Kein Mensch will's glauben - Birgit Arnold - E-Book

Kein Mensch will's glauben E-Book

Birgit Arnold

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Beschreibung

Wenn die wilde Jagd mit Feuer und Schwefel über alle Länder braust, ist die Zeit da, wo alles ein Ende nimmt ... Vom Osten her wird es kommen und im Westen aufhören. Kein Mensch will´s glauben!Das alte Europa zerfällt und das Heilige Römische Reich ist erloschen. Die Throne der angestammten Herrscherhäuser wanken, denn der korsische Usurpator Napoleon Bonaparte eilt mit seinen Truppen von Sieg zu Sieg. Währenddessen streift ein Mann durch den Bayerischen Wald und prophezeit den verunsicherten Einheimischen für die Zukunft noch weit schlimmere Katastrophen.Dieser Mann, in der Überlieferung meist nur "Mühlhiasl" genannt, bleibt für seine Mitmenschen ein ewiges Rätsel. Ist er nun Müller, Viehhirte oder Aschenbrenner? Verbirgt sich hinter dem düsteren Einsiedler nur ein heilkundiger Narr oder ist der "Hiasl" wirklich in der Lage, in andere Welten und Zeiten zu sehen?Bis heute wissen wir nicht, wer dieser sagenumwobene Seher aus dem Bayerwald war oder ob es ihn wirklich gab.Eine Erzählung über den Propheten Mühlhiasl, eingebunden in die geschichtlichen Ereignisse im Bayern des frühen 19. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 202

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Birgit Arnold

Kein Mensch will's glauben

Eine Erzählung über den Waldpropheten Mühlhiasl

Die Autorin

Birgit Arnold wuchs im bayerischen Fünfseenland auf. Schon immer war ihr die Nähe zu Natur und Heimat wichtig. Nach ihrem Studium der Europäischen Betriebswirtschaftslehre war sie lange im Finanzbereich tätig, bis sie sich auf ihre wahre Leidenschaft besann, und ihr Hobby zum Beruf machte. Sie nahm Sprech- und Schauspielunterricht und arbeitet heute hauptberuflich als Sprecherin und Sängerin. Durch das Schreiben verbindet sie ihre Leidenschaften Natur, Heimat und die Arbeit an Texten.

Folgendes weiteres Werk ist bei uns erschienen:

Das Perchtenerbe (2020)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind online unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright: Birgit Arnold (2021)

Herausgeber: Mario Weiß / Yellow King Productions / Neuöd - Gewerbepark 12a / 92278 Illschwang

Lektorat: Jörg Fischer / Julia Kathrin Knoll / Mario Weiß

Korrektorat: Mario Weiß

Coverdesign: Kathrin Franke-Mois / Epic Moon - Coverdesign / München

https://epicmooncoverdesign.com

Bildmaterial: Bigstock

Illustrationen: Benjamin König / Sperber Illustrationen

ISBN: 978-3-94630944-4

Lass uns die Welt durch ein Kaleidoskop betrachten

Vorwort

In den Matrikeln der Pfarrei Hunderdorf, einem kleinen Ort am Rande des Bayerischen Waldes, wird aufgeführt, dass am 16. September 1753 ein Matthäus Lang getauft wurde. Seine Eltern waren Matthias Lang, Müller auf der Mühle in Apoig, und seine Ehefrau Anna Maria, geborene Iglberger von Grub. Als Taufpate fungierte Georg Bayr von Buchberg. Die Taufe spendete Pater Johann Nep. Altmann von Windberg.

Am 23.12.1778 übernahm besagter Matthäus die Obere Klostermühle, wie die Apoiger Mühle auch genannt wurde.

In einem Verhandlungsbericht des Klosters Windberg ist protokolliert, dass Matthäus Lang von der Oberen Mühle sich gegen den Vorwurf, mangelhaftes Mehl geliefert zu haben, verteidigt.

Nach der Säkularisation 1803 verliert sich jede Spur des Müllers, der hinter dem Namen „Mühlhiasl“ vermutet wird.

Es wurde allerdings mündlich überliefert, dass er sich als Viehhüter verdingte und in Richtung Rabenstein abwanderte.

