Kein Heimvorteil - Olaf Junge - E-Book

Kein Heimvorteil E-Book

Olaf Junge

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Beschreibung

Dieses Buch enthüllt skandalöse Fürsorgemissstände in Deutschland. Dass die Auseinandersetzung eines Opfers so erstaunlich humorvoll und spannend ausfällt, macht die Erschütterung umso nachhaltiger.

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Olaf Junge

Kein Heimvorteil

Enthüllungsbuch underDog Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil– oder strafrechtlich verfolgt werden. underDogVerlag ist ein Imprint von EgoBook.www.egobook.de ISBN 978–3–943606–01–0 © EgoBook, Graben 2011 Lektorat: Klaus Middendorf

Vorwort

Wann ist mir das das letzte Mal passiert?

Ich muss nachdenken.

Nein, ich kann mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal beim Betrachten eines Fotos spontan die Tränen in die Augen getreten sind.

Es war unsere zweite Begegnung. Ich hatte Olaf in mein Hotelzimmer gebeten, und er hatte ein Fotoalbum mitgebracht. Als er es mit seinem jungenhaften, schelmischen Lächeln aufschlug und mir entgegenhielt, fiel also zwangsläufig mein Blick darauf: Ein hinreißend hübscher Junge mit dunklen kräftigen Locken strahlte eine junge Frau mit einer dermaßen unmittelbaren Lebensfreude und kindlich erfülltem Glück an, dass die Tränen schneller waren als der Verstand.

Dass dieser unschuldige Blick dieses sich seines Lebensglücks völlig sicher fühlenden Lockenkopfs innerhalb kürzester Zeit getrübt werden sollte, brach mir in dem Moment das Herz. Es war ein schicksalhafter Moment, denn für einen Augenblick hielt die Zeit an. Olafs Vergangenheit aus der glücklichen Zeit mit Sabine floss mit der Gegenwart, die uns erwachsene Männer in dem Hotelzimmer umschloss, in einen lebendigen Erinnerungsstrom, der in das Meer einer offenen Zukunft strömte, einer Zukunft, die uns brennend interessierte, denn sie gipfelte in der Frage: Würde Olaf das Dunkel der ersten vier Jahre seines Lebens durchbrechen können? Und würde er für das ihm widerfahrene Unrecht nach den jahrelangen vergeblichen Anläufen endlich Wiedergutmachung erfahren?

Auch wenn es pathetisch klingen mag, es ist die reinste Wahrheit: Olaf hatten in seinem jungen Leben bis auf Heiko Baumann alle alleingelassen: die Mutter, die Patentante, die Pflegefamilie und die Behörden (mit einer Ausnahme: der Jugendpension). Er hatte nur sich selbst im Kampf gegen das Scheitern. Dass er es geschafft hat, verdankt er ausschließlich seiner vitalen Lebensenergie und seinem hartnäckigen Überlebenswillen, und nicht zuletzt seiner Intelligenz und seiner kreativen und praktischen Veranlagung. Und eine Fähigkeit möchte ich besonders hinzufügen: seinen Sinn für Humor.

Wie gesagt, es war meine zweite Begegnung mit Olaf. Olaf hatte sein Schicksal schriftlich aufgearbeitet. Daraus war ein Manuskript von ca. 500 Seiten entstanden. Es ist gleichzeitig ein Dokument seiner Kreativität. Da er es mit professioneller Hilfe veröffentlichen wollte, leitete er über den Berufsverband der Lektoren eine Auftragsanfrage weiter, die mich schließlich erreichte.

Das erste Mal trafen wir uns nachmittags an einem Wochentag in einem Steakhaus in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs. Er hatte umfangreiches Material dabei, und ich wusste noch nicht, ob es mich positiv oder negativ beeindrucken würde. Er war aufgeregt, das konnte man merken. Aber ich stellte sofort fest, dass er außerordentlich präsent war. Er strahlte eine große Energie aus, und seine einnehmenden braunen Augen hatten einen diskreten schelmischen Charme. Sein dunkles gewelltes Haar beugte sich einer unauffällig gepflegten Frisur und zeigte bereits erste grau melierte Ansätze. Vor allem im Profil verliehen seine klassische Nase und sein markantes Kinn ihm ein südländisches Aussehen. Deswegen durfte ich nicht überrascht sein, als ich später erfuhr, dass er einen italienischen Vater hat. Aber der hatte ihn eigentlich als Erster verlassen, als er noch als Baby im Dunkel der Erinnerungen lag. Und bald wurde mir bewusst, dass es ihm in seiner schriftlichen Auseinandersetzung mit seinem Schicksal im Grunde genau darum ging: Licht in das Dunkel seiner ersten zwanzig Lebensjahre zu bringen.

Dass ich ihm dabei helfen sollte, reizte mich. Umso mehr, als mir dieser liebenswürdige junge Mann von inzwischen siebenunddreißig Jahren von Anbeginn nicht nur sympathisch war, sondern ein Geheimnis barg, das mich außerordentlich fesselte, denn ich verstehe mich als Schriftsteller in erster Linie als Geheimnisverwalter. Wie reizvoll, dachte ich, es hier nicht mit Fiktionen, sondern mit der unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu tun zu haben. Doch sehr bald merkte ich, dass sein Leben eine Zündschnur war, die sich vor allem für eine bestimmte Person um ein Pulverfass schlängelte. Um die Zündschnur trocken zu halten, schlug ich ihm zur Vermeidung persönlichkeitsrechtlicher Auseinandersetzungen vor, als erzählender Moderator und freundschaftlicher Beichtvater das intrigante Gespinst mit den Skrupeln der Wahrheitsliebe zu enthüllen. Insofern ist der hier vorliegende Bericht ein Enthüllungsbuch.

Da manches sich bekanntlich den Fakten entzieht, eine Tatsache, die dem Leben auf merkwürdige Weise eigentümlich ist, bedarf es manchmal der Spekulation, um in Verborgenes hineinzuleuchten. Diese Speziallampe der Fiktion, die zur Asservatenkammer eines jeden guten Schriftstellers gehört, werde ich also einbringen und mich hüten, Fakten und Fiktionen durcheinanderzubringen.

Wann immer auch Olaf als Erzähler seines Lebens auftritt: An der Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen bestehen keinerlei Zweifel. Gleiches darf ich auch für mich in Anspruch nehmen im Bemühen, Olafs Erinnerungslücken mit meiner eigenen Lebenserfahrung unter der Fragestellung zu beleuchten: Könnte es nicht so gewesen sein?

Olafs Bericht ist jedenfalls absolut authentisch, so authentisch wie dieser junge, bemerkenswerte Mann selbst.

