nur wenige Historiker zufriedengeben würden. So wie das Feudalsystem zum Teil dadurch aufrechterhalten wurde, dass es seinen Protagonisten gelang, viele Menschen davon zu überzeugen, dass es gottgegeben war, so ist auch die Naturalisierung des Marktes nicht zufällig mit dem Kapitalismus verbunden, sondern eine Voraussetzung für seine Existenz. Doch das erklärt noch nicht alles.

Indem das Buch zeigt, dass das Wirtschaftsleben im Kapitalismus tief verwurzelt ist in nicht marktwirtschaftlichen Strukturen, reiht es sich in eine breitere Tradition der politischen Ökonomie ein, die von Karl Polanyi bis Melinda Cooper reicht, von Joseph Schumpeter bis Nancy Fraser. Die «Requisiten aus außerkapitalistischen Materialien», wie Schumpeter es ausdrückte – darunter Familienverhältnisse, persönliche Überzeugungen, die Verteilung sozialer und politischer Macht, die Natur sowie kategorische, durch Sexismus und Rassismus konstruierte Hierarchien –, werden dabei eine zentrale Rolle spielen.[29]

Keine nicht-ökonomische Institution war wichtiger als der Staat, dieses Ensemble von Institutionen, die auf verschiedenste Weise regieren, besteuern, Kriege führen, die Gesellschaft reglementieren und Konflikte schlichten. Da der Staat Vorschriften und Gesetze festlegte und durchsetzte sowie Ressourcen zuteilte, die zur Schaffung neuartiger politischer Ökonomien beitrugen, von denen er auch selbst geprägt wurde, ist er ein grundlegender Bestandteil meiner Analyse. In diesem Buch wird argumentiert, dass der Kapitalismus eine stark durch den Staat regulierte Form des Wirtschaftslebens ist. Obwohl sich dieser Staat im Laufe der Zeit veränderte, unterschiedliche Institutionen entwickelte, in Umfang, Reichweite und territorialer Ausdehnung wuchs und mehr oder weniger mächtige Positionen innerhalb eines internationalen Staatensystems einnahm, blieb er immer ein wesentlicher Faktor der kapitalistischen Revolution. Es ist unmöglich, den Kapitalismus nur als eine Wirtschaftsordnung zu betrachten – er war schon immer auch eine politische Ökonomie.

Der Kapitalismus ist zweifellos eine mächtige Struktur, die die Interaktion der Menschen mit der Welt begünstigt, aber auch eingeschränkt hat. Wie alles, was eine Geschichte hat, wurde auch der Kapitalismus von Menschen geschaffen. Das Problem vieler Darstellungen der Geschichte des Kapitalismus besteht darin, dass sie mit dem Kapitalismus und der Wirtschaftbeginnen, so als ob diese eigenständige Akteure wären, wodurch die menschliche Handlungsmacht und die Ungewissheit der Geschichte in den Hintergrund gedrängt werden, was unser Verständnis der Welt radikal verarmt. Im Unterschied dazu stellt dieses Buch die Akteure in den Mittelpunkt. Es nutzt die Werkzeuge der Sozialgeschichte und legt den Fokus auf eine Vielzahl von Menschen, die oftmals in Konflikt miteinander standen, um den globalen Kapitalismus als einen Zustand permanenter Auseinandersetzung zu verstehen. Einige dieser Akteure verfügten über Kapital. Ob man sie nun Kapitalisten, Geschäftsleute, Kaufleute, Industrielle oder Unternehmer nennt, sie alle haben – gemeinsam mit ihren Familien, die oftmals die innerfamiliären und sozialen Voraussetzungen für die Gewinnerzielung schufen – die kapitalistische Revolution maßgeblich beeinflusst: der Kaufmann Madmun ben Hasan ben Bundar aus Aden, der Händler Mohammad Chelebi aus Surat, der Augsburger Kaufmann Jakob Fugger, die niederländische Salzhändlerin Maria Jacoba Daemen, der chinesische Kaufmann Wanzhi (王), der Plantagenbesitzer James Drax aus Barbados, der Händler Johann Jakob Bethmann aus Bordeaux, der Baumwollfabrikant Kirkman Finlay aus Glasgow, der Stahlindustrielle Hermann Röchling aus dem Saarland, der Automobilinnovator Giovanni Agnelli aus Turin, der indische Serienunternehmer – und geschickte Politiker – Ardeshir Godrej und der chinesische Internetunternehmer Jack Ma. In sehr unterschiedlichen Welten suchten sie alle nach den profitabelsten Wegen, ihr Kapital zu investieren, und fanden ihre Nischen in spezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Konfigurationen.[30]

