Kein Ende in Sicht - Otto Eder - E-Book + Hörbuch

Kein Ende in Sicht E-Book und Hörbuch

Otto Eder

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Beschreibung

Der Fotograf Otto Eder ist als Funker in Frankreich stationiert, bevor er mit seiner Division nach Jugoslawien geschickt wird. Als der Befehl kommt, an die Ostfront zu ziehen, verlieren viele seiner Kameraden in schweren und zum Teil sehr verlustreichen Kämpfen das Leben. Die Versorgungswege der Truppe werden immer länger, Verpflegung und Munition gehen zu Ende. Über den Kaukasus geht es weiter zum Kuban-Brückenkopf. Otto wird schwer verletzt und nach seinem Genesungsurlaub in Italien eingesetzt. In den letzten Monaten vor Kriegsende marschieren sie den Amerikanern entgegen, kapitulieren und werden in ein Gefangenenlager am Comer See gebracht.

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Seitenzahl: 412

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Zeit:12 Std. 33 min

Sprecher:Klaus G. Förg

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Otto Eder

Kein Ende in Sicht

Otto Eder

Kein Ende in Sicht

Ein Soldatenschicksal im Zweiten Weltkrieg

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2023

© 2023 Edition Förg GmbH, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Umschlagfoto: © Bild Bundesarchiv, Bild Nr. 237-246

Die Bilder im Innenteil stammen aus dem Privatarchiv der Familie Eder mit Ausnahme von S. 304: U.S. National Archives in Washington D.C.

Scan: Dieter Stragenegg, Oberaudorf

Lektorat: Klaus G. Förg, Rosenheim

eISBN: 978-3-475-54983-0

Inhalt

Meine unbeschwerte Kindheit auf dem Land

Der Erste Weltkrieg

Schon wieder schwierige Jahre

1932 bis 1933 – es spitzt sich zu

1933 – Das Tausendjährige Reich beginnt

Das Jahr 1935

Der Zimmerherr

Mai 1939 im Westen

Von Paris nach Bourges

7. April 1941 – der Tag vor dem Sturm

Der Beginn des Unternehmens Barbarossa

Der russische Winter naht

Unser Schicksal Kaukasus

Sturmangriff auf den Myschako

Mit der Ju 52 in den Fronturlaub

Schon wieder verwundet

Ab zu den Partisanen nach Italien

Hochzeit im Krieg

Wieder nach Italien

Der Weg in die Gefangenschaft

Endlich nach Hause

Meine unbeschwerte Kindheit auf dem Land

Wenn ich so zurückdenke, dann schenkten uns unsere lieben Eltern eine schöne Kindheit. Uns – das waren vier richtige Lausbuben: mein Bruder Richard, Jahrgang 1913, dann ich, Jahrgang 1916, sozusagen Kriegsware, und mein jüngerer Bruder Adalbert, der Kürze halber Bert genannt. Er kam 1920 auf die Welt und war somit ein Kind der Inflation.

Als Vierter im Bunde unser Gustav. Er lag jahrgangsmäßig zwischen Richard und mir, kam aus dem Rheinland und war Vollwaise. Sein Vater ließ sein Leben für den Kaiser und das Vaterland, seine Mutter starb bald darauf vor Kummer und Gram. Damit das Haus voll werde, nahmen meine nicht sonderlich begüterten Eltern den kleinen Gustav in der Familie auf. Er war vollkommen gleichberechtigt, eher sogar bevorzugt. Kaum jemand im Dorf wusste, dass Gustav nicht unser richtiger Bruder war – am wenigsten Richard, Bert und ich.

Unser Vater, ein fescher, sympathischer Mann, war groß, schlank und allgemein beliebt, und kam aus einem kleinen Bauernanwesen, einem »Gütl« aus der Hallertau, in der Nähe von Abens. Als nachgeborener, fünfter Sohn wurde er nicht, wie damals üblich, Bauernknecht, sondern durfte, weil er in der Schule zu den Klügeren gehörte, ein Handwerk erlernen und wurde Schreiner. Als Handwerksgeselle ging er, wie früher der Brauch, auf Wanderschaft, kam aber dabei nicht allzu weit, nur bis Hohenkammer. Aber diese kurze Reise hatte sich gelohnt. Er fand nämlich in diesem Ort Hohenkammer nicht nur ein damals schon großes und schönes Dorf im lieblichen Glonntal mit einem respektablen Wasserschloss, einem großen landwirtschaftlichen Gut, das zum Schloss gehörte wie alles, was von größerem Wert war; die Schlossbrauerei, die weiten Wiesen und Äcker, die riesigen Wälder, die Jagd und das Fischrecht.

Auch die Kirche, die herrschaftlich über den saftigen Wiesengründen des Glonntales die durchreisenden Handelsleute von der Ingolstädter Straße begrüßte, fuhr nicht schlecht mit seinen Schlossherren, den Grafen und Baronen. Sie waren es, die die Kirche mit wertvollen Gemälden, kunstvollen Schnitzereien und mit Gold reichlich beschenkten. Wohl deshalb auch wurden die Dorfkinder nicht von gewöhnlichen Schulmeisterlein unterrichtet, sondern von gut ausgebildeten Klosterschwestern betreut. Für das Seelenheil der Schlossherren sorgte nicht ein gewöhnlicher Ortspfarrer – es musste schon ein »Geistlicher Rat« oder ein »Herr Dekan« sein.

Wie schon gesagt, diese Reise hatte sich für unseren Papa gelohnt – wohl weniger des schönen Dorfes wegen gefiel es ihm so an diesem Ort, mehr wohl der großen Liebe wegen. Er fand nämlich in diesem Hohenkammer sein großes Glück – unsere gute, kleine, zarte, nimmermüde Mama.

Ihre Vorfahren hatten ihr aus der Pfalz immer gute Laune und den sonnigen Humor mitgebracht, der sie überall so beliebt machte. Beliebt, weil sie oft die Helferin spielen musste. Und wer brauchte in der damaligen Zeit nicht Hilfe? Als gelernte Näherin schneiderte sie den ganzen lieben langen Tag, oft bis in die tiefe Nacht für Bekannte und arme Teufel – was meistens aufs Gleiche hinauslief. Der Lohn? Ein paar Eier, drei bis vier Schmalznudeln, und manchmal gab’s einen Gockel, aber noch öfter ein »Vergelt’s Gott«.

Kaum hatte mein Vater die Meisterprüfung hinter sich gebracht, machte er sich selbstständig und eröffnete in Allershausen die »Schreinerei Joseph Eder« in der heutigen Glonntalstraße. Bald waren die ersten Kunden geworben und der Betrieb angelaufen, verschwand das Firmenschild und wurde eingemottet für spätere Zeiten, denn der Erste Weltkrieg war ausgebrochen.

Der Erste Weltkrieg

Wie die meisten jungen, gesunden Männer musste auch unser Papa weg von der Familie, fort in den Krieg, an die französische Front. Von dort wurde er erst kurz vor Kriegsende entlassen. So schön das für jeden Frontsoldaten geklungen haben muss, so traurig war der Grund seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Kriegsdienst. Nachdem der letzte seiner vier Brüder den Heldentod erlitten hatte, trat ein Gesetz in Kraft, wonach der letzte Überlebende einer Familie zur Erhaltung des Namens aus dem Wehrdienst entlassen wurde.

Nach so langer Abwesenheit war daheim die Schreinerei des Vaters eingeschlafen. So entschloss sich mein Vater, bei den »Amperwerken« als Maschinist einzutreten. Das Elektrizitätswerk in Allershausen war damals – wie die Elektrizität überhaupt – ziemlich neu und suchte bevorzugt geprüfte Handwerker als Maschinisten. Der Schichtdienst bei diesem Posten kam ihm sehr gelegen; da konnte er nebenbei schreinern und seinen Lieblingsbeschäftigungen nachgehen – dem Garteln und Schwammerlsuchen. Trotz alledem hatte er noch viel Zeit für die Familie.

