Kein zurück von der Demokratie - Arhan Kardas - E-Book

Kein zurück von der Demokratie E-Book

Arhan Kardas

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Beschreibung

Was sagt der Islam zu Grundrechten und Freiheiten? Verlangt der Koran ein Kalifat oder eine offene Gesellschaft? Ist die Demokratie ein Trittbrett oder ein unumkehrbarer Prozess? Was bedeutet Scharia und wie kann man sie reformieren? Welche Rolle weist der Islam den Frauen zu? Bildet der Westen ein Gegenkonzept zum Osten? Sind Terror und Selbstmordattentate mit der islamischen Lehre vereinbar? Welchen Stellenwert besitzt der interreligiöse und interkulturelle Dialog im Islam? Mit welcher Grundhaltung ist ein friedliches Zusammenleben der Menschen möglich? M. Fethullah Gülen, der türkische Gelehrte, Prediger und öffentliche Intellektuelle, dessen Name mittlerweile in aller Munde ist, gab und gibt Antworten auf diese und viele weitere Fragen, die für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung von großer Bedeutung sind. Das vorliegende Buch enthält eine Zusammenstellung von Äußerungen aus den Jahren 1991 bis 2017, die Interviews mit verschiedenen Medien entstammen. Es lädt zu einer intellektuellen Reise ein, auf der aktuelle Themen unserer Gesellschaft aus der Perspektive eines erneuerten Islams behandelt werden.

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DEMOKRATIE

Faruk Mercan / Arhan Kardas (Hgg.)

Mit einem Geleitwort von Christoph Bultmann

M. FethullahGülen

KEIN ZURÜCK VON DER

Copyright © Main-Donau Verlag, Frankfurt am Main / Berlin, 2018

2. Auflage

Es ist nicht gestattet, Teile dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder in PCs/Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Vorlagen zu manipulieren oder in irgendeiner Art und Weise zu veröffentlichen, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Erschienen im Main-Donau Verlag

Herausgeber

Faruk Mercan, Arhan Kardaş

Redaktion

Arhan Kardaş

Übersetzung & Lektorat

Lenius und Tülin Hirschberger

Korrektorat

Frank Giesenberg, Abdullah Kulac

Coverdesign & Layout

Yavuz Aydemir

Geleitwort der deutschen Ausgabe

Christoph Bultmann

Einleitung & Kommentare für die deutsche Ausgabe

Arhan Kardaş

Einführung

Faruk Mercan

Korrespondenz:

Gerbermühlstr. 32 − 60594 Frankfurt am Main

Tel: +49 69 / 83-83-8000

ISBN: 978-3-946871-09-5

Druck: CPI books GmbH

Ulm, Deutschland

Inhalt

Inhalt

Inhalt

Kein Zurück von der Demokratie

Geleitwort von Christoph Bultmann

Fethullah Gülen, der sein Wirken als muslimischer Prediger in einer Moschee in Edirne (1957) begann und in einer Moschee in Izmir (1966) fortsetzte, stammt aus einer kleinen Ortschaft in der Region von Erzurum im Osten der Türkei. Sein Weg als Prediger führte über zahlreiche weitere Moscheen, so in Edremit (1972) und Bornova (1976). Eine bemerkenswerte Einladung zu einer Predigt erhielt er anlässlich der Eröffnung der Çamlıca-Moschee in Istanbul (1986). Nach der Beendigung seiner Laufbahn als Prediger (1992) verlagerte sich seine Lehrtätigkeit durch die Gründung einer Journalisten- und Schriftsteller-Stiftung (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfi, 1994) weiter in den öffentlichen Raum. Sowohl bei festlichen Einladungen zum Fastenbrechen im Ramadan als auch durch jährliche Diskussionsveranstaltungen, die seit 1998 unter dem Namen „Abant Plattform“ bekannt sind, fand die Lehre des Islams, die Gülen entwickelte, eine starke gesellschaftliche Resonanz in der Türkei. Seit März 1999 lebt Gülen in Pennsylvania in den USA.1

Predigt und Lehre Gülens fanden durch zahlreiche Medien eine weite Verbreitung. Von Tonkassetten bis zu Videobotschaften auf einer Website im Internet, von Leitartikeln in neu gegründeten Zeitschriften über Kolumnen in einer neu gegründeten Zeitung (Zaman, 1986) bis zu zahlreichen, in viele Sprachen übersetzten Buchpublikationen wurden seine Gedanken zum Islam als einer Religion, die im Glaubensleben nicht durch Verflachung und Politisierung, sondern durch Vertiefung und Pluralisierung zu gestalten sei, für muslimische wie nichtmuslimische Adressatenkreise zugänglich. Für die theologische Deutung des Islams konnte Gülen dabei in der Tradition des Sufismus, und besonders in der Lehre von Said Nursi (1876–1960), einen Bezugspunkt finden; für ein modernes Verständnis der Stellung der Muslime sowohl in Gesellschaften, in denen sie eine Mehrheit, als auch in Gesellschaften, in denen sie eine Minderheit darstellten, konnte er in dem grundlegenden Konzept von Menschenrechten und Demokratie ein Fundament gewinnen. Die Dynamik, die Gülen mit seiner Predigt und Lehre unter seinen Anhängern auslöste, leitete er in erster Linie in den Bereich der Bildung. Schule und Universität sollten Orte werden, an denen Muslime ohne Horizontverengung lernen und studieren können. Diese Offenheit bedeutete auch eine neue Aufgeschlossenheit für den interreligiösen Dialog. Von den auf Deutsch oder Englisch vorliegenden Schriften Gülens lassen sich zur Frage der Theologie in erster Linie die Bände Schlüsselkonzepte in der Praxis des Sufismus (4 Bde., 2003–2011; engl. 1998–2010) und der Band Reflections on the Qur’an. Commentaries on Selected Verses (2012) empfehlen, zur Frage der gesellschaftlichen und politischen Orientierung die Bände Hin zu einer globalen Kultur der Liebe und Toleranz (2006) und Was ich denke, was ich glaube (2014). Das Buch Hin zu einer globalen Kultur der Liebe und Toleranz enthält eine Zusammenstellung von Texten zu zentralen Aspekten von genau jenem „zivilen Islam“, den der Herausgeber des vorliegenden Bandes, Arhan Kardaş, in seiner Einleitung als die wesentliche Alternative zum „politischen Islam“ vorstellt. Das Buch ist in die sieben Kapitel „Liebe und Barmherzigkeit“, „Vergebung, Toleranz und Dialog“, „Der vollkommene Mensch“, „Sufismus und Metaphysik“, „Dschihad – Terror – Menschenrechte“, „Bildung und Erziehung“ und „Globale Perspektiven“ gegliedert und enthält zum Beispiel ein energisches Votum zur Verteidigung der Gewissensfreiheit, wenn Gülen schreibt: „Nur wenn ihr Gewissen am Leben erhalten wird und wenn ihr Wille und ihr Bewusstsein in der Gesellschaft Akzeptanz finden, können die Menschen Menschen bleiben und sich wieder menschlichen Werten zuwenden.“ Die Texte des vorliegenden Bandes sind überwiegend den zahlreichen Interviews entnommen, die von Journalisten in den vergangenen 25 Jahren mit Gülen geführt worden sind. Der Titel des Bandes bezieht sich auf Gülens Rede auf der ersten Tagung der Journalisten- und Schriftsteller-Stiftung im Juni 1994.

„Die islamische Tradition bietet, wie jede andere Tradition auch, ein Reservoir, das unterschiedliche Möglichkeiten bereithält. Wie das Judentum und das Christentum ist der Islam eine Religion der Möglichkeiten.“ – Mit diesem Zitat der Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer leitete ich im Jahr 2011 das Vorwort der Herausgeber zu dem breit gefächerten Tagungsband Die Gülen-Bewegung zwischen Predigt und Praxis ein und fügte die Einschätzung hinzu: „Eine der vielen Möglichkeiten einer konstruktiven Entwicklung des Islams in der Gegenwart hat in der Bewegung Gestalt gewonnen, die von dem türkischen Prediger und Pragmatiker Fethullah Gülen inspiriert wurde.“2 An dieser Einschätzung ist meines Erachtens auch heute, im Jahr 2017, ohne Abstriche festzuhalten. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wer vom Gegenteil überzeugt ist oder wer Einschränkungen geltend machen möchte, muss dafür klare Argumente in Verbindung mit sauberen Quellenbelegen anführen.

