Kein Duke zum Verlieben! - Katherine Collins - E-Book

Kein Duke zum Verlieben! E-Book

Katherine Collins

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Beschreibung

Als notorischer Frauenheld trifft es Lord Nathan Mannings schwer, dass seine eigene Braut ihn in der Hochzeitsnacht verschmäht. Fortan versucht er sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Lady Annabell Mannings, von ihrem Onkel in die Ehe geprügelt, nimmt, nach jahrelang erduldeter Verbannung, ihre Zukunft selbst in die Hand. Eine Scheidung muss her und zwar schnell!

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Seitenzahl: 348

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Katherine Collins

Kein Duke zum Verlieben!

Love is waiting

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 Konfrontation

Kapitel 2 Kindsbraut

Kapitel 3 Der Tanz um den heißen Brei

Kapitel 4 Geständnisse

Kapitel 5 Offenbarungen

Kapitel 6 Annabell

Kapitel 7 Nathan

Kapitel 8 Stütze in der Not

Kapitel 9 Entsagung

Kapitel 10 Die Duchess of Kent

Kapitel 11 Stimmst du zu?

Kapitel 12 Die lieben Verwandten

Kapitel 13 Die Zeit wird knapp

Kapitel 14 Die letzte Chance

Kapitel 15 Vergangen, aber nicht vergessen

Kapitel 16 Ein Blick in die Vergangenheit

Kapitel 17 Ein neuer Anfang

Kapitel 18 Die hochwohlgeborene Miss Bell Beaufort

Kapitel 19 Ein Meer an Möglichkeiten?

Kapitel 20 Kein Neuanfang ohne Abschluss

Kapitel 21 So arm wie eine Kirchenmaus

Kapitel 22 Der Zauber der Verliebtheit

Kapitel 23 Komplikationen

Kapitel 24 Konfrontation

Verzeih mir, mein Herz!

Dir gehört mein Herz

Lady Madeline in Not

Flucht ins Glück

Widmung

Melodie der Hoffnung

Impressum neobooks

Kapitel 1 Konfrontation

Windermere House, London, Frühjahr 1797

Ruhig sah sich Annabell Scott Mannings, Duchess of Kent, im Besuchersalon des Londoner Wohnhauses ihrer Tante um. Obwohl er durchaus geschmackvoll eingerichtet war, konnte ein geschultes Auge an ein paar Details erkennen, dass es dem Inhaber an finanziellen Mitteln fehlte. Der Teppich verlor an Farbe, und offensichtlich war die Sitzgruppe verstellt worden, um beginnende Abnutzungserscheinungen desselben zu verdecken. Das Ergebnis war eine merkwürdige Konstellation von zwei Chaiselonguen und drei Paar zierlicher Stühle. Die drei Beistelltische rundeten das Bild keineswegs ab, waren sie doch Überbleibsel verschiedener Epochen und standen unsymmetrisch zu den Sitzgelegenheiten. Dafür war nicht an Kunst gespart worden. Große Gemälde hingen an den Wänden und lenkten von den alten Seidentapeten ab. Auf dem Kaminsims und den Kommoden standen Figurinen und handtellergroße Abbildungen der Familienangehörigen. Der Töchter des Hauses, genau genommen, und die waren darauf außergewöhnlich gut getroffen, obwohl die Jüngste in Persona nicht halb so damenhaft erschien wie auf dem kleinen Porträt.

Annabell wendete den Bildnissen den Rücken zu und nahm seufzend auf einer Chaiselongue Platz, die ungünstig zum Fenster stand. Das grelle Morgenlicht der Maisonne raubte ihr den Blick. Sie schloss die Augen und ließ ihr Gesicht in ihm baden. Die Wärme der Strahlen sackte durch zu ihren Knochen und vertrieb die Unruhe, die sich ob des anstehenden Gesprächs in ihr aufgebaut hatte.

Annabell wappnete sich. Sie würde unerbittlich sein müssen, so wie es die Verwandten vor all den Jahren zu ihr gewesen waren. Sie würde eisenhart auftreten und mit Vergeltung drohen. Mit dem Ruin, sollte es nötig sein.

Sie war bereit, die Tante und den Onkel gesellschaftlich völlig zu vernichten. Annabell schluckte das schlechte Gewissen und alle aufkeimenden Gedanken über die Konsequenzen resolut hinunter. Es war nötig, und sie durfte nicht klein beigeben.

Sie war darauf gefasst, lange warten zu müssen, bevor sich die Verwandten mit ihr befassten. Daher war sie gehörig erstaunt, als der Butler sie bat, ihm zu folgen. Sie wurde in das Arbeitszimmer Lord Windermeres geführt und dort vom Earl of Windermere persönlich begrüßt: »Euer Gnaden, bitte nehmen Sie doch Platz, ich hoffe, Sie haben nicht zu lang warten müssen …«

Nervös wrang der Lord die Hände und sah seiner Nichte besorgt ins Gesicht. Diese erwiderte kalt seinen Blick und senkte hoheitsvoll den Kopf zu Begrüßung.

»Wie ich sehe, ist Lady Windermere säumig.«

»Ihre Ladyschaft ruht noch, ich bin sicher, wir können alle eventuellen Geschäfte ohne sie …«

»Inakzeptabel«, unterbrach die Duchess of Kent eisig und nahm befriedigt zur Kenntnis, wie ihr alternder Onkel schluckte. Schnell klingelte der Earl nach dem Butler und trug ihm auf, die Dame des Hauses schnellstmöglich herzubringen. Räuspernd setzte der Earl erneut an: »Euer Gnaden, darf ich Ihnen ein Glas Sherry anbieten? Oder lieber eine Tasse Tee?«

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Windermere, und mein Billett war eindeutig.«

Die Nachricht, die Annabell ihren Verwandten vor ihrem überraschenden Besuch hatte zukommen lassen, war in der Tat eindeutig gewesen. Sie hatte genug Informationen und verdeckte Andeutungen enthalten, um dem Lord Angst und bange werden zu lassen. Nach endlosen Momenten, die Windermere mit gepflegter Konversation zu überbrücken versuchte, erschien die Tante in einem leicht derangierten Zustand. Sie begrüßte die Nichte überschwänglich und brachte mehrfach zum Ausdruck, wie gut es die letzten Jahre mit ihr gemeint hätten.

Die Duchess verzog ansatzweise das Gesicht. Ohne weiteres Federlesen kam sie zum Grund ihres Besuches.

»Ich benötige eure Unterstützung und ich denke, ihr werdet sie mir gerne gewähren.« Obwohl sie keine Frage gestellt hatte, beeilten sich die Windermeres, ihr wortreich ihre volle Unterstützung zuzusichern und überschlugen sich dabei fast mit der Bekundung, wie herzlich gerne sie ihr halfen. Angewidert wendete die junge Frau dem Paar den Rücken zu.