Wir wohnten in einem guten Viertel in Allershausen. Damals noch ein richtiges Bauerndorf mit einem Arzt und einem »Tierheilkundigen« am Ort. Zwei Bäcker, ein Metzger, zwei Wirte, ein Schuster, zwei Sattler, ein Schreiner und »Kistler«, der für die Fabrikation von Särgen zuständig war. Außerdem drei Lebensmittelgeschäfte, Krämer, die praktisch alles zu verkaufen hatten: Zigarren, Zigaretten, Schuhbandl, Stoffe und Fisch. Vom Rollmops bis zum Bismarckhering, Zucker, Schuhcreme, Waffelbruch und Essig, Streichhölzer, Petroleum und Kerzen aller Art – geweihte und ungeweihte –, Käse, Lampendochte, Schokolade, Limonade, Zichorie-Kaffee, Knöpfe und Spiritus, Pfefferminzkugeln – einfach alles war hier am Lager, wie in einem Supermarkt. Nur die Bedienung war exklusiv. Bedient wurde man vom Chef oder meistens von der Chefin höchstpersönlich.

Das klare Wasser der Glonn betrieb zwei Mühlen, die Heinritzi-Mühle in Allershausen und die größere Reckmühle mit Sägewerk, wo die Bauern ihr Getreide, Weizen, Korn und Gerste mit ihren Pferde- und Ochsenfuhrwerken anfuhren. Seit mehreren Generationen ist die Reckmühle im Besitz der Familie Müller (nomen est omen), der jeweilige Besitzer seit eh und je ein »Benedikt« mit Vornamen.

Zwei Schmiedemeister, nein, sogar drei, hatten genügend Arbeit mit Pferde beschlagen, Eisenreifen auf die Holzräder aufziehen, landwirtschaftliche Werkzeuge anfertigen oder reparieren. Zwei örtliche Wagner machten nicht nur Räder für Kutschen, Heu- und Mistwagen sowie für die beliebten Heuwagerl für Kinder, sondern auch komplette Wagen für die Landwirtschaft. Auch Pferdeschlitten für flotte Einspänner wie auch für den Holztransport standen auf ihrem Programm. Der Fortschrittlichste ihrer Gilde stellte sogar Eisstöcke und, für damals kaum zu glauben, das Neueste vom Neuen her: richtige Ski. Und das im Jahre 1920.

Für die Verbindung zur übrigen Welt sorgte die Postagentur. Sie war in dem Posthäusl schräg gegenüber unserem Haus. Noch recht gut entsinne ich mich der Pferde-Postkutsche mit den großen Rädern, gelb, wie die Postkutsche selber. Auf dem Bock der Postillion, wie sich’s für einen ordentlichen Postillion gehört: blauer Frack, weiße Hose, schwarzer Zylinder und Schaftstiefel – alles tipptopp sauber.

Auf der Rückseite eine dreistufige Treppe. Sie führte zum Innenraum der Kutsche, der spartanisch ausgestattet war und nicht gerade einladend wirkte. Links eine Sitzbank, rechts eine Sitzbank; darüber je ein Gepäcknetz. Auf dem Dach der Kutsche lag die Paketpost. Bei Schlechtwetter wurde sie mit einer Plane abgedeckt. Das stolze Gefährt – das war es wirklich – wurde von zwei mittelschweren Pferden von Freising über Allershausen nach Hohenkammer und zurück bewegt. Übernachtet hat das Gefährt mit Mann und Ross und Wagen beim »Alten Wirt«.

Kam die Post aus Freising, so gegen 19 Uhr, dann meldete sich der Postillion mit der uns bekannten Melodie aus dem Posthorn – für uns Buben das Zeichen zum Sammeln beim Posthäusl, denn nach unserer Mithilfe beim Abladen der Pakete, des Briefsackes und der Zeitungen kamen wir Buben zum Zug. Wir durften gratis von der Post bis zum »Alten Wirt« Fahrgast spielen. Die Größeren und die Frechsten absolvierten die Tour mit Stolz vom hohen Kutschbock aus. Dieses Glück hatte ich leider nie. Ich gehörte nämlich zu den Kleineren, und die saßen drinnen auf den harten Holzbänken.

Damals waren die zahlenden Fahrgäste rar und oft war die Postkutsche leer. Wer konnte sich schon sechzig Pfennig leisten? Und das war der Preis für die zwölf Kilometer von Freising nach Allershausen.

Selbstverständlich, um wieder zu den ortsansässigen Betrieben zu kommen, trieb auch ein Frisör, wie sein Firmenschild anzeigte, sein Unwesen. »Approbierter Bader« war er laut Urkunde. Außer Haareschneiden und Rasieren riss er auch schmerzende Zähne. Kein Mensch ging zum Zähne ziehen. Man ließ sich einen Zahn reißen, das traf den schmerzhaften Vorgang richtiger.

Außerdem wusste er für oder gegen alle Beschwerden ein Mittel, gegen ein kleines Honorar natürlich. Mit dem Haarschneiden allein war eh nicht viel zu verdienen. Die Frauen schieden als Kunden von vorneherein aus. Die Männer rasierten sich – mit Ausnahme der »Besseren« – selber, und ihre Haare wuchsen so langsam, dass nur einmal, höchstens zweimal im Jahr das Haarschneiden nicht mehr zu vermeiden war. Ausnahmen gab es höchstens aus Anlass der eigenen Hochzeit, eventuell noch einer Beerdigung aus der Verwandtschaft – damals hieß es »bei einer Leich«.

Regelmäßig machte der Bader per Rad seine Tour und besuchte die »Gwappelten« – die Besseren, die sich wöchentlich einmal rasieren ließen.

Auch ein Drechsler war am Ort. Er fertigte Spinnräder und Ähnliches, sehr schön, aber viel zu haltbar, denn die Dinger hielten länger als ein Leben. Sein Verdienst muss nicht übermäßig gewesen sein, und wenn möglich war er auf der Jagd. Aber nicht etwa nach Reh und Hase – das war den »Großkopferten« vorbehalten. Er jagte Maulwürfe und bekam dafür ein bisschen Geld von den Bauern.

Die gerissensten Geschäftsleute und die bauernschlausten waren eindeutig die Viehhändler und die Sauhändler. Ihre Frauen waren meistens ebenfalls »kaufmännisch« tätig. Sie fuhren mit ihren Schubkarren von Bauernhof zu Bauernhof, kauften für den Großhändler in der Stadt Naturalien wie Eier, Butter, Schmalz, Gänse und Enten und fette Suppenhühner auf. Ganz nach dem Motto: Mit einer Handvoll Handel verdienst du immer noch besser als mit einem Karren voll Arbeit. Mit dem Handel wurden sie zwar nicht reich, aber sie waren immer noch besser dran als »Scheermfanger«, die für das Fell eines Maulwurfs nur ein Fünferl, höchstens ein Zehnerl erhielten. Entsprechend der Größe ihrer gehandelten Tiere schauten die Viehhändler auf die Sauhändler mit etwas Verachtung von oben herab.

Für Bildung und Kultur war die Volksschule zuständig. Das Schulgebäude, ein quadratischer Kasten im Stil des 19. Jahrhunderts mit drei Etagen, beherbergte die Wohnung des Hauptlehrers mit Familie im Erdgeschoss, wo außerdem noch ein kleiner Raum als Gemeindekanzlei diente. Im ersten Stock war ein Schulsaal und eine kleine Wohnung für das Fräulein untergebracht, das die unteren Klassen unterrichtete.

Im oberen Stockwerk waren zwei Schulräume, in denen das große und kleine Einmaleins eingetrichtert wurde. Das war die katholische Schule. Sie war mit drei Lehrkräften besetzt, dem Hauptlehrer, der die oberen Klassen von sieben aufwärts unterrichtete, einem »Hilfslehrer« – er quälte sich mit der Mittelstufe ab –, und einem »Fräulein«, das die ABC-Schützen und unteren Klassen in die Kunst des Lesens und Schreibens einführte.