Diesem Mann werden unter anderem Prophezeiungen über ein großes Weltensterben zugeschrieben.

Etwa zur gleichen Zeit hat aber auch in Rabenstein bei Zwiesel ein Waldprophet namens Stormberger gewohnt, der diese Weissagungen in ähnlichem Wortlaut verkündet haben soll.

Immer wieder kamen gerade Anfang des 20. Jahrhunderts Schriftstücke zum Vorschein, die Hinweise auf einen Waldpropheten Stormberger in Rabenstein gaben.

Regierungsrat Dr. Otto Bundscherer fand Anfang der 1930er Jahre in Akten des Landgerichts Zwiesel eine Notiz aus dem 18. Jahrhundert, in dem ein Hüter mit dem Namen Matthias Stormberger von Rabenstein wegen „Vagierens und Wahrsagens“ vermahnt wurde.

Im Bergwerksarchiv Bodenmais tauchte ein Brief auf, der auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert wurde, in dem ein in Rabenstein Ansässiger seinem Vater mitteilt, dass er „beim Stormberger war, der so viel von der Zukunft wisse.“

Um die Jahrhundertwende (1900) und vor dem Ersten Weltkrieg ging Martin Primb der Frage zur Existenz des Propheten und dem Wahrheitsgehalt von dessen Weissagungen nach. Seine heimatgeschichtlichen Aufzeichnungen wurden leider im Frühjahr 1945 von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt und sind seitdem verschollen. Er hatte viele seiner Informationen von der Familie Breierer, die über Generationen hinweg den Totengräber in Zwiesel stellte.

Mündlich Überliefertes wurde an beiden Wohnorten von Generation zu Generation weitergegeben.

So heißt es zum Beispiel, dass Matthias Stormberger in Rabenstein von der Familie Buchinger aufgenommen wurde. Er kam als Zögling eines Bärentreibers in den Ort und diente später wohl als Viehhüter und Aschenbrenner.

Diese Geschichten wurden schließlich in verschiedenen Schriften aufgezeichnet und leben bis heute fort.

Handelt es sich beim Mühlhiasl und dem Stormberger um ein und dieselbe Person, oder waren es zwei verschiedene Waldpropheten, die zufällig Vorhersagen trafen, welche sich im Wortlaut ähnelten? Wurden vielleicht allgemein bekannte Weissagungen, deren wahre Herkunft nicht mehr bekannt war, diesen beiden Männern angedichtet?

Als ich mit den Recherchen zu diesem Buch begann, ging ich davon aus, dass es sich bei den beiden Männern um eine historische Person handelt, die je nach momentanem Aufenthaltsort den einen oder anderen Namen trug. Je mehr Unterlagen ich allerdings studierte, vor allem überlieferte Aussagen von Anwohnern aus Rabenstein, desto stärker wurde meine Überzeugung, dass es doch zwei verschiedene Personen sein müssen.

Dennoch habe ich den Verlauf der Geschichte so belassen, als wäre der ehemalige Müller aus Apoig in späteren Jahren nach Rabenstein gewandert und hätte dort seine letzten Jahre verlebt.

Meine Erzählung nimmt ihren Anfang in einer Prophezeiung des Mühlhiasls, welche die Auflösung des Klosters Windberg während der Säkularisation beschreibt. Da dieses Ereignis wegweisend für den Hergang der Geschichte war, wird darauf ein besonderes Augenmerk gerichtet.

Wie der Lauf der Dinge tatsächlich war, wird heute wohl niemand mehr eindeutig feststellen können. Überlassen wir es unserer Fantasie, eine mögliche gefällige Wahrheit zu finden.

Der Fluch

Unheilschwanger hingen die Worte des Mühlhiasls in der Luft.

