Keine Menschen, sondern ganz besondere Wesen... - Victoria Oldenburger - E-Book

Keine Menschen, sondern ganz besondere Wesen... E-Book

Victoria Oldenburger

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Beschreibung

Es hat lange gedauert, doch nach der Auflösung der Sowjetunion ist Ivan A. Bunin zunehmend in den Fokus der Literaturwissenschaft seines Heimatlandes gerückt. Wie ist es hierzulande? Puškin, Cechov, Dostojevskij – sie und viele andere russische Klassiker sind in der deutschen Slavistik heimisch, ihnen werden jedes Jahr aufs Neue zahlreiche Vorlesungen, Seminare und auch wissenschaftliche Arbeiten gewidmet. Bunin – wenn auch alles andere als ein Fremdwort für Russisten – bleibt aber nach wie vor etwas auf der Strecke, und mit ihm auch eines seiner berühmtesten Werke, der Erzählband Temnye allei. Victoria Oldenburger schließt diese Forschungslücke und widmet sich dem Werk des russischen Literaturnobelpreisträgers. Frauen sind Dreh- und Angelpunkt der darin enthaltenen Erzählungen, was Bunin seinerzeit von allen Seiten hauptsächlich negative Kritik einbrachte. „Writings full of a senile obsession with sex", brachte der Literaturwissenschaftler Renato Poggioli 1953 die Empörung vieler Kritiker wie Leser auf den Punkt. Heute sieht die Einstellung zu Temnye allei ganz anders aus, und der Band wird als herausragender Beitrag zur Thematisierung der Rolle der Frau in der ausklingenden Zarenzeit eingestuft. Eine facettierte Darstellung diverser weiblicher Figuren ermöglicht dem Leser einen Einblick in die Gedankenwelt des Autors, die er geschickt in eine passende Narration einzuflechten wusste. Eine genaue Analyse von Bunins Stil und der Bedeutung, die der Frau in seinem Werk zukommt, ist Gegenstand dieser Studie.

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Seitenzahl: 178

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

1. „Eщё никогда никем точно не определённые, ...“
2. Temnye allei: Interessantes zu Entstehung, Publikation, Reaktionen
3. Die Frau im ausklingenden Zarenreich
4. Unterwegs in dunklen Alleen: Auf der Suche nach dem Wesen der Frau
4.1 „Ballada“ (1938)
4.2 „Pozdnij čas“ (1938)
4.3 „Rusja“ (1940)
4.4 „Vizitnye kartočki“ (1940)
4.5 „Zojka i Valerija“ (1940)
4.6 „Tanja“ (1940)
4.7 „V Pariže“ (1940)
4.8 „Galja Ganskaja“ (1940)
4.9 „Genrich“ (1940)
4.10 „Natali“ (1941)
4.11 „‚Madrid’“ (1944)
4.12 „Cholodnaja osen’“ (1944)
4.13 „Voron“ (1944)
4.14 „Čistyj ponedel’nik“ (1944)
5. Eine Ode an die Frau
6. Quellen

1.„Eщё никогда никем точно не определённые, ...“

„... непонятые, хотя от началавековлюди только и делают, что думают о них.“(Bunin in Michajlov 2001: 17) Die Damen der Schöpfung bildeten eine Quelle der Faszination für den Mann, der von zahlreichen Literaturwissenschaftlern und -kritikern u. a. zum genialen Schriftsteller oder letzten russischen Klassiker erhoben wurde (vgl. Zin’ko 2009: 70; Cornwell 1998: 206). Er empfand das Wesen der Frauen als noch immer unbestimmt und vielleicht sogar letzten Endes unbestimmbar, und dadurch schien es ihn in seinen Bann zu ziehen. „Женщинавсегдаостаетсятаинственнойинепостижимой,непостожимыеехарактер,еелогика,инстинкт,еекапризы,причуды,переменчивостъ“ (Gejdeko 1987: 207), so seine Annahme, die zugleich als große Motivation für seine zahlreichen und vielfältigen Versuche, sich auf literarischer Ebene mit diesem Thema auseinanderzusetzen, diente. Doch zunächst ließe sich die Frage stellen: Wer war eigentlich der Mann hinter den vielen (fiktionalen) Frauen? Wer war Ivan Bunin?