Als Beispiel für eine andere der vielen Möglichkeiten einer konstruktiven Entwicklung des Islams in der Gegenwart lassen sich zum Beispiel die Schriften von Mouhanad Khorchide nennen, besonders sein Buch Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion (2012). Aus meiner Sicht ist auch anzunehmen, dass Gülen zustimmen würde, wenn Khorchide zum Gedanken der Würde des Menschen erklärt: „Die ewige Erwählung des Menschen zu Gottes Geschöpf begründet dessen Würde. Seine Erwählung gehört zum Gesamtplan der göttlichen Vorsehung. Die Barmherzigkeit Gottes garantiert die Würde des Menschen, weil sie gleichbedeutend mit der Treue Gottes zu seinem ewigen Entschluss ist, den Menschen zur Würde des Gottesdieners zu erheben. Gott bietet dem Menschen seine vervollkommnende Barmherzigkeit an, damit er sein Leben in Liebe und Barmherzigkeit zu Gott und zu seinen Mitmenschen gestalten kann.“3

Die Schriften Gülens sollten in einem Bezugsfeld mit anderen relevanten muslimischen Denkern gelesen werden. Nur so werden gelungene von misslungenen Akzentsetzungen unterscheidbar, nur so wird der besondere Bezug auf die Tradition des Sufismus erkennbar, nur so wird die programmatische Ausrichtung auf die Entfaltung menschlicher Begabungen durch Bildungsprozesse bewertbar. Als Mitglied einer erziehungswissenschaftlichen Fakultät vertrete ich dabei die Auffassung, dass sich nicht für „Bildung“ engagieren kann, wer nicht gebildete Menschen zu kritischer Selbstständigkeit ermutigen will. Da es nun außer Frage steht, dass die Gülen-Bewegung – oder, im Sinne ihres Begründers eher nach dem religiösen Ideal des Dienens benannt, die „Hizmet“-Bewegung – den Schwerpunkt ihrer Initiativen im Bildungsbereich hat, d. h. von Nachhilfeeinrichtungen und Schulgründungen über Wohngemeinschaften für Studierende und Universitätsgründungen bis hin zu Medien als Kommunikationsmittel für allgemeine Zielgruppen aktiv ist, folgt daraus, dass eine kultivierte kritische Reflexionsfähigkeit zur Identität der Muslime gehört, die Gülen als einen angesehenen, geehrten Lehrer des Islams (Hodschaefendi) anerkennen. Wiederum: Wer vom Gegenteil überzeugt ist oder Einschränkungen geltend machen möchte, muss dafür klare Argumente in Verbindung mit geprüfter empirischer Evidenz anführen.

Die Stiftung Dialog und Bildung als „Ansprechpartner für Hizmet in Deutschland“ hat im Juni 2017 die Initiative von Lamya Kaddor und Tarek Mohamad für einen „Ramadan-Friedensmarsch“ in Köln unter dem Motto „NichtMitUns – Muslime und Freunde gegen Gewalt und Terror“ unterstützt. Es wäre überraschend gewesen, wenn sie es nicht getan hätte, denn die im Aufruf erklärte Position „Wir treten ein für eine solidarische Welt, für Pluralismus innerhalb und außerhalb der Religion, gegen eine Spaltung unserer vielfältigen Gesellschaft in ‚WIR‘ und ‚IHR‘“ fügt sich stimmig in das von Gülen gelehrte Verständnis des Islams als einer Religion im Kontext einer von den Menschenrechten geprägten politischen Wirklichkeit ein.4 Durch die Publikation der Textauswahl des vorliegenden Bandes soll über die bisher schon leicht zugänglichen Texte hinaus dieses Verständnis des Islams in einem weiter reichenden historischen Rückblick zugänglich gemacht werden.

In der Türkei hat am 15. Juli 2016 eine Putschaktion das politische und gesellschaftliche Leben in seinen Grundfesten erschüttert und einen Wirbel von Stellungnahmen ausgelöst, der hier nicht analysiert werden kann. In einem Artikel für die Zeitschrift der Hizmet-Bewegung Die Fontäne. Zeitschrift für Kultur, Wissenschaft und Dialog habe ich im Januar 2017 einige „Infosplitter zur Putscherhellung“ zusammengetragen und möchte an dieser Stelle nur vier ergänzende Hinweise zu dem Thema geben.5

(1) Der Politikwissenschaftler Heinz-Jürgen Axt stellt in einem Artikel in der Zeitschrift Südosteuropa Mitteilungen fest: „Bis heute [Januar 2017] sind die Hintergründe und die eigentlichen Urheber des Militärputsches nicht aufgeklärt. Man scheint auch kein allzu großes Interesse daran zu haben. Präsident Erdoğan selbst hat den Putsch als ‚Geschenk des Himmels‘ bezeichnet, gibt er doch die Gelegenheit, nicht nur die islamische Konkurrenz der Gülen-Bewegung loszuwerden, sondern gleich alle diejenigen, die der Opposition gegen die aktuelle Regierung und den Präsidenten verdächtigt werden.“6

(2) Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes Bruno Kahl lässt sich in einem Interview mit drei Journalisten des Nachrichtenmagazins Der Spiegel für die Ausgabe vom 18. März 2017 die Frage stellen: „Erdoğan hat den Putschversuch gegen sich eindeutig der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen zugeschrieben. [...] Steckte Gülen tatsächlich hinter dem Putsch?“, um zu antworten: „Die Türkei hat auf den verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bislang nicht gelungen.“7

(3) Das Europäische Parlament hat in einer Entschließung vom 6. Juli 2017 zur Situation in der Türkei erklärt: „Das Europäische Parlament [...] wartet immer noch darauf, dass stichhaltige Beweise bezüglich der Urheber des Putschversuchs vorgelegt werden [...].“ Die sorgfältig ausgearbeitete Entschließung enthält ebenso auch die Feststellungen: „Das Europäische Parlament [...] verurteilt die Massenentlassungen von Beamten und Polizisten, die Massenliquidierung von Medien, die Verhaftungen von Journalisten, Wissenschaftlern, Richtern, Menschenrechtsverteidigern, gewählten und nicht gewählten Amtsträgern, Mitgliedern der Sicherheitsdienste und gewöhnlichen Bürgern und die Beschlagnahmung ihres Eigentums und Vermögens und ihrer Pässe, die Schließung vieler Schulen und Universitäten und das gegen Tausende türkischer Bürger auf der Grundlage der Notstandsdekrete ohne individuelle Entscheidungen und ohne die Möglichkeit einer zeitnahen juristischen Überprüfung verhängte Reiseverbot [...]“ und „Das Europäische Parlament [...] fordert die unverzügliche und bedingungslose Freilassung aller Häftlinge, die ohne Beweise für eine persönliche Beteiligung an einer Straftat festgehalten werden [...].“8

(4) Der Politikwissenschaftler Steven A. Cook schreibt in einem Artikel in dem Nachrichtenmagazin Foreign Policy vom 14. Juli 2017 über die politischen und propagandistischen Entwicklungen in der Türkei seit der Putschaktion vom 15. Juli 2016: „Bevor eine Untersuchung überhaupt beginnen konnte, legten sich türkische Regierungsfunktionäre auf eine Darstellung der Ereignisse fest, die Millionen von Türken fraglos zu akzeptieren schienen. Viele der besten und klügsten Köpfe der Türkei – sowohl im Land selbst wie im Ausland – nahmen Erdoğans Version der Ereignisse zum Nennwert, etwas, was sie nie zuvor zu tun bereit gewesen waren.“ Mit Bezug auf den Oppositionsführer schreibt Cook: „Kılıçdaroğlu hat eine Mitverantwortung für den zunehmenden Autoritarismus in der Türkei: Er schenkte Erdoğan seine Unterstützung im Nachspiel zu dem Putsch und hat bis zu seinem ‚Marsch für Gerechtigkeit‘ [im Juni/Juli 2017] der Säuberungsaktion nur farblosen Widerstand entgegengesetzt. [...] Als er zum Abschluss des Marsches in Istanbul seine triumphale Rede hielt, schien Kılıçdaroğlu kein Interesse an Gerechtigkeit für jeden zu haben. Er nutzte die Gelegenheit dazu, über die Gülenisten auf eine ähnliche Weise herzuziehen wie Erdoğan.“9