Aber eine Geschichte des Kapitalismus erfordert viel mehr als eine Geschichte des Kapitals und der Kapitalisten. Andere Akteure, sowohl auf der Ebene der Produktion und des Handels als auch auf der Ebene der lokalen, nationalen und globalen politischen Ökonomien, beeinflussten die Dynamik des Kapitalismus wesentlich und müssen in den Vordergrund gerückt werden. Indigo anbauende Bauern wie Digambar Biswas, versklavte Männer und Frauen auf Zuckerrohrplantagen wie Jumpeter und Carlota Lucumí, Lohnarbeiterinnen in Baumwollspinnereien wie Elizabeth Brown und Eisenbahner wie Souleye N’Dour sowie Frauen, die dynastische Vermögen zusammenhielten, wie Mary Woodbridge Tiffany, spielen in diesem Buch wichtige Rollen, da ihre individuellen und kollektiven Handlungen dazu beitrugen, die Entwicklung des Kapitalismus zu lenken. Die Quellen der sozialen Macht dieser Akteurinnen und Akteure unterschieden sich deutlich von denen der Kapitaleigner. Dennoch beeinflussten sie die kapitalistische Revolution und lenkten sie in oftmals überraschende Richtungen.

Außerdem treten in diesem Buch auch Staatsoberhäupter, Politiker und Politikerinnen und Intellektuelle auf die Bühne – von Kuroda Kiyotaka bis Margaret Thatcher, von Rosa Luxemburg bis Friedrich von Hayek –, entsprechend der These, dass der Kapitalismus eine staatszentrierte Wirtschaftsordnung ist, die in erster Linie als politische Ökonomie verstanden werden muss.

Nicht zuletzt ermöglicht diese Herangehensweise den Leserinnen und Lesern, die Entwicklung des Kapitalismus als das zu sehen, was sie war: ein schwieriges, oft unwahrscheinliches Unterfangen, das auf enormen Widerstand sowohl der Eliten als auch der einfachen Bevölkerung stieß. Aufgrund dieser langwierigen konfliktreichen Entwicklung war die kapitalistische Revolution in hohem Maß mit Zwang und Gewalt verbunden. Obwohl die Geschichte des Kapitalismus oft als eine Geschichte von Verträgen, Privateigentum und Lohnarbeit erzählt wird, sogar manchmal zur Verwirklichung menschlicher Freiheit stilisiert wird, gibt es eine andere, ebenso wichtige Geschichte über umfangreiche Enteignungen, riesige Mobilisierungen von Zwangsarbeitern, Brutalität in Fabriken und auf Plantagen, heftige Zerstörungen nicht kapitalistischer Volkswirtschaften und massive Rohstoffgewinnung zum privaten Vorteil. Der Kapitalismus basierte, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, nicht nur auf Produktivitätssteigerungen, sondern auch auf enormen Aneignungen – in Wirklichkeit Enteignungen –, die von Land über Arbeit bis hin zu Leben und technischem Wissen reichten.[31]