»Ich werde dieses Jahr an der Saison teilnehmen. Ich beabsichtige einen Skandal heraufzubeschwören, und eure Hilfe wird darin bestehen …«

Sie drehte sich wieder zu dem Lord und seiner Frau um, um sich den Moment der Verblüffung nicht nehmen zu lassen. Mit einem leichten Lächeln auf den sinnlichen Lippen fuhr sie fort: »… meine Identität zu wahren. Ich werde als Miss Bell Beaufort auftreten, Suffolks Cousine, und ihr werdet dafür sorgen, dass all eure teuren Bekannten nicht die kleine Annabell Scott in mir sehen. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, was bei einem Ausrutscher eurerseits auf euch zukäme, oder? Wenn man bedenkt, dass die arme Marie und die bedauernswerte Ninette mittellos einen Gemahl finden sollen …«

Annabells ehrlich bekümmerte Miene wurde durch ein ermutigendes Lächeln aufgeheitert.

»Aber dem muss ja nicht so sein! Sorgt dafür, dass eure Töchter sich nicht verplappern!« Mit einem letzten wohl einstudierten Blick, der seinerseits Schlimmes in Aussicht stellte, nickte sie ihren Verwandten knapp zu und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Raum.

Ärgerlich zischte Lady Windermere ihrem Gemahl zu: »Das ist alles deine Schuld!«

»Du hast ihr Geld auch ausgegeben, Werteste, vergiss das nicht!«, grummelte der Earl erschöpft und fuhr sich durch das schütter werdende, graue Haar. »Wer hätte auch gedacht, dass Madeleine ihrer Aufgabe nicht nachkommt! Verfluchtes Gör!«

London, Barkley Square, Beaufort House

Mit einem Lächeln begrüßte Annabell den Lakaien, der ihr bei ihrer Rückkehr ins Haus ihres Schwagers die Tür öffnete. Sie nahm sich den Hut ab, rollte sich routiniert die Handschuhe herunter, um sie auszuziehen, und reichte beides dem wartenden Lakaien. Dann folgte sie den Stimmen ihres Schwagers und ihrer Schwester, die sich wie gewohnt am Frühstückstisch zankten. Annabell blieb am Türrahmen gelehnt stehen und betrachtete die liebliche Szene vor ihr. Lord Suffolk war aufgestanden und stützte sich vornüber gebeugt auf dem Tisch ab, sein markant geschnittenes Gesicht war nur wenige Zentimeter vom Gesicht seiner hübschen, brünetten Frau entfernt, die ihm aufmüpfig die Zunge rausstreckte, bevor sie leichthin bemerkte: »Und ob!«

Suffolk war deutlich anzusehen, dass er gerade zu einer langen Litanei ansetzen wollte, als er seiner Schwägerin gewahr wurde, deren vor Schalk glänzende Augen ihre Belustigung verrieten. Marcus Beaufort, 5. Viscount of Suffolk, straffte seine muskulöse Gestalt und deutete eine Verbeugung an.

»Schwester, du bist schon auf?«, erkundigte sich Sarah und strahlte sie an.

»Ich bin sogar schon zurück!«, antwortete Annabell lachend und schlenderte zur Anrichte, um sich vom Büfett zu bedienen.

»Und? Wie haben Lord und Lady Windermere reagiert?«

Mit großen Augen beobachtete Sarah ihre kleine Schwester, gespannt auf den Bericht wartend. Annabells Plan war ihr gar nicht geheuer, und sie wusste, dass auch Marcus ihn für bedenklich hielt. Nein, das war das falsche Wort. Viscount Suffolk verabscheute ihren Plan, und nur seiner abgrundtiefen Abneigung seinem Schwager gegenüber hatte Bell seine Unterstützung zu verdanken – und der Tatsache, dass es dem Viscount von je her unmöglich gewesen war, dem kleinen Quälgeist Bell etwas abzuschlagen.

»Sie haben wie erwartet reagiert: gar nicht«, seufzte Bell schulterzuckend und goss sich Kaffee in die Tasse. »Sie werden tun, was ich von ihnen verlange. Schließlich bin ich die Duchess of Kent.«

Diese Feststellung verlangte nach einem neuerlichen Seufzer, der länger und wesentlich schmerzlicher war.

»Vergiss nicht: Ich könnte Madeleine mit ihren Töchtern wieder zu ihnen zurückschicken. Ich könnte die Heiratsaussichten von Ninette und Marie ruinieren oder einfach nur mein Brautgeld zurückverlangen! Ihnen bleibt keine Wahl, sie werden tun, was ich ihnen sage!« Ein bitterer Zug legte sich um die sonst so sanften Lippen der Duchess. »Zumindest drohe ich ihnen nicht mit Gewalt.«

»Oh, Annabell!« Sarah eilte zu ihr und strich mitleidig über Annabells Rücken. Sie fühlte sich wieder so schuldig wie vor sieben Jahren. Suffolk biss wütend die Zähne zusammen. Seit ihrer Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise wurden seine Frau und er die Last der Mitschuld nicht mehr los. Annabell bemühte sich stets, redlich ihre Vorwürfe zu zerstreuen, schließlich hatten Suffolk und Sarah das junge Mädchen damals in sicheren Händen geglaubt. Aber so einfach ließ sich das Gewissen nicht beruhigen oder gar beschwichtigen.

Annabell schenkte der Schwester ein zärtliches Lächeln. Sie nippte an ihrer Tasse und suchte nach den richtigen Worten, um Sarah und Suffolk die in deren Augen stehenden Schuldgefühle wieder zu nehmen, obwohl sieben Jahre emsiger Beteuerungen dies bisher nicht geschafft hatten.

»Es ist vorbei«, versicherte sie, »und fürchterlich lange her.«

»Nein«, widersprach Suffolk grimmig, und seine Miene verzog sich zu resigniertem Ärger. Seine Wangenmuskeln zuckten unter der Belastung fest aufeinander gepresster Lippen. »Das ist es nicht, und obwohl ich hoffe, dass das Ende endlich naht, wird es kein glückliches sein.«

Sarah blinzelte ihre Tränen fort, und Annabell atmete tief durch.

»Es wird glücklich sein, Marcus«, versicherte sie sanft. Sie stellte die Tasse fort und trat auf den Viscount zu, um ihn zu umarmen. »Ich werde glücklich sein, wenn das alles erst einmal vorbei ist.«

Suffolk verlor seine Steifheit und legte kurz die Arme um die Schwägerin. Nach einem kleinen Moment löste sie sich wieder von ihm, umarmte kurz die beistehende Schwester und verkündete jovial: »So, ich habe noch ein paar Vorbereitungen für heute Abend zu treffen, bitte gebt mir Bescheid, wenn Madeleine eintrifft! Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Sie warf den beiden Menschen, die ihr das Wertvollste auf der Welt waren, eine Kusshand zu, bevor sie aus dem Raum eilte.