01.Kapitel

Das schwarze Loch.

Olaf wurde ins Dunkel geboren. Die ersten vier Jahre lebte er bei seiner leiblichen Mutter. Doch eine Erinnerung daran hat er nicht. Bis heute.

Die ersten anderthalb Jahre soll er sich gut entwickelt haben, sowohl körperlich als auch sprachlich. Seine Entwicklung wurde sogar als überdurchschnittlich eingestuft. Aus der Akte weiß er, dass er sich mit zwei Jahren zurückbildete und die Sprachfähigkeit total verlernte. Außerdem begann ein merkwürdiger Entfremdungsprozess einzusetzen, der mit unerklärlichen Angstzuständen einherging. Wenn die Sonne ins Zimmer schien, soll er wie unter Folter geschrien haben, und kaum, dass er laufen konnte, versuchte er immer wieder, wegzulaufen. Seine Mutter muss total überfordert gewesen sein. Wie anders ist es sonst zu erklären, dass sie ihn in ihrer offensichtlichen Verzweiflung mehrmals ins Krankenhaus gebracht hat.

Ich soll auch, dies ist mir natürlich unangenehm zu sagen, schreibt Olaf, eingekotet haben. Ich hatte auch noch eine Schwester, auch sie war die leibliche Tochter meiner Mutter und war, glaube ich, ein bis zwei Jahre älter als ich.

„Weißt du noch, wie sie heißt?“, fragte ich ihn.

„Anja.“

„Wie alt ist sie?“

„Ich glaube, zwei Jahre älter als ich.“

„Und du hast keinen Kontakt mehr zu ihr?“

„Nein, bis auf das letzte Mal, das war vor, warte mal … 1992 war das. Kurz nach meinem Geburtstag. Da war ich zweiundzwanzig“

„Also vor 15 Jahren.“

„Genau. Ja, seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Meine Mutter auch nicht.“

„Was ist mit deinem Vater?“

„Ja, was ist mit meinem Vater? Er hieß Salvatore Palatano, gebürtiger Italiener, er soll sich bereits, während meine Mutter mit mir schwanger ging, von uns beziehungsweise von der Familie getrennt haben. Meine leibliche Mutter hieß übrigens, glaube ich wenigstens, Erika. Meine Schwester kam aber von einem anderen Vater, also nicht von Salvatore Palatano.“

Olaf fuchtelte nervös mit seinen Händen. Wenn er aufgeregt ist, dann kann er oft nicht seine Hände ruhig halten, und er sagt: Jedes Mal, wenn er mit mir zusammen ist, ist er aufgeregt. Klar, weil es um diese Reise in die Vergangenheit geht und nicht zuletzt um dieses schwarze Loch der ersten vier Lebensjahre. Ich sei sein Brennglas, hat er mal zu mir gesagt (jedenfalls glaube ich mich zu erinnern). Diese Aufgeregtheit führt übrigens auch dazu, dass seine Blase neurotisch reagiert, weil er ständig seine „Sextanerblase“ raustragen muss.

Aber ich glaube, dieses nervöse Fuchteln ist eine wichtige Ersatzhandlung, die dazu führen soll, den in seiner Aufgeregtheit plötzlich einsetzenden Sprachstau (der sich selten auch durch Stotternbemerkbar macht) zu lösen.

Jetzt hat er wieder seine Sprache gefunden.

„Ach ja, ich soll auch diese Match–Box–Autos zerbrochen haben. Ich frag mich natürlich nur, wie das angehen soll, denn eigentlich sind die ja aus Eisen oder Metall, na ja, gut, es ist ja viel möglich.“

Er sagt das mit einem traurigen, nach innen gekehrten Lächeln. Inzwischen kenne ich ihn so gut, dass ich weiß, dass sich dahinter eine ganz leise Ironie verbirgt, und ich sinniere über die Doppelbödigkeit dieser Bemerkung. In der Tat, vieles, was man für unmöglich halten würde, hat er erfahren. Das wird sich noch zeigen. Aber dieses dunkle Loch ist neben den Machenschaften seiner Pflegemutter das große Fragezeichen in seinem Leben. Sogar eine Hypnosetherapie hat kein Licht in dieses Dunkel bringen können. Und man fragt sich: Welche Katastrophe ist damals passiert, die sein Leben schlagartig so veränderte und verdunkelte, dass seine Seele gewissermaßen aus Selbstschutz dichtgemacht hat?

Aber er lenkt ab.

„Ach, noch was, das ist ganz witzig, Carla hat gesagt, ich sei sozusagen mit dem Arsch auf die Welt gekommen. Also ich muss wohl als Steißgeburt auf die Welt gekommen sein. Jedenfalls haben Carla und Tony, wenn sie mit mir unzufrieden waren, mich immer damit geärgert.“

Carla und Tony sind seine Pflegeeltern.

„Ob man das ärgern nennen kann, weiß ich jetzt nicht, aber sie haben das bei mir sozusagen angeprangert, dass ich eben mit dem Arsch auf die Welt kam und haben sich darüber auch teilweise lustig gemacht, also wollen mal sagen: ein bisschen mehr als nur ein bisschen geärgert.“

„Also dein Vater kann die Katastrophe nicht ausgelöst haben.“

Er schaut mich unsicher an.

„Welche Katastrophe?“

„Na, die, wo du mit zwei plötzlich ausgeflippt bist und deine Mutter nicht mehr wusste, was mit dir los war.“

„Ach so, das meinst du. Weiß auch nicht.“

„Ich meine, wenn er schon während der Schwangerschaft abgehauen ist. Auf der anderen Seite sind Italiener ja sehr eifersüchtig. Vielleicht stand ein anderer Mann im Hintergrund. Vielleicht dachte er ja, dass deine Mutter fremdgegangen ist, und hat durchgedreht und deine Mutter bedroht. Es gibt für ein Kind nichts Schlimmeres. Oder vielleicht hat der andere Mann sie bedroht. Alles Spekulationen, ich weiß, aber ich versuche nur, einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Doch vielleicht war deine Mutter auch ein sehr schwieriger und widersprüchlicher Mensch oder auch nur von der Situation überfordert, dass dein Vater sie plötzlich sitzen gelassen hat. Vielleicht hat sich das ja auch so aufgestaut, dass sie dann anschließend durchgeknallt ist. Das überträgt sich ganz klar aufein Kind.“

„Ja, ja, wer weiß“, sagte er leichthin und sah mich ratlos an.

