Kaum vermessen – schon vergessen - André Marcher - E-Book

Kaum vermessen – schon vergessen E-Book

André Marcher

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Beschreibung

Kann es auch nur irgendetwas Interessantes geben an einem Beruf, dessen Wissenschaft „Geodäsie“ in Fachkreisen völlig zu Recht als Mutter der Mathematik bezeichnet wird? Wer beschäftigt sich mit solch trockener Materie, wie werden Geodäten im Leben wahrgenommen und welche Auswirkungen hat ihr Tun? Sollten Sie sich solche oder ähnliche Fragen in Ihrem Leben noch nie gestellt haben, dann ist das vorliegende Büchlein genau das richtige! Autor André Marcher ist Geodät. Landvermesser ist der sicher verständlichere Ausdruck. Nach der Lektüre seiner Alltagsgeschichten werden Sie einiges von dem erfahren, was Vermesser so den lieben langen Tag treiben, warum Fluren bereinigt werden, was Hofräume sind und warum sie sich trennen müssen. Wenn Sie wissen wollen, wie Ihre Schuhe nach Pakistan gelangen, was ein Schlifter ist, warum Sachsen Dornenfinger nicht mögen und welcher Zusammenhang zwischen Vermessern und Wanderern besteht, dann sollten Sie dieses Buch lesen.

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Kaum vermessen –

schon vergessen

„Vermesser haben sich nie Grenzen setzen lassen, wenn es galt, eine bessere Sicht auf die Dinge zu bekommen.“

André Marcher Jg. 1962, Geodät, machte 27-jährig sein Diplom, was ihm bisher ein arbeits- und abwechslungsreiches Leben bis weit über die Jahrtausendwende ermöglichte, arbeitet seit einiger Zeit freischaffend. André Marcher ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt heute in Leipzig.

André Marcher

KAUM VERMESSEN – SCHON VERGESSEN

Miniaturen aus Sachsen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

ISBN 9783954882564

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

Eingangs

Menschen und Hofräume

Meine Frau ist Doktor

Grabeland

Wenn wir beide zur gleichen Zeit sterben

Garagengrundstück

Die richtige Marke

Der Erbschein ist da

Mein Schuh in Pakistan

Crashcar

Das Haus war nicht zu retten

Kaum vermessen – schon vergessen

Von Höhen und Tiefen

Aschberg

Sächsisches Basiswissen

Der Nullpunkt ist weg

Meter über Adria

Porphyr am Connewitzer Kreuz

Über den Wolken

Mittags alles auf Null

Bei Heine in Paris

Die Blaue Linie

Vermintes Gelände

Von Schafen und Kühen im Sächsischen Spreewald

Zeithain - Bombertime

Kurfürstliches und Königliches

Die Geschichte vom „K“

Steinerner Tisch

Schwerer Anfang

Not macht erfinderisch

Domani

Das Erbe

Multi-Gel

Reifenschaden

Über Kohlen und Nieten

Sie müssen schon hereinkommen

Verrechnet

Wer zu Hause blieb, war eine Niete

Arbeit ist das halbe Leben

Mensch und Material

Ein Vermesser am Gotthard

Das Wort des Jahres 2001

Geheime Zeugen

Marmor für die Einfriedung

Altes und Neues

Betreutes Wohnen

Flüsterasphalt

Denkmalschutz

Schlippe und Schlifter

Endlich ein Wessi

Discoking

Verkehrte Welt

Der Sachse mit dem Dornenfinger

Wissen ist Macht

Einer weiß Bescheid

Vom Zusammenfinden von Geld und Willen

Ausgangs

Fussnoten

Außendienst ist gut fürs Gemüt. Und man erfährt etwas.

Vermesser geraten an Menschen, die Land verkaufen wollen oder müssen, die geerbt haben oder eine Regelung ihrer Hinterlassenschaften anstreben, die bauen wollen oder sich einfach nur streiten, z. B. um drei Zentimeter Garagenüberbauung. Die Vermesser sind immer schuld, auch wenn sie die Garage weder abgesteckt noch gebaut haben.