Noch vor einer halben Stunde stand Abt Ignaz, der Klostervorsteher von Windberg, in seiner Kellermeisterei und blätterte leicht schmunzelnd im „Eisernen Buch“. Dieses Schriftstück hing an einer Kette an die Anrichte befestigt und enthielt auf den letzten Seiten Verwünschungen und Flüche, welche jenen galten, die den Klosterbrüdern die Spenden sowie Wohltaten von reichen Bürgern nicht gönnten. Es waren Sprüche zu lesen wie: „Tagelange Zahnschmerzen sollen den Hagebucher quälen, da er uns den saftigen Rinderbraten nicht gönnte.“ Oder auch: „Hoffentlich kommt der Billinger eine Woche nicht mehr vom Häusel, da er missgünstig auf jeden gespendeten Kreuzer schielte.“ Die Brüder waren recht erfinderisch mit ihren Wünschen und hatten viele Seiten in fein säuberlicher Handschrift damit gefüllt.

Seine unbeschwerte Stimmung änderte sich in dem Moment, als ein Novize lautstark die Steinstufen vom Klosterhof in die Kellermeisterei hinunterpolterte.

„Abt Ignaz, Ihr solltet nach oben kommen. Matthäus Lang, der Müller aus Apoig, der Oberen Klostermühle, ist auf dem Weg zu Euch und wird sicher bald hier eintreffen!“, setzte der junge Mann ihn aufgeregt in Kenntnis.

Sofort verspürte Ignaz einen leichten Anflug der Kopfschmerzen, die ihn während der letzten Monate immer wieder heimsuchten. Eindeutig waren sie ein Anzeichen für die ständig andauernde Anspannung und die vielen negativen Nachrichten, die ihn unerlässlich erreichten.

Der Abt wusste, welchem Anlass er diesen Besuch verdankte. Er hatte dem Müller tags zuvor eine Botschaft zukommen lassen, dass dieser die Mühle verlassen müsse. Seine Pacht wurde nicht mehr verlängert. Verständlicherweise wollte der Mühlhiasl, wie er genannt wurde, dies nicht akzeptieren und schlug nun im Kloster auf, um für die Rücknahme des Beschlusses zu kämpfen.

Seufzend schloss er das Buch, ließ es leise klirrend an seiner Kette baumelnd hinabfallen, strich sich seinen Habit glatt und ging hinauf zur Klosterkirche, um den Müller dort in Empfang zu nehmen.

Er musste nicht lange warten. Matthäus’ Gestalt erschien im Durchgang zum Klosterhof. Wie ein Berserker raste er auf den Geistlichen zu. Seine roten Haupt- und Barthaare schienen ein Eigenleben zu führen und standen ihm unordentlich nach allen Richtungen vom Kopf ab.

Abt Ignaz hatte im Nordportal seiner Kirche Position bezogen und sah auf den Mann hinab, der dort wutentbrannt vor ihm zum Stehen kam.

Einen Moment lenkte dieser Anblick seine Gedanken auf die Szenerie, welche den Stein des Portalbogens zierte. Sie kam ihm geradezu sinnbildlich vor: Ein Mensch bekämpft den Teufel, der umhergeht wie ein brüllender Löwe. Genauso fühlte er sich in diesem Moment, als er in das Antlitz des Müllers schaute.

Ignaz versuchte den unangenehmen Druck in seinem Kopf auszublenden, sammelte sich und setzte eine freundliche Miene auf.

Der Mühlhiasl rang nach Atem, als er da vor dem Pater stand. Schweiß rann ihm an den Schläfen herab. Seine Brust hob und senkte sich in hektischem Rhythmus. Augenscheinlich benötigte er noch einen Augenblick, um zur Ruhe zu kommen.

Diesen Moment nutzte der Abt, um dem Bittsteller zuvorzukommen:

„Matthäus Lang. Ich kann mir vorstellen, was dich zu mir treibt.“

Er bemühte sich, väterlich und gütig zu wirken.

„Doch hör mir zu und lasse mich den Fall erklären. Ich konnte nicht anders handeln, als dir die Pacht zu kündigen. Sieh, kurz vor meinem Amtsantritt hast du dir von meinem Vorgänger, Abt Joachim, ein Darlehen über 75 Gulden auszahlen lassen. Es wurde vereinbart, dass dieses nach zwei Jahren an das Kloster zurückbezahlt werden sollte. Jene Zeit ist nun um. Aber Geld habe ich noch keines von dir gesehen. Nicht einen einzigen Kreuzer hast du bei mir abgeliefert.“

Ignaz merkte selbst, wie falsch aufgesetzt das Lächeln um seine Mundwinkel herum wirkte. Nur mit einem freundlich erscheinenden Gesicht würde er den Müller nicht besänftigen. Und die Situation verlangte angemessenen Ernst. Es ging schließlich um die Zukunft des Mannes.