Das Fräulein Fürholzer war eine Seele. Trotz ihrer Ehrfurcht einflößenden Größe und ihres beachtlichen Umfangs war sie die Güte in Person, mit viel Verständnis und Geduld für ihre Kinder. Doch einmal muss sie sich vergessen haben. Bei all meiner Bescheidenheit – ich gehörte zu den Besseren in der Klasse, aber, dass ausgerechnet von den Dummen schon einige pfeifen konnten und ich nicht, wurmte mich schon lange. Die Rechenaufgaben hatte ich längst fertig und hatte Zeit zum Nachdenken und zum Üben mit dem Pfeifen. Ich spitzte den Mund, holte tief Luft und blies sie fest aus – einmal, zweimal und – auf einmal klappte es. Jetzt konnte ich auch pfeifen.

Alle hörten auf mit der blöden Rechnerei. Im Schulzimmer war’s mucksmäuschenstill und alle schauten zu mir, auch das Fräulein Fürholzer. Während ich stolz war auf meine eben erlernte Pfeifkunst, zeigte das mir sonst so gut gesonnene »Fräulein« gar kein Verständnis für meine musikalischen Fähigkeiten und verpasste mir drei Tatzen – keine zornigen, eher rücksichtsvolle. Das waren meine ersten, aber auch meine letzten. Wahrscheinlich haben sie dem Fräulein Fürholzer, Gott hab sie selig, weher getan als mir.

Der Hilfslehrer musste sich mit den mittleren Klassen, den Acht- und Zehnjährigen herumärgern. Da konnte und durfte er nicht so zart besaitet sein wie seine Kollegin. Oft musste er grob, manchmal sogar gröber sein; aber nicht deswegen hieß er wirklich Gröber, der Herr Lehrer Gröber.

Sein Unterricht war, wie sich’s gehört, militärisch streng. Seine Parole: »Das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr«, auf Deutsch: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«.

Pünktlich um 8 Uhr rief der Posten mit verhaltener Stimme ins Klassenzimmer: »Der Lehrer kommt«, und alle rannten an ihren Platz. Die Tür ging auf, der Herr Lehrer spazierte herein und mit einem lauten »Guten Morgen, Herr Lehrer«, wurde er von der ganzen Meute begrüßt.

Die Erziehung von uns Kindern war in der Hauptsache in den Händen unserer Mutter. Nicht bigottisch, aber gut katholisch wurde das von ihr praktiziert. Ein Tag ohne Morgengebet, ohne Tischgebet und Abendgebet war nicht denkbar. So wenig wie Bettgehen, ohne dass Mama nicht noch ein Märchen erzählt hätte.

Das Kirchengehen – nicht nur am Sonntag, sondern jeden Tag – war für uns keine Last, sondern schon mehr eine liebe Gewohnheit Dazu lud uns schon das nahe Geläute der Kirchenglocken ein, das uns beide, Richard und mich, zur Arbeit rief. Richard durfte die Orgel treten und ich war als Ministrant aktiv.

Am westlichen Dorfende, in Oberallershausen, in respektvoller Entfernung also, standen die Kirche und die Schule der Evangelischen Kirche, damals redete man nur von der »Lutherischen«. Ein Pastor sorgte sich um seine Schäflein im weiten Umkreis, und nur ein Lehrer – er reichte leicht für die wenigen Kinder – betreute die Schuljugend. Nur wenige Kinder hatten eine Fahrgelegenheit, die meisten marschierten zu Fuß, bei Kälte, Regen und Schnee mit schlechtem Schuhwerk und unzureichender Kleidung den weiten Weg. Nach dieser körperlichen Anstrengung in der Schule angekommen, mussten oft erst die Klamotten getrocknet werden – da blieb dann zum Lernen nicht mehr viel Zeit.

Die katholischen Kinder hatten es da schon ein gutes Stück besser. Trotzdem, der Weg von Aiterbach, Leonhardsbuch, Kienberg und Reckmühle war für einen Knirps von sechs Jahren schon eine Leistung, noch dazu bei der damaligen nicht gerade üppigen Kost. Und vor dem Schulunterricht, um 7 Uhr, war ja eine Messe oder ein Amt. Das zu versäumen war selbst für einen Auswärtigen mindestens eine lässliche Sünde.

Als schwere Sünden dagegen bekämpften feurige Kooperatoren vom Predigtstuhl herab die kurzen Röcke der verführerischen Jungfrauen. Es waren zwar nicht mehr als die Knöchel zu sehen – aber »wehret den Anfängen«.

Bestens besucht waren immer die Sonntags-, besonders die Fastenpredigten. Da ist auch keiner eingeschlafen wie bei den vergeistigten Ansprachen des hochwürdigen Herrn Pfarrers, und war er noch so müde von der schweren Bauernarbeit. All das »neuzeitliche Zeug« wie kurze Röcke, Bubikopf-Frisur oder gar »Stöckerlschuh« kam lautstark zur Sprache. Bei den Alten fand das Zustimmung, die Burschen duckten sich und grinsten schadenfroh. »Heut hat er es ihnen aber richtig g’sagt«. In diesen Worten steckte vollste Anerkennung, denn die »Unmoral« war schon aufs Land gekommen und musste bekämpft werden.

Bei der nächsten Predigt kamen dann die Burschen dran – auch sie blieben nicht ungeschoren. Ihnen warf der Nachfolger von Abraham a Sancta clara unüberhörbar und voll heiligem Zorn ihre schweren Sünden vor.

Erst »Bierpredigt mit Brezenandacht« – gemeint waren die Wirtshaushocker während des Gottesdienstes –, hernach »liederlichen Umgang mit Frauenzimmern«. Gemeint war das sündige Kammerfensterln.

Als Zugezogene hatten meine Eltern noch kein eigenes Haus und wohnten beim Schmiedmeister Johann Käser. Unser Hausherr war Witwer. Im Erdgeschoss betrieb er eine Dorfschmiede, die andere Hälfte im Parterre diente ihm als Wohnung. Die Wohnküche mit einem kleinen Herd, einem Leder-Kanapee voller schwarzem Schmiedruß, einem rustikalen Tisch und einem dazu passenden Stuhl, die beide älter gewesen sein dürften als ihr Besitzer, war zeitgemäß, aber ärmlich.

Der zweite Raum, das Schlafzimmer, war genauso bescheiden. Das Federbett steckte in einem rot-weiß-karierten Überzug und war so weniger schmutzempfindlich. Auf dem Nachtkastl neben dem Bett stand griffbereit, für alle Notfälle, ein Kerzenständer mit Kerze und Streichhölzern an seinem Platz. Das Nachtkastl war wegen seines Inhaltes, dem »Nachthaferl« so wichtig. Das Botschamperl war lebensnotwendig, denn das einzige »Häuschen« für sämtliche Hausbewohner war draußen. Um dort hinzukommen, musste man erst über die Straße. Zehn Meter weiter an einen Gartenzaun gelehnt stand das besagte Örtchen mit verwitterten, breiten Fichtenbrettern und zwei bis drei Zentimeter breiten Ritzen, die einen Rundblick über die ganze Nachbarschaft freigaben. Ein rund ausgeschnittenes Brett quer gelegt und festgenagelt diente als Sitzgelegenheit. Das Türschloss war ein altersschwacher Lederriemen, an einem Nagel eingehängt, und schon war die Bude sturmgesichert. Es war schon sehr nüchtern. Sogar das sonst übliche, in die Tür geschnitzte Herzerl fehlte. Der Wind sorgte zwar für absolute Belüftung, dafür aber waren im Sommer die bei Wärme lästigen Fliegen ungebetene Gäste. Im Winter blieb auf dem Sitzbrett der Schnee liegen und fror fest, und die Kälte machte den Ausflug hierher auch nicht lustiger, weder bei Tag, schon gar nicht bei Nacht. Jedenfalls ging man zum Häuschen nur, wenn es sein musste, und blieb nicht länger als unbedingt notwendig.