Schafe brechen aus, Mädchen werden schwanger, die Vermesser sind immer schuld.

Und hinter all dem täglich Erlebten stecken aber nicht nur Ärgernisse, sondern Geschichten und immer auch Geschichte. Kleine Fetzen davon sind hier dem Alltag entrissen und in wenigen Zeilen festgehalten.

Im Buch wird scheinbar längst dem Vergessen Anheimgegebenes hervorgeholt, in der Hoffnung es durch neue Verbreitung vielleicht bewahren zu können.

André Marcher

Leipzig im Dezember 2012

Eingangs

Mein Beruf ist Geodät.

Haben Sie so etwas schon einmal gehört oder gelesen?

Landvermesser ist der sicher verständlichere Ausdruck. Ich vermesse nunmehr tatsächlich nur noch Land. Das war nicht immer so. Noch vor einiger Zeit herrschte in Leipzig ein regelrechter Bauboom. Ich habe heute noch den Geruch von frischem Beton in der Nase, der mein Leben jahrelang begleitet hat. Meine Schienbeine sind voller Narben von den vielen Bewehrungseisen, über die man auf jeder Baustelle zwangsläufig stolperte. Um mein linkes Auge ziehen sich grobe Falten. Die stammen vom ständigen Zusammenkneifen, wenn man mit dem rechten Auge durch das Okular des Messinstrumentes schaut.

Probieren Sie das mal. Jetzt gleich! Ein Auge zukneifen. Meine Physiotherapeutin würde nun sagen: „Und halten!“

Sie schaffen das auch. Halten!

In der Zwischenzeit erzähle ich weiter. Jetzt bin ich Landvermesser. Seit einigen Jahren schon.

Dorfbewohner, darunter Bauern mit riesigen Agrarbetrieben, aber auch kleine Bäuerlein im Nebenerwerb, Gewerbetreibende aller Art, einfache und komplizierte Hausbesitzer, Hausfrauen und Hausmeister sind meine Klientel.

Halten Sie noch?

Ich bin ruhiger geworden. Nicht, dass ich früher hektisch war. Ich hatte immer mal wieder mit italienischen Bauarbeitern zu tun. Die reden oder singen den ganzen Tag. Und das entscheidende Wort lautete: Domani! Morgen wird es auch noch, soll das heißen.

Dennoch habe auch ich Termine zu halten.

Apropos: Bitte weiter halten!

Und doch bin ich ruhiger geworden. Der Zeitdruck lässt mich nicht mehr kollabieren. Wissen Sie, was Flurneuordnungen sind? Oder wo man ungetrennte Hofräume findet? Sie müssen meine Fragen nicht beantworten können. Auch ein spezieller Lehrgang ist nicht notwendig. Nach der Lektüre meiner Zeilen werden Sie einiges von dem ahnen, was Vermesser so den lieben langen Tag treiben, warum sie Fluren bereinigen und sich um Hofräume kümmern, wenn diese getrennt werden müssen.

Und wenn Sie jetzt das Auge wieder locker lassen, wird Ihnen auch das Lesen nicht so schwerfallen.

Meine Leidenschaft ist das Sammeln. Wie heißt man da? Vielleicht Sammler. Im Grunde bin ich nur ein Zuhörer. Die meisten wissen es zu schätzen, wenn ich ihnen einfach zuhöre. Und mich interessieren ihre Lebens- und Alltagsgeschichten. Warum? Habe ich nichts Besseres zu tun? Habe ich nicht eben behauptet, ich müsse einen Flur reinigen und den Müll im Hof trennen oder so ähnlich? Warum muss ich da noch sammeln?

Vermesser sind schon eigenartige Leute!