Cormack House, London

Es herrschte wie gewohnt dichtes Gedränge im Ballsaal, und die Luft war dick genug, um in feine Scheiben geschnitten werden zu können. Annabell ließ sich von Suffolk vom Tanzparkett geleiten und strahlte ihn glücklich an. Er war der einzige Mann, mit dem sie es aufrichtig genoss zu tanzen. Wahrscheinlich war der Grund dafür, dass Suffolk ihr Lehrer gewesen war und sie sich in seinen Armen geborgen wie ein Neugeborenes fühlte. Er verabschiedete sich sogleich mit dem Hinweis, ein Auge auf Ninette werfen zu wollen, wie er es früher am Abend deren Schwester versprochen hatte. Neben Sarah hatte sich auch ihre Cousine Madeleine bei ihnen eingefunden und drückte ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange.

»Du siehst hinreißend aus, Annie!«, schwärmte sie hingerissen und biss sich dann auf die Lippen. »Verzeih, Bell … ich muss mich erst daran gewöhnen!«

Annabell lächelte Madeleine an und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Gewöhne dich besser schnell daran!«, mahnte sie gespielt streng. Sie strich sich über die blass blaue Robe, die sie erst am Morgen zugestellt bekommen hatte und die wie angegossen passte. Ein perfektes Kleid für ihren ersten Auftritt in der Gesellschaft als Bell Beaufort. Für die Duchess of Kent wäre es bei weitem zu schlicht gewesen, erwartete man doch von einer so hochgestellten Persönlichkeit Außergewöhnliches. Die Hausherren hatten sie bei ihrer Vorstellung neugierig gemustert, und der Grund dafür war kaum verwunderlich. Als Peer der britischen Krone war Suffolk kein unbekanntes Blatt, genauso wenig wie seine Familienangehörigen. Wie genau Bell dazugehörte, war bisher ein zu ergründendes Geheimnis. Ein gewolltes Geheimnis. Madeline hatte beteuert, dass etwas Rätselhaftes Bell genügend Aufmerksamkeit bescherte, um bemerkt zu werden, sich die Neugierde aber schnell befriedigen ließe durch sorgsam gestreute Informationen. Annabell war nicht glücklich damit.

Zwar schätzte sie die Möglichkeit, in die Gesellschaft eingeführt zu werden, aber eigentlich wollte sie lediglich die Sache beenden, derentwegen sie nach London gekommen war und dann nach Bath zurückkehren, wo sie auf dem Landsitz ihres Schwagers in Ruhe ihr Leben verbringen wollte. Abgeschieden von der Welt, gerade so, wie sie die letzten sieben Jahre verbracht hatte. Annabell senkte den Blick zu Boden und drehte etwas von dem Taft ihres Kleides um die darin vergrabenen Finger. Sie wusste, dass sie bereits mit ihrem Kleid Aufsehen erregt hatte.

Madeleine war es nicht müde geworden, sie ob ihrer Schlichtheit und der viel zu biederen Aufmachung in den Ohren zu liegen. Sie müsse hervorstechen, hatte die Cousine gemahnt, ganz so, als galt es, für Annabell einen Galan zu finden. Einen Gatten. Allein der Gedanke brachte sie zum Erschauern. Sie war nicht deswegen nach London gekommen, schließlich war sie bereits verheiratet, und zwar mit einem Duke der britischen Krone. Leider. Lediglich, dass Annabell auf Schmuck verzichtet hatte, war gebilligt worden, schließlich trug ein unverheiratetes Mädchen keine Juwelen. Stattdessen trug sie nur ein kleines perlenbesetztes Medaillon um ihren Hals und einige Perlen in ihrem goldenen Haar, das von Annabells Zofe zu einem lockeren Arrangement aus dicken Locken hochgesteckt worden war. Die Schlichtheit ihres Auftretens unterstrich ihren makellosen Teint und den saphirklaren Glanz ihrer von dichten Wimpern umkränzten Augen.

»Miss Beaufort …«

Leise seufzend drehte sich die Angesprochene um und sah sich ihrem nächsten Tanzpartner gegenüber. Der schüchterne dritte Sohn des Earls of Bloomfield, Honorable Mr. James Norton, verbeugte sich tief und reichte ihr, sie atemlos anstarrend, den Arm.

»Mr. Norton«, begann Annabell und versagte sich ein Seufzen. »Ich muss gestehen, mir ist nicht nach Tanzen zumute, es ist so schrecklich warm hier drin …«

»Oh!«, stammelte Norton, die Hand fallenlassend, die er gehoben hatte, um ihre auf seinem Arm zu platzieren. »Ich … vielleicht … Punsch?«

Annabell schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Das wäre wirklich zauberhaft, Mr. Norton.«

Schnell verschwand der junge Mann gehetzt in der Menge. Annabell seufzte und runzelte die Stirn. Hinter ihnen brach jemand in spöttisches Lachen aus.

»Der tapsige Norton macht sich hervorragend als Schoßhündchen!«

Annabell drehte sich ärgerlich um. Mr. Norton mochte kein eloquenter Gesellschafter sein, aber er besaß offenkundig ein gutes Herz. Es war niederträchtig von dem Kerl, den anderen Herrn so zu verunglimpfen. Besagter Jemand sah mit heißen Augen an ihr herab und verzog die Lippen zu einem zufriedenen Grinsen.

Annabell presste ihre aufeinander bei der unverschämten Musterung. Es bedurfte kaum eines Blickes, um in ihm den notorischen Frauenheld zu erkennen und da sie selbst mit einem solchen Exemplar der Gattung Mensch verheiratet war, hatte sie keinen Bedarf an der Bekanntschaft mit einem weiteren. Sie beschloss, ihn einfach zu ignorieren.

Der Herr allerdings hatte anderes im Sinn, schlenderte nonchalant zu den Damen und verbeugte sich formvollendet.

»Euer Gnaden!«, murmelte er und ließ damit Annabells Herz fast zum Stehen kommen. Dass er dabei die Cousine ansah, rettete ihr das Leben.

»Sie sehen hinreißend aus, wie stets.«

Er sah mit einem Blick auf Madeleine herab, der nicht nur Besagte erröten ließ, bevor er sich vor Sarah verbeugte und einen viel zu interessierten Blick zu Annabell warf. Er entließ die Hand der Schwester nach einem nicht gerade dezenten Kuss darauf und hob in Erwartung, Annabells Hand aufzunehmen, die seine.

Madeleine riss die Augen auf und zuckte entschuldigend die Schulter.