In der Werkstatt unseres Hausherrn, der Schmiede, hielten wir Kinder uns am liebsten auf. Die Wände und die Decke waren total verrußt und der Boden voller Staub. Das offene Kaminfeuer hielt ein Blasebalg, den wir Kinder treten durften, am Brennen. Beim »Käservater«, wie wir ihn liebevoll nannten, durften wir alles. Wir traten den Blasebalg, dass die Funken bis an die Decke sprühten. Je wilder es zuging, desto schöner war’s für uns Buben. Und wenn der Käservater ein Stück glühendes Eisen aus dem Feuer holte, mit der Zange festhielt und mit dem Hammer darauf im Takt herumhämmerte, anschließend in einem Kübel mit kaltem Wasser härtete, dass es nur so zischte und dampfte, dann hatten wir eine ungefähre Vorstellung vom Fegefeuer.

Um den Amboss lagen in Reichweite griffbereit selbst geschmiedete Hämmer, an der Wand hingen handgefertigte Zangen jeder Größe und lehnten hölzerne Wagenräder, die einen Eisenreifen bekamen. Neue und angerostete Hufeisen lagen in der Ecke neben abgerissenen Kuhketten, die auf ihre Reparatur warteten. Gleich beim Eingangstor war der Stand, wo den schweren Bauernrössern neue Hufe verpasst werden mussten. Nicht selten waren gefährliche Pferde darunter, die kein anderer Hufschmied annahm. Aber unser Käservater wurde mit allen, noch so hinterlistigen Schlägern und Beißern fertig. Dafür gab’s – der Herr verzeih’s – eine ganze Litanei unchristlicher Flüche. Ein ganz wichtiges Utensil in Käservaters Werkstatt darf ich nicht vergessen: seinen Maßkrug. Zu seiner schweren Arbeit war ihm ein kühler Schluck zu vergönnen, aber einen Rausch, auch nicht ein Schwipserl, hätte er sich bei seiner Arbeit nicht leisten können. Wir Buben durften dann beim Fuchswirt eine Maß »Dunkles« holen und trinken. Das hatten wir natürlich schon auf dem Weg getan, weil’s gar so gut war, obwohl der Krug vor lauter Ruß und Fett nur so klebte.

So grob der Käservater zu seinen Bauern war, so rührend großväterlich war er zu uns Buben. Ohne uns zu fragen, was wir angestellt hatten, er wusste es. Dann durften wir bei ihm in der Schmiede bleiben, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Dann lieferte uns der gute Alte beim Vater oder der Mutter ab mit dem Befehl: »Dass du mir den Buben ja nicht anrührst.«

Vom Alter und von seiner schweren Arbeit gezeichnet, war er schon gebeugt und die Runzeln in seinem immer noch fröhlichen Gesicht wurden tiefer. Der Bart immer struppiger und grauer. Trotzdem hatte er stets ein Lächeln für uns Buben. Außer unserer Familie hatte er keine Freunde – oder doch, den »Fuchsl«, seinen treuen Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgte.

Eines Tages lag unser Käservater tot im Bett. Mein erstes trauriges Erlebnis und für uns Buben einfach unverständlich. Meine Mutter wollte ihm in der Frühe den Milchkaffee ans Bett bringen, wie immer, wenn er kränkelte, trotzdem dachte niemand an etwas Ernstes, am wenigsten wir Kinder.

Er war friedlich eingeschlafen, und wir konnten ihn nicht mehr wecken. Wie sich herausstellte, hatte der Käservater ein Testament gemacht und meine Eltern, die immer für ihn sorgten mit Waschen, Kochen, Putzen und Krankenpflege, als Miterben eingesetzt. Das hatte niemand erwartet – am allerwenigsten meine Eltern. Unsere Familie wohnte bis dahin ziemlich eng im ersten Stock. Für sieben Personen – meine Eltern, uns vier Buben und die Großmutter – gab es jetzt Platz, da wir nun das ganze Haus belegen konnten.

Noch gut kann ich mich an die Oma erinnern, an ihr verhärmtes Gesicht, über das nie ein Lächeln kam. Wortlos ging sie mit uns Buben jeden Tag den Kirchweg hinunter, schob mit der einen Hand mühselig und langsam den großrädrigen Kinderwagen vor sich her. Der Rock war weit, reichte fast bis zum Boden, das dünne graue Haar war gerade und hatte einen Mittelscheitel. Das glatt nach hinten gekämmte Haar machte ihr Gesicht noch strenger. Die Oma war gut gelitten bei meinen Eltern. Sie hätte keinen Grund gehabt traurig zu sein. Den Grund dafür erfuhr ich erst viel später, selbst mein Vater hat nie davon erzählt.

Unsere Oma starb bald nach Käservaters Tod. Ein schwarzer, mit zwei Bauernpferden bespannter Totenwagen fuhr eines Morgens bei unserem Haus vor. Zwei schwarzgekleidete Männer trugen einen Sarg aus dem Haus, schoben ihn von hinten in den Wagen und machten die Türen zu. Meine Eltern und wir Kinder standen dabei. Die Eltern weinten. Wir Buben auch, verstanden aber nicht so recht, warum.

Nie hatte unser Vater über seine Heimat oder sein Elternhaus mit uns Kindern gesprochen, nie von seiner Kinder- und Jugendzeit erzählt. Sechzig Jahre mag ich schon alt gewesen sein, als ich erfuhr, warum unser Vater seine Mutter zu uns nach Allershausen geholt hatte und wie viel Leid unsere Oma in ihrem Leben hatte durchmachen müssen.

Sie war schon lange Witwe, als sie erleben musste, dass vier ihrer fünf Söhne ihr junges Leben im Frankreichfeldzug, 1914 bis 1918, lassen mussten. Auch der Älteste, der Hoferbe, lag in Frankreichs Erde. Bei ihr im Anwesen geblieben waren ihr kleiner Enkel und die Schwiegertochter, mit der nicht gut Kirschen essen war. Omas Enkel – meinen Cousin – lernte ich erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1980 kennen.

Er hatte in Abens in einen schönen Hof eingeheiratet. Nur durch einen Zufall kam ich auf seinen Namen und seine Adresse, konnte ihn daraufhin besuchen und mit ihm sprechen. Dabei erfuhr ich erst vom großen Leid unserer gemeinsamen Großmutter. Meine Frau und unser Sohn Richard waren dabei und Zeugen des Gespräches, das mir die Verschlossenheit und Zurückgezogenheit meiner Oma erklärte. Mein Cousin erzählte von der Oma und ihrem jüngsten Kind – der Zenzl, seiner und meiner Tante. Am besten, ich lasse meinen Cousin selber erzählen, was sich da in Abens Trauriges, Hartes abgespielt hatte, als er noch ein Bub von knapp sechs Jahren gewesen war:

»Man schrieb das Jahr 1916, die Zenzl war so ungefähr 18 Jahre alt und bildhübsch. Sie arbeitete daheim auf dem Anwesen, die Männer waren ja alle im Krieg. Die Großmutter war auch nicht mehr die Jüngste. Trotzdem machte sie noch die Hausarbeit, kochte und hielt Haus und Hof in Ordnung, damit die Schwiegertochter und die Zenzl bei der Feldarbeit bleiben konnten. Die Stallarbeit war ja auch noch da. In der Frühe weckte die Oma alle Hausbewohner, ließ die Hühner aus dem Stall und erledigte die sonst noch notwendigen Kleinigkeiten. Mir zog sie das Gewand an, wusch mir das Gesicht und richtete die Suppe her. Tag für Tag ging das seinen gewohnten Gang, bis dann Folgendes passierte:

Wie immer stand die Großmutter als Erste in der Früh auf, machte ihre gewohnte Runde zum Wecken, klopfte bei der Zenzl an die Tür, bekam aber keine Antwort. Also machte sie die Kammertür auf – das Bett war leer und schon gemacht. Na ja, sie wird halt eher aufgestanden sein, dachte die Großmutter und machte ihre gewohnte Runde weiter. Dann holte sie die Sense, um im Obstgarten ein wenig Gras zu mähen, ging zum Ziehbrunnen, wo sie einen Kübel Wasser mitnehmen wollte. Sie hob den schweren Brunnendeckel hoch, erschrak entsetzlich und ließ den Deckel wieder fallen. Unten im Brunnenwasser lag die Zenzl – tot.

