Kazım, wie schaffen wir das? - Sonja Hartwig - E-Book

Kazım, wie schaffen wir das? E-Book

Sonja Hartwig

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Beschreibung

Süpermann: Ein Neuköllner Psychologe zeigt uns, wie das Zusammenleben funktioniert

Kazım Erdoğan ist unermüdlich. Achtzehn, neunzehn, zwanzig Stunden am Tag ist er unterwegs für ein friedliches, gerechtes Miteinander der Menschen und gegen Sprachlosigkeit und Gewalt in unserer Gesellschaft. Seine Methode ist dabei denkbar einfach: Augenhöhe, Verständlichkeit, Wertschätzung – er holt die Menschen dort ab, wo sie sind, und bietet ihnen, mal Sozialarbeiter, mal Psychologe, mal großer Bruder, handfeste Hilfe. Als Gründer der ersten Selbsthilfegruppe für türkische Männer und als Vorsitzender seines Vereins „Aufbruch Neukölln“ ist er überaus prominent in Politik und Medien; 2012 bekam er von Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Sonja Hartwig, die Erdoğan seit fünf Jahren begleitet, zeichnet ein liebevolles Porträt des „Kalifen von Neukölln“ und seiner türkischen Männer, das uns nicht nur Einblick in eine fremde Welt direkt vor unserer Tür gibt. Vielmehr zeigt sich an Erdogans Handeln, was unser Land so dringend braucht. Keine Angst mehr vor dem Fremden, keine Politik mehr, die an den Menschen vorbei gemacht wird, sondern konkrete, positive Anleitungen zu unseren Fragen, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft betreffend.

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Seitenzahl: 302

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Zu Buch und Autorin

Süpermann – Ein Neuköllner Psychologe zeigt uns, wie Zusammenleben funktioniert

Kazım Erdoğan ist unermüdlich. Als Gründer der ersten Selbsthilfegruppe für türkische Männer und Vorsitzender des Vereins »Aufbruch Neukölln« arbeitet er beinahe rund um die Uhr für ein friedliches Miteinander und gegen Gewalt, die aus Fremdheit und Sprachlosigkeit entsteht. Seine Methode: auf Augenhöhe miteinander reden, dem anderen Wertschätzung entgegenbringen und konkrete Hilfe bieten. Für seine Verdienste wurde er 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Sonja Hartwig, die Kazım Erdoğan seit fünf Jahren bei ­seiner Arbeit begleitet, zeichnet nicht nur ein lebendiges Porträt des »Kalifen von Neukölln«, der für seine türkischen Männer Sozialarbeiter, Psychologe und großer Bruder ist. Sie gibt auch Einblick in eine fremde Welt in unserer Mitte und zeigt, wie viel wichtiger als große Politik die kleinen Schritte im Alltag sind.

»Wenn jeder kleine Brötchen backt, haben wir zusammen das größte Brot der Welt.«

Sonja Hartwig

Kazım, wie schaffen wir das?

Kazım Erdoğan

Für unsere Väter Battal und Friedhelm »Leben wie ein Baum einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald das ist unsere Sehnsucht.«Nâzım Hikmet, Davet »Es kann die Ehre dieser Welt dir keine Ehre geben. Was dich in Wahrheit hebt und hält muss in dir selber leben.«Theodor Fontane, Es kann die Ehre dieser Welt

Inhalt

Prolog

Identität

Heimat – »Schau mal, was aus dir geworden ist«

Ankommen – »Ich zögerte nicht, ich mischte mich einfach ein«

Anerkennung – »Es hat keinen Sinn, dass man rumjammert«

Wunden

Aufwachsen – »Du warst verrückt, ich war verrückt, wir leben noch«

Ehre – »Geh ich in den Knast, oder kümmere ich mich um die Kinder?«

Gewalt – »Hätte ich mir mal lieber die Hand abgehackt«

Politik und Religion – »Ich bin alt, ich habe keine Angst mehr«

Handeln

Zusammenleben – »Wir dürfen nicht die gleichen ­Fehler machen«

Epilog

Dank

Editorische Notiz

Endnoten

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und über­holende Mensch. Hat er sich erfaßt … so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

Ernst Bloch

Prolog

Männer sitzen um einen Tisch, die türkischen Paschas, die sogenannten. Alle in einem Raum, wer hätte das gedacht, sagt Kazım. Immer wurde doch nur über sie geredet, nicht mit ihnen.

Männer im Anzug, Männer im Blaumann, Männer im Hoodie. Männer, die geschlagen wurden als Söhne, Männer, die schlagen als Väter; Männer, die ihre Frau verloren und ihre Ehre; Männer, die in dieses Land kamen, um eine Braut zu finden, und nun Frau und Schwiegereltern haben, aber keine Arbeit, kein Ansehen; Männer, die Taschengeld bekommen, zu denen die Frau sagt: Was, du willst ein Mann sein? Du bist kein Mann, ohne Hartz IV kannst du dir nicht mal eine Unterhose kaufen. Vätergruppe nennen sie sich, oder, nüchterner, Männergruppe. Es ist eine einfache Bezeichnung für das Einfache, was sie tun und auf das niemand vor Kazım gekommen war: diese Männer zusammenzurufen, mit ihnen zusammenzusitzen, zusammen zu reden.

Einer der Männer sagt: Kazım ist sehr unauffällig, man denkt im ersten Moment, er ist Schuhputzer oder Kamelverkäufer. Derselbe Mann sagt auch: Kazım erkennt man erst, wenn er anfängt zu reden, das kann er wie niemand sonst. Ohne Kazım, sagt ein anderer Mann, überlegt eine Weile, dann: Sähe es schlecht aus. Wie genau? Er antwortet mit Schulterzucken.