»Lord Argyll, darf ich Ihnen … Lord Suffolks Cousine zweiten Grades vorstellen? Miss Bell Beaufort. Bell, dies ist Viscount Argyll, ein Freund meines Schwagers, seiner Gnaden, der Duke of Kent.«

Das machte Annabell keineswegs geneigter, war ihr doch jeder Freund ihres Gatten ebenso zuwider wie selbiger. Sie wollte ihm die Hand verweigern, aber die Not in den Augen der Cousine ließ sie sich besinnen. Als namenloser Niemand vom Lande sollte man einen Adeligen nicht vor den Kopf schlagen, indem man es an gutem Benehmen missen ließ. So machte Annabell einen Knicks und murmelte einen Gruß. Noch immer hielt Argyll ihre Hand und grinste mit einem Blick auf sie nieder, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte diesen Blick, hatte ihn an ihrem Gatten kennengelernt, obwohl er nicht sie so angesehen hatte. In Erinnerung daran entriss sie ihm die Hand mit einem Ruck und wendete ihm demonstrativ die kalte Schulter zu, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte.

»Lady Suffolk, sagten Sie nicht, Sie wollen …«

Argyll lächelte amüsiert und unterbrach sie, indem er erklärte: »Miss Beaufort, ich glaube, ich bin verliebt.«

Annabell erstarrte unversehens. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie musste die Fäuste ballen, um ihre Wut zu beherrschen. Sie war noch immer ganz starr, als sie sich wieder zu dem Viscount umdrehte und verärgert feststellte: »Und ich glaube, Mylord, dass Sie gar nicht wissen, was es bedeutet zu lieben, also langweilen Sie mich nicht mit Ihren Unwahrheiten!«

Neben ihr kicherte Sarah hinter ihrem eilig aufgeklappten Fächer unterdrückt. Bell ignorierte es, war sie doch dabei, den unverschämten Mann mit bloßem Willen niederzustarren. Sie sollte sich nicht aufbringen lassen, ging ihr flüchtig durch den Kopf. Keine zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber sie konnte eine so dumme Behauptung nicht hinnehmen.

»Sie irren fürchterlich, Miss Bell, aber sagen Sie mir, was wissen Sie von der Liebe?«

Annabell schluckte, mit dem Wunsch beseelt, es einfach bewenden lassen zu können. Leider traf sie gerade dieses Thema mitten ins Herz. Verächtlich sah sie zu ihm auf, in seine dunklen, braunen Augen, die ihren Blick keineswegs belustigt erwiderten. Irritation flackerte in ihnen und ernsthaftes Interesse. Mit Gänsehaut erklärte sie knapp: »Liebe ist, wenn einem das Glück des Anderen mehr am Herzen liegt als das eigene. Liebe ist, wenn der bloße Gedanken an den Geliebten einem die Tränen in die Augen treibt. Liebe ist, wenn man weiß, dass der Geliebte fehlbar ist und ihn trotzdem liebt …« In Annabells Augen blitzte es gefährlich, als sie leise hinzusetzte: »Ich kenne Männer Ihres Schlages. Für Sie ist es Liebe, wenn es Sie im Schritt juckt!«

Sie presste die Lippen aufeinander, sich durchaus bewusst, wie unangebracht ihre Worte waren. Wie anzüglich und offenbarend. Madeleines ersticktes Stöhnen war dafür ein guter Indikator. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen fuhr Annabell zu ihr herum. Noch in der Bewegung gefror sie zu Eis. Madeleines Laut war keine Reaktion auf Bells unverblümte Rede gewesen, sondern eine Warnung, dass sie einen unerwarteten Zuhörer hatten. Schnell brachte sich Bell wieder unter Kontrolle und versank vor dem Duke, wie die anderen beiden Frauen, in einen graziösen Knicks. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals, und sie war sich nicht sicher, ob sie eine Begrüßung über die Lippen bekommen würde. Wäre Suffolk doch nur geblieben, anstatt nach Ninette zu sehen, obwohl die Cousine einen Tugendwächter durchaus benötigte.

»Madeleine, ich wusste nicht, dass du vor hattest, diese Veranstaltung aufzusuchen«, murmelte der Duke, wobei er der Schwägerin einen Kuss auf die Wange drückte und ihr versicherte, dass sie hübsch anzusehen war. Annabell schlotterten die Knie. Gott sei Dank spürte sie eine leichte Berührung an ihrem Ellenbogen und wusste, ohne sich umsehen zu müssen, dass ihr Schwager ihr zur Hilfe geeilt war. Dankbar schenkte sie ihm ein schwaches Lächeln, als er ihr leise ins Ohr flüsterte: »Dich kann man keinen Augenblick allein lassen, ohne dass du in Schwierigkeiten gerätst!«

Suffolk verbeugte sich angedeutet vor dem Schwager und begrüßte ihn ohne große Freude: »Westbrook, darf ich Ihnen meine Cousine zweiten Grades, Bell Beaufort, vorstellen?«

Noch einmal knickste Annabell und hielt den Blick gesenkt. Es erforderte eine schier undenkbare Menge an Kraft, nicht in unkontrolliertes Zittern auszubrechen, ein nur zu verräterisches Zittern. Sie hielt sich vor, dass eine Begegnung unausweichlich war. Schließlich hielt sich der Duke ganzjährlich in der Hauptstadt auf, während er Annabell auf ein kleines Landgut in der Einöde versauern ließ. Nun, bisher. Annabell gedachte dies mit aller Eindringlichkeit zu ändern.

Argyll schlug dem Duke freundschaftlich auf die Schulter.

»Hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr! Was hältst du von der süßen Miss Bell. Très jolie, n’est-ce pas? Je me demande si je ne devrais pas la faire une offre.« Äußerst hübsch, nicht wahr? Ich trage mich mit dem Gedanken, ihr ein Angebot zu unterbreiten.

»Epargnez-moi cette, Thomas!«, murrte der Duke, die Augen verdrehend und maß Annabell mit nachdenklichem Blick, während der Viscount seinen anzüglich über das Mädchen gleiten ließ. Wieder aufblickend zog er überrascht eine Braue hoch. Bell schäumte vor Wut über die unangebrachte Annäherung des Viscounts, dessen Angebot sehr wahrscheinlich nicht von der Art war, wie man sie vermeintlich unverheirateten, jungen Mädchen antragen durfte. Sprich: Es wäre sicherlich kein Heiratsantrag zu erwarten, sondern eher eine Carte blanche. Eine Ungeheuerlichkeit, einem Mädchen von Stand mit diesem Angebot zu kommen, seine Mätresse zu werden! Sie sah ihn kalt an, hob langsam eine ihrer zierlich gebogenen Brauen und schürzte die Lippen, während sie ihren verächtlichen Blick über die athletische Gestalt des Lords wandern ließ. Seine Mundwinkel hoben sich, und als sie in seinem Gesicht anlangte, zwinkerte er ihr zu. Annabell kräuselte die Lippen, bevor sie jegliches Angebot abwies: »Merci, j´ai décidé de ne pas accepter!« Vielen Dank, aber ich verzichte!