„Моя писательскаяжизньначалась довольно странно[, ...]“(2006: 7), bemerkt Bunin intrigierend in seinen autobiographischen Aufzeichnungen,

когда я, мальчик лет восьми, вдруг почувствовал горячее, беспокойное желание немедленно сочинить что-то вроде стихов или сказки [...]: я увидал в [какой-то книжке] картинку, изображавшую [...] карлика с бабьим лицом, [...] а под картинкой прочёл подпись [...]: „Встреча в горах с кретином“. Кретин! В этом слове мне почудилось что-то страшное, загадочное, даже как будто волшебное! И вот охватило меня вдруг поэтическим волнением. В тот день оно пропало даром, я не сочинил ни одной строчки [...]. Но не был ли этот день всё-таки каким-то началом моего писательства? (ebd.)

Vielleicht handelte es sich bei derbebildertenInspirationsquelle ja um ein Buch über die Gegend, in der sich sein Geburtsort befand? Wie auch immer: Unweit der mittelrussischen Platte in der südrussischen Stadt Voronež geboren und auf eben jener in Orel aufgewachsen, hatte Bunin bereits als Kind damit begonnen, alles um sich herum aufmerksam zu beobachten, aufzunehmen und zu verarbeiten (vgl. Kirchner 1968: 4). So konnte er im Nachhinein u.a. auf den Erlebnisfundus seiner Kindheit zurückgreifen und die einst gewonnenen Eindrücke an passenden Stellen in seine Gedichte und Erzählungen einfließen lassen.

Da Bunin 1870 jedoch in ein wenn auch altadliges, so doch von der Verarmung nicht verschontes Geschlecht hineingeboren worden war, wurde er von Anfang an von finanzieller Unsicherheit begleitet und konnte es sich nicht erlauben, nach der Ausbildung ausschließlich als Schriftsteller zu arbeiten (vgl. ebd.: 3, 9). Er fand 1887 eine Anstellung bei einer Zeitungsredaktion und hatte unverhofft das Glück, einige seiner Gedichte im selben Jahr drucken lassen zu können. Zehn Jahre später konnte er seinen ersten Sammelband mit Kurzgeschichten veröffentlichen, „die in den Rezensionen der Zeitungen ein einstimmiges Lob erhielten“ (ebd.), und konnte in literarischen Clubs ein- und ausgehen sowie Kontakte zu bedeutenden zeitgenössischen Autoren aufbauen.

Essentiell war zunächst vorwiegend die Wirkung Ivan Turgenevs, den Bunin zwar nicht persönlich gekannt hatte, von welchem er sich aber in Sachen hingebungsvolleNaturschilderungeninspirieren ließ; und genauso wie sein Vorbild griff Bunin mit fortschreitendem Alter immer weniger auf Landschaftsbilder zurück, sondern verschob sie vielmehr in den Hintergrund und inszenierte vor den Naturkulissen tiefsinnige menschliche Schicksale (vgl. ebd.: 19f.).

Ein Prosaiker, den Bunin dagegen getroffen hatte und darauf zu seinen Freunden zählen durfte und der seinen Schreibstil nachhaltig prägen sollte, war Anton Čechov (vgl. ebd.: 14). „‚Ich hatte zu keinem Schriftsteller solche Verbindungen wie zu Čechov’“ (ebd.: 15), staunte Bunin, „die ganze Zeit hindurch gab es nicht ein einziges Mal eine Unfreundlichkeit.’“ (ebd.) Eine solch herausragende Freundschaft konnte nur fruchtbar sein: Sowohl die verdichtende und präzise beschreibende Schreibweiseseineself Jahre älteren Vorbildes als auch dessen Themen von „menschlicher Not, sozialerUngerechtigkeit und der Suche nach den inneren Gesetzen des Lebens“ (ebd.: 21) waren wegweisend für das Werk des werdenden Worteschmieds.