Ich war ziemlich sicher, dass sich dieses Geheimnis so schnell nicht lösen lassen würde. Wenn es überhaupt jemals gelöst würde. Ich fand diese Situation völlig unakzeptabel. Wie hatte er es überhaupt geschafft, mit diesem schwarzen Loch zu leben? Und plötzlich wurde mir bewusst, dass wir ja erst ganz am Anfang von Olafs Geschichte standen.

„Ja, ja, und dann kam ich ja ins Heim, in die Anschar Höhe, also ins Kinderheim“, sagte er, also wolle er den Blackout von vier Jahren überspringen.

„Langsam, nicht so schnell“, protestierte ich, doch mir war klar: Im Moment würde ich ihn nicht mehr aus diesem schwarzen Loch rausholen können, und sprang wie er einfach drüber.

02.Kapitel

Heimjahre.

Als meine Mutter gegangen war, habe ich nach ihr gerufen.

Ich hatte mich gewundert, warum sie ohne mich losgegangen ist.

„Hat deine Mutter dich eigentlich selbst in dem Kinderheim abgesetzt?“

Olaf schüttelt den Kopf.

„Ich muss wohl die letzte Zeit bei meiner leiblichen Mutter schon ziemlich verwahrlost gewesen sein, auch wenn sie sich offensichtlich bemüht hat, sich um mich zu kümmern, aber sie hat es wohl einfach nicht geschafft, obwohl sie sogar zur Familienberatung gegangen ist. Beratung für werdende Mütter nennt man das wohl. Angeblich soll meine Mutter während der Schwangerschaft versucht haben, sich umzubringen.“

„Ach du Scheiße.“

„Ja“, sagte er und zuckte die Schultern.

„Mannomann. Also die Ursache der Katastrophe muss eindeutig entweder während oder sogar schon vor der Schwangerschaft eingetreten sein. Jedenfalls ist offensichtlich die Schwangerschaft der Auslöser. Tja, das hast du als Embryo natürlich schon knallhart mitbekommen. Pränatale Prägung nennt man das.“

„Mag sein. Jedenfalls muss ich ziemlich verlaust gewesen sein, als mich meine Mutter abgeliefert hat. Ich hab nämlich vor sieben oder acht Jahren mich darüber mit Silke Itzen am Telefon unterhalten. Gudrun hat es auch mitbekommen, weil ich auf Lautsprecher geschaltet habe.“

Silke Itzen ist die stellvertretende Leiterin des Kinderheims. Und Gudrun ist seit vierzehn Jahren Olafs Lebensgefährtin.

„Jedenfalls der Hammer war, dass mich meine Mutter eines Tages in einer Kinderklinik in Lüneburg abgeliefert hat.“

„Wieso? Warst du krank?“

„Nö. Was weiß ich? Wahrscheinlich wollte sie, bevor sie mich auf einer Autobahnraststätte absetzt, sicher sein, dass man sich um mich kümmert. Als meine Mutter gegangen war, habe ich nach ihr gerufen. Ich hatte mich gewundert, warum sie ohne mich losgegangen ist.“

Plötzlich war ich hellwach.

„Ein Moment. Daran kannst du dich noch erinnern?“

„Ja. Wieso?“

„Heißt das, dass ab da deine Erinnerung einsetzt?“

„Ja. Wieso?“

Ich wusste, dass es von Bedeutung war. Aber noch kannte ich sie nicht.

„Ich weiß es noch nicht“, sagte ich in Gedanken, „aber es kann sehr wichtig sein.“

„Die haben dann von der Kinderklinik in Lüneburg rumtelefoniert und beschlossen, mich in ein Heim zu stecken. Wieso sie auf das Kinderheim Anschar Höhe in Eppendorf gekommen sind, weiß ich nicht, ist ja auch egal. Jedenfalls kann ich mich noch ganz genau erinnern, dass mich eine Fürsorgerin hingebracht hat. Ich bin dann gleich in das Gemeinschaftszimmer gegangen. Dort haben die Kinder mit Holzspielzeug gespielt. Spielzeug mit gelöcherten Stangen, wo man Räder dranschrauben und ganz tolle Sachen mit machen konnte: Häuser und Autos bauen, alles so was.“

Er schniefte und hielt inne, als wolle er im Nachhinein begreifen, was damals geschah, und irgendwie erschien mir seine Antwort zu abgeklärt. Deswegen habe ich in einer Besprechungspause die Passage im Manuskript, seinem Buch, wie er es immer nennt, nochmals nachgelesen.

Aber ich habe letztlich nicht die Häuser oder Autos mitgebaut, sondern ich habe – aus welcher Motivation auch immer – alles dann kaputt gemacht, was die Kinder zusammengebaut hatten. Vielleicht fühlte ich mich doch irgendwie unwohl bei der Sache, dass ich ins Heim kam, ich weiß auch nicht.

Es war jedenfalls auch ein Heim für geistig behinderte Kinder und auch für körperlich behinderte Kinder, also gemischt. Normale Kinder gab es dort im Heim so gut wie gar nicht. Ich hatte mich mit ein paar Kindern angefreundet über die Zeit. Es war zum einen die Adriane und dann noch Jannette. Sie waren Zwillinge, sie hießen Krombach, da gab es noch Lars Pfeiler, den lernte ich auch noch so ganz gut kennen in den nächsten Monaten, oder wie auch immer. Es gab auch zu Anfang noch so ein Kind im Heim, ich glaube, sie hatte überhaupt keine Behinderung, weder körperlich noch geistig, und da war so ’ne Alexandra, ja ich glaube Alexandra hieß die. Soweit ich gehört hatte, ist sie auch irgendwie auf das Gymnasium gegangen und hatte sich auch sonst ganz normal entwickelt. Es gab mehrere Gruppen in diesem Heim. Es war ja das Mutter Lange–Heim auf dem Anschar–Höhe–Gelände in Eppendorf. Die Gruppen haben Namen gehabt, hauptsächlich Tiernamen. Es gab zum Beispiel die Käfergruppe, ich glaube, die wohnte oben unter dem Dach des Heimes, soweit ich mich erinnern kann, und wir waren die Lerchengruppe, da war ich drin, dann gab es noch eine Gruppe, die Sternengruppe, ja gut, dies war dann kein Tier.