Diese Hinweise können nur eine Perspektive auf das Geschehen markieren. Blickt man aus dieser Perspektive auf die Berichterstattung und Kommentierung zum Thema „Die Türkei seit dem 15. Juli 2016“ in den Medien, stößt man auf ein fast unüberschaubares kommunikationswissenschaftliches Studienfeld. Für Leser und Leserinnen des vorliegenden Bandes ist es meines Erachtens wichtig, sich bei der Lektüre von der Aufmerksamkeit auf die Texte, die Arhan Kardaş ausgewählt und erläutert hat, nicht ablenken zu lassen. Der schärfste Kritikpunkt in der öffentlichen Debatte über Fethullah Gülen beruht auf einer Interpretation, nach der Gülen unter seinen Anhängern nicht deswegen eine starke Resonanz finde, weil es ihm um religiöse Anliegen und Bildungsinitiativen, sondern weil es ihm um politische Anliegen gehe. Die Gülen-Bewegung sei eine Maschine zur Machtgewinnung in der Türkei (und darüber hinaus). In der Wissenschaft besteht über diese Interpretation keineswegs ein Konsens. So unterscheidet der Politikwissenschaftler Mustafa Akyol in seinem Buch Islam without Extremes. A Muslim Case for Liberty (2013) ausdrücklich eine islamische Bewegung wie die Gülen-Bewegung vom politischen Islamismus und hält fest: „Heute zeigt die historische Erfahrung, dass die Politik-fokussierten Islamisten falsch, und die Glaubens-fokussierten Muslime richtig gelegen haben.“10 Wer sich durch das vorliegende Buch zu einer Auseinandersetzung mit dem Denken Gülens einladen lässt, wird auch einer Diskussion über diese These besser folgen können. Doch die Diskussion hat trotz der politischen Entwicklungen in der Türkei noch nicht wirklich begonnen. Man darf gespannt sein, wohin sie führen wird. Um mit einer Sentenz von Gülen aus einem Interview mit der Journalistin Nuriye Akman von 2004 für die Zeitung Zaman zu schließen: „Die Wahrheit entsteht aus kontroversen Meinungen.“

Erfurt, 30. September 2017

Anmerkungen

1 Von den Standardwerken zur Gülen-Bewegung kann hier nur auf M. Hakan Yavuz, Toward an Islamic Enlightenment. The Gülen Movement, Oxford 2013; Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Hamburg (2004) 2008; Muhammed M. Akdag, Der „Mensch des Dienstes“ bei Fethullah Gülen. Nachfolger des „vollkommenen Menschen“ in der islamischen Mystik?, Frankfurt a. M. 2013; Pim Valkenberg, Renewing Islam by Service. A Christian View of Fethullah Gülen and the Hizmet Movement, Washington, DC, 2015, verwiesen werden. Eine Kurzdarstellung von Günter Seufert vom 01.09.2014 ist auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung abrufbar, vgl. http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, eine ausführlichere Darstellung aus dem Dezember 2013 auf der Website der Stiftung Wissenschaft und Politik, vgl. https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S23_srt.pdf (27.09.2017).

2 Ursula Boos-Nünning, Christoph Bultmann, Bülent Ucar (Hgg.), Die Gülen-Bewegung zwischen Predigt und Praxis, Münster 2011, 9; das Zitat nach Gudrun Krämer, Distanz und Nähe. Fragen einer kritischen Islamwissenschaftlerin, in: Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, hg. vom Deutschen Hochschulverband, Bonn 2010, 75–79(78).

3 Mouhanad Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012, 96.

4 Vgl. http://www.ramadan-friedensmarsch.de/; http://sdub.de/ (27.09.2017).

5 Die Fontäne, Nr. 75, Januar – Februar – März 2017, 54–61.

6 Heinz-Jürgen Axt, Türkei: Erdoğan festigt seine Macht, aber er demontiert sie auch. Das Legitimitätsdilemma eines repressiven Systems, in: Südosteuropa Mitteilungen, Jg. 57/1, 2017, 20–37 (21).

7 Art. „Der Putsch war nur ein Vorwand“. Spiegel-Gespräch (mit Alfred Weinzierl, Martin Knobbe und Fidelius Schmid), Der Spiegel 12/2017, 38–41(40).

8 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2017 zu dem Bericht 2016 der Kommission über die Türkei (2016/2308(INI)), Abs. 9 bzw. Abs. 2: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2017-0306+0+DOC+PDF+V0//DE (27.09.2017).

9 Steven A. Cook, First, They Came for the Gulenists. Erdogan isn’t the root of Turkey’s troubles. It’s a deep-seated cycle of repression and revenge – with no end in sight, in: Foreign Policy, 14. Juli 2017, zitiert nach http://foreignpolicy.com/2017/07/14/first-they-came-for-the-gulenists-turkey-coup-erdogan/ (27.09.2017; eigene Übers.).

10 Mustafa Akyol, Islam without Extremes. A Muslim Case for Liberty, New York 2013, 299 (eigene Übers.); vgl. auch ebd. 225 f. zur ersten Tagung der „Abant Plattform“ 1998; die Abschlusserklärung dieser Tagung ist in dem Band Turkish Islam and the Secular State. The Gülen Movement, hg. v. M. Hakan Yavuz und John L. Esposito, New York 2003, 251–253, dokumentiert.

Geleitwort

Geleitwort

Geleitwort

Geleitwort

Geleitwort

Einleitung Muhammed Fethullah Gülen:Ein Botschafter der Liebe,der Belebung und der Aufklärung

Es ist schier unmöglich, sich einen umfassenden, zutreffenden Überblick über die Gedanken- und Aktionswelt sowie die Person Fethullah Gülens zu verschaffen. Über seine facettenreiche Persönlichkeit und die Bewegung um ihn wurden bereits mehrere Werke verfasst. Zu empfehlen sind besonders das Buch Bir Portre Denemesi (Ein Porträtversuch) von Ali Ünal und das Buch Geleneğin Modern Çağa Tanıklığı (Begegnung der Tradition mit der Moderne) von Enes Ergene. Aktuell ist das Buch Die Gülen-Bewegung: Was sie ist, was sie will von Ercan Karakoyun zu nennen, daneben zum Beispiel auch das Buch A Dialogue of Civilizations: Gulen's Islamic Ideals and Humanistic Discourse von Jill Carroll. Im Rahmen der Religionswissenschaft entstand in Bochum die Dissertation von Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs – Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankengutes (Bonner Islamstudien), in Tübingen die Dissertation von M. Mustafa Akdağ, Der „Mensch des Dienstes“ bei Fethullah Gülen: Nachfolger des „vollkommenen Menschen“ in der islamischen Mystik? Diese Dissertation ist von großer Bedeutung, da sie einen umfassenden Überblick über Gülens Werke und seine Ideale vermittelt und insgesamt das türkische Schrifttum Gülens, seine Werke und Gedanken, behandelt. Aus einer christlichen Dialogperspektive könnten zum Beispiel die Titel Renewing Islam by Service. A Christian View of Fethullah Gülen and the Hizmet Movement von Pim Valkenberg und The Spirituality of Responsibility. Fethullah Gülen and Islamic Thought von Simon Robinson genannt werden.

Meine Einleitung zu dem vorliegenden Band ist lediglich ein Versuch, Lesern, denen die Person und das Denken Fethullah Gülens fremd ist, in seine vielfältige bzw. vielschichtige Ideenwelt einzuführen. Obwohl ich Gülen über 28 Jahre hinweg begleitet und mehr oder minder alle seine Audio- und Videokassetten sowie seine Schriften und Interviews verfolgt habe, stand auch ich zuweilen vor einer gewaltigen Herausforderung.