Jetzt wusste ich, warum ich in der Nacht so viel Angst gehabt habe. Es war also kein Angsttraum – die furchtbaren Schreie, die ich gehört habe, waren Realität gewesen. Ich musste nämlich um Mitternacht ›aufs Haferl‹ und da hörte ich auf einmal furchtbare, verzweifelte Schreie – Hilfeschreie. Gefürchtet habe ich mich natürlich – wie bei einem starken Gewitter. Also nichts wie zurück ins Bett und die Decke über den Kopf, damit ich nichts mehr hören musste. Schließlich konnte ich doch einschlafen, bis in der Frühe die Großmutter weinend und schluchzend zu mir ans Bett kam.

Sie konnte kein Wort sagen, nahm mich bei der Hand und führte mich und meine Mutter zum Brunnen. Bald erschien die Gendarmerie aus Au. Die eruierte gewissenhaft und stellte fest: ›Im Wagenhaus müssen zwei Personen gewesen sein. Den Spuren nach waren es die Hausschuhe der Zenzl, daneben deutlich die Abdrücke von genagelten, der Größe nach vermutlich Männerschuhen. Daneben Zigarettenstumpen und abgebrannte Zündhölzer. Eindeutige Schleifspuren zogen sich vom Wagenschuppen zum Ziehbrunnen, dessen Deckel geschlossen war.‹ Den Umständen nach vermutete die Polizei ein Verbrechen, denn der schwere Deckel des Brunnens konnte von innen nicht geschlossen werden. Bei einem Selbstmord wäre, nach Feststellung der Polizei, der Deckel offen gewesen.

Der Verdacht fiel bei den Leuten sofort auf einen Bauernsohn, der gerade auf Fronturlaub zu Hause war. Erschwerend kam hinzu, dass der Verdächtigte am gleichen Tag wieder an die Front abgereist war, obwohl, wie sich später herausstellte, sein Urlaub noch gar nicht zu Ende war. Weiter stellte sich später heraus, dass die Zenzl von ihm ein Kind erwartet hatte. Bekannt war auch, dass dieser Bauernsohn eine neue Freundin hatte, eine Bauerntochter, die den elterlichen Hof übernehmen sollte. Also stand die arme Gütlerstochter im Weg, die Zenzl musste weg und verschwinden.

Schlimmer noch als der Tod der Zenzl und das Gerede der Leute traf die gebrochene Mutter die Weigerung des Pfarrers, die tote Zenzl kirchlich zu beerdigen, weil der Mord an ihr nicht nachgewiesen werden konnte. Immer und immer wieder bat das arme, gebrochene Weiberl den geistlichen Herrn – vergebens. Drei Tage lang saß sie vor dem Pfarrhof – nur ein paar hundert Meter von ihrem Haus entfernt – auf einem Stoß Holzstangen und weinte.

Still und heimlich beerdigten die Dorfburschen in der dritten Nacht die verstorbene Zenzl ohne Pfarrer, legten Blumen auf das frische Grab und beteten ein stilles Vaterunser. Sie hatten das nette, lustige Mädchen gern gehabt, glaubten nicht an einen vorgetäuschten Selbstmord, auch nicht die Polizei, auch nicht die eingesetzte Mordkommission – nur die ›Hohe Geistlichkeit‹.

Zuerst durch den zu Ende gehenden Ersten Weltkrieg, dann durch die Nachkriegswirren kamen die Untersuchungen des Amtsgerichtes Moosburg immer wieder ins Stocken. Im Dritten Reich wurde der Fall erneut aufgerollt, doch nun unterbrach der beginnende Zweite Weltkrieg die weiteren Untersuchungen. Wieder wurde der Fall beiseitegelegt und verjährte schließlich.

Der des Mordes verdächtigte Bursche konnte sich zeitlebens kaum in der Öffentlichkeit sehen lassen. Selbst als altem Mann hing ihm die nicht bewiesene Schuld an. Mit ausgestrecktem Finger zeigten die Leute nach ihm. Jahre vergingen. Man schrieb das Jahr 1927. Der Pfarrer Rosenberger war auch nicht jünger geworden. Seit 1903 hatte er in Abens regiert und lag nun auf dem Sterbebett. Anscheinend wollte er sein Gewissen erleichtern, denn immer wieder schickte er mir eine Botschaft und bat darum, dass ich zu ihm kommen solle. Ich konnte einfach nicht. Meines Erachtens hat er als Beichtvater gewusst, was damals 1916 in dieser Nacht passiert war. Mit diesem Mann wollte ich nichts mehr zu tun haben. Bald darauf starb der Pfarrer Rosenberger und nahm sein Geheimnis mit ins Grab.« Bedrückt haben wir meinem Cousin zugehört. Leider kam es nicht mehr zu einer zweiten Begegnung mit ihm.

Die Geschichte geht noch weiter. Die alte, aber immer noch quirlige Pfarrersköchin – zu Pfarrer Rosenbergers Zeiten noch ein junges Mädchen – lief uns Ahnenforschern direkt in die Hände. An einem sonnigen Nachmittag fuhren wir in die Hallertau, um das Grab meiner Verwandten und gefallenen Onkel zu besuchen. Wir fotografierten den Grabstein, wo noch die Bilder meiner vier gefallenen Onkel zu sehen waren.

Die Namen meiner Großeltern und der Tante Zenzl waren nirgends zu finden. Dann gingen wir in die Kirche. Dort saßen und standen ein paar alte Frauen, die sich unterhielten. Eine davon ging in Richtung Türe, wohl um die Kirche zu verlassen. Ich ging auf sie zu und fragte, ob sie eine Familie Eder in dieser Gegend kenne. Wir wollten von ihr auch wissen, ob sie vielleicht auch ein Fräulein Resl kennen würde, ob die vielleicht noch lebe. Wie ein Wasserfall prallte ein Redeschwall auf uns nieder.

»Aber natürlich, das bin ich ja selber. Ich bin eine richtige Münchnerin, habe im Kloster Indersdorf Kochen und Hauswirtschaft gelernt und seitdem bin ich in Abens als Pfarrersköchin beim Pfarrer Rosenberger, bis er gestorben ist.« Das Fräulein Resl dürfte damals bereits über neunzig gewesen sein. Geistig und körperlich noch vollkommen frisch, konnte sie sich an jede Kleinigkeit erinnern. »Eders – ja die wohnen gleich neben mir, das sind vom Pfarrhof keine hundert Meter.« Flink wie ein Wiesel war sie bei uns im Auto und zeigte uns den Weg zum Eder – meinem neu entdeckten Verwandten.

Der Grund, warum wir einen Ausflug nach Abens in die Hallertau machten, war eine Erzählung im Radio, wonach es seit dem Tod von Pfarrer Rosenberger dort geistern soll. Das Fräulein Resi sollte angeblich noch leben und im alten Pfarrhof wohnen, allein natürlich, denn die Pfarrstelle war inzwischen verwaist. Und nun hatten wir das Fräulein Resl, die alte Köchin, leibhaftig vor uns.

Redselig erzählte sie die traurige Geschichte von der Eder Zenzl, wie die Dorfburschen das arme Dirndl ins »Unschuldige Kindlein«-Grab gelegt haben und wie die alte Mutter sich jeden Tag am Grab ausgeweint hat über das tragische Ende »ihrer« Zenzl und ihrer gefallenen vier Buben. Und dann erzählte sie, was sich allabendlich im Pfarrhof nach dem Tod von Pfarrer Rosenberger ereignete:

»Am Anfang habe ich mich ganz schön gefürchtet nach dem Tod vom Herrn Pfarrer. Jede Nacht im Haus hat es dumpfe Schläge gegeben, auf der Treppe polterte es, dass es einem kalt den Rücken hinuntergelaufen ist. Aber ich habe mich halt daran gewöhnt.

Nach ein paar Monaten kam der neue Pfarrer, Silvester Bachmeier, hat er geheißen. Die erste Zeit hat er keine Ruhe gefunden in seinem Pfarrhof in Abens, jede Nacht das unheimliche Gepolter die Stiege hinunter. Aber schließlich hat er sich dran gewöhnt.