Es gab natürlich diverse Erzieher und die Heimleitung. Die Heimleiterin war Schwester Inken, Schwester Inken Hansen, meine ich. Dann gab es eine stellvertretende Heimleiterin, das war die Silke Itzen. Unsere Erzieherinnen waren zum Beispiel Rita Fietz oder Brigitte Braker. Die Brigitte Braker wurde eigentlich von keinem gemocht, von den Erzieherinnen wurde sie, soweit ich weiß, auch nicht so ganz gemocht, und wir mochten sie sowieso nicht. Die Rita Fietz fand ich so ganz nett und an Silke Itzen kann ich mich ganz gut erinnern. Was ich immer ganz toll fand, ist, dass sie immer Bratäpfel gemacht hat abends, die hat sie uns ans Bett gebracht, hat ihre Gitarre mitgenommen in den Schlafraum, wir hatten einen Schlafraum, in dem 6 – 7 Leute drin geschlafen haben in Etagenbetten. In der Zeit vor mir – die Zwillinge waren ja vor mir schon da – soll es sogar noch diese alten Stahlbetten gegeben haben, ziemlich lieblos eingerichtet, sie sahen aus wie Krankenhausbetten, und die Holzbetten gab es noch nicht lange. Jedenfalls habe ich die Abende sehr genossen, wo Silke Itzen dann auf der Gitarre gespielt und gesungen hat, z. B. Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, ganz witzig so, das hab ich auch in guter Erinnerung behalten. Zu Ostern kam meine Mutter mich einmal besuchen, das soll wohl 1975 gewesen sein. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, ich habe dies später vom Jugendamt erfahren. Ich glaube das dem Jugendamt auch.

Ja irgendwann wurde ich dann ja auch eingeschult. Ich wurde in die HPT Lockstedter Damm eingeschult, HPT bedeutet heilpädagogische Tagesschule oder –stätte. In so eine Schule – ich sag es ungern, aber so ist es nun gewesen – hatte man mich durch die Auffälligkeiten, die ich hatte, auch entsprechend eingestuft. Jedenfalls war es eine Schule für geistig behinderte und wohl auch körperlich behinderte Kinder. In dieser Schule lernte ich letztendlich meine Patentante Sabine kennen.

„Und deine Mutter hat dich Ostern noch mal im Kinderheim besucht?“, fragte ich Olaf nach der Pause.

Er nickte traurig. Dann fuchtelte er plötzlich wieder wie wild mit seinen Händen rum, und nachdem sich ein starker Stau des Stotterns gelöst hatte, sagte er beinahe ruhig:

„Ich kann mich aber überhaupt nicht erinnern. Totaler Blackout, tut mir leid.“

„Ja, das hast du auch geschrieben. Du weißt es vom Jugendamt, nicht wahr?“

„Ja, muss ich denen ja glauben.“

„So, wie der Körper bei Überschreitung einer bestimmten Schmerzgrenze die Notbremse zieht und einen gnädig mit dem Mantel der Ohnmacht zudeckt, macht die Psyche dicht, wenn der seelische Schmerz zu bedrohlich ist, und deckt das Trauma mit einem Blackout, gewissermaßen der Ohnmacht der Erinnerung, zu.“

„Hast du schön gesagt. Ja, soll wohl so sein.“

„Unglücklicherweise sind die ersten vier Jahre die entscheidenden Jahre für die Persönlichkeitsentwicklung. Hier steckt der Schlüssel für deine Verletzung. Weißt du, ich verstehe, dass du Wiedergutmachung willst. Aber nachdem ich deine Geschichte kenne, geht es mir vor allem um die Befreiung aus diesem großen, langen Dunkel, dass dir deine Wurzeln und ein Stück deiner Identität genommen hat.“

Olaf hatte sich auf meinen Rat an einen seriösen Therapeuten gewandt, der mittels Hypnose eine Rückführung versuchen sollte. Das hatte leider nicht geklappt. Das Risiko war zu hoch. Noch, wie ich verstanden habe. Es hat also auch etwas mit seiner weiteren Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Allerdings fragte ich mich in dem Moment: Mein Gott, was soll der Junge denn noch alles tun?Schließlich hat er sich völlig allein aus dieser ganzen Scheiße reiten müssen. Wie stark musste eine Persönlichkeit sein, die das schaffte! Ich behaupte, die Wenigsten wären dazu in der Lage, sich gegen solche massiven Widerstände durchzusetzen. Und wie heimtückisch im wahrsten Sinne des Wortes diese Widerstände waren, wird sich noch zeigen.

Aber was passierte, wenn dieses schwarze Loch der Erinnerung für immer verschlossen blieb und auch nicht durch eine Rückführung der Deckel gehoben werden könnte, weil er sich vielleicht nur einen Spalt heben ließ?

Erst später sollte sich eine Lösung anbieten. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich noch ratlos. Um ihn meine Ratlosigkeit nicht spüren zu lassen, fragte ich ihn, wie er Sabine kennengelernt hatte. Natürlich wusste ich es aus seinem Buch. Aber meine Aufgabe war ja, die Geschehnisse zu verlebendigen, und das ging nur im persönlichen Gespräch.

„Es muss so Mitte 1976 gewesen sein, als ich Sabine kennenlernte, da war ich sechseinhalb, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls war das zu der Zeit, als ich in die Heilpädagogische Tagesstätte am Lokstedter Damm eingeschult wurde, weil sie in der Schule Erzieherin war. Sie arbeitet dort immer noch. Mit Sabine habe ich dann leichte Aufgaben bekommen, ganz einfache Rechenaufgaben, wirklich ganz einfache, auch ganz einfache Schreibarbeiten. Ich sage es jetzt mal so: Das war wirklich unterstes Niveau, wobei ich das nicht abfällig meine, sondern mehr wurde dort halt auch nicht erwartet und verlangt. Es ist ja auch nicht gerade eine Schule, bei der man sagen kann, dass man dort Mathematik, Schriftverkehr, Biologie, Physik, oder was weiß ich, lernt, sondern es ist eher eine Schule, in der man mehr praktisch gefördert wird.“

„Verstehe.“

„Jedenfalls kamen Sabine und ich uns näher. Wir verstanden uns gut. Sie hatte auch so ein gutes Einfühlungsvermögen, will ich mal sagen. Jedenfalls hat sie sich nach einer gewissen Zeit dazu entschlossen, die Patenschaft für mich zu übernehmen. Das wurde natürlich mit dem Kinderheim abgesprochen, ist ja klar.“

„Und wie wirkte sich die Patenschaft aus?“

„ Ja, ich wurde von ihr vorerst jedes zweite Wochenende abgeholt, und das wurde allmählich immer mehr, bis ich dann jedes Wochenende und jeden Mittwoch immer abgeholt wurde.“

„Waren da die anderen Kinder nicht neidisch?“

„Allerdings, und das Kinderheim hat wohl auch anfangs Bedenken gehabt, dass das gegenüber den anderen Kindern ungerecht erscheinen könnte, weil die teilweise gar nicht abgeholt wurden. Aber das ging mir auf gut Deutsch am Arsch vorbei.“

Ich lachte.