Sobald wir verstanden haben, dass der Kapitalismus ein schwieriges, unwahrscheinliches, aber revolutionäres Projekt war, ergibt sich ein neuer Blick auf ihn. Wir sehen den Kapitalismus nun als einen Prozess, dessen Ursprünge mehrere Jahrhunderte umfassten und der in vielen Teilen der Welt entstand. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass der Kapitalismus immer noch im Aufbau begriffen ist, sich immer noch entfaltet und mit seiner Logik weiterhin neue Orte und neue Aspekte des menschlichen Lebens infiltriert. Es gibt nicht einen einzigen Übergang zum Kapitalismus, sondern viele, und diese Übergänge finden weiterhin statt. Der Kapitalismus ist nicht eine einzige Sache oder ein einziges Ereignis. Jede monokausale Erklärung, jedes Fragment – eine Institution, eine Technologie, eine Nation – wird nicht viel zu seinem Verständnis beitragen. Wie der britische Historiker Herbert Butterfield so treffend schreibt, ist es «die Gesamtheit der Vergangenheit», die die Gegenwart hervorbringt.[32] Die Wahl eines historischen, globalen und multikausalen Ansatzes hilft uns, etwas zu begreifen, das in mancherlei Hinsicht rätselhaft ist – die Langlebigkeit des Kapitalismus. Und sie lässt uns seine große Stärke erkennen: Flexibilität im globalen Maßstab.[33]

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Bevor wir uns nun auf die Reise begeben, sollten wir klären, worüber wir sprechen, wenn wir Kapitalismus sagen. Das Wort selbst ist relativ neu. Es wurde erstmals in den 1830er Jahren verwendet, aber schon früher wurde über das Phänomen gesprochen. Basiert diese neuartige Wirtschaftsordnung, wie Adam Smith 1776 argumentierte, im Innersten auf einer fast natürlichen «Neigung zum Transportieren und Tauschen von Dingen», die vor allem das «Eigeninteresse» der Menschen befriedigt? Oder handelt es sich, wie Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete, um eine Form des Wirtschaftslebens, das es dank einer Entwicklung der «Produktivkräfte» – Werkzeuge, Materialien, wissenschaftliche Erkenntnisse und menschliche Arbeit – den Kapitalisten ermöglicht, die Massen des Proletariats auszubeuten und den Mehrwert abzuschöpfen, um so eine Krise und die proletarische Revolution heraufzubeschwören? Oder hatte Max Weber recht, als er von einer rationalen und kalkulierenden Kultur und einem ebensolchen Verhalten sprach, die durch bestimmte religiöse Überzeugungen begünstigt worden seien? Oder ist der Kapitalismus, wie es der Wirtschaftshistoriker Larry Neal, der diese Fragen vor nicht allzu langer Zeit untersuchte, in seiner Cambridge History of Capitalism ausdrückt, in erster Linie eine Wirtschaftsordnung, die sich auszeichnet durch «private Eigentumsrechte, von Dritten durchsetzbare Verträge, Märkte mit bedarfsgesteuerten Preisen und unterstützende Regierungen»?[34]

Die enorme Vielfalt an Definitionen ist trotz einiger Überschneidungen verwirrend, weswegen einige Beobachter dafür plädieren, das Wort einfach zu verwerfen.[35] Ich orientiere mich jedoch stattdessen an dem Mediävisten Marc Bloch, der bei dem Versuch, mit den vielen Definitionen des Feudalismus zurechtzukommen, zu dem Schluss gelangte, dass «die bloße Existenz des Wortes die besondere Qualität bezeugt, die die Menschen in der Zeit, die es bezeichnet, instinktiv erkannt haben».[36] Genau wie Bloch es beim Feudalismus tat, können wir «die bloße Existenz des Wortes» als Einladung betrachten, das zu «analysieren und zu erklären», was uns hier beschäftigt: den Kapitalismus.