Ruhig knickste sie vor dem Duke, der sie nicht minder interessiert als sein Freund betrachtete und ob des Seitenhiebs überrascht auflachte.

»Wenn seine Gnaden mich entschuldigen möchte.«

Auf dem Absatz kehrte sie um und lief genau in Mr. Nortons ausgestreckte Arme, der nicht schnell genug reagieren konnte und den Inhalt seines Limonadenglases über sie ergoss. Annabell stöhnte unglücklich, als sich das klebrige Getränk auf ihrem Dekolleté ausbreitete.

»Suffolk, wer ist der Vormund dieser Dame, ich werde mich sofort um ihre Hand bemühen!« Argyll hob sein Lorgnon vors Auge und besah sich eingehend Bells durchnässte Büste. Zu seinem Bedauern schien das Kleid aus zu festem Stoff zu bestehen, als dass man einen guten Blick auf die darunterliegenden Formen erhaschen könnte.

»Wenn Sie nicht augenblicklich Ihre anzüglichen Bemerkungen unterlassen, Argyll, werden Sie sich eines schönen Morgens auf einer einsamen Lichtung wiedersehen …«, knirschte Suffolk und verstellte dabei den Blick auf Annabell.

»Thomas, Suffolk meint es bitterernst, lass Miss Bell in Frieden«, ordnete der Duke ruhig an, ohne seinen eigenen Blick von dem Mädchen fortreißen zu können.

»Aber ich will sie heiraten. Schau sie dir an! Ach was, hör´ sie dir an! Wenn ich sie dazu bringen kann, mich zu lieben, ist meine gepeinigte Seele gerettet! Bell, seien Sie versichert, ich beginne mich bereits um Ihr Glück zu sorgen!«

Ergriffen fasste er sich ans Herz und ignorierte die bösen Blicke des Viscounts of Suffolk. »Bitte sagen Sie mir, dass ich hoffen darf …«

Suffolk wollte ärgerlich dazwischen fahren, aber Annabell hielt ihn mit einer leichten Berührung zurück. Argyll war zu arrogant, um dem Wort eines Standesgenossen Gehör zu schenken und da sie sicherlich nie wieder von ihm angesprochen werden wollte, musste sie das Problem selbst lösen. Sie trat näher an die Herren heran und senkte ihre Stimme, so dass Außenstehende ihre Worte nicht vernehmen konnten.

»Mylord, selbst wenn Sie der letzte Mann auf Erden wären, mein Leben von Ihrem Geheiß abhängen oder ich wahnsinnig werden würde, würde ich weder mein Herz noch meinen Körper an einen Mann wie Sie verschwenden. Ich schlage demütigst vor, dass die Herren die Auslage betrachten und ihre Gier dann an einer willigen Witwe oder törichten Ehefrau stillen und um meine Wenigkeit zukünftig einen weiten Bogen machen!«

Angewidert rümpfte sie die zierliche Nase und drehte sich, ohne weiter auf den Duke und seinen Freund zu achten, zu ihrem Schwager um.

»Cousin, wäre es möglich, dass Sie die Kutsche rufen lassen, um mich nach Hause zu bringen?«

»Suffolk, das ist unmöglich, Sie können uns Ihren kleinen Schatz nicht schon entführen! Nathan, sag doch auch mal was dazu!«, fuhr Argyll auf, wobei er näher an Suffolk und sie herantrat. Annabell brachte sich bei ihrer Schwester und der Cousine in Sicherheit, wobei sie sich dem Blick ihres Gatten nur zu bewusst war. Durchschaute er ihre Ränke?

Die letzten sieben Jahre waren nicht unsichtbar an ihr vorbeigegangen. Von dem schlaksigen, hellblonden Mädchen war sie zu einer wohlproportionierten jungen Dame herangewachsen. Ihre Sommersprossen waren verschwunden, ebenso wie ihre Naivität und Unbeschwertheit. Daran trug allerdings nicht die Zeit Schuld, sondern ihr vermaledeiter Gatte, der sie sieben Jahre lang mit Ignoranz gestraft hatte.

Nathan Mannings, Duke of Kent, Marquess Westbrook und Träger weiterer erlauchter Titel, betrachtete das Mädchen irritiert. Sie war auf ganz eigentümliche Weise faszinierend. Es lag definitiv nicht an ihrer bezaubernden Gestalt oder dem hinreißenden Kussmund, obwohl beides exquisit war und von sich aus anziehend. Vielleicht lag es an ihrer Impertinenz? Keine junge Dame von Stand hätte es gewagt, solche Worte in den Mund zu nehmen, geschweige denn sie vor einem Duke zu äußern. Zumindest nicht, solange sie Interesse an einer guten Verehelichung hatte. Zwar war er selbst nicht mehr auf dem Markt, aber seine Bekanntschaft sollte dennoch als Bonus betrachtet werden. Sie hatte mit ihren franken Worten nicht nur Thomas vor den Kopf gestoßen. Dafür waren sie zu eindringlich gewesen. Sie hatte gewollt, dass er mit einbezogen wurde in deren Bedeutung. Dass sie vielleicht sogar auf ihn gemünzt waren.

Etwas, was ihn durchaus verärgerte, wenn schon nicht verwunderte. Suffolk mochte ihn nicht, hasste ihn gar. Als dessen Cousine wusste sie vermutlich von Suffolks Groll und den Ursachen. Nathan senkte kurz die Augen. Er musste sich dessen Unverschämtheit wohl gefallen lassen, aber ihre? Insgeheim gab er seinem Freund recht, ihre Schönheit war exquisit und ihr Mundwerk erfrischend. Vielleicht konnte er das Unrecht, das er begangen hatte, wieder gut machen. Vielleicht konnte er zumindest Miss Beaufort von seinem Charakter überzeugen, wenn schon sonst niemanden aus ihrem Clan. Mit einem einnehmenden Lächeln sah er wieder auf.

»Thomas, du hast tatsächlich ein Auge für ungewöhnliche Frauen, und du hast recht. Miss Bell kann uns einfach noch nicht verlassen, zumindest nicht, bevor sie nicht mit mir getanzt hat.« Er hob die Hand, in der Annahme, dass sie klug genug war einzusehen, wann sie auf verlorenem Posten stand. Zu seiner immensen Irritation ergriff sie aber nicht seine Hand, sondern wechselte erzürnte Blicke mit ihrem Cousin und seiner Schwägerin. Madeleine erbleichte und rang nach Worten suchend die Hände.