Menschen und Hofräume

Meine Frau ist Doktor

„Meine Frau ist der Doktor, ich bin nur der Herr M.“, sagte er mir am Telefon. Und sie hätten beide eigentlich keine Zeit, höchstens früh morgens ab fünf Uhr. Ich stutze und entscheide mich für eine Rückfrage: „Geht es auch ein bissel später, es geht schließlich um die Vermessung Ihres Grundstücks, nicht um meins. Und sehen müsste ich schon etwas.“

„Nur bis sieben“, ist seine Antwort. Da habe ich ja Glück, dass ich sein Grundstück nicht kurz vor Weihnachten besuchen muss. Aber gesagt, getan. Ich stehe um vier Uhr früh auf, um kurz nach sechs Uhr bei Frau Doktor und Herrn M. vor dem Haus zu stehen. Ich gönne mir ja sonst nichts. Und einen kleinen Vorteil hat das Ganze, ich erlebe einen herrlichen Sonnenaufgang auf dem flachen Lande. Der beste Einstieg also für ein Montagmorgen-Gute-Laune-Programm.

„Ich muss los, was brauchen Sie?“ So empfängt mich Frau Doktor der Biochemie am Tor.

„Na Moment“, sage ich, ich gebe ihr einige kurze Erläuterungen. „Und dann brauche ich vor allem Ihre Unterschrift.“

„Geben Sie schon her, den Rest macht mein Mann.“ Im Gehen signiert sie mein Verhandlungsprotokoll und ich will ihr als Dank dafür den Wunsch für einen schönen Arbeitstag noch mit auf den Weg geben. Es gelingt mir auch. „Na, nun muss ich wegen Ihnen heute ja länger machen, das ist nicht so schön“, muffelt sie zurück.

Wir sind in Deutschland, an einem ganz normalen warmen Frühlingsmorgen. Das Thermometer zeigt schon einige Plusgrade an und die ersten Sonnenstrahlen könnten die Haut bereits erwärmen und bis zur Seele vordringen, wenn man sie denn ließe.

Der Mann von Frau Doktor hat etwas mehr Zeit und erzählt mir sogar, dass er in leitender Funktion bei einem großen deutschen Energieversorger arbeitet. Bei der kürzlich erst vollzogenen Fusion verschiedener Energielieferanten hat die beaufsichtigende Behörde insofern Einfluss genommen, dass nun mehrere eigenständige Firmen unter einem Dach entstanden sind. Was heißen soll: Da ist viel in Bewegung, auch was den Abbau von Sozialleistungen angeht, zum Beispiel anzurechnende Arbeitsjahre und Manteltarifverträge. Und er befürchtet für sich das Schlimmste, wenn die Vorruhestands- bzw. Altersteilzeitregelungen irgendwann wegfallen sollten. „Machen kann man ohnehin nichts.“ Er ist Anfang Fünfzig, denke ich. Da wird das tatsächlich gerade nicht passen. Was weiß man schon, was in einem Jahrzehnt sein wird.

Auf dem idyllisch anmutenden Dreiseitenhof stehend, fällt mir der Lärm auf. „Das ist die Autobahn“, winkt Herr M. resigniert ab. Die neue Autobahn hinter dem Hof führt, was den Lärm angeht, sozusagen durch das Schlafzimmer. „Die Pläne sollen ja ausgelegen haben. Und wenn wir das geahnt hätten“, sagt er, „hätten wir uns damals vielleicht mehr darum kümmern sollen.“

Ja, denke ich, da vielleicht auch.

Grabeland

Kennen Sie das auch? Es gibt Menschen, die begrüßen sich nicht einfach mit einem „Guten Tag“ oder „Hallo“. Die haben stattdessen irgendeinen Spruch auf den Lippen, der zunächst einmal für Distanz sorgen soll. Einem Vermesser passiert schon mal, dass die Begrüßung so oder anders ausfällt:

„Fünf Personen habe ich schon auf dem Gewissen, ich habe sie öffentlich verflucht. Vier sind gestorben, einer sitzt querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Kennen Sie die Merseburger Zaubersprüche?“

Aaaah, ja! Loriot lässt grüßen.

Der Mittfünfziger am Hoftor sieht nun nicht gerade aus, als wäre er einem Zauberbuch entstiegen, aber ein wenig Rübezahl scheint schon in ihm zu stecken.

Mir ist nicht klar, wie die Merseburger Zaubersprüche zum Verfluchen passen, doch die Botschaft ist angekommen: Leg dich nicht mit mir an!