„Kann ich mir denken.“

„Für mich war das natürlich super, klar.“

„Was hatte sie denn für eine Wohnung? Erzähl mal.“

„Ach, die war eigentlich richtig schön gemütlich. Die Wände waren in Orangetöne angestrichen. Und vom Flur zum Wohnzimmer und von der Küche zum Wohnzimmer hingen Vorhänge aus Bambusstäben, die auf eine Perlenschnur aufgezogen waren. Ja, und überall standen Kerzen und so tolle Gegenstände, die die Wohnung schmückten. Und auf dem Küchenschrank stand für mich immer, weil ich so gerne Feuer mochte, ein Kokelteller.“

Olaf grinste.

„Da hab ich immer alte Apfelsinenkisten drauf verbrannt. Wenn der Kokelteller aufgrund der Hitze zerbrochen war, habe ich einen neuen bekommen. Das war so eine Art Ritual.“

„Ah, interessant. Da ist viel symbolisch gelaufen.“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine das Feuer als doppelzüngiges Symbol der Wärme und des Schutzes vor der Kälte und zugleich als Symbol der Zerstörung. Ich vermute, beides konkurrierte miteinander in dir. Auf der einen Seite wurde dir das Feuer des wärmenden Schutzes in Form der Liebe deiner Mutter zuteil. Sie muss dich geliebt haben, sonst hätte sie sich nicht um dich gekümmert, selbst in der Situation, als sie schon überfordert war. Sie hätte dich ja verwahrlosen lassen oder aussetzen können …“

Ich stockte. Mein Gott, er war ja damals schon verwahrlost gewesen. Wenn ich daran denke, dass sie ihn völlig verlaust in der Kinderklinik abgeliefert hat! Sie muss selbst verwahrlost gewesen sein. Warum hat ihr denn offensichtlich keiner geholfen? Sie war doch himmelschreiend hilflos! Was hat sie eigentlich gemacht in der Zeit? Ich rief mich zur Ordnung: Es ging um Olaf. Ihre Geschichte würde wahrscheinlich nie erzählt werden können. Trotzdem hoffte ich für Olaf auf das Wunder, dass er erfahren würde, was damals geschah.

„Die Wärme des ersten emotionalen Feuers wurde dir genommen. Die Mutter ist für das Kind die Urwärme oder, wenn du so willst, das Feuer, das die vitale Lebensenergie nährt. Das Kind ist auf sie angewiesen. Wenn es gewaltsam diesem Feuer entrissen wird, dann bleibt eine gefährliche Glut zurück, die sich beim geringsten Wind neu entzünden und in Zerstörung umschlagen kann, indem sie alle Verletzungen niederbrennt. Aber das ist die Faszination des Feuers, denn wie wir wissen, dort, wo das Gras verbrannt ist, wächst es am schnellsten nach. Das Feuer ist überhaupt ein Symbol des menschlichen Schicksals: Einerseits zieht den Menschen seine Wärme an, und andererseits weiß er um die Gefahr des sich Verbrennens, wenn er dem Feuer zu nahe kommt. Wärmen und Verbrennen. Himmel und Hölle. Oder Leben und Tod. Das ist das Spiel des Lebens, und es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wir müssen alle durch dieses Feuer. Die Nabelschnur ist praktisch die Zündschnur zum Pulverfass des Schicksals. Und zum Schluss …“

Olaf hatte mir fasziniert zugehört. Ich hatte ihn genau beobachtet. In seinen Augen lagunmittelbares emotionales Verständnis, das weit über den Intellekt hinausging.

„Und zum Schluss?“, fragte er unruhig.

„Zum Schluss explodiert das Pulverfass.“

„Du meinst: Exitus, Finito.“

„Genau. Das Leben ist lebensgefährlich und es führt immer zum Tod. Und das haben wir ausgerechnet jenem Menschen zu verdanken, der uns das Leben geschenkt hat. Denn mit der Geburt haben wir gleichzeitig das Ticket für den Exitus bekommen. Schicksal. Aber ich wollte dir ja gewissermaßen die Hintergründe deiner besonderen Faszination für das Feuer und die Leidenschaft für das Kokeln illustrieren, weil sie so typisch ist für deine Situation. Warte mal, ich hab da bei meinen Recherchen ein schönes Zitat bei Stephen King gefunden.“

Ich ging in meiner MindManager–Datei auf den Hauptzweig Lexikalisches und klickte auf den Link des Unterzweiges Pyromanie.

„Hier, pass mal auf. Ich les es dir vor. Das stammt übrigens aus einem Interview das er mit dem Playboy geführt hat. Ein seitenlanges Interview. Aber das les ich dir nicht vor, sondern nur den Ausschnitt zum Thema … ja, zum Thema Brandstiftung:

Auf jeden Fall findet diese destruktive Seite meiner Natur einen starken Niederschlag in meinen Büchern. Mein Gott, es macht mir Spaß, Sachen niederzubrennen, jedenfalls auf dem Papier. Ich glaube, im wirklichen Leben würde Brandstiftung nicht halb so viel Spaß machen wie in der Literatur. Eine meiner Lieblingsszenen aller meiner Werke findet sich etwa in der Mitte von Das letzte Gefecht, als einer meiner Bösewichter, der Mülleimer–Mann, die vielen Tanks einer Ölraffinerie in Brand steckt und sie hochgehen wie Bomben. Es ist, als wäre der Nachthimmel selbst in Brand gesteckt worden. Mein Gott, das war riesig! Ich schätze, das ist der Werwolf in mir, aber ich liebe Feuer, ich liebe Zerstörung. Sie ist groß und schwarz und aufregend. Wenn ich solche Szenen schreibe, dann komme ich mir vor wie Samson, der den Tempel niederreißt.“

Olaf rutschte auf dem Sessel hin und her.

„Stark!“

Ich wusste nicht, ob er das Zitat meinte oder meine Ausführungen (wobei ich mir verkniff, dass bei Stephen King der Vater auch wie bei Olaf in den Sack gehauen hatte, was für ihn bis heute das große dunkle Loch in seinem Leben ist. („Das Dunkle hat Zähne, Mann!“, hat er in dem Interview gesagt. Ich erfuhr dort übrigens, dass er genauso wie Olaf unter Schlaflosigkeit litt.) Ich verkniff mir das alles, weil ich nicht abdriften und vor allen Dingen nicht meinen literarischen Hintergrund in den Vordergrund stellen wollte. Es gab für mich nur einen im Vordergrund, und das war Olaf. Deshalb wechselte ich auch schnell wieder zum Thema Sabine und fragte ihn, was sie denn am Wochenende unternommen hätten.