Kazım sagt zu den Männern: Ich appelliere an euch, sprecht frei, sprecht ohne Angst. Es ist keine Schwäche, über Probleme zu reden, es zeugt von Stärke. Nur wenn wir offen reden, helfen wir einander, helfen wir unserer Familie und der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist nur stark, wenn die Menschen, die in ihr leben, offen diskutieren. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, wenn wir diesen Ort, diese Männergruppe, zu einer Volksuniversität machen.

Dieser Ort ist ein simpler Raum, Erdgeschoss, gelegen zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße, Berlin-Neukölln. Es gibt Stühle, Tische, Tee, mehr braucht es nicht. Wenn dieser Ort eine Universität ist, dann bietet sie ein Studium generale des Lebens. Eines, für das man nicht in Büchern liest, sondern in sich selbst. Die Männer, die hier sitzen, waren reden nicht gewohnt. Als sie noch Jungen waren, hatten sie meist gehört: Du bist ein Mann, ein Mann ist Herkules, weint nicht, kümmert sich um die Familie, schützt die Familie, ein Mann redet nicht, schon gar nicht über Probleme. Ein Mann, der nicht redet, geht ins Männercafé, spielt, trinkt vielleicht oder wird süchtig, schlägt womöglich, geht in die Moschee, betet zu Allah, dass er alles löse, wartet und schließt sich ab von der deutschen Welt um sich herum, lebt in einer Nische. Er ist ein Mann, der Probleme hat, Probleme macht und selbst Problem genannt wird.

Einmal fragte Kazım die Männer: Mit welchen Erwartungen kamt ihr nach Deutschland, wie geht es euch hier?

Ein Erster sagte: Ich kam vor über zwanzig Jahren, heiratete eine Verwandte, wusste nichts von diesem Land, ich bereue es. Ich habe mich immer sehr fremd gefühlt.

Ein Zweiter sagte: Ich kam ’83. Ich habe Sehnsucht, wenn ich an die Türkei denke, aber ich habe mich in Deutschland an die Freiheit gewöhnt. In der Türkei mischt sich jeder in deine Angelegenheiten ein. Wenn es dort wäre wie hier, würden sicherlich viele zurückkehren. Aber wir haben in diesem Land Kinder, Enkelkinder, so blieben wir hier stecken.

Ein Dritter sagte: Mein Onkel erzählte mir, erst wenn du von diesem Land träumst, hast du dich dran gewöhnt. Er lebte seit fünfundvierzig Jahren hier und hatte noch nie von Deutschland geträumt. Ich träumte das erste Mal von Deutschland, als meine Kinder geboren wurden. Ich wusste, nun gehören sie und ich hierher.

Männer sitzen und reden über Heimat, Fremde, über Heimat in der Fremde, Fremde in der Heimat. Sie reden über Ankommen oder warum sie nicht ankamen, über ihre Familie, über die Gesellschaft, über das, was sie verletzt, über Träume, Wunden, Wut.

Einer der Männer mietete sich mal ein Auto, seine Frau lebte in einer anderen Stadt, lebte dort mit ihrem gemeinsamen Kind und einem anderen. Er saß am Steuer, und auf den Sitz neben sich hatte er ein großes Messer gelegt. Er fuhr zwei, drei Stunden, dann dachte er daran, wie er unter den Männern gesessen hatte, um Gewalt an Frauen war es gegangen, Gewalt, die zu nichts führt, nur ins Gefängnis: Was mache ich hier? Er fuhr zurück.

Manchmal hat Kazım auch Leben gerettet, sagt einer der Männer. Kazım sagt nicht, denk dies, denk das, er wirft dir den Ball zu und fordert dich auf, selbst zu denken, sagt ein anderer. Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag; lehre einen Mann zu fischen, und du ernährst ihn für sein Leben.

Kazım, der weder Kamelverkäufer ist noch Schuhputzer, kam Mitte der Siebziger aus der Türkei nach Deutschland. Er konnte kein Deutsch, arbeitete in den ersten Jahren als Hilfsarbeiter, schleppte Getränkekisten und grillte Würstchen, studierte, war Lehrer, Schulpsychologe und zuletzt bei einer Familienberatungsstelle vom Bezirksamt Neukölln. Dort arbeitete er die eine Hälfte des Tages, die andere Hälfte bei seinen Ehrenämtern. Die Männergruppe, mit der er sich jeden Montagabend, achtzehn Uhr, trifft, ist nicht das Einzige, was er gegründet hat: auch eine Beratung für Spielsüchtige, Wochen der Sprache und des Lesens, eine Frauengruppe, eine internationale Männergruppe – das sind die großen Projekte seines Vereins »Aufbruch Neukölln«. Er sieht, wo er anpacken kann, und er würde noch schneller anpacken, wenn ihm nicht immer Geld fehlen würde. Anruf bei Stiftungen, Unternehmen: Wissen Sie was, ich habe heute Nacht geträumt, dass Sie mein Projekt unterstützen, der Traum wird doch in Erfüllung gehen?

Anfangs sahen viele in ihm einen Spinner. Sie sagten: Mit diesen verschlossenen türkischen Männern über Gefühle reden? Das schaffst du nicht! Sie sagten: Eine Sprachwoche? In Neukölln liest doch keiner, jetzt übernimmst du dich! Wenn zu abstrakt, zu argwöhnisch geredet wird, ärgert sich Kazım, er will keine Probleme beschreiben. Wenn ich ein Problem sehe, sagt er, dann handle ich.

Einige, die zu Kazım kamen, wurden offiziell in einer Akte der Beratungsstelle geführt und gingen dann, ohne dass sie es mitbekamen, in sein Ehrenamt über. Sie kamen einfach weiter in sein Büro, und Kazım kümmerte sich, las die Briefe der Behörden, die sie mitbrachten, hörte sich nach einem Job für sie um, sagte ihnen, was zu tun sei, wenn der Strom abgestellt wird. Er hatte Männer bei sich sitzen, drei, vier Monate tranken sie Tee und sagten nicht, was los war. Nach einiger Zeit fragte Kazım: Kann es sein, dass Sie betrogen worden sind? Sie wurden rot, schauten auf den Boden, fühlten sich schwach, und er sagte: Das kann dem stärksten Mann passieren! So einen Satz waren sie nicht gewohnt. Kazım versuchte sie rauszuholen aus dem Anzug, den sie trugen: Wir, die Machos.