Und das würde ich natürlich nie tun, im Gegenteil: Es ist mir ein Vergnügen, nun herauszufinden, was es mit den Sprüchen auf sich hat.

Zaubersprüche sollen ja dazu dienen, durch die Macht des Wortes magische Kräfte nutzbar zu machen. Vielleicht nützt mir da der eine oder andere Spruch in meinem Alltag und schützt mich vor abgedrehten Grundstücksbesitzern.

Die Merseburger Zaubersprüche sind übrigens aus vorchristlicher Zeit und das machte ihren Fund 1841 in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels so wertvoll.

Der erste Zauberspruch beschreibt, wie weibliche Gottheiten auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger befreien, der zweite, wie das verrenkte Bein eines Pferdes geheilt wird. Nichts von Fluch, eher von Segen also. Verfluchen könnte man nur das angesammelte Halbwissen meines Klienten. Doch vielleicht wollte er mir auch nur bedeuten, welche Kraft in seinen Worten stecken kann? Denn er erzählt weiter munter drauf los: „Eigentlich bin ich Landwirt, habe mal fünf Jahre lang einen Wildpark gemanagt. Das Haus hier war Gemeindeeigentum. Im Herbst 1989 waren die Mieter in den Westen gegangen, da haben wir die versiegelte Wohnung besetzt und neue Schlösser eingebaut. Nach der Wende gab es Rückgabeansprüche, wir haben uns dagegen gewehrt, das alles durchgestanden und das Haus schließlich gekauft. Jetzt hat alles seine Ordnung.“

Hausbesetzung auf sächsische Art. Krawall ja, aber es muss am Ende alles seine Ordnung haben. Allerdings bin auch ich schließlich für ebendiese Ordnung hier. „Jetzt wird nur noch vermessen, Sie unterschreiben und dann kann Grundsteuer erhoben werden“, werfe ich ein. Eigentlich sollte es ein Scherz werden. Klappt jedoch nicht immer und seine verhaltene Reaktion enttäuscht mich dann doch: „Tja, wenn es halt sein muss!“

Da kann ich eigentlich aufatmen, denn er hat mich nicht verflucht. Vielleicht, weil ihm das Haus gar nicht gehört. Er scheint zwar der Herr im Hause zu sein, doch eine junge Frau steht als Alleineigentümerin im Grundbuch. Und die erwische ich nach mehreren erfolglosen Versuchen Wochen später auf der Straße, als sie gerade ein Auto mit Eimer und Gartengeräten bepackt. Und ich muss mich ihr förmlich in den Weg stellen, damit sie nicht entwischt.

„Ich hatte Sie bereits angeschrieben, ihr zauberhafter Partner hat sicher auch schon mit Ihnen gesprochen. Aber es gab seither von Ihnen kein Lebenszeichen“, beginne ich den Dialog zugegeben etwas vorwurfsvoll.

Nun, wo sich die magische Kraft meiner Worte entfaltet, öffnet sie zögerlich auch meinen Brief, den sie schon eine Woche mit sich herumträgt. Und das alles sozusagen zwischen Tür und Angel.

Da sie immer noch wie auf der Flucht wirkt, frage ich vorsichtshalber, ob sie heute noch etwas vorhabe. „Dann machen wir eben einen Termin zur Erläuterung der Vermessung und für die Unterschrift.“

Nein, sie müsse noch schnell auf ihren Acker zum Hacken. Es sei ein Kreuz mit ihrem Haus, wo sie keinen Garten dran habe, stattdessen einen Friedhof. Deshalb gäbe es noch ein Stück Grabeland am Ortsende.

„Ein Friedhof ist doch gut“, höre ich mich wahrhaftig sagen, „da hat man es mal nicht so weit.“

Aber auch dieser Scherz verhallt. Sie hat es eilig: „Geben Sie schon her, wo muss ich unterschreiben?“ Bis heute wusste ich gar nicht, wie stressig das Landleben sein kann.