1899 lernte Bunin Maksim Gor’kijkennenund durfte zum Redaktionsmitglied seiner Zeitschrift „Novaja žizn’“ werden, die als Sprachrohr der sozialdemokratischen Internationalisten fungierte (vgl. ebd.: 17). Auch an der Herausgabe der Hefte von Gor’kijs Verlag „Znanie“ beteiligte er sich, und sein Arbeitgeber entwickelte eine zunehmend große Anerkennung für sein schriftstellerisches Talent. IneinemBriefanIvanBelousov(1911)lobteerBuninmitdenWorten: „А лучший современный писатель – Иван Бунин, скоро это станет ясно для всех, кто искренно любит литературу и русский язык!“(Gor’kij 1959: 103) Daher erwartete er später gerade von ihm einen aktiven Einsatz in der Politik und begriff nicht, warum sich Bunin dieser verweigerte.

„To your question – ‚Why do I oppose Bolshevism?’ – I reply that I am personally convinced that […] there has been nothing more vile, false, evil and despotic than this phenomenon.“(Bunin in Marullo 2002: 53) Bunin wurde manchmal vorgeworfen, dass er die Ideale des sowjetischen Staats nicht begreifen wollte und ihn ungerechterweise diffamierte und dass er stattdessen die zaristische Vergangenheit des Landes unnötig glorifizierte. Beides wurde vom Autor deutlich widerlegt. Er wusste die Probleme der ‚alten Zeiten’ in Worte zu fassen und genauso auch durchaus nachvollziehbar Kritik am neuen Régime zu üben – wohlgemerkt ohne dabei im Großen und Ganzen die ursprünglichen, propagierten Ideale der Sowjets in Frage zu stellen, sondern sie vielmehr als leere Worte zu enttarnen.

Ungleich vielen anderen Schriftstellerkollegen war er fähig, der Mythisierung ‚des russischen Volks’, das von den Dörflern verkörpert wurde, zu widerstehen, und legte keinen Wert darauf, das Leben auf dem Lande zu stilisieren und in beschönigende Worte zu kleiden (vgl. Grob in Bunin 2005: 220). Er wusste, unter welch armseligen und häufig grausamen Umständen dieses Leben ablief, und beschrieb dies schonungslos in Erzählungen wie „Suchodol“ oder „Derevnja“ – genauso kritisierte er darin auch das Verkommen der adligen Bevölkerungsschicht, die sich mit jedem Jahr weiter in den finanziellen Ruin trieb, da sie – nicht zuletzt durch buchstäbliches Degenerieren – ihre Lebensfähigkeit einzubüßen schien, in zunehmender Lethargie lebte und in Erinnerungen anbesagte‚alte Zeiten’ versank. Besondere Kritik findet bei Bunin die damit zusammenhängende altbekannte‚russische Krankheit’: eine verhängnisvolle Mischung aus Einfalt und Lethargie mit der Folge einfach nur auf Wunder zu hoffen und zu warten anstatt selbst aktiv zu werden und sein Möglichstes für die Lösung von Problemlagen zu tun (vgl. ebd.: 221).