Vielleicht ein Vierteljahr später übernachtete ein Franziskanerpater bei uns im Pfarrhof. Sein Bett stand im gleichen Zimmer, in dem der Pfarrer Rosenberger gestorben war. Alle im Haus waren schon im Bett und schliefen. Bis es dann wie jede Nacht losging. Poltern, Stöhnen, das Geräusch von Ketten die Stiege herunter. Heute waren auch Tritte mit schweren Stiefeln dabei, das musste unser Bursche sein, der von unserem Spuk nichts wusste.

›Resl, mach dem Herrn Pater ein Licht, der fällt ja die Treppe hinunter‹, schrie der Pfarrer zu mir. Ich tat, was mir angeschafft worden war, aber dort, wo der Pater hätte stehen müssen, war nichts. Kein Mensch war zu sehen. Jetzt ist der Hochwürden hinauf ins Gästezimmer – da lag der Franziskaner ruhig im Bett und schlief.

Der Pfarrer Bachmeier weckte ihn auf und fragte: Ja, bist du denn nicht gerade die Stiege hinunter?‹

›Nein, warum?‹, sagte der Gast, ›ich habe fest geschlafen.‹

Der Pfarrer Bachmeier, ein bedächtiger Herr, besprach sich lang mit dem Pater. Sie brachten das merkwürdige Geschehen im Pfarrhaus, das Geistern, mit dem mysteriösen Tod der Eder Zenzl in Verbindung, denn erst seit dieser Zeit ›geht’s um‹ im Pfarrhaus. Die beiden geistlichen Herren kamen zu dem Schluss, dass es die Unruhe des Amtsvorgängers war, das Gewissen des Pfarrer Rosenberger. Ihm wollten die Beiden helfen, drüben im Jenseits Ruhe zu finden. Sie haben gleich eine heilige Messe gehalten für den verstorbenen Kollegen und haben so den Rosenberger sauber gemacht, drüben im Jenseits. Seitdem ist Ruhe im Pfarrhof von Abens.‹«

Viel zu schnell vergingen die unbeschwerten Kinderjahre daheim im warmen Nest bei meinen Eltern und Brüdern. Viel zu schnell vier Klassen an der Volksschule – zwei davon beim »Fräulein« und zwei beim Lehrer Gröber. In den Sommerferien brachte mir das Fräulein Fürholzer noch schnell ein paar lateinische Begriffe bei: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, alles für die Aufnahmeprüfung in München. Acht Tage später kam per Post das Urteil: Vierzig von 200 Prüflingen, darunter auch ich, hatten bestanden. Schulbeginn: l. September 1926 im Pro-Gymnasium im Kloster Scheyern.

Dort herrschte ein strenges Regiment. Lernen, beten, essen, früh ins Bett. Die Jahre vergingen schnell durch die Gleichförmigkeit des Alltags im Internat. Zweimal besuchte mich meine Mutter, die, als ich zu den großen Ferien im Sommer heimkam, bereits schwerkrank im Bett lag. Geschwächt durch Blutarmut war sie schon sehr stark abgemagert und schlief sehr viel. Pfarrer Kreitmeier spendete im Beisein der ganzen Familie die Sterbesakramente. Wenige Tage später schlief unsere liebe Mutter ruhig hinüber – in ein besseres Jenseits. Arm waren wir geworden – wir hatten keine Mutter mehr.

Am 1. September hatte die Schule wieder begonnen. Das Seminarleben lief jetzt ganz automatisch und teilnahmslos ab, nicht mehr wie früher, mit Eifer und Freude. Doch alles, was ich in der Schule hörte, ich hörte es nur von ganz weit weg, von ganz, ganz weit weg … Was ich auch lernte, Latein oder ein Gedicht, es war alles, als ginge es mich gar nichts an. Ich konnte mir die größte Mühe geben, kaum hatte ich mit einer Arbeit begonnen, waren meine Gedanken schon nach wenigen Minuten ganz woanders.

Das Heimweh war vor Mutters Tod schon grausam gewesen, jetzt fraß es mich schier auf. Doch niemand hatte ein Wort des Trostes für mich oder gar Mitleid. Auch nicht mein Mathematiklehrer, Pater Canisius, der zufällig am Tag der Beerdigung meiner Mutter eine Radtour nach Allershausen gemacht hatte. Er stand am Wegrand, als der Trauerzug an ihm vorbei in die Kirche und dann in den Friedhof einbog, und wir schauten uns in die Augen. Er muss gesehen haben, wie viel Leid über unsere junge Familie gekommen war.

Kaum hatte ich wieder Boden unter den Füßen, ein Jahr war inzwischen vergangen, bekam ich einen Brief von meinem Vater: »Wenn du das nächste Mal in den Ferien heimkommst, wirst du eine neue Mutter haben.«

Was mich mehr geschmerzt hat, der frühe Tod meiner Mutter oder diese Nachricht – ich weiß es heute nicht mehr. Ich kann aber verstehen, dass einem vierzigjährigen Witwer mit vier Buben gar nichts anderes übrigblieb, als wieder zu heiraten.

Die nächsten Ferien kamen und somit die erste Begegnung mit der »neuen Mutter«. Neu war sie für mich, aber sie war doch nicht meine Mutter. Schon rein äußerlich hatten sie, außer der Größe, nichts gemeinsam. Unsere Mutter war schlank, zierlich und immer fröhlich gewesen, sie hatte uns in allen großen und kleinen Nöten geholfen und war trotz ihrer vielen Arbeit immer für uns da gewesen. Früher hatte ich lieben, mal verzeihenden, mal aufmunternden Augen entgegen gesehen, nun stand mir eine fremde Frau gegenüber, die für uns Buben, da selbst kinderlos, wenig Verständnis hatte. Kein schützender Arm legte sich mehr um mich und drückte mich. Eine mir fremde Frau sagte: »Grüß Gott« im Elternhaus.

Sehr bald erfuhr ich nun, was so ein Studiosus allmonatlich Geld kostet – ganze 75 Mark. Zum Glück hatte ich des guten Zeugnisses wegen einen Freiplatzbetrag von 45 Mark. Heute weiß ich natürlich, dass bei dem Monatslohn von 200 Mark meinem Vater und der übrigen Familie viel abverlangt wurde, wenn für mich so viel bezahlt werden musste. Aber jetzt wurde ich immer wieder an das viele Geld erinnert, das für mich ausgegeben werden musste.

Waren die Ferien früher immer viel zu kurz, jetzt wollten sie kein Ende nehmen. Wieder im Internat, studierte und sinnierte ich öfter über die Zukunft, als dass ich lernte. Ziemlich schnell stand mein Entschluss fest: Ich wollte so schnell wie möglich Geld verdienen – viel Geld.

Zum Lernen hatte ich keine Ruhe mehr und auch keine Lust. Schon vor Schuljahresschluss verkaufte ich an die Mitschüler meine privaten Bücher. Mein Ziel war klar: Geld verdienen, arbeiten, unabhängig sein, ja, das war es, was ich wollte.

Als mich mein Vater nun mit einem neuen DKW-Motorrad in Scheyern zu den nächsten Ferien abholte, erklärte ich klar und deutlich, dass ich nicht mehr hierher ins Internat zurückkehren und nicht mehr in die Schule gehen würde. Trotz des nun schlechten Zeugnisses meinte mein Papa, ich sollte doch weitermachen, ich könnte doch in Freising … »Du brauchst ja nicht Pfarrer werden, du kannst genauso gut Doktor oder Lehrer werden.«

Zum Glück blieb ich stur bei meinem Entschluss, bald selbst Geld verdienen zu wollen, denn ein Jahr nach diesem Angebot war mein Vater tot.