Er schafft erst mal eine Atmosphäre, sagen Kazıms Kollegen in der Beratungsstelle, er schenkt Tee ein, und dann hat er nicht nur den distanzierten therapeutischen Ansatz: Erkenne dich selbst, hilf dir selbst, handle, wenn du so weit bist. Er ist wie ein Ältester der Familie, der auch mal fordert: Die Dinge müssen jetzt geschehen. Meine anatolische Art, sagt Kazım und lacht. Er könne seinen Klienten mit türkischer Zuwanderungsgeschichte nicht sagen: Würden Sie zum Jugendamt gehen? Ja, denken sie dann, würde ich. Ein Konjunktiv kann Monate anhalten. Also sagt er: Morgen früh gehen Sie hin, acht Uhr, wenn Sie da gewesen sind, rufen Sie mich an, das ist verbindlich.

Ich bin der größte Narzisst der Welt, hat Kazım einmal gesagt. Meine Frau hat mein Leben ruiniert, sagt Kazım öfter. Und als er operiert werden musste und die Ärztin verordnete: Am Morgen nur was Leichtes, sagte er, kein Problem, ich schlachte nur ein Lamm fürs Frühstück. Und die Ärztin: Ein Lamm? Nein, also ein Lamm, das geht nicht!

Keiner dieser drei Sätze ist wahr. Jeder, der ihn kennt, weiß das. Doch man muss diese Sätze verstehen, um eine Ahnung zu bekommen, wer Kazım ist und wie er das schafft: Menschen mitzuziehen.

Das mit dem Lamm: Ein Scherz natürlich, verriet Kazım der Ärztin aber nicht. Erst beim nächsten Mal, danke, sagte er, danke, weil Sie mir die Geschichte glaubten, so viele haben gelacht. Das mit seiner Frau: ein Scherz natürlich. Ob es sonst eine ausgehalten hätte, fragt sich Kazım, und Gülşen, die es aushielt, antwortet manchmal immer noch: bin verheiratet, aber ledig. Größter Narzisst der Welt: Nur wenn man davon ausgeht, dass er so viel gibt und umso mehr zurückbekommt.

Es ist wahr, Kazım bekam viel zurück. Bedrohungen: Was erzählen Sie meiner Frau? Ich bringe Sie um! Beleidigungen: Sie Haustürke! Beschimpfungen: Dreckiger Türke, wir wollen dich nicht, deine Arbeit nicht, pack die Koffer, verschwinde! Er bekam viele Anrufe, spätabends und am Wochenende. Und er bekam noch was: das Bundesverdienstkreuz.

Man kann es schaffen, von unten, das will Kazım immer zeigen.

Kazım ist in seinen Sechzigern, doppelt so alt wie ich. Kennengelernt haben wir uns vor sechs Jahren, wenig später wurden wir Freunde. Als ich das erste Mal in sein Büro kam, saß er an seinem Computer und schaute sich um, etwas grimmig sah das aus, er stand auf, noch immer grimmig, und sagte nichts, dann lösten sich seine Gesichtszüge: Merhaba, seine Stimme war zugleich zart und bestimmt. Trinken wir einen Çay? Diese Situation wiederholte sich viele Male, mit der Zeit verstand ich, dass Kazım nicht grimmig schaut, sondern einen scannt, man könnte es auch so sagen: Er sieht einen an.

Damals, 2011, begleitete ich ihn als Reporterin eine Woche lang zu seinen Terminen, ständig klingelte sein Telefon, einmal fragte ich: Wichtig? Und Kazım antwortete: Alles, was ich mache, ist wichtig. Wir gingen durchs Viertel, Kazım spurtete, und ich eilte hinterher. Manche riefen ihn den »Kalifen«, so hatte er sich selbst ernannt. Ein Scherz natürlich, doch selbst im Fernsehen, als ein Bericht über ihn lief, wurde am Bildrand eingeblendet: Kazım Erdoğan, »Kalif von Neukölln«. Nach der Ausstrahlung kam einer auf ihn zu: Ich habe Sie im Fernsehen gesehen! Sie sind doch Sultan! Kazım lachte; »Sultan« setzte sich aber nicht durch, er blieb lieber beim »Kalifen«.

Wenn wir Zeit zum Sprechen hatten, saßen wir in der Hofperle, einem Restaurant an der Karl-Marx-Straße. Kazım bestellte Kalifensalat, der Kellner nickte und brachte einen Salat mit Hähnchenbrust und Mango-Chutney, in der Karte heißt er Othello, aber den Kalifen kannte hier jeder, und jeder wusste, was er am liebsten bestellte, Salat und Rotwein, Dornfelder.

Wir sprachen über Dringlichkeit, Umtriebigkeit, und ich fragte mich: Wie macht er das, achtzehn, neunzehn, zwanzig Stunden am Tag arbeiten, beim Bezirksamt in Neukölln, bei seinen Ehrenämtern in Neukölln, wie hält er das durch? Ich schrieb ein Porträt über ihn, hatte aber keine Antwort. Wie hält er das durch? Das hatte ich nicht verstanden.