Die bolschewistische Ideologie brachte Bunin zwar einerseits aus rein nostalgischen Gründen zur Verzweiflung, weil sie die ihm vertraute Welt aus den Angeln hob (vgl. Grin 1977: 7). Doch der eigentliche Grund für seinen Unmut und Frust lag in „хамство, грубость, насилие, выплывшие вместе с революцией“ (ebd.). Die Lüge hinter dem Versprechen einer ‚schönen neuen Welt’ und das provokative Verhalten eines (zu großen Teilen aus dem sog. Lumpenproletariat, d.h. Subjekten der untersten Gesellschaftsschicht wie ehemaligen Gefängnisinsassen, Landstreichern etc. bestehenden) Volkes, das zunächst mit unerschütterlichem Enthusiasmus und Glauben an dieser Lüge festhielt und im Zuge dieser z.T. unaussprechbare Dinge verrichtete, waren ihm ein Gräuel. Die Roten Garden sind ein nur zu gutes Sinnbild: Ihr ‚Kampf’ für die Ideen der Oktoberrevolution artete oftmals in unkontrollierter Gewalt aus, denn sie ließen es sich nicht nehmen, mit den ihnen zur Verfügung gestellten Waffen und dem Auftrag der kommunistischen Ideologie den Weg freizumachen ihre russischen Mitbürger zu terrorisieren. Selbstjustiz üben, ausrauben, vergewaltigen, foltern, töten – allesamt Aktionen, die auf der grausamen Tagesordnung standen und Teil deskrasnyj terrorwaren. Buninnahm jede Gelegenheit wahrdies hervorzuheben, so u.a. in seinem RevolutionstagebuchOkajannye dni. Er kritisierte die Darstellung der Revolution als ‚Elementargewalt‘, wie die Bolschewiken sie oft zu bezeichnen pflegten, und betonte „die Unsicherheit und Hilflosigkeit der neuen Führer und diewirklicheElementargewaltder unkontrollierten Zerstörung, die sich in Plünderungen, Erschießungen, Judenpogromen äußert[e], die in wechselnden Namen und jenseits großer politischer Ideen verübt“ (Grob in Bunin 2005: 222) wurden. Als bedenklich hob Bunin dabei auch die Propagierung des ‚novyj čelovek’ hervor: „Was wurde [...] für Lenin mit seiner RKP [...] als ‚Waffe’ gebraucht? Es wurde die ‚Fabrikation von Menschen mit materialistischem Denken, mit materialistischen Gefühlen’ gefordert“ (in Kirchner 1968: 23), also von Menschen, die nur Materie als Ursache all dessen, was in ihrer Realität geschieht, betrachten und alles darüber Hinausgehende strikt negieren.

Er fand für sich keinen Platz in dieser sich neu formierenden Welt und sah sich daher gezwungen im Jahre 1920 zu emigrieren. Seine bisherigen Auslandsfahrten hatten den reiselustigen Schriftsteller jedoch immer wieder zurück in seine Heimat geführt – diesmal verließ er diese zusammen mit seiner dritten und letzten Frau Vera Muromceva-Bunina für immer (vgl. Grin 1977: 7; Kirchner 1968: 16). Die letzten 33 Jahre seines Lebens verliefen im französischen Exil. Zunächstkamensie in Paris bei Freunden unter, 1923zogensie nach Grasse in die Villa ‚Belvedere’, wo sie immer wieder Gäste – zumeist Schriftsteller – beherbergten und so aus ihrem Haus eine Art kulturellen Treffpunkt machten, denn Bunin sehntesich nach ständigem menschlichemKontakt und Austausch mit anderen russischen Emigranten, da er immerwährendgegen„homesickness and despair“ (Marullo 2002: 1; vgl. Grin 1977: 8, 10)ankämpfte. Genauso bereitete ihm die Frage nach dem Bewahren der klassischen russischen Literatur Sorgen, denn losgerissen von Russland und dem permanenten Kontakt zu anderen Kollegen sowie unter dem „loss of group identity“ (Marullo 2002: 15) leidend, hatte er wiederholt Schwierigkeiten seinen Weg zurück zu einer fruchtbaren schriftstellerischen Tätigkeit zu finden und den Sinn in seinem Schreiben zu erkennen.