„Och Gott, nichts Besonderes: Einkaufen, spazieren gehen, Freunde besuchen, Eis essen, Kino, so was. Am besten haben mir die Reisen gefallen, die wir zusammen gemacht haben. Zum Beispiel eine Reise durch Südeuropa, daran kann ich mich noch gut erinnern, auf jeden Fall war Griechenland dabei, ein Stück Italien und noch ein anderes Land, aber das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kann ich mich noch an eine Bootsüberfahrt in Griechenland erinnern, an eine Fähre. Am Ufer gab es immer so stachelige Pflanzen, die pieksten so richtig. Direkt am Strand gab’s die Gott sei Dank nicht mehr, da konnte man auch im Sand schön graben, spielen und rummatschen. Ich hatte dort eine richtig große Burg gebaut.

Schließlich waren wir dort zu Besuch bei einer Familie oder bei einer Frau, aber die habe ich irgendwie geärgert, ich weiß nicht mehr, warum, aber mit der verstand ich mich nicht. Das fand Sabine dann auch nicht so gut, irgendwie lief das dort nicht so gut zwischen uns.“

„Warst du eifersüchtig auf die Frau, weil Sabine sich gut mit ihr verstand?“

„Weiß ich nicht. Nach Holland sind wir auch mal gefahren. Auf einen Campingplatz. Das fand ich irgendwie besser. Dort gab es so zutrauliche Enten, die haben immer von den Touristen und Campingplatzbesuchern Brote bekommen. Die waren schon richtig dick angefressen, sag ich dir. Die haben einem fast aus der Hand gefressen. Als ich einmal in ein Zelt gegangen bin, ist mir sogar eine Ente hinterhergelaufen. Ich hab dann ganz schnell das Zelt zugemacht, und die Ente ist dann die ganze Zeit tierisch wild im Zelt rumgeflattert, bis sie dann plötzlich in den Campingkocher reinflog. Es war wirklich zum Totlachen.

Einmal sind wir auch nach Dänemark gefahren. Mit einem Freund von Sabine. Armin hieß der, ich glaube Armin Metzger, oder hieß er Metzer? Also Armin, darauf kann man sich schon mal festlegen. Er war sehr nett zu mir. Jedenfalls waren wir mit Armin auf einem Bauernhof von Verwandten von ihm, glaube ich. Jedenfalls fand ich es da ganz toll. Da gab es auch einen Kamin, ich weiß noch, dass ich dort immer Holzstücke ins Feuer hineingeworfen habe zum Heizen. Und dann gab es dort noch – ich weiß nicht, ob das ein Bruder oder nur ein Bekannter von Armin war – einen Schlachter. Der hatte unten im Keller seine ganzen Geräte zum Schlachten: Messer, Fleischwolf und andere Sachen. Wir haben Kriegen gespielt, und immer wenn er mich bekommen hat, hat er gesagt: Jetzt kommst du nach unten, jetzt wirst du geschlachtet. Ich meine, das war natürlich ein wenig makaber. Als ich dann unten bei ihm war, hab ich richtig Schiss gekriegt, muss ich sagen, er hat es natürlich nicht gemacht, sonst wäre ich ja heute auch nicht mehr am Leben, hahaha. Ich habe es natürlich immer wieder rausgefordert und ihn immer wieder geneckt und gerufen: Ätschi bätsch, du kriegst mich nicht! Dann hat er mich natürlich doch gekriegt und wieder runtergeschleppt. Und irgendwann – er hat sich natürlich auch gedacht, der Junge ist ja ganz schön frech, dem zeig ich es jetzt mal ordentlich – hat er so getan, als wenn er mich wirklich in den Fleischwolf schieben wollte. Jedenfalls hat er mir richtig Angst gemacht. Nun ja, Schlachter hin oder Schlachter her, jedenfalls war das eine ganz tolle Reise.

Ach ja, dann gab’s noch einen, der so Zaubertricks drauf hatte. Ich weiß jetzt nicht, ob der auch zur Verwandtschaft von Armin gehörte oder nicht. Ist ja auch egal. Und ein Trick ging so: Also er hielt einen Würfelbecher und einen Würfel in der Hand. Der Würfel lag auf einer Glasplatte, und den Becher hielt er unter der Glasplatte. Und dann hat er tatsächlich den Würfel durch die Glasplatte gekriegt. Ich mein, er ging natürlich nicht wirklich durch die Glasplatte, aber für uns sah es wirklich so aus, als hätte er den Würfel durch die Glasplatte gekriegt. Auch die andern Zaubertricks, die er uns gezeigt hat, waren ganz toll.“

„War Sabine eher eine Freundin oder eine Mutter für dich?“

Er schaut mich mit seinen liebenswürdigen braunen Augen nachdenklich an. Die Frage überrascht ihn nicht, aber da er zögert, vermute ich eher, dass sie beides für ihn war.

„Ich habe sie letztlich wie meine Mutter angesehen“, sagt er bedächtig, fast feierlich. „Natürlich hab ich in der Zeit viel Zärtlichkeit gesucht und war auch sehr anhänglich. Ja, ich war schon extrem anhänglich, muss ich sagen. Ich musste mich immer in ihren Busen reinkuscheln. Ich schlief meistens bei ihr auf dem Sofa, und sie in ihrem Bett mit Armin, im Doppelbett. Aber manchmal hatte ich auch das Bedürfnis, mich dazwischenzukuscheln. Armin war dann manchmal etwas gemein und hat mich dann gekniffen und gezwickt, und ich habe einen fürchterlichen Schreck bekommen. Ich glaube, er hat Angst gehabt, zu kurz zu kommen. Eigentlich hat er sich auch immer toll um mich gekümmert. Ich glaube, er war Architekt, auf jeden Fall hat er viele kreative Sachen gemacht. Und er hatte eine tolle Schallplattensammlung, die fand ich sehr interessant. Ich hab immer zu dieser Musik geschaukelt, das fand ich enorm beruhigend. Ich mein, man hört zwar immer, dass das Hospitalismus ist, aber mir tat es gut, vielleicht ist es ja auch krankhaft gewesen, das kann ich nicht beurteilen.