Es gab also keine großen Ferien mehr für mich. Kaum daheim, fuhr ich schon nach Freising und horchte herum. Per Zufall fand ich gleich den richtigen Mann: Ein alter, würdiger Herr, mit langem, weißem Vollbart. Von Beruf war er Berufsberater. Der väterliche Typ, sympathisch und mit Humor, unterhielt sich zwanglos mit mir, fragte mich aus über Wichtiges und Unwichtiges, ließ mich zeichnen und plötzlich, sichtlich stolz auf seine Idee: »Ich habe was für dich: Fotograf.« Und gleich malte er mir diesen Beruf in den allerschönsten Farben aus. Wie er sagte, ein Beruf, künstlerisch, vielseitig, ein Beruf mit großer Zukunft und der etwas abwirft. Das gefiel mir auf Anhieb, obwohl ich nicht den leisesten Schimmer von der Fotografie hatte.

Gleich am Montag früh um 8 Uhr stand ich vor meinem Lehrmeister. »Franz Ress – Königlich-Bayerischer Hoffotograf«.

Schon wieder schwierige Jahre

Lehrjahre sind keine Herrenjahre und zur damaligen Zeit schon gar nicht. Ich war beim besten Porträtfotografen in Freising untergekommen und hatte somit die Garantie für eine solide und fachliche Ausbildung. Im späteren Berufsleben kam mir das sehr zugute. Aufgrund meiner Gymnasialjahre wurde mir das damals übliche Lehrgeld erlassen (üblich waren zwei bis drei Hunderter) sowie die Lehrzeit um ein Jahr verkürzt. Dafür war die Arbeitszeit selbst für damalige Verhältnisse fast zu viel des Guten.

Die Arbeitszeit war von 7.30 Uhr ohne Pause bis 12 Uhr. Eine Stunde Mittag. Dann ging es wieder ohne Pause weiter bis 18 Uhr, aber meistens wurde es halb sieben, wenn nicht 19 Uhr abends. Am Samstag läutete für die Fotografie keine Feierabendglocke. Da gab es noch mehr Arbeit als an den übrigen Tagen. Als Ausgleich dafür konnte ich die »Besseren« von Freising und Umgebung kennenlernen. Nicht nur die gesamte Oberschicht Freisings ließ sich beim Ress porträtieren, auch die Herren Professoren von Weihenstephan und ihre Studenten gingen beim Ress ein und aus. Selbstverständlich wussten auch die geistlichen Herren vom Domberg die fachliche und künstlerische Qualität zu schätzen. Die Domherren und Weihbischöfe aus München waren unsere Kunden, an ihrer Spitze Seine Eminenz Kardinal Faulhaber. Ich kannte ihn schon von Scheyern her und schätzte ihn als Persönlichkeit.

Hauptsächlich für das Landvolk war das Atelier auch an den Sonntagen und den Feiertagen von 10 bis 13.30 Uhr geöffnet. Da musste natürlich auch der »Stift« da sein, wer hätte denn sonst die Platten für die 18 x 24-Kamera eingelegt und die Schärfe auf der Mattscheibe eingestellt? Trotz der vielen Arbeit hatte ich stets richtig Freude an meinem Beruf. Nie habe ich bereut, diesen Traumberuf ergriffen zu haben.

Ich liebte die Arbeit im Fotoatelier

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Obwohl nur zwölf Kilometer von daheim entfernt, hatte ich Heimweh nach dem Elternhaus, nach meinen Brüdern. Jeden Samstag und Sonntag nach der Arbeit zog es mich deshalb heim nach Allershausen. So auch am 21. Februar 1932, einem Sonntagnachmittag, um am Montag früh mit dem Rad wieder zur Arbeit nach Freising zu fahren.

Mein Vater fragte mich nach den Straßenverhältnissen. Er wollte am Montag nach Freising zum Arzt. »Mit dem Magen stimmt etwas nicht«, meinte er, »aber bestimmt nichts Schlimmes.« Dann meinte er noch: »Da bist du schon lang bei der Arbeit, wenn ich wegfahre.«

Ich war schon lang im Bett, als der Vater um Mitternacht den Dienst im Amperwerk antrat, und schlief längst, musste ich doch in aller Früh nach Freising.

Dazu kam es an diesem Montag nicht: Pünktlich wie gewohnt trat mein Vater also die Nachtschicht an. Um 3 Uhr morgens machte er mit seinem Arbeitskollegen Brotzeit ohne irgendwelche Anzeichen von Unwohlsein und ohne zu klagen. 15 Minuten später verständigte uns zu Hause ein Arbeitskollege von ihm.

»Eurem Vater geht’s ganz schlecht. Ich war schon beim Doktor, und den Herrn Pfarrer habe ich auch schon gerufen.«

So schnell waren mein Bruder Richard und ich noch nie aus den Federn. Obwohl wir in die Pedale traten wie wir nur konnten, unsere Räder waren zu langsam, wir kamen zu spät. Unser Vater war bereits tot.

Es war der 22. Februar 1932. Wie wird es wohl weitergehen? Damals musste eine Leiche noch freigekauft werden. Das Elektrizitätswerk gehörte zur Gemeinde Kranzberg. Um unseren Vater nach Allershausen überführen zu können, hätten wir eine Menge Geld an die Nachbargemeinde bezahlen müssen. Der hilfsbereite Chef der Amperwerke organisierte einen zweirädrigen Handkarren und gab uns den Rat, unseren Vater gleich nach Hause zu bringen. Ein Maschinist sollte uns dabei helfen. Eine harte Arbeit für uns zwei Buben.

Wir trugen also unseren toten Vater die Treppe hinunter, legten ihn auf den Karren und fuhren los. Der Maschinist schob den Karren, Richard und ich hielten unseren Vater fest, damit er nicht herunterfallen konnte. Ein seltsamer Leichenzug …

An unserem Haus angekommen, schleppten wir zu dritt, der Maschinist, Richard und ich unseren Vater ins Haus, legten ihn ins Bett, das seine Frau schon hergerichtet hatte. Wieder ein harter Schlag für uns, wieder flossen die Tränen. Nun waren wir noch ärmer. Jetzt hatten wir auch noch unseren Vater verloren.

Die Not ließ uns noch enger zusammenrücken und stärker zusammenhalten als schon beim Tod unserer Mutter. Unseren Gustav sollte das Schicksal am schwersten treffen, er sollte einen neuen Vormund bekommen, so wie Richard, Bert und ich. Der sollte jedoch aus der Verwandtschaft sein.

Wie ein Lauffeuer ging der Tod des Vaters durch das Dorf. Wie immer, wenn ein noch junger Mann, noch dazu Vater von mehreren Kindern, so schnell aus dem Leben scheidet, sind die Leute ergriffen. Entsprechend groß war auch die Trauergemeinde bei der Beerdigung. Die lästigen Behördengänge und die Vorbereitungen für die Beerdigung ließen uns keine Zeit zum Nachdenken. Diese Arbeiten machte ich buchstäblich im Unterbewusstsein. Nur ganz allmählich fing der Verstand an, wieder normal zu denken. Das Leben ging weiter.

Wir bekamen bald einen Vormund, den Maurermeister Meier, der ein Baugeschäft in Allershausen betrieb. Er war ein Cousin meiner Mutter, der sich später noch oft für seine Schützlinge einsetzen würde.

Die Vormundschaft für unseren Gustav übernahm ein Arbeitskollege meines Vaters. Leider hatte er kein Verhältnis zu unserem sensiblen Gustav. Er ließ sogar zu, dass Gustav, geistig vollkommen normal, wegen seiner epileptischen Anfälle in die Anstalt Schönbrunn eingeliefert wurde. Dort sollte er mit geistig Behinderten arbeiten. Wieder hieß es für uns Kinder: Es muss weitergehen.

Finanziell traf ich es am besten von uns allen. Die Familie Ress hatte Mitleid mit dem armen Buben und gab mir Kost und Logis. Diese Wohltat hatte aber auch ihren Preis. Die Mittagsstunde war passé. Zu arbeiten war bis zum Essen. Nach dem Essen hieß es dann: Löffel aus der Hand und den Retuschierstift genommen.