Wenig hilfreich waren dabei jene, die ihn lasen und Kritik übten. Ob Schriftsteller, Kritiker oder gewöhnliche Leser – ein erschreckend großer Teil von ihnen verirrte sich in negativen Be- oder vielmehr Verurteilungen seines Schaffens (vgl. ebd.: 25). Ihrer Meinung nach fanden sich darin lebensfeindliche Elemente, eine dürftige Portion Kreativität, eine emotionsarme, rein beschreibende narrative Art. Überhaupt würde er lediglich seine illustren Vorgänger nachahmen ohne sich durch individuelles Schreibtalent hervorzutun. Nicht viele seiner Kritiker erkannten in ihm einen scharfen Beobachter und Rebellen innerhalb der neuen literarischen Strömungen, der es sich nicht nehmen ließ, weiterhin an klassischen Themen und Techniken festzuhalten und diese auszufeilen. Filigran, prägnant in ihrer Darstellung, unverblümt und zugleich authentisch ästhetisch waren die Bilder, welche er dem Leser in seinen Geschichten zeichnete; dabei hoben die Kritiker auch oftmals „their love for Bunin’s pagan sensuosness, the loving tenderness with which his eyes, ears, and hands caressed nature“ (ebd.) hervor.

Das Nobel-Komitee schien diese Ansichten im Nachhinein auch zu teilen, denn 1933, nach einigenJahrendes Wartens, Hoffens und Enttäuscht-Werdens, wurde der Nobelpreis für Literatur zum ersten Mal einem russischen Schriftsteller zugewiesen – Ivan Bunin (vgl. Grin 1977: 10).„Мой всегда тихий [...] дом [...] ярко освещен сверху донизу. Исердцеуменясжимаетсякакою-тогрустью...“ (2006: 178), gesteht Bunin, als er daran zurückdenkt, wie er nach einem unwirklich erscheinenden Anruf aus Schweden nach Hause kommt. „Какой-то перелом в моей жизни...“ (ebd.) Das Ereignis, auf welches er und seine Frau Vera schon so lange gewartet hatten, traf ein und rief in ihm widersprüchliche Gefühle hervor: Aufregung und ein seltsam banges Gefühl lieferten sich in seinem Inneren einen heftigen Kampf, wobei Letzteres zunächst zu überwiegen schien:

Посетители, число которых все возрастает, так что лица их все больше сливаются передо мною, со всех сторон жмут мне руки, [...] фотографы ослепляют меня магнием, чтобы потом разнести по всему свету изображение какого-то бледного безумца,журналисты наперебой засыпают меня допросами...(ebd.: 179)

Es fiel ihm nicht leicht, dieser abrupten und unerwartet eingetretenen Veränderung in seinem Leben mit reiner Euphorie zu begegnen, doch bei der Preisverleihung genoss er die feierliche Atmosphäre und äußerte seinen großen Dank ob der Auszeichnung, die man ihm zuteilte, v.a. angesichts der Tatsache, dass „впервые со времени учреждения Нoбелевской премии [они] присудили ее изгнаннику. Ибо кто же я? Изгнанник, пользующийся гостеприимством Франции“ (ebd.: 184).

Bunin schien allerdings zugleich unbewusst geahnt zu haben, dass der Preis auch Belastungen mit sich bringen würde. Finanziell gesehen hatte sich seine Lage nun fürs Erste gebessert (wenn auch nicht für lange, da das Geld – u.a. auch aufgrund der Unterstützung anderer Bedürftiger in seinem Freundeskreis – schnell aufgebraucht war), doch der Trubel um seine Person nahm eine für ihn unangenehme Form an. Er ging davon aus, dass er mit dem Preis das Image der russischen Emigranten aufgebessert und ein Zeichen gesetzt hatte: Die angebliche Überlegenheit proletarischer Literatur und des sozialistischen Realismus wurde widerlegt,und „the creative and ethical voice of an exiled writer working far from his homeland [was legitimated]“ (Marullo 2002: 2). Dies ließ ihn auch entsprechend in den Augen vieler russischer Emigranten als Erlöser erscheinen, weil seine plötzliche Berühmtheit Licht in ihre schriftstellerische Tätigkeit brachte und ihnen Hoffnung gab (vgl. ebd.: 10). Die Mission klassische russische Literatur aufrechtzuerhalten und zu nähren, mit der Zeit verschwommen und verblasst, nahm mit einem Mal wieder klarere Konturen an und rückte erneut stärker ins Bewusstsein.Das war jedoch nicht genug.