Seine Erklärung stieß nicht unbedingt auf Verständnis. Das wurde dem Abt schnell klar. Denn schnaubend brachte der Müller hervor:

„Ihr wisst doch genau, dass wir mehrere schlechte Jahre hintereinander hatten, Pater. Die Hochwasser haben die Ernten der Bauern zerstört, wodurch sie mir kein Getreide liefern konnten. Und ohne das Korn kann ich kein Mehl mahlen. Wie soll ich den Betrag einnehmen, den ich zu zahlen habe, wenn mir jegliche Gelegenheit dafür zerstört wird? Ich muss schon zusehen, dass ich genug Geld auftreibe, um Essen für meine Familie heranschaffen zu können.“

Ignaz bewahrte Ruhe und ließ sich nicht in den Strudel von Emotionen ziehen, die Mühlhiasls Worte in ihm weckten. Einerseits war ihm vollkommen bewusst, dass die Bevölkerung schwere Jahre hinter sich gebracht hatte. Und wenn er könnte, würde er ihnen allen ihre Schulden erlassen, damit sie neu beginnen könnten. Doch neben diesem Mitleid machte sich auch eine gewisse Ungeduld in ihm breit, möglicherweise sogar ein leichter Anflug von Wut. Was veranlasste diesen einfältigen Tölpel und auch viele weitere im Dorf dazu, anzunehmen, man könnte über Jahre hinweg auf Kosten anderer leben und davon ausgehen, dass sich schon alles irgendwie regeln würde? Dachten sie, die Probleme lösten sich in Luft auf, wenn man nur lange genug darüber hinwegsah? Und gerade der Müller ließ sich gerne von Tag zu Tag treiben. Dass er die Arbeit nicht erfunden hatte, war weithin bekannt. Viel lieber strolchte er im Wald umher.

Als Klostervorsteher hatte Ignaz für Ordnung zu sorgen. Wo kämen sie hin, wenn jeder sich die Regeln so zurechtbog, wie es ihm gefiel.

Er atmete tief durch und ermahnte sich, es wäre seine Pflicht, Abstand zu den Gefühlen zu wahren und die Kündigung auf reiner Sachebene zu begründen. Deshalb hakte er sogleich ein:

„Wo du gerade von Mehl sprichst. Wie ich hörte, sollst du davon des Öfteren schadhaftes geliefert haben?“

Der Abt sah, wie Matthäus die Zähne aufeinanderbiss. Seine Kieferknochen traten an den Wangen ein gutes Stück hervor und seine Gesichtsfarbe changierte langsam zu einem dunklen Rot. Fast knurrte er, als er hervorpresste:

„Des Öfteren? Einmal! Ein einziges Mal ist dies vorgekommen. Und gewiss habt ihr auch gelesen, oder zumindest davon gehört, was ich zu Protokoll gegeben habe? Damals, bei dieser Gerichtsverhandlung, die zwecks der Aufdeckung Abt Joachims Vergehen während seiner Führung des Klosters abgehalten wurde. Wie oft soll ich noch beteuern, dass es nicht meine Schuld war? Dass das Mehl nur von schlechter Qualität war, weil bereits das Getreide, welches mir angetragen wurde, verdorben gewesen war. Es stand damals Aussage gegen Aussage. Und schließlich wurde die Anklage gegen mich fallengelassen. Aber ich stehe auch heute noch zu meinem Wort. Ob ihr es glaubt oder nicht. Ich bin mir keiner Schuld bewusst!“

Matthäus hielt erregt inne und suchte nach Argumenten, um Ignaz davon zu überzeugen, ihn weiterhin auf der Mühle arbeiten zu lassen. Die Vorwürfe des Abts trafen den Müller. Er fühlte sich ungerecht behandelt, in die Ecke getrieben. Und so gelang es ihm nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ja, es stimmte. Die Arbeit auf der Mühle war nicht das, was für ihn den Sinn des Lebens darstellte. Doch er tat, was immer nötig war, um seine Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen. Verzweifelt suchte er nach Gründen, bleiben zu dürfen.