Bei Sabine habe ich weniger geschaukelt, und dann meistens auch immer dann, wenn ich Musik hören wollte. Aber Musik habe ich vor allen Dingen bei Armin gehört.“

„War das schlimm, wenn du nach dem Wochenende wieder ins Kinderheim zurück musstest. Hast du dann gewissermaßen Heimweh nach Sabine gehabt?“

„Ja, kann man sagen. So toll war das nicht.“

„Aber du hast dich wahrscheinlich damit getröstet, dass du am Mittwoch und am Wochenende wieder zu Sabine konntest, nicht wahr?“

„Ja, schon.“

„Ich hab bisher eigentlich wenig vom Kinderheim erfahren. Zum Beispiel von der Heimleitung und den Erziehern. Oder den Kindern natürlich. Oder hast du die Zeit im Kinderheim auch verdrängt?“

„Nö, nicht verdrängt, das kann man nicht sagen. Aber ich weiß nicht, so aufregend war das gar nicht. Ja, nun gut, einmal, daran kann ich mich noch erinnern, hab ich eine dicke Lungenentzündung gehabt. Das war, glaube ich, im Winter 1978, 1979. Da hat sich Schwester Inken auch große Sorgen um mich gemacht. Ich hatte fast 42 Grad Fieber. Die Heimleitung und die Erzieher hatten sich schon überlegt, ob sie mich ins Krankenhaus schicken sollten, da bestand ja auch Lebensgefahr. Ich kann mich erinnern, dass Schwester Inken mir morgens und abends immer eine Penizillinspritze gegeben hat. Das war natürlich nicht so toll, aber hinterher war’s mir dann auch scheißegal. Schließlich war ich ja wieder gesund geworden.“

„Und wie war die Schwester Inken? Nett?“

„Was heißt nett? Die war irgendwie so unnahbar, fand ich, obwohl sie ja auch eine Glaubensschwester war. Die konnte richtig rabiat sein. Was die sich in ihren Kopf gesetzt hatte, das musste gemacht werden. Ich hatte zum Beispiel einmal eine Entzündung auf meiner Hand, ein Pickel, der stark vereitert war, und man brachte mich zu Schwester Inken. Weißt du, was die gemacht hat?“

Er schaute mich entsetzt an.

„Sie hat den Pickel einfach nach innen gedrückt, so nach dem Motto, dass der Körper das selber abbauen sollte. Das hat tierisch wehgetan! Dabei hätte es medizinisch bestimmt auch andere Methoden gegeben. Trotzdem, eines musste man ihr lassen: von Schwesternarbeit hatte sie wohl offenbar Ahnung.“

„Und die Silke Itzen, die stellvertretende Heimleiterin, wie war die?“

„Die war richtig colasüchtig.“

„Colasüchtig?“

„Ja, ich glaub, ich hab die noch nie was anderes als Cola trinken sehen.

Was ich immer ganz toll fand, ist, dass sie immer Bratäpfel gemacht hat abends. Die hat sie uns mit ihrer Gitarre ans Bett gebracht. Dann hat sie auf der Gitarre gespielt und gesungen. Ich weiß noch, Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad. Ach so, das habe ich, glaube ich, schon mal erzählt. Jedenfalls haben wir ganz oft gesungen und tierisch gelacht dabei. Das fand ich stark.“

Olaf lacht gern. Das fiel mir besonders bei unserer zweiten Begegnung auf. Er hat ein raumfüllendes, lautes Lachen. Das kommt von seiner dunklen markanten Stimme.

Er bricht abrupt ab und wird sofort wieder ernst.

„Ja, wen gab’s da noch? Ja, an Brigitte Braker kann ich mich noch erinnern. Die war auch Erzieherin. Auch sehr fromm. Aber die mochte keiner. Sie soll Lars Pfeiler – allerdings weiß ich das nur aus Erzählungen – ein paar Mal eine gescheuert haben. Gut, sie hat ihn nicht verprügelt, aber in Ordnung war es trotzdem nicht. Mich hat sie überhaupt nicht angefasst. Ich denke mal, das lag daran, dass ich der Liebling der Erzieher war und den Schutz von Sabine genoss, denn sie wusste, sie würde großen Stress bekommen, wenn sie mir was getan hätte.“

„Kannst du dich noch an andere Krankheiten im Heim erinnern?“

„Ja, an Mumps. Der hat einmal kräftig zugeschlagen und das ganze Heim angesteckt, auch Adriane und Jannette, die Zwillinge. Das war überhaupt so: Wenn Adriane einen Schnupfen hatte, dann hatte Jannette am nächsten Tag auch einen. Weiß auch nicht, wer uns damals angesteckt hat. Ist ja auch egal.

Es gab auf diesem Heimgelände aber noch einen anderen Komplex. Wir waren ja im Mutter–Lange–Heim, und so um 1977 herum oder 1976 wurde noch ein weiterer Komplex dazu gebaut, in dem ein Altersheim und weitere Wohngruppen für behinderte Kinder untergebracht waren. Dazu hatte man eine neue Schwimmhalle gebaut mit allem Pipapo: Solarium, Sauna, was weiß ich. Die Schwimmhalle war jedenfalls ganz toll. Da gab es auch ein flaches Kinderbecken. Adriane, Janette, Lars und ich haben uns immer diese Schwimmbretter aus Schaumstoff geschnappt und damit Wellen geschlagen. Ich hab die Truppe angeführt, weil ich die größten Wellen schlagen konnte. Darauf war ich mächtig stolz.

Und dann kann ich mich noch gut an eine Faschingsfeier in der Wohngruppe von Detlev Haase erinnern. Den Namen der Wohngruppe weiß ich nicht mehr, jedenfalls war er nicht in unserer Gruppe, der Lerchengruppe. Er hatte eine leichte geistige Behinderung. Ich hatte mich als Löwe verkleidet. Das Kostüm hat Sabine für mich geschneidert, und Detlev ist als Zebra gegangen. Ich hab ihn dann ein bisschen geärgert und ihn gewarnt, dass ich ihn fressen würde, weil ich der Löwe bin und er das Zebra. Das fand er irgendwann ziemlich bescheuert, und später hat er sich dafür auch gerächt. Das war im Heimgarten. Wir haben Kriegen gespielt, und er hat sich versteckt, und ich hab ihn dann gesucht und relativ schnell gefunden. Plötzlich bewegte er sich nicht mehr. Ich schüttelte ihn, aber er bewegte sich nicht. Er hatte sich ganz raffiniert tot gestellt und fühlte sich auch schon wie ein Toter an. Ich sofort heulend ins Heim und alarmier die Erzieher. Ich hab richtig Schiss gekriegt, dass ich da sozusagen einen Toten gefunden hab, der gerade frisch gestorben war. Mann, ich hatte die Hosen richtig voll. Aber er hat das saugut gespielt, muss man sagen.