Das Hauptmotiv dieses gewagten Vorhabens lag darin, sowohl für die Mitwirkenden in der Hizmet-Bewegung als auch für unvoreingenommene Leser im deutschsprachigen Raum einen empathischen Einblick zu liefern. Seit dem sogenannten Staatsstreich im Sommer 2016 in der Türkei wird Herr Gülen in deutschsprachigen Medien hauptsächlich als Widersacher eines bestimmten Politikers wahrgenommen – eine vollkommen verzerrte Darstellung seiner Person. In diesem Buch kommt er hingegen bewusst als „Lehrmeister“1 – wie im türkischen Sprachgebrauch: Hodschaefendi – vor, der ca. 70 Bände für Intellektuelle und neugierige Leser verfasst hat. Was macht einen Menschen zum Lehrmeister? Die Anzahl seiner Bücher? Der Einfluss und die intellektuelle Reichweite seiner Gedanken? Die Vorbildlichkeit seiner Person? Die Leistung Gülens in Hinsicht auf eine tiefgründige Glaubenslehre ist nicht geringer als die von Meister Eckhart, dem mittelalterlichen Mystiker im Orden der Dominikaner, weshalb er den Titel Lehrmeister verdient.2

I. Kurzbiographie Fethullah Gülens

Familie

Der Gelehrte und Prediger Muhammed Fethullah Gülen wurde offiziell am 27. April 1941 in Pasinler, Erzurum (Türkei) als Sohn von Imam Ramiz Efendi und Hodscha-anne3 Refia Hatun geboren, das tatsächliche Geburtsdatum ist jedoch der 11. November 1938.4 Er hat insgesamt elf Geschwister. Der Vater Ramiz Efendi war ein Imam und der Großvater Şamil Ağa war eine sehr respektierte Persönlichkeit. Der Vater von Şamil Ağa, Molla Ahmed Efendi, der Sohn von Halil Bey, war aufgrund seiner Gelehrsamkeit und seines asketischen Lebens ebenfalls sehr bekannt. Mütterlicherseits ist Gülen Nachfahre von Seyyid Hamza; İsmail Hakkı Paşa (gest. 1897) und Gülens Großonkel Mehmet Şükrü Paşa (gest. 1916, bekannt als Schukri Pascha) waren im Osmanischen Reich bekannte Generäle.5

Bildungsweg

Lehrmeister Gülen lernte das Rezitieren und Lesen des Korans von seiner Mutter im Alter von vier Jahren. Aufgrund des aggressiven Laizismus in der Türkei der Zeit erfolgte der Unterricht im Geheimen. Seine Mutter pflegte Koraninteressierten den Koran beizubringen. Gülen lernte die arabische Sprache von seinem Vater. Er besuchte drei Jahre lang die staatliche Grundschule, die er aufgrund der Versetzung seines Vaters Ramiz als Imam nach Alvar, einem Dorf im Verwaltungsbezirk der Stadt Pasinler in Erzurum, unterbrechen musste. Später schloss Gülen seine grundlegende staatliche Schulausbildung mit zusätzlichen externen Prüfungen im Jahre 1954 ab.6

In Alvar lernte Gülen im Alter von zehn Jahren den Koran auswendig und verschönerte seine Koranrezitation durch den tedschwīd-Unterricht, den er von Hacı Sıdkı Efendi in Pasinler (ehem. Hasankale) erhielt, ein Ort, der in der Nähe von Alvar liegt. Alvar war ein Wendepunkt im Leben von Fethullah Gülen, denn dort lernte er den berühmten Lehrmeister, Imam und Dichter der Naqschbandi- und Qadiri-Sufi-Orden seiner Zeit, Muhammed Lutfi Efendi (gest. 1956), bekannt als Alvarlı Efe Hazretleri, näher kennen. Lehrmeister Alvarlı Efe konnte neben seiner Muttersprache Türkisch auch Gedichte in Arabisch, Persisch und Kurdisch verfassen. Die Liebe zur Dichtung sowie zur islamischen Mystik dürfte Gülen von seinem Lehrmeister Alvarlı Efe „geerbt“ haben.

Lehrmeister Alvarlı Efe hatte bereits im Jahre 1939 das Dorf Alvar verlassen und war in die Stadt Erzurum gezogen. Allerdings war Alvar der Geburtsort von Alvarlı Efe, und da er zwischen 1918 und 1939 in diesem Dorf als Imam und Sufi-Meister tätig war, pflegte er auch danach immer noch gute Kontakte zu den Dorfbewohnern. Gülens Vater Ramiz Efendi wurde nach Alvar versetzt, um die freie Stelle von Alvarlı Efe zu übernehmen. Die Familie Gülens waren Anhänger des Sufi-Lehrkreises um den Lehrmeister Alvarlı Efe.

Gülen reiste nach Erzurum, um in der Medrese der Kurşunlu Camii mit der Hilfe von Sadi Efendi, dem Enkelsohn des Lehrmeisters Alvarlı Efe, sein Arabisch zu verfeinern. Sadi Efendi, ein gut gebildeter Mensch ohne pädagogische Kompetenzen und etwa 5 Jahre älter als Gülen, wollte Gülen in der arabischen Sprache ganz von Anfang an unterrichten.7 Doch Gülen legte alle Prüfungen in zweieinhalb Monaten ab, u. a. über Molla Dschāmi, ein reputables Werk zur arabischen Philologie des persischen Sufis und Dichters Nureddin Abdurrahman Dschāmi – klassischer Prüfungsstoff der Medrese. Schließlich verließ er die Medrese von Kurşunlu Camii und zog in eine andere Medrese in der Nähe der Kemhan-Moschee um. Dort eignete er sich unter der Anleitung eines sehr berühmten Rechtsgelehrten, Osman Bektaş Hoca, umfassende Kenntnisse der islamischen Normlehre (fiqh) an.8

Während seines Medrese-Studiums begann er im Alter von 15 oder 16 Jahren, in den Sommerferien in Alvar und Korucuk zu predigen. Als Gülen 18 Jahre alt war, im Jahre 1956, starb sein Lehrmeister Alvarlı Efe in Erzurum. Im folgenden Jahr (1957) lernte er einen Schüler des berühmten Gelehrten Bediuzzaman Said Nursi (gest. 1960), Muzaffer Aslan, kennen. Er war von der Aufrichtigkeit und Bescheidenheit dieses Schülers sehr berührt und schloss sich dem Lehrkreis des Risale-i Nur an. Dies war ein weiterer wichtiger Wendepunkt, der mindestens so bedeutend war wie der Lehrkreis des Alvarlı Efe. Allerdings gelang es Gülen nicht Bediuzzaman Said Nursi persönlich zu begegnen. In Elazığ fand er einen spirituellen Lehrmeister des Qadiri-Sufi-Ordens, dessen Tekye er nach kurzer Zeit verlassen musste, weil seine Schüler Unannehmlichkeiten verursachten.

Auch die Situation an der Medrese von Kurşunlu war nicht besser. Die Studenten waren eifersüchtig auf den jungen Fethullah, weil der Lehrer Osman Bektaş Hoca ihm aufgrund seiner Intelligenz und Tugend besondere Beachtung schenkte. Das alles beunruhigte den jungen Fethullah und er sah sich gezwungen, Erzurum zu verlassen. Er wollte entweder nach Damaskus oder nach Kairo gehen, um sein religiöses Wissen zu vertiefen, allerdings ließ ihn seine Mutter nicht gehen und empfahl ihm, nach Edirne zu reisen, wo ein Verwandter von ihr, Imam Hüseyin Top Efendi, lebte.9 Im Jahre 1957 kam er zum ersten Mal nach Edirne. Nach einer Imam-Prüfung wurde er zum zweiten Imam der Üç-Şerefeli-Moschee ernannt. Zweieinhalb Jahre hielt sich Gülen in dieser Moschee am Fensterplatz in Askese auf und widmete sich dem Studium der Schriften des Risale-i Nur und der Bibliothek von Edirne.10 Im Jahre 1959 bestand Hodscha-efendi die Aufnahmeprüfung zum Mufti und Prediger mit Auszeichnung.11