Doch Ignaz nutzte die kurze entstandene Pause, um das Gespräch mit entschlossenen Worten zu beenden. Seine für einen Moment gehegte stille Hoffnung auf des Müllers Einsicht war vergebens. Und an der Sache ändern würde auch diese nichts. Er konnte ihn nicht weiter auf der Mühle beschäftigen.

„Wie dem auch sei. Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Wir kommen hier in Teufels Küche, wenn jeder macht, was ihm gerade einfällt. Deine Kündigung bleibt bestehen. Ich erwarte, dass du deine Sachen packst und innerhalb der nächsten Woche mit deiner Familie die Mühle verlässt.“

Energisch drehte sich Ignaz ab, um sich der Konfrontation zu entziehen und die Kirche zu betreten, da donnerte der verzweifelte Kerl vor ihm mit hocherhobener Faust:

„Ich muss gehen – aber bald werdet ihr selbst aus eurem Kloster rennen müssen! Und aus den Fenstern von Windberg werden Weiber und Kinder herausschauen! Kein Mensch will’s glauben!“

Mit der Hand an der Klinke der Kirchentüre blieb der Klostervorsteher wie angewurzelt stehen. Die Worte schlugen wie Peitschenhiebe auf ihn ein und ließen den frommen Mann noch mehr frösteln als der stete Wind, der über den Hof blies.

****

Normalerweise würde der Geistliche die soeben gehörten Worte, welche Verderben und Unheil androhten, beiseite wischen wie eine lästige Fliege. Mit seinen 46 Jahren hatte er bereits genug erlebt, um mit den Unarten und verbalen Ausbrüchen seiner Mitmenschen umgehen zu können.

Während seiner Priesterzeit hatte Ignaz als Theologieprofessor und Gymnasialprofessor für Rhetorik gearbeitet. Das allein hätte ihm genügend Gelegenheit geboten zu lernen, die Sprache als treffsicheres Instrument zur Verteidigung einzusetzen. Seine Erfahrung im Umgang mit harschen Worten reichte jedoch sogar noch weiter zurück.

Geboren wurde er als Sohn eines Brauers. Seine Eltern hatten selten Zeit für ihn, und so trieb er sich häufig mit den Sprösslingen der Arbeiter herum. Immer wieder wurde Ignaz angegangen, weil die Eltern seiner Freunde bei seinem Vater im Dienst standen und die Kinder dem Knaben unterstellten, er würde sich für etwas Besseres halten. Mit den Fäusten wollte sich der magere Junge ungern zur Wehr setzen. Dafür fehlten ihm die Schnelligkeit und Wendigkeit und nicht zuletzt die Kraft. Aber er hatte einen scharfen Verstand und ein Gespür für die Schwächen seiner Widersacher. Er wusste, wie er sich gegen jederart Angriffe mit Worten statt mit Schlägen wehren konnte.

****

Doch mit dem Mann, der nun dort vor ihm stand, war es anders. Denn der hatte bereits Weissagungen verkündet, die zuverlässig eingetreten waren. Und ein Fluch aus dem Mund des Müllers vermochte dem Klostervorsteher sprichwörtlich das Blut zum Stocken, und seine Zunge zum Verstummen zu bringen.

Einer der Kleriker und der Novize, die Ignaz vor kurzem ins Kloster Windberg geholt hatte, gingen hinter dem Mühlhiasl vorbei und warfen ihm verstohlene Blicke zu. Sie wollten sehen, was da vor sich ging, wer sich getraute, die Stimme derart laut gegen ihren Abt zu erheben. Wahrscheinlich waren sie gerade unterwegs zum Mittagsmahl, das schon recht zeitig, um elf Uhr, aufgetragen wurde. Als sie bemerkten, dass Ignaz ihnen strafend nachsah, wandten sie ihre Augen ab und eilten schnell von dannen.