Sein Büro wurde zu einer Schaltzentrale, jeder brauchte von ihm eine Art von Hilfe, Schulen, Vereine, Erzieher, Journalisten, Männer, Frauen, Kinder. Einmal gab es diese Szene: Kazım wusste nicht, wen er als Erstes zurückrufen sollte, welche Mail am wichtigsten war, er schaute mich an und sagte: Mannomann, in diesem Land habe ich keine Ruhe mehr, und du sagst: selber schuld, wa? Bevor ich antwortete, er: Ja, ich weiß, danke. Es war ein kurzer Ausbruch, ein Aufstöhnen wäre zu viel gesagt, vielleicht war es so etwas wie ein Auf­atmen: ein Atmen, um aufzustehen. Das reichte, dann wollte Kazım los. Komm, machen wir uns auf die Socken, sagte er, von nichts kommt nichts. Wenn du fünf, zehn Minuten mit jemandem sprechen kannst und ihn beruhigst, was verlierst du dadurch? Auf die Gemütlichkeit verzichte ich.

Die Aufgabe, die sich Kazım selbst gegeben hat, ist schwierig, und am besten hat er sie erledigt, wenn er mit ihr nicht auffällt. Es geht ihm nicht ums Löschen, er will da sein, bevor es irgendwo angefangen hat zu brennen.

Wenn ein Gast in die Männergruppe kommt, sagt Kazım manchmal: Ich darf Ihnen meine Helden vorstellen. Er nennt sie Helden, Männer, die Täter und Opfer sind; Helden, weil sie sich nicht verschließen, weil sie reden, über sich, weil sie rausgehen, weil sie sich trauen, ihre Geschichten zu erzählen, auch in diesem Buch. Es sind, wie bei Kazım, Geschichten von Beleidigungen, Beschimpfungen, ­Bedrohungen; Geschichten von Fehlern, Rissen, Wunden. Dreckiger Türke, schimpfte man Kazım. Doch Kazım jammerte nicht, schaute nach vorn, nicht zurück. Er wollte nie die Hauptfigur einer Opfergeschichte sein. Ginge es nur nach ihm, würde »dreckiger Türke« hier nicht mal stehen. Kazım wollte auch nie die Hauptfigur einer Heldengeschichte sein, das hieße, es wäre vollendet, es gäbe keine Probleme. Natürlich gibt es die, natürlich sind nicht alle seiner Männer Ärzte, Anwälte oder Professoren, natürlich gibt es zu viel Gewalt, zu viele Schulabbrüche, zu viele, die nicht gut genug Deutsch sprechen, die in ihrer Nische bleiben, zu viel Du und Ich, zu wenig Wir, natürlich gibt es noch so viel zu tun. Für die Männer, die er Helden nennt, ist Kazım ein Held, weil er sie zu Hauptfiguren ihrer eigenen Geschichte macht, damit sie nicht mehr Objekt sind, sondern Subjekt. Damit sie reden, damit man nicht übereinander spricht, sondern miteinander. Reden, in diesem Sinne, ist Kazıms wichtigstes Handeln.

In diesem Buch wird daher viel geredet. Zu Beginn jedes Kapitels reden Männer, die Kazıms Männergruppe besuchen oder lange Zeit besucht haben. Es sind Männer mit Hauptschulabschluss und Männer mit Universitätsdiplom; Männer, die sagen, sie sind religiös, und Männer, die nie beten; Männer mit einem intellektuellen Duktus und Männer, die im Alltag vieles auf Deutsch regeln, aber stockend. Sie reden über ihre Sehnsucht nach der Türkei, ein Land, aus dem ihre Eltern oder ihre Großeltern kommen, in dem aber niemand von ihnen lange Zeit gelebt hat. Über das Ankommen in Deutschland, wo einige von ihnen geboren und alle aufgewachsen sind. Über das, was sie vermissen, was sie verletzte, verwundete. Sie reden über sich als Männer, Ehemänner, Väter, Bürger. Es sind Gespräche, weder einfach noch eindeutig, denn auch die Männer sind weder einfach noch eindeutig. Es sind Männer, die ihre Zerrissenheit zeigen und ihre Widersprüchlichkeiten. Manchmal sagen sie: Wir Türken, obwohl einige offiziell nur Deutsche sind.

Dass sie das sagen, ist die Summe mehrerer Erfahrungen: Bei jedem sind es andere, doch bei jedem geht es auch um Ablehnungen, um Abwertungen, um das Gefühl, nicht dazuzugehören, und den Drang, irgendwo hinzugehören zu wollen; um die Flucht in eine Zugehörigkeit zur Türkei, die hier, in Deutschland, nicht infrage gestellt wird. Es sind Männer, die suchen, sich suchen, Halt, Sicherheit, Anerkennung. Was sie in diesen Gesprächen nicht geben: eine glatte Antwort auf die Frage, wer die denn sind. Was sie geben: Puzzleteile davon, wie sie wurden, wer sie sind.

Dieses Buch handelt von Kazım, seiner Heimat, seinem Ankommen, seiner Anerkennung, seinem Handeln. Doch genauso wie das Leben der Männer ohne ihn nicht denkbar wäre, wäre auch sein Leben ohne die Männer nicht zu denken. Es ist daher auch ein Buch über die Männer und über ihre Wunden. Man kann es schaffen, das will Kazım immer zeigen. Doch wie schaffen wir das, wie schaffen wir das Zusammenleben?

Nur wenn wir offen reden, helfen wir einander, helfen wir unserer Familie und der Gesellschaft, sagt Kazım zu seinen Männern, die Gesellschaft ist nur stark, wenn die Menschen, die in ihr leben, offen diskutieren. Es erscheint, als bereitete Kazım in seinem Viertel das Land auf etwas vor, was überall immer mehr verlangt wird: die, die dazukommen, mit denen, die schon da sind, zusammenzubringen; keine Sprachlosigkeit; keine Angst vor dem Neuen; keine Probleme, keine Fremden, die kommen, sondern Menschen mit Geschichten. Kazım will nicht die Welt retten, aber er schaut einen Menschen an und sieht in ihm die Welt.

Es kam oft vor in den letzten Jahren, dass ich Kazım anschaute und mich fragte: Was kann ein einzelner eigentlich schaffen?