Wir haben natürlich viel Mist gebaut im Heim, Adriane, Janette und ich vor allem. Einmal sind wir zum Beispiel im neu gebauten Komplex in die Garage gegangen und haben dort rumgewühlt. Plötzlich fiel auf einmal das Garagentor zu, von allein, oder weil wir es zu weit runtergezogen hatten, weil wir ja auch nicht entdeckt werden wollten. Jedenfalls war das Schloss zugeschnappt, und wir saßen wie die Deppen in der Falle und kamen nicht raus. Wir haben geklopft und geschrien und hatten eine Mordsangst. Irgendwann wurde das Garagentor geöffnet. Was heißt irgendwann? Nach einer Ewigkeit. Und anschließend konnten wir uns eine Strafpredigt abholen. Aber eine richtige Strafe haben wir nicht bekommen.

Ein anderes Mal haben wir richtig Scheiße gebaut. Neben dem Anschar–Gelände gab es einen Abenteuerspielplatz. Direkt daneben stand ein Wohnhaus, in dem ältere Leute wohnten, auch so eine Art Altersheim wahrscheinlich. Es stand so dicht neben dem Abenteuerspielplatz, dass man meinen konnte, es steht mitten drauf. Wir hatten Leute beobachtet, die ein Lagerfeuer machten und, bevor sie den Spielplatz verließen, das Feuer wieder löschten. Wir auf den Spielplatz und mit Pappresten, dünnen Holzbrettern und Zeitungspapier das Feuer wieder angefacht. Dummerweise breitete sich das Feuer schlagartig immer weiter aus. Aber anstatt abzuhauen, haben wir dann noch an anderen Stellen Feuer gemacht. Eine ältere Frau schimpfte wie ein Rohrspatz, das sei eine Unverschämtheit und sie rufe sofort die Feuerwehr. Prompt stand kurze Zeit später die Feuerwehr auf der Matte und löschte das Feuer. Anschließend nahm man uns ins Gebet, steckte uns in den Feuerwehrwagen und lieferte uns im Heim ab. Wir hatten die Hosen natürlich gestrichen voll und Angst, dass es tierischen Ärger geben würde. Jedenfalls wurden wir erst mal in eine andere Gruppe gebracht, und dort sollten wir uns zur Strafe hinsetzen. Ein paar Minuten später gab es für uns Kuchen. Merkwürdig, gerade von der Feuerwehr nach Hause gebracht, zehn Minuten später gab es Kuchen. Das war nicht gerade die Hammerstrafe. Der Kuchen hat jedenfalls geschmeckt.“

„Ja, das ist wirklich merkwürdig“, sagte ich, „eine pädagogisch kontraproduktive Belohnung, würde ich sagen. Kann ich im Moment auch nicht nachvollziehen. Aber Pädagogik habe ich noch nie nachvollziehen können.“

Olaf klopfte sich auf die Schenkel.

„Ah, da fällt mir noch eine Sache ein. Die muss ich unbedingt erzählen. Allerdings geht das im wahrsten Sinne des Wortes ein bisschen unter die Gürtellinie.“

„Das macht nichts“, grinste ich. „Der Unterleib ist sowieso in der Regel interessanter als der Oberleib. Jedenfalls haben wir unter der Gürtellinie das Licht der Welt erblickt.“

„Ja, das ist wahr“, sagte Olaf, „da hast du recht. Jedenfalls kam ich auf die bescheuerte Idee, nachts oder spät abends, als wir schlafen gegangen waren, in ein Glas zu pinkeln. Dieses Glas haben wir Lars Pfeiler, der im gleichen Saal schlief, über den Kopf geschüttet. Er sofort hoch und wundert sich, warum das plötzlich so nass ist und so stank. Das war natürlich von mir voll daneben, keine Frage, da gab es anschließend auch richtig Ärger. Auch Sabine fand das nicht gut. Wir haben uns dann noch gegenseitig die Schuld in die Schuhe geschoben, die Zwillinge und ich, aber dann haben wir beraten, wie man den Schaden wiedergutmachen kann. Schließlich haben wir uns entschlossen, Lars ein Shampoo in Tierform zu kaufen. Die gab es damals. Also so Plastikflaschen in Form eines Teddybären oder eines Krokodils, Eisbären oder so was.“

Ich lächelte.

„Also ein Knut–Shampoo.“

„Was?“

„Ein Knut–Shampoo.“

„Ja, genau. So was haben wir ihm gekauft, Lars hat sich auch sehr gefreut, und die Sache war dann letztendlich auch vergessen. Ja, und dann kann ich mich noch an ein schwerbehindertes Mädchen erinnern, die auch aus einer anderen Wohngruppe kam, die an ihrer Behinderung gestorben ist. Es gibt ja Behinderungen, wo man nur zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt werden kann. Ich weiß allerdings nicht, was das für eine Behinderung war. Das Mädchen ist jedenfalls gestorben, und wir haben alle an sie gedacht, obwohl wir sie gar nicht kannten. Adriane und Janette hatten Silke ganz erstaunt gefragt: Ist die denn wirklich gestorben? Also, die haben daraus irgendwie eine Sensation gemacht, Silke fand das auch nicht so gut. Die haben das überall und jedem erzählt und waren total erstaunt, dass das Mädchen gestorben ist. Also, ich weiß nicht, wie soll ich sagen? Es klang irgendwie sensationsgeil.

Schön war im Heim die Zeit um Ostern und Weihnachten. Vor allem die Advents– und Weihnachtszeit war immer sehr liebevoll gestaltet. Für mich war es natürlich besonders toll, denn durch Sabine erlebte ich die Zeit sozusagen im Doppelpack. Im Heim gab es in der Adventszeit immer eine Vorfeier in der Kirche, die auf dem Anschar–Gelände stand. Am ersten Advent bekam jedes Kind ein Geschenk, das wir feierlich auspackten. Ich meine, dass ich einmal einen Fußball bekommen habe. Diese Zeit wurde jedenfalls in der Kirche immer sehr ernst genommen, also mit Weihnachtsmann und allem Pipapo. Ich weiß noch: Ein Kind hatte sich mal daneben benommen. Es war sauer über sein Geschenk. Und dann wurde ihm das Geschenk wieder weggenommen. Ich fand das sehr unschön.“

„Hat das Kind dann ein Ersatzgeschenk bekommen?“

„Ehrlich: weiß ich nicht mehr.

Einmal sind wir nach St. Peter Ording auf einen Campingplatz mit großen Zelten gefahren. Daran kann ich mich auch noch erinnern. Da waren wir eigentlich ziemlich kreativ. Silke hat solche Sachen auch immer sehr gefördert. Ich weiß noch, dass wir in so eine schnell härtende durchsichtige Flüssigkeit – irgendwie so’n Zweikomponentenkleber – Muscheln, Krebse und alles, was wir gesammelt haben, eingelegt und anschließend in Formen gegossen und Briefbeschwerer oder so was draus gemacht haben, jedenfalls Sachen, die schön anzusehen waren.