Einen Moment standen sich die beiden streitenden Männer regungslos gegenüber. Dann räusperte sich Ignaz, um der Prophezeiung des Mühlhiasls passende Worte entgegenzusetzen.

Doch dazu kam es nicht. Noch ehe der Abt einen einzigen Laut erwidern konnte, machte der Müller auf dem Absatz kehrt und rannte, ohne innezuhalten, vom Klostergelände. Seine Gestalt verschwand über den Klosterhof und aus der Pforte hinaus, doch die gesprochenen Worte hallten fortwährend in Ignaz nach.

****

Da er nun keine Eile mehr hatte, dem Gespräch zu entfliehen, änderte Ignaz die Richtung, in die er gehen wollte, und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen. Er stieg die Stufen der Kirche hinab und ging gedankenverloren über den Klosterhof zurück zur Kellermeisterei. Die Prophezeiung des Mühlhiasls hatte ihn sehr erschüttert. Im Raum angekommen, in dem er sein Mittagsmahl zu sich nehmen wollte, ließ er sich schwer auf die Holzbank fallen und blickte starr vor sich auf die leere Tischplatte. Die Drohung des Müllers hatte sich auf sein Gemüt gelegt, schloss ihre Klauen um seine Brust und erschwerte ihm das Atmen. Sofort war auch das Pochen hinter seinen Schläfen wieder deutlich zu spüren.

Er war froh, sich für heute keine Gesellschaft zum Essen geladen zu haben. Der Abt wollte allein sein, sehnte sich danach, in dem kurzen Moment während der Mahlzeit in Ruhe nachdenken zu können. Unzählige Sorgen bereiteten ihm schlaflose Nächte, die Worte des Müllers waren nur ein Teil des zerbrochenen Mosaiks. Es würde guttun, für eine Zeit in sich zu kehren, ohne das Beisein anderer erdulden zu müssen.

Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit.

****

Als Ignaz 1799 zum Abt gewählt wurde, stand er einem heillosen Durcheinander gegenüber. Das Kloster war heruntergewirtschaftet.

Sein Vorgänger, Abt Joachim, hatte kaum etwas dokumentiert. Viele Abmachungen, darunter Verträge, Leihgaben, Kredite, wurden lediglich mündlich besiegelt, und es war ein gutes Stück Arbeit, in Sachen Verwaltung und Finanzen zumindest ein wenig Überblick zu erlangen.

Oft spürte Ignaz das Verlangen, alles stehen und liegen zu lassen, einfach in dem Chaos weiterzuwirken, die Augen vor den Problemen zu verschließen.

Kleriker, Handwerker, sonstige Leute, die im Dienst des Klosters standen, jeder erzählte etwas anderes. Keinem von ihnen konnte er trauen, nicht einmal den Menschen, die sich täglich in seiner Nähe aufhielten. Jeder, mit dem er sprach, stellte sich in gutem Licht dar, weil er keine Schuld auf sich nehmen wollte. Und wenn sie dadurch auch nur einen kleinen Vorteil für sich herausschlagen konnten.

Erst in letzter Zeit kam langsam Ordnung in die Abläufe. Ignaz war stolz auf seine Erfolge, auch wenn dieses Gefühl für einen Glaubensbruder unangemessen war.

Und nun erschien dieser Taugenichts Matthäus Lang und wagte es, ihm zu drohen? Ihm zu sagen, dass alles in naher Zukunft zunichtegemacht würde? In sich gekehrt schüttelte Ignaz den Kopf.

****

Schon lange schwelten die Anfänge der Säkularisation in den Städten. Ein neues Denken griff um sich. Dort, wo viele junge Leute aufeinandertrafen, in den Universitätsstädten, sprachen sie immer mehr von dieser neuen Philosophie: Der Mensch sollte seiner Vernunft folgen, und nicht den kirchlichen Gesetzen. Der Staat enteignete die Klöster und vereinnahmte viele Gebäude und Ländereien. Bis hierher, in den Bayerischen Wald, waren sie noch nicht vorgedrungen. Und Abt Ignaz betete inbrünstig darum, dass die Bewegung zum Erliegen käme.

Insgesamt stand es mit der Kirche zu dieser Zeit nicht zum Besten. Grund hierfür waren überkommene, starre Strukturen.