Identität

Heimat

»Schau mal, was aus dir geworden ist«

Acht Männer sitzen in einem Raum. Das ist ein schlichter Satz für eine schlichte Szene. So schlicht ist der Raum: beinah quadratisch, Fenster zur ruhigen Seitenstraße, weiße Wände, ein weißer Lampionschirm an der Decke. So schlicht ist die Handlung: Männer, in einem Stuhlkreis, trinken Tee aus türkischen Teegläsern, werfen Zuckerstücke in ihre Gläser, rühren. Die Stimmung ist ruhig, abwartend, man hört das Klirren der Löffel an den Teegläserwänden. Einer trägt Hemd, blau; einer trägt Hemd, Holzfäller; zwei Hemd mit Jackett; einer Hemd, schwarz mit Pullover drüber; einer Pullover, schwarz; einer Pullover, weiß. Der achte Mann trägt Hemd, weiß. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, wie meist, der Körper nach vorn gebeugt, der Blick wach, die anderen sieben nennen ihn beim Vornamen: Kazım. Beim Nachnamen: Herr Erdoğan. Oder Kazım amca, ihren Onkel, Kazım abi, ihren großen Bruder, es ist eine Ansprache des Respekts, verwandt sind sie nicht. Einige sagen hocam, mein Lehrer. Gelehrt hat Kazım die Männer vor allem eines – reden. Bevor sie anfangen, eine kurze Vorstellung:

Ismail, Mitte vierzig, in Berlin geboren, Hauptschulabschluss, war mal Maschinenführer, heute ist er Hilfskraft im Büro des Vereins »Aufbruch Neukölln«. Zweimal war er verheiratet, aus den Ehen hat er fünf Kinder. Kazım lud ihn vor zehn Jahren zu einem Treffen in sein Büro ein, zu dritt waren sie, es war der Beginn der Männergruppe. Damals, sagt Ismail, hatte ich ein paar Probleme, sehr schlimme sogar: Ich war ins Meer gefallen und konnte allein nicht schwimmen.

Alişan, Ende fünfzig, machte in Berlin Abitur und studierte Politik. Viele Jahre engagierte er sich bei den Sozialdemokraten und einer Migrantenorganisation. Vor einiger Zeit kaufte er Land in der Türkei. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder. An der Männergruppe, sagt er, imponiere ihm, dass sie Vorurteile bekämpft, die es gegen Männer mit türkischer Zuwanderungsgeschichte gibt.

Mehmet, Mitte fünfzig, saß als Kind die ersten zwei Jahre in Deutschland in einer Klasse und verstand kaum ein Wort. Er repariert Fernseher, Radios und Computer, ist verheiratet, hat drei Kinder. Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal zur Männergruppe ging, dachte er: Mit anderen reden – was soll das denn helfen? Inzwischen kann er nicht mehr ohne, er sagt: Unter den Männern werde ich ruhig.

Hamit, Ende vierzig, war acht, als er nach Deutschland kam. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Textilmaschinenführer, arbeitet heute im Schichtdienst. Er hat sich vorgenommen, im Alter mehr zu beten und in die Moschee zu gehen. Ein Mann, sagt Hamit, rede selten über Persönliches, nie hätte er vor seinen Freunden über seine Ehe oder seine Kinder gesprochen. Erst in der Männergruppe habe er damit begonnen.

Adem, Ende fünfzig, besuchte eine Grundschule in Bayern, bevor er mit seiner Familie nach Berlin zog. Nach seinem Studium der Chemie promovierte er. Er ist geschieden und hat keinen Kontakt zu seiner Ex-Frau und den zwei erwachsenen Kindern. Ich habe in der Gruppe gelernt, sagt Adem, welche Fehler ich machte, und dass ich nicht der Einzige bin mit Fehlern.

Celal, Ende vierzig, kam mit zwei Jahren nach Deutschland, machte Abitur und schloss sein Studium als Diplomkaufmann ab. Er arbeitete in Leitungspositionen, auch im Ausland, derzeit ist er freier Dozent in der Erwachsenenbildung. Verheiratet, zwei Söhne. Er leitet seit ein paar Monaten auch eine Männergruppe in einem anderen Berliner Bezirk. Wir dürfen nicht unter uns bleiben, sagt Celal, sondern müssen mit unseren Geschichten in die Öffentlichkeit. Damit alle mitkriegen, was wir draufhaben.

Tarkan, Ende zwanzig, in Berlin geboren, Hauptschulabschluss, besucht eine Schauspielschule. Als Einziger in der Runde ist er kein Vater, hat sich aber vor Kurzem verlobt. Er war eines der ersten Mitglieder der Männergruppe. Es gab Tee, Kekse, das ist ja ganz angenehm, fand er, aber was sollte er unter all den Älteren? Tarkan kam, weil Kazım ihn immer wieder anrief, bald dachte er: Ist doch interessant, was die Älteren machen, sie haben Probleme und suchen nach Lösungen.

Kazım: Liebe Freunde, lasst uns darüber reden, wie wir uns fühlen, wenn wir in die Türkei verreisen, wenn wir am Flughafen am Schalter stehen und den Pass abgeben. Ich freue mich in diesem Moment, doch wenn ich dort bin, erinnere ich mich schnell daran, dass ein Teil von mir, meine andere Hälfte, in Deutschland geblieben ist. Wie fühlt ihr euch, wenn ihr ankommt in der Heimat der Eltern, der Großeltern?

Tarkan: In Istanbul anzukommen ist für mich immer ein besonderer Moment. Ich habe einen deutschen Pass, darin steht mein Name: Tarkan Bruce Lohde. Türkischer Vorname, englischer Zweitname, deutscher Nachname. Der Beamte schaut den Pass an, gibt ihn mir zurück und sagt: Hoşgeldiniz Tarkan Bey – Willkommen, Herr Lohde. Und lächelt.* Wenn ich in Berlin ankomme, schaut der Beamte in den Pass (Er ahmt den Beamten nach: kritischer Blick auf seine Handfläche), gibt ihn mir zurück und schaut mir so nach. (Er legt die Stirn in Falten und guckt abschätzig zur Seite, alle lachen) Das ist der Unterschied! Die Grundstimmung ist eine völlig andere, vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass in der Türkei öfter die Sonne scheint.