Das eigenartige Wort Grabeland hallte noch lange in mir nach. Dabei ist es weder ungewöhnlich noch dialektgebunden. Laut Bundeskleingartengesetz wird ein Grundstück, das vertraglich nur mit einjährigen Pflanzen bestellt werden darf, als Grabeland bezeichnet. Da darf man halt nur ein wenig graben, wie in einem Sandkasten. Genau diese Assoziationen zum Kindesalter weckt dieses Wort. Der Sandkasten war mein fantastisches Grabeland. Dort entwickelte ich magische Kräfte, die aus Sand Autobahnen und Tunnel, Burgen und Schlösser, herrlichste Kuchen und Torten entstehen ließen.

Kennen Sie die Merseburger Zaubersprüche?

Wenn wir beide zur gleichen Zeit sterben

Wir vermessen bislang ungeteilte (unvermessene) Ortslagen, ein Erbe aus der Zeit preußischer Besatzung von Teilen Sachsens1. Zum Einbringen der Grenzmarken und deren anschließende Aufmessung wird selbstverständlich das Einverständnis der betroffenen Eigentümer benötigt. Ist jedoch jeder, der glaubt, Eigentümer zu sein, auch wirklich im Grundbuch eingetragen?

Ich treffe auf einen älteren Herrn, den Besitzer eines größeren Anwesens. Das Grundbuch weist noch seine längst verstorbenen Eltern als Eigentümer des Hofes aus. Er zeigt mir das Testament, aufgenommen im Staatlichen Notariat zu DDR-Zeiten: „Wenn wir beide zur gleichen Zeit sterben“, steht dort allen Ernstes, „erbt unser Sohn den Hof und unsere Tochter wird mit einer Summe […] ausgezahlt“. „Genauso ist es gemacht worden“, sagt er. „Meine Schwester hat ein paar Tausend Mark bekommen und ich durfte hier wohnen bleiben.“

„Aber sind denn beide Eltern gleichzeitig gestorben“, frage ich ungläubig.

„Nein, natürlich nicht, meine Mutter erst vor ein paar Jahren.“

Also fangen wir ganz von vorn an. Er muss einen Erbschein beantragen, ansonsten ist eine Eintragung ins Grundbuch unmöglich. Eine Woche später bin ich wieder bei ihm. Er ist völlig am Boden zerstört. Ein Gericht müsse nun erst mal entscheiden, denn das Testament sei ungültig, weil beide ja nicht zum gleichen Zeitpunkt gestorben seien.

Sachen gibt’s!

Garagengrundstück

Meine nächsten „Klienten“ wohnen in einer kleinen engen Gasse mit eingeschossigen Gebäuden, Haus an Haus wie meistens in einer Altstadt. Alle Häuser haben nach Süden einen kleinen schmalen Garten, den man vom Stadtgraben aus auch über einen Weg erreichen kann.

In den 1970ern schafften sich die Leute Autos an und wollten diese auch irgendwie unterstellen. Wer Land hatte, baute sich eine Garage. Andere pachteten diese mitunter weit von der eigenen Wohnung entfernt.

Hier nun war in den meisten Fällen Land vorhanden, aber die Grundstücke waren und sind viel zu schmal. Das erweist sich bis heute als manchmal unlösbares Problem.

Als ich am späten Nachmittag bei einer Familie klingele, öffnet mir eine freundliche adrette Frau. Sie und ihr Mann sind beide bereits Altersrentner, Mitte sechzig, sehen aber jünger aus. Und siehe da, der Schein trügt nicht. Sie erzählt mir, dass sie noch stundenweise in einer Boutique arbeite und er ebenfalls noch tätig sei, im hiesigen Spaßbad. Hier bei den beiden „Jüngeraussehenden“ werde ich seit Langem auch wieder einmal zum Kaffeetrinken „genötigt“. Na gut, es ist halb vier Uhr nachmittags und es ist frischer Kuchen aufgetischt. Außerdem haben beide ein kniffliges Anliegen, bei dem ich ihnen helfen soll. So schnell komme ich hier nicht wieder heraus, also kann ich mir auch mal ein „Käffchen“ genehmigen.