Prediger und Gelehrter

Im Jahre 1960 kam der damalige Vizepräsident des Diyanet (Präsidium für Religionsangelegenheiten), Yaşar Tunagür Hodscha, nach Edirne und lernte Gülen kennen. 1961 kam Gülen seiner Militärpflicht nach: die Grundausbildung erhielt er in Mamak (Ankara) und im Anschluss wurde er als Funker nach Iskenderun eingeteilt. Er erkrankte während dieser Zeit und erhielt drei Monate Erholungsurlaub. So ging er zurück in seine Heimat Erzurum. Nach seiner Genesung kam er wieder nach Iskenderun und hielt mit besonderer Erlaubnis an Wochenenden Predigten. Schließlich wurde er aufgrund seiner Predigten disziplinarisch angeklagt, später aber freigesprochen und nur mit einer Ordnungsstrafe bedacht. Im Jahre 1963 hatte er seine Militärpflicht abgeleistet und kehrte wieder nach Erzurum zurück, wo er Predigten über Mewlana Dschelaleddin Rumi hielt. Gülen war einer der Gründer des Vereins für das präventive Entgegenwirken gegen den damaligen aggressiven und religionsfeindlichen Kommunismus in Erzurum. Zudem wurde er noch Mitglied des Volkshauses12 in Erzurum. Jene Volkshäuser wurden bereits von Mustafa Kemal Atatürk gegründet, galten aber in den Jahren von 1963 bis 1980 als Hort regierungsunabhängiger Bürgerinitiativen. Im Jahre 1964 kehrte Gülen nach Edirne zurück und fing an, in der Darul-Hadith-Moschee zu predigen. Im Jahre 1965 wurde er von der Diyanet als Hauptprediger in die Stadt Kırklareli geschickt. Nach einem Jahr (1966) wurde er nach Izmir versetzt und wurde Lehrer und Direktor an der Koranschule von Kestanepazarı (Kastanienmarkt). Im Jahre 1968 ging er zum ersten Mal als offizieller Beauftragter der Diyanet auf Pilgerfahrt. Als er zurückkam, wurde er von Ahmet Karakullukçu, dem ehemaligen Mufti von Izmir, empfangen. Damals gab es in Ankara Studentenwohnhäuser, in denen fromme Studenten zusammenwohnten. An diesem Abend versammelten sich einige Studenten aus der Risale-i-Nur-Bewegung und Gülen hielt dort ein Sohbet (regelmäßig stattfindender, freundschaftlicher Gesprächskreis). Karakullukçu war von diesen Studenten dermaßen berührt, dass er Gülen vorschlug, selbst auch solche Studentenwohnheime zu finanzieren. Kurz nach ihrer Ankunft in Izmir mieteten sie eine Wohnung, in der einige Studenten aus dem Kreis von Gülen unterbracht wurden. Die Mietanzahlung für ein Jahr wurde von Karakullukçu geleistet.

Fünf Jahre lang wirkte Gülen als Direktor und Lehrer in Kestanepazarı (1966–1971). Währenddessen bildete sich um ihn ein kleiner Kreis von Studenten, Unternehmern und Beamten. Gülen pflegte jeden Freitag in der Moschee von Kestanepazarı zu predigen und konnte an Wochenenden aufgrund seiner besonderen Befugnis für die ganze Ägäis-Region auch in den benachbarten Städten Westanatoliens predigen. Somit predigte er nicht nur in Izmir, sondern auch in Salihli, Turgutlu, Tire, Aydın, Muğla, Manisa, Afyon, Burdur und vielen anderen Städten der Ägäis. Eine Neuerung bei diesen Predigten war die Audio-Aufzeichnung. Seine Schüler hielten die Predigten auf Tonband fest und konnten sie somit in ihren engen Kreisen weiter verwerten. Gülen predigte eine Theologie der sozialen Verantwortung13 des Zusammenlebens. Im Gegensatz zu anderen Predigern sprach er fast immer systematisch, bereitete sich intensiv auf seine Reden vor und kündigte das Thema der Predigt eine Woche zuvor an, damit sich seine Zuhörer darauf vorbereiten konnten. Er beschränkte sich nicht nur auf einseitiges Predigen, er stellte in der Moschee auch eine Box für Fragen aller Art auf, die er jede Woche beantwortete.14 Dabei achtete er nicht darauf, ob die Frage religiöser Natur oder naturwissenschaftsbezogen war.15 Izmir, eine stark säkulare Stadt, hatte nicht viele Moscheebesucher, und die Bevölkerung tendierte nicht zur Religion, weshalb Gülen in die Kaffeehäuser ging und begann, dort Vorträge zu halten. Kaffeehäuser sind zumeist der Platz für die Sozialisation der Stadtbezirke und ähneln von ihrer sozialen Funktion her den deutschen Kneipen oder Bars, in denen Männer gerne ihre Zeit verbringen. Durch diese ungewöhnliche Entscheidung erweiterte sich der Kreis um Gülen.

Militärputsche

Im Jahre 1971 zog Gülen von seiner Holzhütte, in der er über vier Jahre lang gelebt hatte, in eine Wohnung in Izmir um. Kurz danach kam es am 12. März 1971 zum Militärputsch, der auch als „Memorandum vom 12. März“ bezeichnet wird. Gülen wurde im Rahmen eines Generalverdachtes verhaftet und nach sieben Monaten Haft wieder freigelassen. Nach seiner Freilassung wurde ihm vier Monate lang das Predigen verboten. Im Jahre 1972 wurde er neu als Hauptprediger in die Stadt Edremit eingesetzt, wo er zwei Jahre und vier Monate verweilte. Während dieser Zeit gelang es ihm, auf privater Basis Studentenwohnheime zu etablieren. Mit seinen Studenten verbrachte er während des Sommers intensive Lese- und Meditationsmonate, etwas, was er bereits im Jahre 1969 in Buca (Izmir) ins Leben gerufen hatte. Im Jahre 1974 wurde er als Prediger von Edremit nach Manisa versetzt. Hier blieb er auch ungefähr zwei Jahre. Im Jahre 1975 begann er, wissenschaftliche Vorträge zu halten, die als „Konferenzen“ bezeichnet wurden: Koran und Wissenschaft, soziale Gerechtigkeit, Darwinismus und die Goldene Generation waren einige der Themen seiner Konferenzen. Die Motivation hinter diesen Konferenzen war es, die Menschen außerhalb des Moscheekreises zu erreichen. So setzte er diese Serie fort und kam im Jahre 1977 nach Deutschland, um in Berlin, Frankfurt am Main, Hannover und München Vorträge zu verschiedenen gesellschaftsphilosophischen Themen zu halten. In jenem Jahr fing er auch an, in den großen Moscheen von Istanbul zu predigen. Zwei Jahre später begann er, Leitartikel für die Zeitschrift Sızıntı zu verfassen – u. a. ein Weg, um mit seinen Studentenkreisen zu kommunizieren. Das Konzept der Sızıntı war ihm ein Herzensanliegen, denn diese Zeitschrift für Wissenschaft und Kultur war keine Fachzeitschrift, sondern veröffentlichte Artikel aus jedem Wissenschaftszweig, sowohl geistes- als auch naturwissenschaftliche Texte.

Bereits im Jahr 1976 wurde Fethullah Gülen als Prediger nach Bornova (Izmir) entsandt. Diese Stellung hatte er bis zum nächsten Militärputsch im Jahre 1980 inne.

Im Zuge des Militärputsches vom 12. September 1980 erklärte man überall in der Türkei den Ausnahmezustand, und somit war es ihm de facto nicht mehr möglich zu predigen. Er meldete sich krank und wurde von der Diyanet als Prediger nach Çanakkale versetzt. Er stand auf der schwarzen Liste der Putschisten, weshalb er offiziell darum bat, in den Vorruhestand versetzt zu werden. Diesem Wunsch wurde zwar entsprochen, aber dennoch musste er vor der Regierung der Putschisten fliehen und zog bis 1986 in der Türkei von Ort zu Ort.

Im Jahre 1983 erfolgten Neuwahlen und das Volk wählte Turgut Özal als Ministerpräsidenten an die Spitze des neuen Parlaments. Der Anführer des Putsches, Kenan Evren, war mittlerweile Staatspräsident. Trotzdem war der Ausnahmezustand überall präsent, weshalb Gülen weitere drei Jahre nicht öffentlich in Erscheinung trat. Im Jahre 1986 wurde er in Burdur festgenommen. Im Laufe des langen Ermittlungsverfahrens wurde er nach Izmir gebracht. Dort wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt, weil es sich herausstellte, dass in Izmir gar kein Haftbefehl gegen ihn vorlag.