Wenn wir dies tun, sehen wir, dass er bestimmte Alleinstellungsmerkmale besitzt, vor allem, dass es sich um eine Organisation des Wirtschaftslebens handelt, die sich durch die unaufhörliche Anhäufung von privat kontrolliertem Kapital definiert. Im Kapitalismus wird Kapital produktiv investiert und Reichtum hauptsächlich eingesetzt, um mehr Reichtum zu erzeugen – er wird in Vorhaben investiert, die Arbeit, Maschinen, technisches Wissen und Rohstoffe kombinieren, um weiteres investierbares Kapital zu generieren. Kapital ist also nicht ein beliebiger Anspruch oder irgendeine Ressource – diese gab es schon immer in der Menschheitsgeschichte –, sondern ein Anspruch oder eine Ressource, die in bestimmte soziale Beziehungen eingebettet ist und eine kontinuierliche Akkumulation ermöglicht. Ein wesentlicher Impuls des Kapitalismus ist daher die Reproduktion von Bedingungen, die eine solche Anhäufung erlauben. Die «Zeugungskraft», wie Marx dies so einprägsam ausdrückt, ist nicht nur eines der Merkmale des Kapitalismus, sondern Ausdruck seines eigentlichen Wesens.[37] Die Kapitaleigner organisieren die Produktion von Waren nicht in erster Linie, weil sie diese benötigen oder haben wollen, sondern weil sie hoffen, damit noch mehr Kapital zu generieren. Da eine solche unablässige Akkumulation die grundlegende Triebkraft des Kapitalismus ist, strebt er zudem immer danach, neue geografische Räume und neue Lebensbereiche zu kolonisieren. Auf diese Weise stellt er eine grundlegend andere Form des Wirtschaftslebens dar als beispielsweise der europäische Feudalismus oder die präkolonialen Gesellschaften in Nordamerika. Joseph Schumpeter hat es vielleicht am besten auf den Punkt gebracht, als er feststellte, dass «der Kapitalismus von Natur aus eine Form oder Methode des wirtschaftlichen Wandels ist und niemals stationär ist noch sein kann».[38]

Um diese unaufhörliche Expansion zu ermöglichen, kann sich der Kapitalismus nur in einer Gesellschaft entfalten, in der sowohl Input als auch Output auf Märkten verkauft, d.h. zu Waren gemacht werden, was das zweite definierende Merkmal des Kapitalismus ist. Alles, was benötigt wird, damit das Kapital seine Wirkung entfalten kann – Land, Arbeit, Rohstoffe, technisches Wissen –, muss gekauft werden können, und alles, was hergestellt wird, muss auf Märkten verkäuflich sein. Die «Produktion von Waren durch Waren», wie es der italienische Ökonom Piero Sraffa ausdrückte, ist ein entscheidendes Kennzeichen des Kapitalismus.[39]

Eine der wichtigsten Waren ist die Arbeitskraft: Ohne die Möglichkeit für Kapitaleigner, auf Märkten Arbeitskraft zu kaufen, gibt es keinen Kapitalismus. Über das gesamte ideologische Spektrum hinweg betrachten Wissenschaftler die Lohnarbeit als die grundlegende Form der Kommodifizierung der Arbeitskraft durch den Kapitalismus und halten sie zu Recht für die bedeutendste Art der Mobilisierung von Arbeitskräften im Kapitalismus. Wie dieses Buch zeigt, war der Kapitalismus jedoch durchaus vereinbar mit anderen Formen der Kommodifizierung von Arbeit, wozu in historischen Schlüsselmomenten auch die Sklaverei gehörte. Was den Kapitalismus also definiert, ist die in verschiedenen Varianten auftretende Verwandlung von Arbeit in eine Ware.[40]

Die Akkumulation von privat kontrolliertem Kapital in einer Welt der Waren hängt ihrerseits von der starken Präsenz des Staates im Wirtschaftsleben ab. Da der Kapitalismus ohne den Staat konzeptionell nicht vorstellbar ist – und er gleichzeitig Staaten von zuvor nie dagewesenem Ausmaß und Einfluss hervorbringt –, ist der Staat selbst Teil der engeren Definition, auch wenn sich die genauen Formen, die der Staat annimmt, in den letzten Jahrhunderten dramatisch verändert haben und von Land zu Land verschieden sind.