Beide haben zu DDR-Zeiten das Grundstück ihrer Nachbarin erworben, einer älteren Dame, die ins Pflegeheim kam. Grund des Erwerbs war insbesondere, einen breiteren Garten zu bekommen, um Platz zu gewinnen für den Bau einer Garage. Denn ihr eigenes Grundstück war keine drei Meter breit. Ich erfahre, dass man damals zwar ein Grundstück erben, aber kein zweites kaufen konnte, wenn man schon Grundbesitzer war. Also wurde alles über den damals gerade erwachsen gewordenen Sohn abgewickelt. Nun hatte man zwei Häuser und einen größeren, jetzt fünf Meter breiten Garten, in dem dann die Garage gebaut wurde.

Der Sohn, der eigentlich in das zweite Haus einziehen sollte, hatte nach der Wende große Pläne und brauchte Geld. Ohne sich weiter mit seinen Eltern abzustimmen, fand er einen Käufer für das Haus, sackte das Geld ein und war weg. Alle waren bis vor kurzem der Meinung, sie hätten seinerzeit nur das Haus verkauft, zumal der neue Besitzer keinerlei Anspruch auf das Grundstück dahinter geltend machte. Mit der Vermessung zum jetzigen Zeitpunkt stellte sich heraus, dass der Kaufvertrag natürlich auf den kompletten Anteil am ungetrennten (unvermessenen) Hofraum bezogen war und damit nun Jahre nach dem Verkauf ein schwerer Konflikt entstanden ist.

Um es kurz zu machen, die fehlende Kommunikation innerhalb der Familie hat die „Jüngeraussehenden“ um einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens gebracht, denn nicht nur Grund und Boden, sondern auch die darauf errichtete Garage mussten nach der Vermessung entschädigungslos an den Nachbarn abgetreten werden.

Wie aber kam es, dass es fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit noch unvermessene Grundstücke gab? Diese Erscheinung war eine Folge der preußischen Grundsteuerreform von 1861. Die für die damals vorgesehene Besteuerung in einigen Gegenden nötige Vermessung der Grundstücke, u. a. in den von 1815 bis 1952 zeitweise zu Preußen gehörigen sächsischen Landesteilen, konnte nicht im erforderlichen Tempo durchgeführt werden. Also verzichtete man darauf und ließ als amtliches Verzeichnis im Sinne der Grundbuchordnung das damalige Gebäudesteuerbuch zu. Betroffen von diesem Problem waren nicht nur kleine Dörfer, sondern oft auch ganze Innenstädte. Ohne dem Leser weitere Details aufzunötigen, nur noch so viel: Im Liegenschaftskataster waren solche Flächen nicht erfasst. Das Grundbuch sagte demzufolge auch nichts über die genaue Lage und Größe der Teilflächen aus, sondern führte sie nur als "Anteil an einem ungetrennten Hofraum". Nach der Wende stellte man schnell fest, dass Grundbesitz, der im Grundbuch nur als Anteil am ungetrennten Hofraum mit Angabe der Flur- und Hausnummer eingetragen ist, kein Grundstück im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein kann und versuchte Abhilfe zu schaffen. Die Vermessung wurde also erst 150 Jahre nach der preußischen Grundsteuerreform vorgenommen.

Gut Ding will Weile haben …

Die richtige Marke

An einem verregneten Tag. Düstere Wolken hängen über dem kleinen Dorf. Kalt ist es außerdem. Eine Stimmung zum Davonlaufen.

Zum Glück treffe ich auf jemanden, der ein wenig Zeit mitgebracht hat und erzählt, dass er sein Anwesen erst 2003 nach dem Tod der bis dahin hier lebenden Großeltern bezogen hat. Er arbeitet im eigenen Autohaus, Reparaturwerkstatt für Renault. „Die richtige Marke, um immer genügend Reparaturen zu haben“, sagt er lachend. Seine Frau ist zu Hause wegen der Kinder. Noch zu Lebzeiten der Großeltern wurde das Wohngebäude von außen saniert (Dach, Fassade, Fenster). Zwei der gut erhaltenen alten Fenster hat er in ein Seitengebäude eingebaut, um dort die maroden Fenster zu ersetzen. Einige Wochen danach flatterte ein Brief vom Denkmalsschutz mit Androhung einer Strafe von einer Viertelmillion Euro ins Haus. Was für ein Schock! Da erst erfuhr die Familie, dass ihr Vierseitenhof in die Denkmalliste aufgenommen worden war.