Mein Zimmer war die Rumpelkammer des Hauses Ress. Das Bett wurmstichig, die Matratze voller Löcher, der Holzfußboden verfault. Kein Wasser in erreichbarer Nähe, waschen konnte ich mich deshalb nur drüben im Geschäftshaus, und das Örtchen war die Moosach. Was ich im Überfluss hatte, waren die Ratten, in jeder Größe, Ratten aus der Moosach nebenan. Noch öfter als bisher fuhr ich abends heim nach Allershausen zu meinen Brüdern. Da hatte ich zwar auch kein fließendes Wasser, aber frisches, sauberes, schmackhaftes Wasser aus dem Pump- und Schöpfbrunnen. Dazu ein sauberes Zimmer mit einem, vom Vater nach guter, fachlicher Art, geschreinerten Bett. Hier brauchte ich keine Angst zu haben, dass mir bei der Nacht eine Ratte übers Gesicht laufen würde.

Als Weihnachtsgeschenk bekam ich von der Firma einen Fotoapparat, eine 5 x 8-Rollfilmkamera von Voigtländer. Ich war überglücklich.

Und kaufmännisch nicht ganz unbegabt, dachte ich schon eine Nummer weiter. Alles, womit ich Geld verdienen konnte, wurde von mir fotografiert: kleine Kinder, den Bauernhof, das neue Fahrrad, die feschen Burschen mit Nerengo-Sakko und »Goggs«, dazu ein weißer Schal und Lederhandschuhe, das hübsche Töchterchen des Hauses, den prämierten Stier vom Brucker, den Stolz des Omer-Bauern, seine Rösser und alles, was sonst noch kreuchte und fleuchte. Alles wurde von mir auf Papier gebannt, natürlich nur für Bares.

Ich hatte mit meinem Bruder Richard bereits einen Teilhaber, der die Aufträge und Bestellungen entgegennahm. Kam ich am Sonntagnachmittag heim, warteten schon etliche Leute auf mich, um Bilder machen zu lassen, für gutes Geld.

Durch diese viele Fotografiererei konnte ich mir bald ein Motorrad leisten, eine Zündapp mit 200 ccm, dazu einen Motor mit 250 ccm. Den ließ ich mir gleich einbauen und konnte nun umso schneller meine Geschäfte erledigen. Damals ein Motorrad zu besitzen, noch dazu als ein junger Lausbub, wie ich einer war, das war einfach unvorstellbar. Allerdings dauerte dieses Glück nicht allzu lange. Nach mehreren Unfällen bestand mein Vormund darauf, dass das Motorrad wegmusste. Der Klügere gibt nach, und ich verkaufte das gute Stück für 120 Mark. Zwanzig Mark waren mein Gewinn.

1932 bis 1933 – es spitzt sich zu

Die Weltwirtschaftskrise schritt ihrem Höhepunkt zu. Die Arbeitslosigkeit stieg von Tag zu Tag und mit ihr die Not. Trotz seiner sozialen Einstellung konnte der größte Freisinger Arbeitgeber, die »Schlüter-Werke«, nicht alle seine Arbeiter vor der Arbeitslosigkeit retten.

Freising erlebte die ersten großen Aufmärsche und Schlägereien zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Die SA-Leute (Sturmabteilung) in ihren braunen Uniformen, streng militärisch ausgerichtet, mit der Hakenkreuzfahne an der Spitze, marschierten singend mit ihrem Kampflied durch die Stadt: »SA marschiert mit ruhig festem Schritt«.

Die Kommunisten dagegen traten mehr als undisziplinierter Pöbel auf und waren den Nazis zahlenmäßig weit unterlegen. Durch die große Arbeitslosigkeit und die Not wurden die Massen auf die Straße getrieben, leider in die extremen Richtungen. Aufwind hatte die Partei mit der lautesten Propaganda und den imposantesten Aufmärschen und es konnte Goebbels niemand das Wasser reichen. Hitlers Propaganda ließ alle und jeden an eine bessere Zukunft glauben. Arbeit und Brot für jeden, Butter statt Kanonen und immer wieder neue Schlagworte. Demnach mussten angeblich für alle bessere Zeiten kommen, die goldene Zukunft.

Die Handwerksmeister und Geschäftsleute hofften auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Fabrikbesitzer und die Großindustrie sahen ihre Schlote wieder rauchen und hofften, bald aus den roten Zahlen zu kommen. Die Militärs, selbst der kleine Leutnant, glaubte an Hitlers Versprechungen: »Jeder Soldat trägt den Marschallstab in seinem Tornister.«

Die »Arbeiter der Stirn und Faust«, schlechter konnte es ihnen nicht mehr gehen, liefen immer mehr den Nazis nach, traten der SA bei, oder der noch straffer organisierten, in schwarzen Uniformen stolzierenden SS.

Die übrigen Parteien, die Christdemokraten, der Bauernbund, die Sozialdemokraten und der Stahlhelm, dem großteils ehemalige Militärs angehörten, sie alle hatten keine Chance gegenüber der bestens organisierten NSDAP. Ihre Führerschicht war extrem fanatisch und zu allem fähig.

Der Treffpunkt und Stammtisch der Freisinger SA und SS befand sich im Gasthaus »Zum Hirschen« im Stadtzentrum, Ecke Hauptstraße Ziegelgasse. Nur ungern und nur wenn ich unbedingt musste, ging ich dort vorbei. Dass von hier nichts Gutes ausgehen konnte, lag direkt in der Luft. Es roch widerlich nach schlechter Küche, Zigarettenmief, nach abgestandenem Bier und nach Urin. Das ordinäre Gegröle passte genau dazu.

Das höchste Tier der Freisinger SS war der Preisser-Schorsch, ein alter Kämpfer. Er half beim Ress in Heimarbeit als Retuscheur aus und kolorierte die Schwarz-Weiß-Fotos der Weihenstephaner Chorstudenten in ihren bunten Uniformen. Er war der einzige prominente Freisinger Nazi, den ich persönlich kannte. Wir begegneten uns mit einer gewissen Distanz, denn jeder kannte des anderen Gesinnung.

1933 – Das Tausendjährige Reich beginnt

Kurze Zeit danach machte ich in München mit bestem Erfolg die Gehilfenprüfung für Fotografen. Im Praktischen schnitt ich als Bester ab, aber im Theoretischen wurde ein »Mangel« festgestellt: Ich wusste den Geburtstag des Führers nicht. Eine Schande, hatte doch bereits vor einigen Wochen das Dritte Reich begonnen.

Im Siegestaumel der ersten Stunde verging kaum eine Woche ohne größeren Aufmarsch oder nächtlichen Fackelzug der braunen Masse – SA und SS in Uniform; an ihrer Spitze die Musikzüge, gefolgt von den Standarten und Hakenkreuzfahnen. Mir gefiel der zackige Gleichschritt schon damals nicht, doch beim Marschieren blieb es leider nicht. Bald gingen die Schaufenster jüdischer Geschäfte in die Brüche. Das Kaufhaus »Krell«, das Bekleidungshaus »Holzer« und »Gebrüder Neuburger-Textilien«, um nur ein paar der bekanntesten zu nennen, waren bei den Ersten. Die Täter wurden nie gefasst. Leicht erklärlich, denn SA-Männer waren doch als Polizisten eingesetzt, und welcher Verbrecher zeigt sich schon selbst an?

Die nächste Schikane war, dass eines Morgens Riesenschilder an den Außenwänden hingen: »Wer beim Juden kauft, ist ein Schwein«. Als das noch nicht genug abschreckte, wurden Doppelposten uniformierter SA-Männer vor den Eingangstüren der Geschäfte aufgestellt. Jetzt traute sich kein anständiger Deutscher mehr in so einen Laden.

Die Brüder Neuburger kannte ich sehr gut. Sie waren oft bei uns, wir waren ja fast Nachbarn. Sie hatten auch jetzt noch Humor.

Für jeden hörbar erzählte einer der Neuburger: »Ich habe einen ganzen Waggon Schnäuztüchl bestellt.« Als er gefragt wurde, warum so viel, kam die Antwort: »Damit sich die Hitlerlausbuben, diese Rotzlöffel, schnäuzen können.« Keiner der beiden Neuburger, auch nicht ihre Schwester, überlebte das Dritte Reich.