Adem: Wärme!

Tarkan: Ist echt so. Menschen in wärmeren Ländern sind auch wärmer.

Kazım: Tarkan, vielleicht hat dieser Beamte, der dich so kalt empfangen hat …

Tarkan:(unterbricht ihn) … das ist jedes Mal so!

Kazım: Vielleicht hatte der Beamte in Deutschland an diesem Tag eine Sorge und ihm war nicht nach Lachen, und der Beamte in der Türkei war gut gelaunt. Ich habe in den türkischen Flughäfen auch andere Erfahrungen gemacht. Die Gesichter der Polizisten sahen oft aus wie die Wände von Gerichtssälen. Was sagt das Innere, wenn ihr in der Türkei seid?

Mehmet: Wenn ich ankomme und die türkische Flagge sehe, fühle ich mich frei. Dieses Gefühl … kann man gar nicht beschreiben.

Adem: Ich habe mal in Istanbul gearbeitet und den Alltag kennengelernt. Drei Tage konnte ich nicht duschen. Wenn ich den Wasserhahn aufdrehte, kam Luft raus. Erst am vierten Tag bekam ich mit, dass es nur zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr Wasser gibt. Ich ging immer nur bei Grün über die Straße, aber den Rechtsabbiegern waren Fußgänger völlig egal, dreimal wäre ich fast überfahren worden. Und dann draußen immer nur fünfunddreißig, vierzig Grad, das nervte total. Nach drei Monaten packte ich meine Koffer, bin nach Berlin zurück und habe eine Stunde lang vom Balkon aus den Regen beobachtet.

Kazım: Was ist für dich deine Heimat?

Adem: Wenn ich in der Türkei ankomme, denke ich: Das ist Heimat. Und wenn ich zurück nach Deutschland komme, denke ich: Zuhause. Drüben Heimat, hier Zuhause. Ich komm gern nach Hause, nach zwei Wochen in der Heimat habe ich die Schnauze voll.

Kazım: Für mich ist Heimat nicht an einen Ort gebunden, nicht an das Land, aus dem ich komme, und auch nicht an das Land, in dem ich lebe. Es ist ein Gefühl: Heimat ist dort, wo ich mich wohlfühle, wo ich das Leben mit Menschen teile und zu einer Gemeinschaft gehöre.

Alişan: Für mich gibt es zwei Sachen, die in der Türkei jedes Heimatgefühl zunichtegemacht haben. Erstens: Zebrastreifen! (Alle lachen) In Deutschland hast du zu halten, wenn eine Person über den Zebrastreifen geht. In der Türkei wirst du beschimpft, wenn du bremst, Autos haben immer Vorrang. Zweitens: In dem türkischen Dorf, aus dem meine Familie stammt, habe ich zwei syrischen Familien, die in Baracken leben, ohne Wasser, ohne Strom, Lebensmittelpakete gegeben. Dieses Dorf ist kemalistisch, geschlossen wählt es gegen Erdoğans AKP. Und doch haben sie mich alle beschimpft, weil ich Flüchtlingen helfe! Das widert mich an. Dass sich die, die sich in der Türkei als links und sozialdemokratisch bezeichnen, feindlich geben gegenüber Flüchtlingen, gegenüber Fremden.

Adem: Was ist der Grund?

Alişan: Die Flüchtlinge werden als Vaterlandsverräter gesehen, weil sie ihre Heimat verließen und nicht gekämpft haben.

Adem: Das klingt wie Hohn: nicht gekämpft gegen amerikanische und russische Bomben!

Alişan: Ich habe versucht dagegenzuhalten, ich sagte: Ihr kritisiert Menschen, die wegen Krieg ihre Heimat verlassen mussten. Viele von uns Türken aber haben die Heimat wegen Armut verlassen. Sie sagten: Nein, wir waren Arbeiter, wir haben uns in Deutschland Rechte erworben. Aber die Syrer, die hätten ihre Heimat verteidigen müssen. Ehrlich, wenn ich versuche zu argumentieren wie in Deutschland, gehe ich in der Türkei unter. Sowieso: In der Türkei bin ich immer Deutschländer. Was die Menschen dort einem antun, nur weil man aus Deutschland kommt, das hat kein Deutscher hier den Ausländern angetan. Als Deutschländer bin ich dort immer ein potentielles Opfer.

Adem: Ich machte die Erfahrung, dass wir Deutschländer in der Türkei als rückständig und ungebildet betrachtet werden, als hätten wir uns nicht entwickelt. Bei einigen stimmt das auch. Sie lernten in der Türkei nichts, kamen nach Deutschland, lernten auch hier nichts und behielten das Know-how von vor vierzig, fünfzig Jahren. Das führt zu dem Bild, mit dem wir alle konfrontiert werden: In beiden Ländern werden wir als die Ungebildeten gesehen.

Alişan: Wisst ihr, was mir in Deutschland ein Heimatgefühl gab? Bis vor fünfzehn Jahren bin ich hier nie nach einer Adresse gefragt worden. Und auf einmal wollte einer von mir in Schöneberg den Weg wissen. Was für ein Gefühl! Und es blieb nicht bei einem, immer mehr fragten mich. Ich dachte: Hat sich vielleicht doch etwas geändert? Wenn sie mich nach dem Weg fragen, dann nehmen sie mich wohl als ganz normalen Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland wahr.