Er meint, abreißen und neu bauen wäre auf lange Sicht sinnvoller, aber das dürfe man eben nicht. „Nur erhalten kann man die drei Wirtschaftsseiten mit einstigen Stallungen und Scheunen eben auch kaum. Das sind Riesengebäude, die keiner mehr nutzt. Das mit der Strafe haben wir zum Glück aus der Welt schaffen können. Und vor Jahren ist meinem Nachbarn, einem Wessi, der Giebel seiner Scheune zusammengerutscht und hat bei mir das halbe Dach meiner Stallungen zerstört. Der Wessi wohnt nicht im Ort, hat aber mehrere Grundstücke aufgekauft und lässt sie verfallen. Der war so was von unseriös, hat am Telefon erst mal unterstellt, dass wir wohl einen Dummen suchen, um unser Dach neu eindecken zu lassen. Dann hat er Sachverständige von verschiedenen Versicherungen antanzen lassen, die, wie sich herausstellte, alle jedoch andere Objekte versichert hatten. Die merkten das aber erst, als sie die Adressen verglichen. Erst, als ich mir einen Anwalt genommen habe, war die eigentliche Versicherung schnell ermittelt und so ist die Reparatur dann auch bezahlt worden. Bei den Wessis braucht man eben immer einen Anwalt.“

Bei einem Blick in das Grundbuch sehe ich, dass ein Enteignungsverfahren gegen ihn läuft, angestrengt durch das Autobahnamt, weil die neue Autobahn über einige seiner Ländereien führt.

„Ja, wir haben damals nichts unterschrieben, uns einen Anwalt genommen. Mit der Enteignung bekommen wir nun auch noch ein paar Cent mehr pro Quadratmeter als seinerzeit angeboten.“

Man braucht eben für alles einen Anwalt.

Der Erbschein ist da

Als ich nach Ostern einen Termin machen will, habe ich die alte Frau am Telefon, mit der ich mich im Ort schon mehrfach nett unterhalten hatte. Sie ist völlig aufgelöst, ihr Sohn ist Karfreitag überraschend verstorben. Schlaganfall mit 46 Jahren. Zunächst bin ich sprachlos, vereinbare mit ihr dann aber, mich später noch einmal zu melden.

Vom Nachbarn erfahre ich, dass der inzwischen Verstorbene hier im Ort eine junge Frau und drei Kinder hinterlassen hat. Sie waren allerdings schon geraume Zeit geschieden. Da gibt es noch eine Freundin und drei weitere Kinder. Die Nachkommen haben ebenfalls schon einige Kinder, die alte Frau letztendlich sechs Enkel und sieben Urenkel. Nun ist der einzige Sohn tot, mit 46 Jahren.

Na, bei dem Stress nicht verwunderlich, denke ich, beiße mir aber auf die Zunge.

Ende Mai bin ich wieder dort und werde durch eine Schar schreiender Kinder in die Küche gelotst. Auch die geschiedene Schwiegertochter ist anwesend. Ich spreche ihnen mein Beileid aus und das ist durchaus ernst gemeint. Ich leide mit, denn bei der jetzt entstandenen verworrenen Erbsituation wird es eine Weile dauern, bis wir alle Angaben und Belege für eine Grundbucheintragung des neu zu vermessenden Hofes haben werden.

Der Verstorbene und seine geschiedene Ehefrau stehen bis jetzt als Eigentümer im Grundbuch. Die Übertragung des großen Bauernhofs auf diese beiden haben die Eltern vor Jahren veranlasst, damit die jungen Leute einen Ausbaukredit bekommen. Eine Grundstücksteilung zu diesem Zweck war nicht möglich. Es sind eben unvermessene Hofräume. Leider haben es die Eltern versäumt, sich wenigstens ein lebenslanges Wohnrecht eintragen zu lassen.