Emigré elites demanded that Bunin and his wife [...] exemplify what they saw as the best of “patriarchal” Russia.[The] couple should emphasize past wealth and elegance to offset present disorientation and despair. To the citizens of the world, they should project the resurrected aura of a post-Bolshevik homeland.(ebd.: 3)

Man sehnte sich verzweifelt nach einer Leitfigur, einem ‚Kulturbotschafter’, der eine fast schon absurd königlich erscheinende Position einnehmen sollte, indem er sich elegant einrichtete, im Namen der emigrierten Intelligencija Empfänge für Ausländer ausrichtete, in der Welt umherreiste und die Gemeinschaft der russischen Emigranten repräsentierte. Als der Zweite Weltkrieg einsetzte, ließen diese Forderungen nach, doch sie hinterließen bei Bunin ein Gefühl seelischer Belastung und Bedrückung, weil er nicht bereit war, diesen plötzlich aufgekommenen und in ihren Ausmaßen extravagant anmutenden Ansprüchen gerecht zu werden.

Ein Problem, das ihm 1946 zu schaffen machte, war die Möglichkeit als russischer Emigrant die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erlangen und/oder ins Heimatland zurückzukehren (vgl. ebd.: 23). Erneut fand sich Bunin (der 1945 wieder nach Paris gezogen war) in einer Situation wieder, die bei ihm entgegengesetzte Gefühle hervorrief. Einerseits hatte er nie aufgehört, sich nach russischem Boden zu sehnen, sodass er es kurzzeitig in Betracht gezogen hatte, wieder zurückzukehren. Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch vor dem Hintergrund seiner zunehmend elenden Lebenslage in Frankreich: Die Armut, mit der er tagtäglich zu kämpfen hatte und die es ihm schwer machte, an Lebensmittel und Medizin zu kommen, schwächte ihn und nahm ihm die Kraft den Bolschewiken so zu widerstehen wie er es zuvor getan hatte. Doch andererseits behagte ihm nicht, dass er, einst im ehemaligen Russland angekommen, nicht mehr die schöpferische Freiheit haben würde, die er im Exil für sich beanspruchen konnte (vgl. ebd.: 24). Auch war er sich dessen bewusst, dass er sich früher oder später mit seinen sowjetischen Mitbürgern anlegen und erhitzte Diskussionen über sozialpolitische Anschauungen führen würde, die nur in Zwietracht und Frust enden würden. Ein ruhiges Leben wäre ihm dort nicht beschieden.

Ivan Bunins letzte Jahre in Paris verliefen in einem Wechsel depressiver Stimmungen und plötzlicher Momente alter Frische und jugendlicherjoie de vivre(vgl. ebd.: 26f.). Ihn quälte sein Lebenszustand – Armut, Isolation, Langeweile, Krankheiten, Alter und das nahende Ableben – bis zur äußersten Verbitterung. Auch Angst wurde zu seinem ständigen Begleiter: Angst vor dem Verlust seiner Fraudurch deren Ableben, Angst vor Feinden seines Werks, Angst vor Gelehrten und Biographen, die sein Leben und Schaffen falsch interpretieren und entsprechendinkorrektdarstellen könnten.Zugleich „Bunin did fight off poverty, sickness, old age, and death with gusto and verve. […] When [he] was feeling feisty and spry, he refused to look, act, or feel his age. [… H]e lost his wrinkles, stood erect, and walked with a lively gait” (ebd.: 27).Gefangen in diesem Kampf der Emotionen, wurde der Schriftsteller schließlich schwer krank und verstarb im Alter von 83 Jahren in Paris (vgl. Trottenberg in Bunin 2005: 257).