Kazım: Liebe Freunde, wir alle sind Kinder der Migrationsbewegung und auch ein bisschen geschädigt davon. Das fühlen wir, das müssen wir ausdrücken, damit wir uns von diesem Gefühl entfernen. Und vielleicht ist es manchmal schwer, Gemeinsamkeiten zu finden, aber wir sollten das Schritt für Schritt versuchen.

*

Wird er wach, steht er auf, fünf Uhr in der Früh ist es oft, manchmal vier Uhr dreißig. Einmal dreht er sich um; zweimal, sagt Gülşen, seine Frau, wäre Zeitverschwendung. Vor einigen Monaten nahm er dann die Butterbrote fürs Büro mit oder, in einer Dose, das, was Gülşen für ihn machte, grüne Bohnen, gefüllte Paprika, und gegen Mittag konnte man ihn in seinem Büro beobachten, wie er mit der einen Hand aß und mit der anderen arbeitete. Gülşen kriegte fast nie mit, wenn er aufstand. Wurde sie wach, war er längst von 12355 Berlin-Rudow nach 12055 Berlin-Neukölln gefahren: zu seiner Dienststelle, Bezirksamt Neukölln.

Ich kann nicht länger schlafen, sagt Kazım, kann ich einfach nicht, keine Ruhe, neunzig Prozent meiner Festplatte sind voll mit Projekten. Es ist nicht lang her, sagt Gülşen, da schwitzte er nachts die Unterhemden durch; ich musste sie dann auswechseln, sagt Kazım. Vielleicht lag’s am Herzen, an der Arterie, verstopft war sie. Ich sagte immer, geh zum Arzt, sagt Gülşen; ich geh immer zum Arzt, sagt Kazım. Kazım arbeitet zu viel, sagen alle; ich sag da nichts mehr zu, sagt Gülşen. Kazım sagt, ach, wenn man morgens aufwacht, muss man anfangen, nicht den Teufel an die Wand malen, man steht auf, fängt an, packt an.

Inzwischen ist Kazım in Rente. Wie die Rente aussieht, hatte er vorher angekündigt: Ich lasse den Acker nicht brach. Wenn ich in Rente bin, habe ich acht Stunden mehr jeden Tag, dann gründe ich eine Vätergruppe in der Türkei, dann gründe ich eine Stiftung.

Er wacht auf, steht auf und macht das, was er während des Arbeitslebens zu wenig schaffte: fährt zu Tagungen, hält Vorträge, geht zu Podiumsdiskussionen. In den Räumen seines Vereins hat er sich ein Büro eingerichtet, dort empfängt er die, die zuvor in sein offizielles kamen. Sie finden ihn nicht mehr in der Böhmischen Straße 39, sondern auf der anderen Seite des Richardplatzes, in der Uthmannstraße 19, zu Fuß achthundertfünfzig Meter. Es ist die wesentlichste Wende im Leben von Kazım, dem Rentner.

Warum macht er, was er macht? Warum reibt er sich so auf, warum steht er nicht still? Warum von einer Idee zur nächsten, ohne Sitzen, ohne Stopp, selbst dann, wenn er ohne Kraft ist? Warum geht er einen Tag nach einer Operation in sein Büro?

Kazım gibt auf diese Fragen keine Antworten, was daran liegt, dass er das Arrangement der Fragen nicht versteht. Als ich ihm einmal sagte: Kazım, wenn ich über dich rede, wollen viele wissen, warum du so für andere ackerst, schaute er mich an, und weil ihm keine Erklärung kam, kam nur ein Wort: Ehrlich? Damit war alles gesagt, was er zu sagen hatte. Ich ahnte, dass es etwas ist, das man nur verstehen kann, wenn man es sich da anschaut, wo es sich unauflöslich mit ihm verband.

Wir reisen in das Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Flug nach Kayseri, dreieinhalb Stunden Autofahrt durch lange Weite, durch die Mitte Anatoliens. Ein Schild: ­Gökçeharman 5 km. Wir biegen ein, Schotterweg, bergab die Serpentinen, nun steht Kazım auf einem Hügel, rechts und links Feld, geschwungene Berge, als hätte jemand aus dem lockeren Handgelenk getuscht und viel Grüntöne ausprobiert. Etwas Grau für die Steine, etwas Braun für Rinder. Kazım steht auf dem Hügel, schaut ins Tal, Grundrisse von Häusern, in denen niemand mehr wohnt, kein Mensch, kein Leben, kein Ort, den er kennt. Unglaublich, sagt Kazım. Sagt es noch mal und noch mal, dann Schweigen. Stille. Ein Kuckuck ruft.

Es ist dreißig Jahre her, dass Kazım in seinem Dorf war. Dreißig Jahre: So alt, so verblichen, so lebendig ist das Bild des Dorfs in seinem Kopf, wie eine Fiktion. Und nun, da die Fiktion auf die Wirklichkeit stößt, bringt es ihn zum Weinen. Die neue Form passt nicht mehr ins alte Gefäß.

Was passierte hier? Diese Frage wird er in den Tagen im Dorf wieder und wieder stellen, gepaart mit Kopfschütteln und einem ungläubig ausgesprochenen Mannomann. Was passierte hier? Eine Frage, deren stärkste Antwort die Wiederholung ist. Eine Frage, der viele Fragen folgen.

Was passiert mit Orten, die verlassen werden? Was bleibt, wenn sie überwuchert werden von Gräsern, von Wäldern; wenn keine Gerste mehr wächst, kein Weizen, keine Hühner mehr gackern, keine Schafe blöken; wenn Kazıms Mutter nicht mehr auf dem Feld erntet, die Großmutter nicht mehr zum Essen ruft und Kazım nicht mehr die Aprikosenbäume hochklettert, um sich im Geäst zu verstecken; wenn er nicht mehr hochklettert, um von Onkel Ismails Bäumen die Pflaumen zu klauen? Was bleibt, wenn das Leben, wie man es kennt, weggesaugt ist, wenn ein anderer Ort zu sehen ist, eine andere Landschaft?