»Ouch, Westbrook, das kannst du wirklich nicht verlangen, An … Miss Beauforts Kleid ist ruiniert, sie muss wirklich nach Hause. Übrigens, ich habe wieder einen langen Brief von deiner Frau erhalten, es wird dich sicher freuen zu hören …«

Unter Nathans gefährlichem Blick brach Madeleine ängstlich ab. Annabell hatte den Moment seiner Unaufmerksamkeit genutzt, um sich unauffällig hinter Marcus zurückzuziehen und war binnen Wimpernschlägen in der dichten Menge verschwunden.

Kapitel 2 Kindsbraut

Westbrook House, London, Mai 1797

Nathan entzog sich der schlaffen Umarmung seiner Geliebten und stand leise auf. Geräuschlos zog er sich an und verließ ohne einen weiteren Blick auf die hübsche Blondine in seinem Bett den Raum. Er verließ sich wie immer darauf, dass Mandy Diskretion walten ließ und pünktlich zum Dienstbeginn auf ihrer Arbeitsstelle war. Da es dabei in den letzten Jahren keine Probleme gegeben hatte, rechnete er auch heute mit keinen. Gedankenverloren stieg Nathan die Treppe des herzoglichen Stadthauses ins Erdgeschoss herab und steuerte schnurstracks auf sein Arbeitszimmer zu. Die Begegnung mit seinem Schwager und die Bemerkung seiner Schwägerin hatten ihn merkwürdigerweise aus der Bahn geworfen. Madeleine hatte einen Brief von seiner Gattin erhalten. Nicht ungewöhnlich, da die Zwei in einem regen Briefwechsel standen, aber die Erwähnung ihres Briefes erinnerte ihn an den Haufen Briefe, die sie ihm geschrieben hatte.

Allein in ihrem ersten Ehejahr hatte sie sich die Mühe gemacht, 42 Briefe zu schreiben, von denen er bis heute nicht einen gelesen, geschweige denn geöffnet hatte. In den darauf folgenden Jahren war ihr Schreibeifer dann eingeschlafen, aber vor drei Wochen hatte er wieder ein Schreiben in ihrer klar linierten Handschrift und dem zarten Rosenduft erhalten, den er automatisch mit seiner Kindsbraut verband. Nach Rosen hatte auch Miss Beaufort geduftet. Ansonsten hatten die Cousine seines Schwagers und seine Frau nichts gemeinsam.

Die Erinnerung an Annabells schmalen Körper ließ seine Hände feucht werden. Ohne es zu wollen, standen ihm die Bilder ihrer ersten Nacht deutlich vor Augen. Noch auf dem Verlobungsball seines Bruders war ein Lakai an ihn herangetreten und hatte ihm eine Nachricht übergeben. In kurzen Sätzen wurde er gebeten, in ein bestimmtes Zimmer zu kommen, und da er Einladungen solcherart selten unbeachtet ließ und er durch die Initialen A. S. besonders erpicht gewesen war, sie anzunehmen, war er damals direkt in ihr Zimmer gegangen. Die Erinnerung zerrte an seiner Brust, ließ ihn aber dennoch die Augen schließen, um die Bilder hinter geschlossenen Lidern zu betrachten.

Es war dunkel gewesen. Die Vorhänge waren zugezogen und im Kamin kein Feuer gemacht worden. Er hatte gelächelt. Stets war er bei solchen Treffen mit offenen Armen willkommen geheißen worden, selbstverständlich im Kerzenlicht, und seine Partnerinnen waren meist hübsch verpackt. Bei Annabell war es anders, und es hatte keine Verwunderung in ihm geweckt, lediglich zärtliches Glück. In der Annahme, sie würde zumindest wach auf sein Eintreffen warten, war er an das Bett getreten. Erst als er Justaucorps, Weste, Hemd und Hose abgelegt hatte und unter das Laken gerutscht war, wurde auch diese Annahme korrigiert. Sie hatte tief und fest geschlafen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hatte, sie zu küssen. Die Süße ihrer Lippen hatten ihn fast wahnsinnig werden lassen vor Begierde, aber ihre kleinen, zarten Seufzer waren es wert gewesen, ihren zarten Körper zu erkunden und Schauer der Lust über ihn zu schicken. Sie hatte ihn zögerlich liebkost, und das Feuer ihrer Küsse hatte ihn schließlich bewogen, ihre Knie zu spreizen und in sie einzudringen.

Mit heftig pochendem Herz und erwachender Lust riss Nathan die Augen wieder auf. Es war nie ein guter Einfall, an diese Nacht zurückzudenken, denn er endete im Desaster. Auch so viele Jahre später brachte ihn der bloße Gedanke an alles, was danach geschehen war, in Rage. Er gab ihr nicht die Schuld an dem Debakel, aber er gab ihr die Schuld an seinen aus ihrem Entzug resultierenden sexuellen Vorlieben. Bevor er sie kannte, war sein Frauengeschmack wenig exklusiv, seither konnte eine Frau noch so hübsch sein und die Rundungen noch so verführerisch, wahre Befriedigung fand er nur bei extrem schmalen Frauen mit kindlichen Rundungen, Frauen wie Mandy. Und selbst bei ihr bedurfte es gewisser Tricks, um den Akt vollziehen zu können.

Es war, als hätte Annabell ihm die Fähigkeit geraubt, einer Frau beizuwohnen. Ein tief sitzendes Trauma, wenn man seinen früheren Lebenswandel bedachte. Als jüngerer Sohn hatte er seine Zeit damit zugebracht, Röcken hinterherzusteigen und so viele Frauen zu verführen, wie sich bewerkstelligen ließ. Sein Bruder Albert, der bereits den Titel des Duke of Kent getragen hatte, war darüber alles andere als amüsiert gewesen und hatte ihm nicht selten gedroht, ihm die Apanage zu streichen.

Nathan sah zu dem Bild über dem Kamin. Ein fast lebensgroßes Abbild seines Bruders hing dort und sah seit dessen Tod missbilligend auf ihn herab. Nathan hatte schon einige Male mit dem Gedanken gespielt, es abzuhängen. Auch dieses Mal war er arg geneigt. Dass ihm aber unverhofft das Bild Bell Beauforts vor Augen stand, ließ ihn davon Abstand nehmen. Bell trug ihren Namen zu Recht. Sie war schön. Das Blau ihrer Iris, das frische Rot ihrer Lippen, der Alabaster ihrer Haut. Seine abgeflaute Lust flackerte wieder auf. Suffolks Cousine war alles andere als kindlich. Dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, war damit doch ein gutes Zeichen. Er atmete tief durch und hoffte, dass sein Interesse an Bell Beaufort bedeutete, dass es noch Hoffnung für ihn gab und nicht, dass er noch weiter in die Liederlichkeit absackte. Eine Liederlichkeit, die vor sieben Jahren in der unglückseligen Nacht der Verlobung seines Bruders mit Madeleine Windermere ihren bisherigen Höhepunkt erlebt hatte.