Für den höheren Klerus existierte ein Adelsreservat, viele Positionen mussten somit den Sprossen aristokratischer Familien freigehalten werden. Das führte dazu, dass nicht so sehr der Glaube und die Profession zum Eintritt ins Kloster führten, sondern vielmehr der Wunsch, ein feiner Herr zu sein. So traten denn meist die zweitgeborenen Söhne Adeliger in den kirchlichen Dienst, die kein allzu großes Erbe erhoffen durften.

Verfehlten sie ihre hochtrabenden Ziele, in der klerikalen Umgebung dem Leben in Saus und Braus frönen zu können, weil sie zum Beispiel die hierfür erforderliche Position in der Kirche nicht erreichten, so gaben sie sich voller Gram ihrem Schicksal hin. Eine Profess war nicht umkehrbar. Die jungen Herren konnten nicht zurück in ihr altes Leben. Waren sie einmal am Kloster, so mussten sie bleiben. Natürlich kam es immer wieder zu Klosterfluchten, doch eine solche zog Ächtung nach sich. Die Betroffenen konnten sich in der Gesellschaft nicht mehr öffentlich zeigen. Sie waren eine Schmach für ihre Familien und suchten ihren Frieden meist in der Ferne.

Die Kirchenleitung musste also mit vielen unzufriedenen Gemütern zurechtkommen. Wahrscheinlich zog dies zwangsläufig ein Scheitern nach sich.

Ignaz’ Gedanken wurden unterbrochen, als ein junger Frares Juniores durch den Türspalt zu ihm sah. Er hatte ihn nicht kommen hören.

„Wollt Ihr jetzt Euer Essen aufgetragen bekommen? Es wäre alles zubereitet.“

Wieder zurück im Hier und Jetzt antwortete der Klostervorsteher:

„Ja, sehr gerne. Bring es mir herein. Und vielleicht auch noch einen Krug Bier dazu.“

Der junge Mann beeilte sich, dem Abt sein Mittagsmahl aufzutragen. Der Klostervorsteher erhielt die gleichen Speisen wie seine Mitbrüder. Hier gab es keine Extrabehandlung. Der Geruch versprach einen Eintopf aus Gelben Rüben und Kartoffeln, mit etwas Speck verfeinert. Dazu stieg Ignaz der Duft noch warmen Brotes in die Nase.

Mit einem Mal machte sich der Hunger bei ihm bemerkbar. Sein Magen gab ein leises Grummeln von sich, von dem er hoffte, es würde vom Frares ungehört bleiben. Er wartete, dass der Kerl das Zimmer verließ, doch dessen Schritte verharrten unverhofft ein kleines Stück neben dem Tisch.

Abt Ignaz hob den Kopf und sah fragend in Richtung seines Mitbruders, der nun still dastand.

Der Klostervorsteher bemerkte, wie die Augen des jungen Mannes an den beinahe komplett heruntergebrannten Kerzenstumpen hingen, die auf der kleinen Kommode neben der Eingangstüre lagen.

Kerzen waren ein begehrtes Gut im Kloster. Gerade die neu hinzugekommenen Brüder horteten diese wie Schätze. Sie spendeten nicht nur spärliches Licht in den ansonsten recht finsteren Kammern, sondern ermöglichten es den Männern, die häufig noch unbekannten Texte der Gebete und Lieder abzulesen.

Ergeben seufzend zeigte Ignaz mit dem Kinn in die Richtung der Stumpen und sagte: „Nehmt sie Euch. Auch, wenn sie nicht mehr lange brennen werden.“

Ein überrascht freudiger Ausdruck legte sich auf das Gesicht des jungen Frares.