Die Auszeichnung dieses gezwungenermaßen‚selbstverbannten‘eigenwilligen Schriftstellers mit dem Nobelpreis ist nachvollziehbar, denn Ivan Bunin war ein Kuriosum unter den Autoren seiner Zeit.Wie Woodward schreibt, unterschied er sich von ihnen „by his apparent immunity to both the literary and the political pressures of his time and by the persistence with which he steered his completely solitary course of development.“(1980: ix) Aus diesem Grund schrieb er von der Zeit, in der er sich wohl gefühlt hatte, einer Zeit, die von seinen literarischen Mitstreitern in der Heimat nicht längerpositivbehandeltbzw. gänzlich ignoriertwurde, nämlich der Periode des „alte[n] ‚heiligen’ Russland [...], dessen versunkene Welt [er] in ihrem Glanz und ihrer Größe, aber auch in ihrer Schwäche zeichnete.“ (Munzinger) Sein demonstratives Beharren auf ungewöhnlichen Themen erstreckte sich auch auf seine literarische Zuordnung, denn er bestand darauf, keine zu haben, also weder als Romantiker noch als Symbolist noch als Realist etc. bezeichnet zu werden (vgl. Cornwell 1998: 206).

Sein essentielles Instrument, die von ihm verwendete Sprache bzw. Ausdrucksweise, fungierte in dieser Angelegenheit als eine Art Statement, welches jeglichen Kategorisierungsversuchen nachdrücklich zu trotzen schien, sodass Kritiker alles in allem auch heute noch Bunin keiner konkreten Literaturströmung zuzuordnen wissen.Cornwell bietet hierzu eine recht treffende Beschreibung: „He fostered a precise and loving treatment of language, tended to think in images, possessed phenomenal descriptive powers and conveyed atmosphere and the passage of time with remarkable verbal economy.“(ebd.) Mit dieser Sprache beschrieb er die Natur als Verkörperung der Gesetze, welche seiner Meinung nach unsere Existenz bestimmen und dem Menschen somit keine wirkliche Freiheit über seine Entscheidungen lassen(vgl. Woodward 1980: 21, 23). Bei all seiner (ihm bewussten) Außergewöhnlichkeit erlaubte Bunin es sich zwar, regelmäßig andere Schriftsteller seiner Schaffensperiode zu kritisieren, doch zugleich war er nicht darauf bedacht, „выставля[ть]своейкандидатурынароль‚духовноговождя’, ‚властителядум’, ‚общественнойсовести’илидажепростолюбимцапублики.“ (Stepun 1934)

Die Erforschung des nachrevolutionären Werks von Ivan Bunin hat aufgrund seiner Inkompatibilität mit den sowjetischen Anforderungen spät begonnen und ist v. a. im Westen im Vergleich zu den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen anderer russischer Autoren noch ausbaufähig. Man konzentriert sich bei seinem Schaffen hauptsächlich auf die Analyse und Interpretation der Themengebiete Volk (v. a. Bauern, Landadel und deren Verfall), Natur, (leidenschaftliche, unglücklich endende) Liebe, Tod sowie Mystisches (wobei dies sicher nicht zuletzt von Bunins Eigenkategorisierung des Großteils seines Werks abhängen könnte, welche ähnlich ausfiel; vgl. Bunin in Reese 2003: 65).