Gesellschaftliches Engagement

Am 6. April 1986 hielt Gülen nach langer Zeit bei der Eröffnung der Büyük-Çamlıca-Moschee (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen aktuellen Moscheebauprojekt in Istanbul) während der Nacht der Himmelfahrt des Propheten Muhammeds wieder eine Predigt. Dieses Ereignis markierte den Neubeginn seines gesellschaftlichen Engagements. Von nun an zeichneten seine Schüler seine Predigten in der Öffentlichkeit audiovisuell auf. Zwei Monate später ging er wieder nach Mekka auf Pilgerfahrt. Während er zur Pilgerfahrt in Mekka weilte, wurde ein Ausreiseverbot seitens der türkischen Behörden gegen ihn erlassen, was an und für sich gegenstandlos war, denn er befand sich mit Erlaubnis der Behörden im Ausland. Diese Situation bereitete ihm aber große Schwierigkeiten, und viele seiner Freunde baten ihn darum, er möge nicht mehr in die Türkei zurückkehren. Er galt nun als „flüchtig“ und musste außerhalb der erlaubten Zollgebiete in die Türkei einreisen, um seine Unschuld im Zusammenhang mit einem Strafverfahren gegen einen seiner Schüler, Mehmet Özyurt, beweisen zu können. Özyurt drohten bis zu 75 Jahre Haft aufgrund seines Studiums der Schriften von Bediuzzaman Said Nursi.16 Gülen kehrte über Syrien in die Türkei zurück und stellte sich der Kommandantur des Ausnahmezustands in Izmir. Seine Unschuld wurde festgestellt und er wurde freigelassen.

Im Juli 1988 rief er eine Fachzeitschrift für Theologie und Religion namens Yeni Ümit ins Leben, deren Leitartikel er verfasste. Im darauffolgenden Jahr fing er an, eine wöchentliche Serie von Predigten über das Leben des Propheten und die Philosophie der Prophetie zu halten, die über 62 Wochen (13. Januar 1989 – 16. März 1990) ohne Unterbrechung andauerte. In diesen Predigten behandelte Gülen den Propheten Muhammed im Hinblick auf seine facettenreiche Persönlichkeit. Diese Serie wurde als ein dreibändiges Literaturwerk namens Sonsuz Nur (Das unendliche Licht) veröffentlicht – gemeint ist der Prophet Muhammed und seine Sunna.

In jenen Jahren predigte er zudem in verschiedenen Moscheen von Istanbul und Izmir. Am 16. Juni 1991 beendete er seine Predigertätigkeit. Am 21. September 1991 nahm er an dem „Symposium für die ewige prophetische Berufung“ in Istanbul teil und hielt dort eine kurze Ansprache – sein letzter Auftritt vor einem großen Publikum.

Das Hauptmotiv, warum er ab 1991 keine öffentlichen Predigten mehr hielt, ist unbekannt. Einige vermuten, dass er seine Worte und Ratschläge als zu unzulänglich betrachtete, um das breite Publikum zu überzeugen. Andere wiederum vertreten die Meinung, die 50 000 bis 100 000 Menschen, die seinen Predigten in den Moscheen beiwohnten, hätten Ziel eines Terroranschlages werden können – er hätte ein Massaker an den Teilnehmern solcher Veranstaltungen befürchtet.

Treffen mit wichtigen Politikern

Im Jahre 1992 besuchte Gülen Australien. Im selben Jahr flog er in die USA und besuchte den türkischen Präsidenten Turgut Özal, der sich aufgrund einer Operation und anschließender Behandlung im Methodist Dallas Medical Center befand.17 Turgut Özal, kurdischen Ursprungs mit einer anatolischen Religiosität, war ein visionärer Staatspräsident, der wichtige Schritte für die Integration der Türkei in den Westen und die Etablierung der Demokratie eingeleitet hatte, dessen Ansehen allerdings durch die Korruptheit einiger seiner Familienangehörigen litt.18

Im Jahre 1993 verstarb Özal vermutlich aufgrund einer Vergiftung, und Gülen verfasste ein Kondolenzschreiben.19 Zwei Monate später starb die Mutter Gülens, Refia Hodscha-anne, in Izmir und er nahm an ihrem Totengebet teil. Das war ein schweres Jahr für den Lehrmeister, verlor er doch zwei wichtige Personen in seinem Leben, die aufgrund ihrer verantwortungsvollen Haltungen positive Rahmenbedingungen für sein Wirken schufen.

Obwohl Gülen in diesen Jahren nicht in der Öffentlichkeit sprach, setzte er seine privaten Sohbets an seinem Aufenthaltsort in Altunizade fort, und seine Studenten zeichneten sie auf Videokassetten auf. Zuweilen ging er in das FKM (Fırat-Kulturzentrum) und hielt mit kleinen Gruppen von Studentinnen und Studenten Konferenzen ab. Diese wurden ebenfalls aufgezeichnet.20 So gelang es ihm u. a., mit seiner Bewegung in Kontakt zu bleiben. Es kann durchaus gesagt werden, dass er von seiner ersten Predigt an bis heute zu den Menschen spricht, auch wenn sich die „Formate“ ständig änderten.

Ziviler Aktivist und öffentlicher Intellektueller

Der 29. Juni 1994 ist eines der wichtigsten Daten im Leben von M. Fethullah Gülen, denn an diesem Tag trat er als Ehrenvorsitzender der Stiftung für Journalisten und Schriftsteller (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfı) im Dedeman-Hotel in Istanbul auf. Er war nun nicht mehr nur Gelehrter, Imam oder Prediger, sondern ein ziviler Aktivist, Autor und Intellektueller, der sich öffentlich für die Etablierung des anatolischen Humanismus und der zivilen Demokratie einsetzte. In jenem Jahr organisierte die Stiftung ein Iftar-Essen (Fastenbrechen) für die Journalisten und Schriftsteller, und Gülen hielt während dieses Essens eine kurze, aber wichtige Rede.21

Nach dem Tode Özals hatte sich eine Koalitionsregierung mit der Mitte-rechts-Partei DYP und der linken Partei SHP gebildet. Tansu Çiller, Parteivorsitzende der DYP, wurde die erste Ministerpräsidentin der Republik Türkei. Gülen besuchte Frau Çiller sieben Monate nach der Gründung der Stiftung für Journalisten und Schriftsteller.

Im Jahre 1995 besuchte Gülen anlässlich des Kurbanfestes noch den sozialdemokratischen Außenminister Hikmet Çetin. Im selben Jahr besuchte er Bülent Ecevit, den Vorsitzenden der Demokratischen Linkspartei (DSP).

Interviews und soziales Engagement

Die Medien interessierten sich zunehmend für diesen „öffentlichen Intellektuellen“ und fingen an, ihn zu unterschiedlichen Gesellschaftsthemen zu befragen.22 Von 1994 an bis heute gibt Gülen Interviews in den Medien. Renommierte Zeitungen in der Türkei mit unterschiedlichen Weltanschauungen wie Sabah, Hürriyet, Zaman und Cumhuriyet interviewten ihn. Nicht nur die Zeitungen, auch das Fernsehen befragte ihn – sogar ein holländischer Sender. Einen Teil seiner Äußerungen in diesen Interviews kann man in diesem Buch nachlesen. Im Horizont dieses Medieninteresses stattete Gülen der Zeitung Milliyet einen Besuch ab und nahm als Zuschauer an traditionellen Ring-sportaktivitäten in Edirne, der Stadt seines Onkels, teil. Er begleitete die Hochzeit des prominenten Fußballspielers Hakan Şükür und initiierte ein Fußballspiel, dessen Einkünfte den Waisenkindern in Bosnien gespendet wurden.

Parallel zu diesen Entwicklungen machte die Hizmet-Bewegung große Schritte in Richtung Ausland. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnete die Bewegung eine erste Schule in der Autonomen Republik Nachitschewan.23 Dieser folgten weitere Schulen in Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan sowie in vielen weiteren zentralasiatischen Gebieten und anderen Ländern der Welt.

Im Jahre 1996 fing die Stiftung für Journalisten und Schriftsteller an, Preise für Dialog und Toleranz zu vergeben. Sie wählte ungeachtet der jeweiligen Weltanschauung, religiösen Überzeugung, Geschlecht oder Ethnie die wichtigsten Multiplikatoren der Gesellschaft aus, die zu einer eindeutigen Haltung von Dialog und Toleranz beitrugen.