Wie Maria Mies, Nancy Fraser, Melinda Cooper und andere Wissenschaftlerinnen herausgearbeitet haben, kennzeichnen den Kapitalismus nicht zuletzt auch ständig neu gezogene Grenzen zwischen Lebensbereichen, die als der kapitalistischen Logik unterworfen gelten, und denen, die als außerhalb dieser Logik stehend angesehen werden: Produktion und Reproduktion, Wirtschaft und politisches System, menschliche Aktivität und Natur. Der Kapitalismus subsumiert gleichwohl diese anderen Logiken, zum Beispiel eine zutiefst geschlechtsspezifische Organisation des Wirtschaftslebens, die der Reproduktion dient, profitiert von ihnen und stärkt sie manchmal sogar. Er beruht auf Räumen der Nichtakkumulation und erzeugt diese ständig.[41]

Der Kapitalismus ist also, wie diese Definitionen nahelegen, kein Ding oder Ereignis, das sich genau datieren oder verorten lässt, sondern ein Prozess. Der «Übergang zum Kapitalismus» fand nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, sondern vollzog und vollzieht sich täglich und kontinuierlich. Letztendlich lässt sich der Kapitalismus am besten als globaler Prozess definieren, in dem das Wirtschaftsleben hauptsächlich von der unaufhörlichen Anhäufung von privat kontrolliertem Kapital getragen und vom Staat strukturiert wird und seinerseits die ständig wachsende Kommodifizierung von Inputs und Outputs, einschließlich der Arbeit, vorantreibt, wodurch sich die Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Systems ständig verschieben. Trotz endloser Streitigkeiten über seine genaue Definition würde die «Vermeidung» des Begriffs Kapitalismus, wie der britische Historiker R. H. Tawney einmal sagte, bedeuten, «eine Tatsache» zu ignorieren.[42] Dieses Buch wird dieser «Tatsache» ins Auge blicken und die Geschichte des Kapitalismus nachzeichnen – nicht mit dem Ziel, eine weitere, übertrieben fein ziselierte Definition zu präsentieren, sondern mit der Absicht, dem nachzuspüren, was ich als «Kapitalismus in Aktion» bezeichne. Das Buch möchte den Kapitalismus nicht als das betrachten, was er hätte sein sollen oder können, sondern als das, was er war und ist.

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Es versteht sich von selbst, dass jeder Beitrag zum Kapitalismus eine Unzahl an Publikationen berücksichtigen muss. Tatsächlich ist die Analyse des Kapitalismus seit der Entstehung der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert eines ihrer Schlüsselprojekte, und seitdem streiten sich Gelehrte, Ideologen und Laien darüber, wie er zu interpretieren sei. Allein über diese Debatten könnte ein Buch, vielleicht sogar eine mehrbändige Studie, geschrieben werden. Das ist aber nicht das Ziel des vorliegenden Textes. Ich folge stattdessen Marc Bloch, der seine Studie über den europäischen Feudalismus mit den Worten einleitete: «Hier soll keine Bestandsaufnahme der Papierkriege erfolgen, in die sich die Gelehrten bisweilen verstrickt haben. Worum es mir geht, ist die Geschichte, nicht die Historiker.»[43]

Dennoch verdienen zwei bedeutende Werke des 18. und 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer weitreichenden Wirkung besondere Erwähnung: Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen) und Karl Marx’ Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867). Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) folgt mit großem Abstand auf dem dritten Platz. Die anhaltende Relevanz dieser Werke zeugt von ihrer Brillanz, aber sie sind auch Produkte ihrer Zeit. Smith schrieb in einer Epoche, als die Menschen – sogar im stärker entwickelten Großbritannien – Waren noch fast ausschließlich von Hand herstellten und sich in Kutschen oder zu Fuß fortbewegten; Marx schrieb zu einer Zeit, in der Autos, der Wohlfahrtsstaat und Chinas Aufstieg zur Produktionssupermacht noch nicht einmal ferne Träume waren.