Der Abt wandte sich wieder seinem Mahl zu und wollte soeben weiteressen, als ihm der Spott Worte auf die Zunge legte, die er einfach nicht zurückhalten konnte. Mit einer plötzlich aufkommenden Gehässigkeit wollte er den jungen Mann wissen lassen, dass ihm sehr wohl bewusst war, weshalb dieser ein solches Verlangen nach den Kerzenresten hatte. Ein süffisantes Lächeln auf den Lippen unterbrach er sein Tun, richtete sein Besteck nochmals äußerst bedächtig und ordentlich neben dem Teller aus und setzte seinen vorigen Worten hinterher:

„Ihr solltet zusehen, Eure Psalmen auswendig zu lernen, damit Ihr sie bis zum Herbst könnt, wenn die Tage kürzer und die Schatten immer länger werden. Auch wenn Euch dann drei Kerzen pro Woche zustehen, und nicht nur eine, wie jetzt im Sommer. Das kostbare Licht kann man doch wahrlich besser verwenden, als zum Psalmentext lesen.“ Während dieser Worte hatte er die Augenbrauen etwas verächtlich nach oben gezogen. Dann wandte sich Ignaz mit einer leisen Befriedigung endlich dem Teller zu und widmete seine ganze Aufmerksamkeit den Speisen, die darauf lagen.

Der gescholtene Bursche kehrte den Blick rasch zu Boden. Es stimmte, er war noch in keinster Weise textsicher. Er war peinlich berührt, dass dies dem Abt aufgefallen war. Tatsächlich mogelte er sich mehr schlecht als recht durch die Gebete und Lieder, die von morgens um vier bis abends um acht Uhr gesprochen und gesungen werden mussten. Es war ihm noch nie leichtgefallen, sich Worte zu merken. Selbst die kleinen Reime, die seine Großmutter ihm immer aufgesagt hatte, konnte er nicht wiedergeben. Einen schnellen Dank nuschelnd griff er nach den kleinen Schätzen und verstaute sie sicher in seinem Habit. Dann huschte er durch die schwere Türe und eilte die steinernen Treppen hinauf zu den anderen Klosterbewohnern.

****

In den nächsten Minuten erfüllten lediglich die leisen Essgeräusche des Abts die Kellermeisterei.

Nachdem auch der letzte Rest vom Teller gekratzt war, geriet Ignaz erneut ins Grübeln.

Unter Abt Joachims Führung gab es immer weniger Religiosen. Zuletzt waren es nur noch etwa sechzehn Mann, ergänzt durch zwei bis drei französische Mitbrüder, Flüchtlinge der Revolution. Jede bayerische Abtei nahm damals zwei dieser armen Seelen auf.

In der Zwischenzeit wohnten wieder einundzwanzig Brüder im Kloster Windberg. Vor kurzem kamen drei Kleriker und ein Novize hinzu. Jeder von ihnen musste eine volle Aussteuer mitbringen, die dem Vermögen des Klosters zufloss.

Diese Mitgiften waren meist von bedeutender Höhe. Nicht so umfangreich, wie das Erbe der erstgeborenen Kinder, aber die Familien wollten sich auch keine Blöße geben, einen gewissen Einfluss im Kloster erringen, und sich selbst die Unterstützung der Kirche sichern.

Eigentlich kam es Ignaz entgegen, dass nur wenige Brüder am Kloster waren. So hatte er auch weniger Probleme, die Männer zu beschäftigen. Es gab kaum Aufgaben, welche an die Glaubensbrüder verteilt werden konnten.

Seine Gedanken schweiften von einem der Brüder zum nächsten. Er führte sich ihre Ämter vor Augen: das des Priors, Kellermeisters, Kämmerers. Diese Pater waren mit ihren Aufgaben recht zufrieden. Doch die restlichen zu erledigenden Tätigkeiten wurden den Brüdern zugeteilt und von diesen meist mit weniger, denn mehr Hingabe erledigt.

Manche der Priester freuten sich über eigene Pfarreien in den umliegenden Dörfern. Dort gelangten sie oft zu beträchtlichem Ansehen.

Ein Sakristan pflegte die liturgischen Geräte, kümmerte sich um den Kirchenschmuck und den Einkauf der Altarkerzen.

Da die Ausübung der Pflichten manch einer Position nur wenig Zeit in Anspruch nahm, bekleideten einige der Brüder gleichzeitig zwei oder mehr Ämter. So diente ein Kooperator, also ein Hilfsgeistlicher, auch als Klosterbeichtvater.

Der Bibliothekar beaufsichtigte ebenso die Schreibstube.