Kazım steht auf dem Hügel, und je länger ich ihn anschaue, ihn und die Unruhe im Gesicht, in den Beinen, je mehr er auf und ab geht, den Kopf schüttelt, desto klarer wird, dass der Ort, wie er war, zugleich weg und immer noch da ist. Kazım hatte ihn, wie in einer Konserve, mit nach Deutschland genommen. Hier, an diesem kleinen Ort Anatoliens, wo für Kazım wenig so ist, wie es war, wo nur noch vier Menschen leben, nicht mehr Hunderte, wird er die nächsten Tage das auspacken, was er in Deutschland bewahrt hat. Er findet Sätze für sein Leben, das hier loslief, und je mehr er erzählen wird, desto mehr wird er ganz sanft, ganz leise Antworten geben: Warum er macht, was er macht, warum er sich aufreibt, nicht still sitzt, nie stoppt.

Die Familie Erdoğan wohnte in einem Haus aus übereinander- und quergestapelten Steinen, die man in der Gegend fand, dazwischen etwas Holz, das Dach flach, aus Erde, und wenn Regen fiel oder Schnee, zogen sie mit einer Steinwalze drüber, damit es nicht reintropfte. Kazım, benannt nach einem Imam der Aleviten, war das dritte Kind, geboren zur Erntezeit im Juni 1953. Vor ihm die Schwestern İnci und Yeter, und nach ihm Bruder Hıdır, Navruz, die mit zwei Jahren starb, Elif, die mit einem Jahr starb, Sultan, die mit einem Jahr starb, Sadet, Muzaffer, zwei Söhne ohne Namen, denn ihr Tod kam zu schnell, und Hasan, der Jüngste der Geschwister, geboren 1967. Vor dem Haus befand sich all das, was sie besaßen: ein Stall, gebaut wie ihr Haus, Stein auf Stein, mehr als hundert Schafe, fünfzig Hühner, fünfzehn bis zwanzig Ziegen, vier Ochsen, je zwei für einen Pflug, um die Felder zu bestellen, zwei Kühe, ein Pferd, ein Esel.

Vor allem aber besaßen sie zwei Hände, mit denen sie arbeiteten, mit denen sie pflügten, säten, ernteten. Sie zogen auf das Feld, auch die Kinder, schnitten mit der Sichel die Halme ab, banden sie zusammen, stapelten sie, ein paar Tage trocknen, Esel und Pferd halfen beim Abtransportieren, und die Muskelkraft des Ochsen half der Maschine beim Dreschen: Weizenkörner für die Menschen, um Mehl zu machen, Brot zu backen, und die Spreu, um im Winter die Tiere durchzubringen.

Der Ort Gökçeharman besteht aus zwei Teilen. Ömeran heißt der eine, und der andere, wo die Familie Erdoğan wohnte, Keklik Pınarı. Keklik: Rebhuhn, und Pınar: Quelle, Brunnen. Ein Ort, benannt nach dem, was man vorfand. Massenweise sammelten sich im Tal die Vögel, grau, rötlicher Kopf; und im Zentrum plätscherte eine Quelle, ein Wassertrog, aus dem die Tiere tranken, und ein Hahn, aus dem die Menschen schöpften. Im Sommer kühlten sie im Brunnen Melonen und Rakı.

Kazıms Vater ist in Keklik Pınarı geboren, wie auch sein Großvater und sein Urgroßvater. Vom Ururgroßvater weiß man so viel, dass er in Keklik Pınarı starb, aber nicht, wann er aus Tunceli, dreihundert Kilometer entfernt, in das Dorf kam und mit seiner Ankunft immer mehr Menschen kamen. Achtzig Frauen und fünfundachtzig Männer waren es 1935, 1940: einhundertfünfundsiebzig Frauen und einhundertfünfundsiebzig Männer, 1955: einhundertsiebzig Frauen und einhundertsiebenundachtzig Männer.

Kazıms Mutter Hatem, wohl 1928 geboren, so steht es im Pass, aber so genau notierte es keiner, und Kazıms Vater ­Battal, 1926 geboren, was auch keiner sicher weiß, heirateten Anfang der vierziger Jahre, sie war fünfzehn, er siebzehn. Eine arrangierte Ehe, gefragt wurde nicht, sie muckten nie auf, die Ehe war harmonisch, jeder erledigte seine Aufgaben. Sie lebten zusammen mit den Eltern seines Vaters, dessen Brüdern Maksut und Mahmut und deren Kindern, sechsundzwanzig Menschen in fünf Räumen. Kurz nachdem Kazım auf der Welt war, wurde es zu eng, und Kazıms Eltern und Großeltern zogen mit Kazım und seinen zwei Geschwistern vom Tal etwas höher an den Hang. Ein Haus mit Ofen, in dem sie die Brote backten, einer Kochstelle und an den Wänden geknüpfte Wandteppiche. In einem Raum drei, vier Betten; die Kinder zu zweit in einem, in der Matratze Wolle, die sie von den Schafen geschoren hatten.

Die Tage unterschieden sich kaum, Kazıms Mutter stand auf, um vier, um fünf, ging zwanzig Stunden später schlafen. In der Früh machte sie Frühstück für Kazıms Vater und bereitete ein Essenspaket für seine Pause vor, briet Fleisch und rollte es ins Brot, ging in den Garten, kümmerte sich um Bohnen, Gurken, Tomaten, Kartoffeln. Kazıms Vater arbeitete auf dem Feld, wenn er Feierabend hatte. Zuvor arbeitete er bei der Eisenbahngesellschaft, ein einfacher Angestellter der Gruppe 4312, Bahnhof Avşar. Jeden Morgen lief er ein­einhalb Stunden über die Felder zum Bahnhof, und jeden Abend eineinhalb Stunden zurück. Die Aufgabe der Gruppe 4312