Somit fällt auf, dass ein zentrales Thema, welches Bunin sein Leben lang beschäftigt hat, nicht auf Interesse zu stoßen scheint; dabei äußerte und betonte er mehrmals seine zu Anfang erwähnte Faszination gegenüber dem Wesen der Frau und tat dies nicht zuletzt in Form einer Vielzahl von Werken, in denen er sich ihm und seiner Mannigfaltigkeit auf unterschiedliche Weise anzunähern und es zu begreifen versuchte (vgl. Reese 2003: 213). Bunin strebte danach, Empfindungen, Gedankengänge und Handlungsweisen von Frauen sowie deren Auswirkungen auf ihre Umgebung (v. a. Männer) nachzubilden. Hierfür versuchte er sich in Kindermädchen, Prostituierte und Kaufmannstöchter gleichermaßen hineinzuversetzen und schlussendlich ein breites Spektrum an unterschiedlichen weiblichen Figuren zu behandeln.

Eine große Motivation für seine Auseinandersetzung mit der Frau stellte der bisherige literarische Umgang mit ihr dar:

Часто думаю с удивлением и горем, даже ужасом [...] о той тупости, невнимательности, что была у меня [...] к женщинам. То дивное, несказанно-прекрасное, нечто совершенно особенное во всем земном,что есть тело женщины, никогда не написано никем. Да и не только тело.Надо, надо попытаться. (Bunin in Reese 2003: 215)

Eserwecktden Anschein, als hätte Bunin in der bisherigen (ihm bekannten und vermutlich als russisch zu deutenden[1]) Literatur keine ihn zufriedenstellenden, adäquaten Darstellungen der Frauenthematik gefunden und sich auch und vielleicht sogar gerade dadurch dazu herausgefordert gefühlt, sich ihr ausführlich zu widmen. Das Ergebnis dieses seines Herzensanliegens ist der ErzählbandTemnye allei, verfasst in der Zeit 1937–1949. Nun wäre es vor zuvor beschriebenem Hintergrund interessant, Bunins spezieller Leidenschaft nachzugehen und sie durch eine analytische sowie interpretatorische Betrachtung diverser im Band beschriebener Frauentypen nachzuverfolgen: mit dem Vorhaben, die Faszination des Autors nachzuvollziehen und sie in erklärende Worte zu kleiden.

Dazu soll in dieserArbeitwie folgt vorgegangen werden: Nach einer kurzen Vorstellung des Erzählbandes (Entstehung, Inhalt, Publikation, Reaktionen in der Sowjetunion und im westlichen Ausland) sollen Protagonistinnen aus 14 der insgesamt 38 Kurzgeschichten zum Gegenstand einer Analyse und Interpretation werden. Die Wahl der Erzählungen wurde mithilfe eines Briefes vom 12.10.1952 (ein Jahr vor dem Tod des Autors) an Fedor Stepun getroffen, in welchem Ivan Bunin 16 chronologisch aufgelisteten Geschichten besondere Priorität zuwies: „‚Ballada’, ‚Pozdnij čas’, ‚Rusja’, ‚Vizitnye kartočki’, ‚Zojka i Valerija’, ‚Tanja’, ‚V Pariže’, ‚Galja Ganskaja’, ‚Genrich’, ‚Natali’, ‚>Madrid<’, ‚Železnaja Šerst’’,‚Cholodnaja osen’’, ‚Voron’, ‚Čistyj ponedel’nik’ sowie ‚Časovnja’.“ (Reese 2003: 101)Da die Länge dieser Arbeit es nicht erlaubt, sich aller Erzählungen anzunehmen, werden, Bunins Urteil folgend, die von ihm besonders geschätzten Kurzgeschichten behandelt – mit Ausnahme von „Železnaja Šerst’“ und „Časovnja“, da darin keine ausreichend ausführlich beschriebenen weiblichen Figuren vorkommen. Die Methodik der Figurenanalyse ist dabeian folgende Leitpunkte angelehnt, die eine detaillierte Erschließung der Charaktere ermöglichen sollen