Windermere Castle, Cumbrien Sommer 1789, die Nacht der Verlobung Lady Madeleine Windermeres mit Albert Mannings, Duke of Kent

»Bitte … nicht!« Tränenerstickte Worte, die Nathan fast seine eiserne Selbstbeherrschung kosteten. Konnte es sein, dass er sich geirrt hatte? Konnte es sein, dass ihre Nachricht tatsächlich nur eine Bitte war, noch einmal über den Vorfall am Morgen zu sprechen? Er verfluchte sein Ungestüm. Annabell war anders als die Frauen, die ihn zu sich baten, verheiratet oder nicht. Wenn sie nun ganz unschuldig lediglich mit ihm hatte sprechen wollen? Oder Trost bedurfte? Madeleine hatte ihn bei ihrem Tanz doch von dem Verschwinden der Schwester, der Lady Suffolk, unterrichtet. Das war in Hinblick auf ihre bisherigen Zusammentreffen wahrscheinlicher als ein plötzliches amouröses Interesse an ihm, wo sie erst am Morgen vor ihm davongelaufen war, als er sie hatte küssen wollen. Und viel mehr!

Verdammt, fluchte er innerlich. Ihr Entgegenkommen war nicht dem Wunsch entsprungen, bei ihm zu liegen, sondern ein Produkt ihrer Schläfrigkeit gepaart mit rudimentärer Lust, die Reaktion auf seine Liebkosung. Er hatte ein unschuldiges Mädchen im Schlaf verführt. Entsetzt aufstöhnend sackte er leicht über ihr zusammen. Sie keuchte und schnappte nach Luft. Es war ihm unmöglich, ihrer Bitte nachzukommen, überlegte Nathan mit fest aufeinander gepressten Lidern. Es war viel zu spät, um jetzt noch aufzuhören. Er richtete sich wieder auf und sah in ihr vor Qual verzogenes Gesicht. Er bereitete ihr Schmerzen. Galle stieg in ihm auf.

»Annabell.« Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er sich langsam aus ihr zurückzog. Er rollte sich von ihr runter und schloss gepeinigt die Augen. Neben sich fühlte er, wie sich seine unglückliche Geliebte zusammenrollte und leise vor sich her weinte. Er atmete tief durch. Als er sich sicher sein konnte, sich im Griff zu haben, drehte er sich zu ihr um.

»Annabell …«

Was auch immer Nathan sagen wollte, wurde vom Öffnen der Zimmertür verschluckt. Der Schein einiger Kerzen erhellte den Eingang und anscheinend genug von den Begebenheiten im Raum, dass eine Frauenstimme, die er erst verspätet als die der Lady Windermere erkannte, zu kreischen begann. Im Nu füllte sich das Zimmer mit einigen Gästen der Hausparty, die genüsslich die pikante Szenerie aufnahmen. Vergeblich versuchte Nathan, die völlig aufgelöste Annabell abzuschirmen, aber ihre Tante hatte kein Erbarmen mit der schamlosen Nichte und zog ihr die schützende Decke vom Bett. Erbost sprang Nathan auf, packte kurzerhand nach den Armen der unwillkommenen Gäste und schob sie mit verbitterter Gewalt aus dem Raum. Mit dem Schließen der Tür riet er dem von Weinkrämpfen geschüttelten Mädchen schroff: »Zieh dir etwas an.« Da sie nicht sofort Folge leistete, ging er zu dem im Bett kauernden Mädchen und zwang es, ihn anzusehen. In ihren übergroßen, blauen Augen stand verständnislose Hoffnungslosigkeit vermischt mit Schmerz, der ihn schlucken ließ. Er hatte sie nicht verletzen wollen. War sich doch sicher gewesen, warten zu können, nur um den Entschluss baldmöglichst über Bord zu werfen und mit dem Reichen des kleinen Fingers gleich den ganzen Leib seiner armen, kleinen Annabell zu verschlingen. Aber für Bedauern war nun keine Zeit.

»Der Ausgang dieser Geschichte tut mir ehrlich leid, aber es ist besser, wenn du dich jetzt anziehst, damit du deinen scheinheiligen Anklägern nicht völlig schutzlos gegenüberstehst. Glaub mir, du wirst es bereuen, im Nachthemd vor sie zu treten.«

Zittrig nickte sie, wobei ihr große Perlen salzigen Nasses aus den Augen flossen. Ungelenk stieg sie aus dem Bett und holte aus dem Schrank ein leichtes Vormittagskleid, um es überzuziehen. Kaum war es ihr gelungen, mit bebenden Fingern die Knöpfe zu schließen, da flog die Tür auf, und der Duke of Kent stürmte in das schmale Schlafzimmer, dicht gefolgt von Lord Windermere.

»Verdammt, Nathan!«, brüllte der Duke außer sich vor Zorn.

»Verfluchtes, undankbares Miststück!«, bellte Windermere fast gleichzeitig und hob drohend die Faust.

»Ich habe dich gewarnt, Nathan! Nun ist das Maß voll! Entscheide dich für eine Laufbahn, bring deine Geschäfte in Ordnung, und zum Ende des Monats will ich dich in Uniform sehen!« Albert sah verärgert von seinem sittenlosen Bruder zu seiner Gespielin und presste schockiert hervor: »Gott, sie ist doch noch ein Kind!«

Nathan ballte die Hände zu Fäusten und ließ die Litanei seines Bruders über sich ergehen; erst als sich sein Bruder abfällig über das Mädchen äußerte, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Lass sie aus dem Spiel!«

Albert musterte Nathan angewidert.

»Wie alt ist sie? Zwölf? Vierzehn? Gott, was ist nur in dich gefahren? Ich hoffe, du hast sie wenigstens nicht genötigt!«

Abschätzend sah er Annabell von oben bis unten eingehend an. Immer noch von wilden Schluchzern geschüttelt, stand sie mit schützend vor der Brust verschränkten Armen in der hintersten Ecke des Zimmers und hielt den Blick unverwandt auf ihre Zehenspitzen gerichtet. Albert hatte das Mädchen am Abend kennengelernt, und sie war ihm wie die mädchenhafte Tugend in Person erschienen. Auch die jüngeren Cousinen sprachen mit bewundernden Worten von ihr, und selbst seine Verlobte hatte ihm vom liebreizenden Wesen der Anverwandten erzählt. Kaum zu glauben, dass sie seinem Bruder in der kurzen Zeit, die sie mit Nathan verbracht hatte, so verfallen sein sollte. Begütigend legte Albert ihr die Hand auf den Scheitel.