Diese Denker stellten Theorien über ein historisches Gebilde auf – den Kapitalismus –, das sich noch in seiner Entstehung befand. Sowohl Smith als auch Marx und natürlich auch Weber verstanden den Kapitalismus sehr hellsichtig als die revolutionäre Kraft, die er ist, aber sie konnten nicht vorhersehen, wohin die Revolution führen würde. Smith naturalisierte das, was er «Tauschhandel» nannte, weil er in einer Gesellschaft lebte, in der die Warenform noch ungewöhnlich war; die Naturalisierung machte es einfacher, politische Unterstützung dafür zu gewinnen. Marx entnaturalisierte die Warenform, um sie zu überwinden; um dies zu erreichen, naturalisierte er den Klassenkonflikt. Trotz ihrer unterschiedlichen Sichtweisen neigten Smith und Marx beide dazu, die europäische Erfahrung zu verallgemeinern. Und beide waren sich sicher über die «Gesetze» dieser seltsamen neuen Form des Wirtschaftslebens, eine Zuversicht, die von diesem Buch nicht geteilt wird.

Dennoch lässt sich Kapitalismus. Geschichte einer Weltrevolution von den lebhaften Debatten, die diese Gelehrten angestoßen haben, und der eklektischen Mischung von Autoren und Autorinnen, die zu diesen Diskussionen beigetragen haben, inspirieren. Anregungen lieferten auch die reichhaltigen und oft sehr spezialisierten Studien über das Wirtschaftsleben, die in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlicht wurden, viele davon erst vor Kurzem. In den Bücherregalen sind aktuell wieder zahlreiche neue Untersuchungen über Kaufleute und Finanzmärkte, über Sklaverei und «die Große Divergenz» sowie viele andere Themen zu finden.[44] Auf dieser Fülle von Literatur, von Studien über die Aktivitäten jüdischer Händler in der muslimischen Welt des Mittelalters bis hin zum neoliberalen «Denkkollektiv» des 21. Jahrhunderts, baue ich auf, um den globalen Kapitalismus zu verstehen.[45] Meine globale Perspektive wird durch eine dynamische Strömung der jüngeren Geschichtswissenschaft gestärkt: Die Globalgeschichte hat mich in die Lage versetzt, die Geschichte des Kapitalismus neu zu durchdenken, und mich dazu motiviert, diesen Wissenschaftlern bei der Emanzipation der Geschichtsschreibung aus nationaler Beschränktheit zu folgen.[46] Dieses Buch verzichtet auf die im Grunde ahistorischen und naturalisierenden Lesarten des Kapitalismus, die mit dem Aufkommen der neoklassischen Wirtschaftstheorie im 20. Jahrhundert an Bedeutung gewannen und die Fiktion eines perfekten Marktes entwarfen, der die mathematische Präzision der Physik erfordert. Doch habe ich mich von vielen Wirtschaftswissenschaftlern anregen lassen – darunter Thomas Piketty, Ha-Joon Chang, Denis Cogneau, Isabella Weber und Jeffrey D. Sachs –, die die Geschichte neu entdeckt und mit ihren Ideen an einige der angesehensten, aber weitgehend vergessenen Traditionen der Disziplin angeknüpft haben, wie beispielsweise die Deutsche Historische Schule.[47] Sie alle scheinen einem anderen Ökonomen, dem bereits mehrfach erwähnten Joseph Schumpeter, zuzustimmen, der im Rückblick auf seine Karriere die Bedeutung einer historischen Perspektive für die Wirtschaftswissenschaften unterstrich:

Ich möchte gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass ich, wenn ich meine Beschäftigung mit den Wirtschaftswissenschaften noch einmal von vorne beginnen könnte und mir nur einer der drei Teilbereiche [Geschichte, Statistik und Theorie] zur Auswahl stünde, ich mich für die Wirtschaftsgeschichte entscheiden würde. Und das aus drei Gründen. Erstens ist die Thematik der Ökonomie im Grunde ein einziger langer historischer Prozess. Niemand kann hoffen, die wirtschaftlichen Phänomene irgendeiner Epoche, einschließlich der Gegenwart, zu verstehen, wenn er nicht über die nötige Beherrschung historischer Fakten und ein angemessenes Maß an historischem Verständnis oder historischer Erfahrung