Gülen verrichtete als Imam und Zivilaktivist das Totengebet von berühmten Persönlichkeiten wie dem sozialdemokratischen Abgeordneten Kasım Gülek und schrieb Kondolenzschreiben an die Angehörigen der wichtigsten Akteure des zivilen und politischen Geschehens. Er gab Interviews in Zeitschriften zu den Themen Bildung, Dialog und Islam. Im selben Jahr 1996 sprach er sowohl mit einer Zeitung (Trud) als auch mit einem Fernsehsender (Varna) aus Bulgarien.

Die Hizmet-Bewegung initiierte im Jahre 1996 noch die Gründung einer Bank namens „Asya Bank“. Vize-Premierministerin Tansu Çiller war bei der Eröffnungsfeier anwesend. Erdoğan – damals der Bürgermeister von Istanbul – war, wie Gülen, ebenfalls unter den Gästen.

Eines der wichtigsten Highlights dieses Jahres war die Eröffnung der Fatih-Universität in Istanbul, deren Gründung von der Hizmet-Bewegung initiiert worden war. Bei der Eröffnung waren Staatspräsident Süleyman Demirel, der Minister Riza Akçalı sowie zahlreiche andere Politiker anwesend.

Herr Gülen traf in jenem Jahr auch noch den griechisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I. Der Besuchswunsch war vom Patriarchat ausgegangen und Gülen war ihm gerne nachgekommen.24

Im folgenden Jahr, 1997, war das Interesse seitens der Medien kontinuierlich groß. Gülen wurde in diesem Jahr interviewt von

dem ultrakemalistischen Journalisten Tuncay Özkan von Kanal D,

dem linken Journalisten Yalçın Doğan von Kanal D,

der freien Journalistin Nevval Sevindi,

dem Journalisten Hakan Yavuz von der Milliyet,

der Journalistin Yasemin Çongar von der Milliyet,

dem Journalisten Henry Muller vom Time Magazine,

dem Journalisten Ali Aslan von der Zaman.

Interreligiöser Dialog

Aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme flog Gülen 1997 in die USA. Man führte eine Herzkatheteruntersuchung durch. Nach der Genesung blieb er eine Weile in einer Wohnung in New Jersey und empfing dort Abraham Foxmann von der ADL (Anti-Defamation League). Später traf er in New Jersey den Kardinal der römisch-katholischen Kirche John O’Connor. Anschließend kehrte Gülen in die Türkei zurück. Er empfing in Istanbul einige Vertreter des Vatikans, darunter Monseigneur Georges Marovitch, den Vorsitzenden der türkischen Bischofskonferenz in Istanbul.

Das traditionelle Iftar-Essen von 1997 war das Highlight des interreligiösen Dialogs. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei saßen Muslime, Juden und Christen an demselben Tisch zusammen und genossen das gemeinschaftliche Iftar-Essen.25 Anscheinend war das zu viel des Engagements für eine demokratische Türkei: Kaum einen Monat nach diesem historischen Fastenbrechen erklärte das türkische Militär einen postmodernen Putsch und intervenierte mit einem Memorandum des Generalstabs gegen die Regierung Necmettin Erbakan von der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi). Infolgedessen trat die Erbakan-Regierung nach vier Monaten zurück. Das Militär verbot die Koranschulen, forderte die Verminderung der Anzahl von Imam-Hatip-Schulen und strengte Verbote der Religiosität in der Öffentlichkeit an, beispielweise das Kopftuchverbot an den Universitäten. Diese und ähnliche Entwicklungen werden im Rahmen dieses Buches thematisiert, weil sie damals die Agenda bestimmten.

Trotz des Memorandums rissen im Jahre 1998 die Fernseh- und Zeitungsinterviews mit Gülen nicht ab. Eine vom Team des berühmten Fernsehjournalisten Mehmet Ali Birand vorbereitete Dokumentation über Gülen wurde im Show TV ausgestrahlt. Özcan Ercan von der Milliyet und der russische Fernsehsender ORT interviewten ihn ebenfalls. Zudem gab er während seines Besuchs im Vatikan gegenüber italienischen Zeitungen einige Statements ab.

Der Oberrabbiner der sephardischen Juden von Israel, Eliyahu Bakshi-Doron, besuchte Gülen bei der Stiftung für Journalisten und Schriftsteller in Istanbul. Gülen erhielt von vielen gemeinnützigen Einrichtungen in der Türkei Auszeichnungen. Gülen beschränkte sich nicht nur auf den interreligiösen Dialog, sondern förderte auch den intrareligiösen Dialog mit verschiedenen islamischen Strömungen wie den Aleviten. Er schickte eine Grußbotschaft an den Kongress der Ehl-el-Beyt, der am 26. Juni 1998 tagte.26

Besuch bei Papst Johannes Paul II.

Das Highlight des Jahres 1998 war zweifelsohne der Besuch beim Papst im Vatikan. Schon was im Vorfeld dieses Besuches geschah, ist erwähnenswert. Wie oben bereits angesprochen, begegneten sich Gülen und Bartholomäus I. im Jahre 1996. Gülen sprach mit ihm über die nachbarschaftlichen Beziehungen der Türkei mit Griechenland und betonte, wie sehr man auf gute Nachbarn angewiesen sei. Könnte man statt in die Waffenindustrie nicht in Bildung und das Gesundheitswesen investieren und den Frieden zwischen den Nachbarstaaten pflegen? Diese und ähnliche Äußerungen Gülens stießen in benachbarten Ländern wie Bulgarien und Griechenland auf ein positives Echo.

Der damalige Chefredakteur der Zeitung Zaman, Abdullah Aymaz, besuchte im Rahmen seiner Dialogreisen in Athen einen Journalisten, dessen Onkel ein Priester war. Dieser Journalist war von den Aussagen des Lehrmeisters dermaßen beeindruckt, dass er Aymaz anbot, die Hizmet-Bewegung und auch Gülen allgemein bekannt zu machen. Daraufhin wurden Briefe an religiöse Würdenträger verfasst, in denen die Ziele der Hizmet-Bewegung dargelegt wurden. Ein Brief wurde an den Dalai-Lama in Hüttenberg (Österreich), ein anderer an den damaligen österreichischen Kardinal Franz König und ein weiterer an den Vatikan adressiert. Aymaz reiste am 19. März 1997 in den Vatikan und überreichte den Brief persönlich.

Daraufhin übermittelte Papst Johannes Paul II. Gülen im Januar 1998 anlässlich des Ramadan-Festes eine Grußbotschaft. Diese Grußbotschaft überbrachte eine Gesandtschaft aus Ankara, der u. a der damalige Nuntius, Erzbischof Pier Luigi Celata, angehörte. Er war von der Arbeit der Hizmet-Bewegung überzeugt und schlug ein Treffen zwischen Gülen und Papst Johannes Paul II. vor. Eine offizielle Anfrage wurde verfasst und verschickt – allerdings musste Gülen in der Zwischenzeit erneut zur Behandlung seiner Herzerkrankung in die USA reisen. Als Gülen wieder in die Türkei zurückgekehrt war, bat die katholische Vertretung in Istanbul um eine erneute Anfrage, da die erste nicht mehr aktuell sei. Gülens Studentenkreis hielt diesen Besuchswunsch jedoch geheim, da sie nicht für Unruhe sorgen wollten.

Um das Prozedere zu erleichtern, bat der Vatikan lediglich um ein Fax. Der Studentenkreis bemerkte sehr spät, dass dieses Fax auch beim „Tiefen Staat“, im türkischen Geheimdienst, gelandet war. Gerüchten zufolge beschloss der Geheimdienst, Gülen zu ermorden, noch ehe er den Papst würde besuchen können; sie hatten Bedenken, dass ein solcher Besuch einer internationalen Anerkennung der Bewegung gleichkommen könnte.