»Hab keine Angst, mein Kind, ich werde dafür sorgen, dass mein ruchloser Bruder seine Pflicht an dir erfüllt.«

Erschrocken sah Annabell auf und starrte den Duke ungläubig an, der seinerseits Nathan scharf ansah und befahl: »Du wirst sie heiraten, bevor du dem Militär beitrittst!«

»Oh Gott, nein«, flüsterte Annabell erschüttert und brach zusammen. Nathan, der sie die ganze Zeit im Auge behalten hatte, fing sie auf und legte sie zärtlich auf ihrem Bett ab. Während er die Decke über sie ausbreitete, warf er dem Duke einen kalten Blick zu.

»Ich denke, wir sollten alles Weitere woanders besprechen, damit Annabell endlich etwas Ruhe bekommt.«

Kapitel 3 Der Tanz um den heißen Brei

Themse Ufer unweit von London, Ende Oktober 1797

Annabell war stets informiert, wo sich seine Gnaden, ihr Gemahl aufhielt. Sie plante ihre Auftritte in der besseren Gesellschaft gewissenhaft, um die Gefahr, ihm wieder zu begegnen, so gering wie möglich zu halten. Leider ließen sich Begegnungen nicht völlig vermeiden, genauso wenig, wie sie es schaffte, dem nervtötenden Lord Argyll erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Etwas, was wesentlich schwieriger war, gab es doch keinen Spitzel, der ihr von den Zielen des Lords unterrichten konnte. An einem sonnigen Nachmittag nahm Annabell in Gesellschaft ihres Schwagers und ihrer Schwester an einem Picknick an der Themse teil, ein Ausflug, bei dem Annabell weder seine Gnaden noch Lord Argyll erwartet hatte. Trotzdem fand sie sich unerwartet in den Armen seiner Lordschaft wieder, als sie sich unbedachterweise etwas von der Gruppe entfernte, um einen Moment allein zu sein. Unbemerkt schlich er sich von hinten an sie heran und drehte sie herum, wobei er seine Hände um ihre Mitte legte.

»Bell, ich habe sehnlichst auf diesen Augenblick gewartet!« Der Lord grinste seine Beute verführerisch an und verstärkte seinen Halt um ihre Hüfte, als sie versuchte, ihn von sich zu stoßen.

»Nehmen Sie sofort Ihre Hände von mir!«, befahl Annabell verärgert und trat nach dem Bein des unverschämten Mannes. Leider traf sie ihn nicht mit voller Wucht, da sie von ihren Röcken behindert wurde. Argyll zog sie enger an seine Brust und vergrub sein Gesicht in der Fülle ihrer blonden Haare.

»Ah, Sie riechen wie ein Rosengarten! Ich beneide jeden Zentimeter Stoff Ihres verhassten Kleides, da es ihm erlaubt ist, sich an Ihre samtige Haut zu schmiegen«, flüsterte er und bereitete ihr mit dem Klang seiner Stimme eine Gänsehaut. Sie wusste nicht viel über Zweisamkeit, aber eines wusste sie sicher: Der Tonfall gehörte ins Schlafzimmer und sollte keineswegs bei einem vermeintlich unbedarften Mädchen angewendet werden. Wutentbrannt zischte sie: »Lassen Sie mich …«

Er ließ sie nicht ausreden, sondern senkte seinen Mund auf ihren, um ihr einen Kuss zu rauben. Annabell biss ihm in die Unterlippe und stieß ihn von sich, als er, überrascht von ihrem Angriff, seine Umklammerung löste. Die Überraschung in seinem Gesicht gab ihr ihre Contenance zurück, und sie hob stolz den Kopf. Sie trat aus seiner Reichweite, wobei sie seine Lordschaft nicht aus den Augen ließ und sich ihrer einwandfreien Erscheinung versicherte. Erleichtert, dass ihre Frisur nicht in Mitleidenschaft gezogen war, fuhr sie ihn an: »Ich verlange, dass Sie aufhören, mir aufzulauern, Mylord!«

»Auflauern?« Lord Argyll erholte sich von seiner Überraschung und breitete nonchalant die Arme aus. »Liebes, du missverstehst meine Intention.« Er grinste sie an. »Obwohl ich von deinem Bestreben, deine Unschuld zu wahren, entzückt bin!«

Annabell schnaufte ungläubig. »Unterlassen Sie Ihre Unverschämtheiten!«

Der Lord zwinkerte ihr zu. »Du wirst sie noch zu schätzen wissen, Cherie.« Mit einem Schritt war er bei ihr und ergriff ihre geballte Hand, um sie an seine Lippen zu ziehen. »Glaube mir, du wirst den Tag hindurch danach lechzen, meinen Liebesworten zu lauschen.«

Annabell war zu abgestoßen, um ein Wort über die Lippen zu bringen. Zu genau stand ihr die Erinnerung vor Augen, wie Damen tatsächlich nach der fragwürdigen Aufmerksamkeit von Herren wie ihm sehnten. Die Countess of North zum Beispiel, die dem vermeintlichen Charme des Dukes bereits erlag, lange bevor er den Titel übernahm. Annabell schluckte den Ekel herunter, der die Bilder der Vergangenheit begleitet hatte, und richtete ihren brennenden Zorn auf das Exemplar Kröte, das zugegen war.

»Ihren Liebesworten zu lauschen, wird bestenfalls nur Peinlichkeit in mir wecken und sicherlich nicht den Wunsch …«

»Gegenwärtig nur zu verständlich«, versicherte er mit einem weiteren Kuss auf das Samt ihres Handschuhs. Sie versuchte, sich zu befreien. »Aber wenn du erst meine Frau bist, Lady Argyll, verspreche ich dir …«

Seine Versprechungen scherten sie einen feuchten Kehricht, und ihre Worte bewirkten offensichtlich das gleiche in ihm. Verärgert mahlte sie mit ihrem Kiefer und überlegte fieberhaft, wie sie diesen vermaledeiten Mann endlich loswurde.

»Lord Argyll …«, setzte sie knirschend an und hob dafür den Blick in seine funkelnden, aber wahrhaften Augen.

»Thomas.«

Annabell ignorierte seine Bitte um eine vertrauliche Ansprache und fuhr mit felsenfester Stimme und strafendem Blick fort: »Lord Argyll, anscheinend nahmen Sie mich nicht ernst, als ich Ihnen sagte, dass ich keinen Mann wie Sie heiraten werde. Genau genommen werde ich gar keinen Mann heiraten. Das ist nicht Sinn und Zweck meines Aufenthalts in London …«

Der Lord lachte ehrlich amüsiert auf und trat näher an das widerspenstige Mädchen heran. »Natürlich nicht, welches Mädchen kommt schon nach London, um einen reichen Ehemann zu finden? Ich habe sehr viel Geld, Bell, und ich würde es liebend gerne für dich ausgeben.«

Ausweichend machte Annabell einen Schritt zurück und stieß gegen einen Baum. Die Ernsthaftigkeit in seinem Antlitz verängstigte sie mehr als seine vorherigen Angriffe auf ihre Tugend.