Zwei Personen aus dem Studentenkreis von Gülen besuchten den Chefredakteur der Zeitung Hürriyet, Ertuğrul Özkök, berichteten über den bevorstehenden Besuch Gülens im Vatikan und sagten ihm, er könne eine entsprechende Kolumne am Tag des Besuchs veröffentlichen – nicht vorher. Die Nachricht erschien jedoch noch am selben Tag und Gülen erfuhr davon, als er schon am Flughafen war. Ihm wurde schon vorab zugetragen, dass er abermals Zielscheibe des Tiefen Staates sei und auf der Mordliste stehe. Gülen hatte bereits Ministerpräsident Bülent Ecevit darauf aufmerksam gemacht, dass er mit einigen Studenten den Vatikan besuchen werde. Gülen ersuchte die Zustimmung des Staates, um als ziviler Aktivist Papst Johannes Paul II. zu besuchen, denn er wollte nicht für Unruhe sorgen.

Am Flughafen nun war Gülen ziemlich aufgebracht, dass zwei seiner Studenten – wenn auch in guter Absicht – der Zeitung Hürriyet gegenüber den geplanten Besuch publik gemacht hatten; nun liefen sie Gefahr, dass Gülen noch vor dem Besuch beim Papst ermordet werden würde.27

Am 9. Februar 1998 besuchte Gülen schließlich den Papst in seiner Residenz im Vatikan. Bei diesem Besuch unterbreitete er dem Vatikan in einem Brief, den er eigens verfasst hatte, drei wichtige konkrete Vorschläge: 1. einen Studentenaustausch zwischen dem Vatikan und türkischen Universitäten; 2. die Gründung von drei theologischen Fakultäten (Judentum, Christentum und Islam) in Harran, an der die Studenten der abrahamischen Religionen Seite an Seite studieren könnten; 3. die Schaffung von Rahmenbedingungen, um abrahamischen Religionsangehörigen den Besuch von Jerusalem ohne Visumspflicht zu ermöglichen.28

Gülen im Fadenkreuz des „Tiefen Staates“

Im März 1998 überlebte Akın Birdal, der Präsident des Menschenrechtsvereins IHD, nur knapp einen Mordversuch, als zwei Attentäter im Büro des IHD auf ihn schossen.29 Der Auftragsmörder war ein Mitglied des türkischen Geheimdienstes.30 Nach dem Mordversuch gab er in den Medien lachend an, das ursprüngliche Ziel sei Fethullah Gülen gewesen.31 Der Studentenkreis von Gülen war daraufhin ziemlich beunruhigt, denn erst jetzt verstanden sie, dass Gülen tatsächlich in Lebensgefahr war.

Sie versuchten ihren Lehrmeister davon zu überzeugen, das Land zu verlassen und sich an einen sicheren Ort zu begeben. Er aber wollte die Türkei nicht verlassen und beharrte darauf, im Land zu bleiben. Da Gülen ihren Bitten kein Gehör schenkte, baten sie einige Personen, die Gülen besonders achtete, wie den ehemaligen Vizepräsidenten des Diyanet, Yaşar Tunagür, ihn zu überzeugen. Gülen weigerte sich trotzdem.

Am 21. März 1999, circa ein Jahr nach dem Mordversuch an Birdal, reiste Herr Gülen aufgrund seiner Herzkrankheit erneut in die USA. Man weiß nicht genau, ob er ahnte, dass für ihn in naher Zukunft keine Rückreise in die Türkei mehr möglich sein würde. Meinen Interviews und Recherchen zufolge hat ihn der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit angerufen und darum gebeten, die Türkei zu verlassen, wenn er am Leben bleiben wolle. Anscheinend konnte ihn lediglich Ministerpräsident Bülent Ecevit überzeugen – eine zivile Autorität, die um die Gefahr des Tiefen Staates wusste.

Aufruf zur Unterwanderung?

Am 18. Juli 1999, drei Monate nach Gülens Ausreise, tauchte eine zusammengeschnittene und manipulierte Rede auf, in der er sich angeblich für die Unterwanderung des türkischen Staates ausgesprochen habe.32 Wie bereits erwähnt, wurden die Sohbets von Gülen während seines Aufenthaltes in Istanbul von seinen Studenten in aller Öffentlichkeit aufgenommen. Diese Videokassetten waren keine geheimen Aufnahmen, die unter den Studenten kursierten. Der Startschuss für den Feldzug des Tiefen Staates gegen die Bewegung fiel mit der Berichterstattung von Ali Kırca, die am 18. Juli 1999 im Fernsehsender ATV ausgestrahlt wurde und in der ein aus dem Zusammenhang gerissenes, wahllos zusammengeschnittenes 4,5-minütiges Video gezeigt wurde.33 Gülen reagierte aus den USA in einem Interview mit Reha Muhtar auf diese Unterstellungen.34 Er erklärte nicht nur in diesem, sondern in vielen weiteren Interviews, dass Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren eigenen Staat gar nicht unterwandern könnten, schließlich steht verfassungsrechtlich jedem Staatsbürger ein gleichberechtigter Zugang zu öffentlichen Ämtern zu. Allerdings könnten Personen, die keine Bürger des Staates sind und nicht das Wohl des Landes, sondern ihr eigenes im Sinn haben, den türkischen Staatsapparat unterwandern.35

Die Hizmet-Bewegung konnte sich nun den Folgen des postmodernen Putsches nicht mehr entziehen: Das Staatssicherheitsgericht der Türkei erließ am 3. August 2000 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen; es drohte ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Der Prozess wurde im Zuge des postmodernen Staatsstreichs vom 28. Februar 1997 eingeleitet, der zumeist Multiplikatoren der religiösen Zivilgesellschaft, wie Prof. Dr. Mahmut Esat Coşan von der Gemeinschaft von Iskenderpaşa, im Visier hatte.

Gülens Leben in den USA

Mit seinem Umzug in die USA zog sich Gülen in das Retreat-Zentrum einer Stiftung zurück (Golden Generation Retreat Center), deren Vorsitzender Bekir Aksoy ist. Gülen mietete ein Zimmer in dem Gebäude an und pflegte die Speisekosten seiner persönlichen Gäste aus eigener Tasche zu begleichen. Er lebt bis heute von den urheberrechtlichen Vergütungen seiner veröffentlichten 70 Werke und spendete seine Pensionsgelder aus Ansprüchen seiner Berufstätigkeit als Imam einer bedürftigen Verwandten, die ein behindertes Kind versorgen musste. Nach dem angeblichen Putsch von 2016 strich die türkische Regierung seine Rente.36 2015 musste er aus Sicherheitsgründen sein ehemaliges Wohngebäude verlassen und in ein neues Gebäude umziehen, das auf dem Stiftungsgelände errichtet wurde.

Gülen äußerte sich auch nach seinem Umzug in die USA weiterhin in den Medien. Am 1. Dezember 2001 fing er zudem an, auf der Webseite www.herkul.org unter dem Namen „Kırık Testi“ (Zerbrochener Krug)37 Online-Sohbets zu veröffentlichen.

Amerikanische Hochschulen fingen an, Interesse an seiner Person und seinen Idealen zu zeigen und in Kooperation mit Dialogvereinigungen seiner Anhänger Konferenzen zu organisieren. Im Frühjahr 2001 tagte eine internationale Konferenz an der Georgetown-Universität in Washington mit TeilnehmerInnen aus den Sozialwissenschaften. Auf der anderen Seite waren gesundheitliche Probleme und rechtliche Fragen zu bewältigen. Im Jahre 2002 musste Gülen wegen einer Herzkrankheit stationär behandelt werden. 2002 und 2003 liefen in der Türkei in Abwesenheit Strafprozesse gegen ihn.38 2004 wurde er erneut am Herzen operiert und bekam einen Stent gesetzt. In den Jahren 2004–2008 lebte er zurückgezogen im Retreat-Zentrum. Am 12. November 2008 beschloss das Berufungsgericht (Yargıtay) die Einstellung des Verfahrens in der Türkei gegen ihn und bestätigte damit ein Urteil des Staatssicherheitsgerichts.

Am 11. Oktober 2010 votierte Gülen bei dem Referendum in der Türkei, in welchem über wichtige Verfassungsänderungen abgestimmt werden sollte, für Ja. Die Regierung Erdoğan versprach eine zivile Verfassung, deren Rahmenbedingungen durch die Beteiligung verschiedener Minderheiten in der Türkei und Rücksichtnahme auf deren Wünsche geschaffen werden sollten. Die Regierung hielt ihr Versprechen nicht ein. Nachdem Erdoğan als Sieger aus der Abstimmung hervorgegangen war, festigte er seine Macht im Staatsapparat weiter.