Flucht aus Lager 14 - Blaine Harden - E-Book

Flucht aus Lager 14 E-Book

Blaine Harden

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Beschreibung

Ein schockierender Bericht aus der Hölle eines Gefangenenlagers in Nordkorea

In Nordkorea existieren Straflager von unbeschreiblicher Brutalität, und doch sind sie kaum bekannt. Unter den wenigen Zeugenberichten, die es überhaupt gibt, ragt die Geschichte von Shin Dong-hyuk heraus: Als Kind zweier Häftlinge wird er in Lager 14 geboren, einem der Lager, aus dem nie jemand entlassen wird. Nachdem er 23 Jahre in dieser Hölle überlebt hat, gelingt ihm wider aller Wahrscheinlichkeit die Flucht. Shins Bericht, ergänzt um zahlreiche bewegende Fotografien, ist das berührende Zeugnis eines ungewöhnlichen Schicksals und eines unmenschlichen Lagersystems zugleich. Nicht zuletzt ist das Buch ein Appell an die Welt, nicht länger wegzuschauen.

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Seitenzahl: 365

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Blaine Harden

Flucht aus Lager 14

Die Geschichte des Shin Dong-hyuk, der im nordkoreanischen Gulag geboren wurde und entkam

Aus dem Englischen von Udo Rennert

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Escape from Camp 14. One Man’s Remarkable Odyssey from North Korea to Freedom in the West« bei The Viking Press, einem Verlag der Penguin Group, USA.

Copyright © 2012 Blaine Harden

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe

Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

In Kooperation mit dem SPIEGEL-Verlag, Hamburg

Lektorat: Jörn Pinnow, Minden

Karten: Peter Palm, Berlin

Typografie und Satz: Brigitte Müller/DVA

Umschlaggestaltung Büro Jorge Schmidtunter Verwendung von Motiven von Rupert Scheele; Engstfeld Film GmbH, Köln

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-09077-7V003www.dva.de

Für die Nordkoreaner, die noch in den Lagern sind

Es gibt keine »Menschenrechtsfragen« in diesem Land, da hier jeder das würdigste und glücklichste Leben führt.

[North] Korean Central News Agency, 6. März 2009

Inhalt

VORWORT

Ein eindrücklicher Augenblick

EINLEITUNG

Im Lager hörte er nie das Wort »Liebe«

KAPITEL 1

Der Junge, der seiner Mutter das Essen wegaß

KAPITEL 2

Schultage

KAPITEL 3

Die Spitze der Gesellschaft

KAPITEL 4

Shins Mutter versucht zu fliehen

KAPITEL 5

Shins Mutter versucht zu fliehen, zweite Version

KAPITEL 6

Dieser Hundesohn will nicht

KAPITEL 7

Die Sonne scheint sogar auf Mauselöcher

KAPITEL 8

Shin sieht seiner Mutter nicht in die Augen

KAPITEL 9

Ein reaktionärer Hundesohn

KAPITEL 10

Auf der Baustelle

KAPITEL 11

Eine ruhige Zeit auf der Farm

KAPITEL 12

Ein Missgeschick

KAPITEL 13

Die Entscheidung, nicht mehr zu denunzieren

KAPITEL 14

Vorbereitungen

KAPITEL 15

Der Zaun

KAPITEL 16

Diebstahl

KAPITEL 17

Der Weg nach Norden

KAPITEL 18

Die Grenze

KAPITEL 19

China

KAPITEL 20

Asyl

KAPITEL 21

K’uredit K’adus

KAPITEL 22

Südkoreaner sind nicht besonders interessiert

KAPITEL 23

Die Vereinigten Staaten

NACHWORT

Kein Entrinnen

ANHANG

Die zehn Gesetze des Lagers 14

1. Versuche nicht zu fliehen.

2. Es dürfen niemals mehr als zwei Häftlinge beieinanderstehen.

3. Du sollst nicht stehlen.

4. Den Wärtern ist bedingungslos zu gehorchen.

5. Wer eine flüchtende oder verdächtige Gestalt sieht, ist verpflichtet, sie umgehend anzuzeigen.

6. Die Häftlinge müssen sich gegenseitig beobachten und jedes verdächtige Verhalten unverzüglich anzeigen.

7. Die Häftlinge müssen mehr tun, als die täglich zugeteilte Arbeit zu verrichten.

8. Außerhalb des Arbeitsplatzes ist eine Mischung der Geschlechter aus persönlichen Gründen nicht erlaubt.

9. Die Häftlinge müssen ihre Fehler aufrichtig bereuen.

10. Häftlinge, die die Gesetze und Regeln des Lagers verletzen, werden unverzüglich erschossen.

Dank

BILDTEIL

VORWORT

Ein eindrücklicher Augenblick

Seine erste Erinnerung ist die an eine Hinrichtung.

Er ging mit seiner Mutter zu einem Weizenfeld in der Nähe des Flusses Taedong, auf dem die Wärter mehrere tausend Häftlinge zusammengetrieben hatten. Aufgeregt wegen der großen Menschenmenge, krabbelte der kleine Junge durch die Beine der Erwachsenen nach vorn zur ersten Reihe, von wo aus er mit ansah, wie die Wärter einen Mann an einen Pfahl banden.

Shin In Geun war vier Jahre alt, zu jung, um die Rede zu verstehen, die vor der Hinrichtung gehalten wurde. Bei Dutzenden solcher Exekutionen in den folgenden Jahren hörte er die Worte eines kommandierenden Wärters, mit denen dieser den Anwesenden mitteilte, dass der zum Tod verurteilte Häftling die Chance gehabt habe, durch harte Arbeit »erlöst« zu werden, dieses großzügige Angebot der nordkoreanischen Regierung jedoch abgelehnt habe. Um den Häftling daran zu hindern, den Staat, der ihm gleich das Leben rauben würde, zu verfluchen, stopften die Wärter seinen Mund mit Kieselsteinen und zogen ihm eine Kapuze über den Kopf.

Bei dieser ersten Hinrichtung sah Shin drei Wärter, die ihre Gewehre anlegten. Jeder feuerte dreimal. Das Krachen der Schüsse erschreckte den Jungen so heftig, dass er rücklings auf den Boden fiel. Doch kam er gerade noch rechtzeitig wieder auf die Beine, um mit anzusehen, wie die Wärter den blutigen Toten vom Pfahl lösten, in eine Decke hüllten und auf einen Karren legten.

Im Lager 14, einem Arbeitslager für die sogenannten politischen Feinde der nordkoreanischen Regierung, waren Ansammlungen von mehr als zwei Häftlingen verboten, außer bei Hinrichtungen, bei denen alle Häftlinge zugegen sein mussten. Für die Leiter des Arbeitslagers waren die öffentlichen Hinrichtungen ein geeignetes Mittel, um allgemein Furcht einzuflößen.

Shins Wärter im Lager waren seine Lehrer – und seine Züchter. Schließlich hatten sie seine Mutter und seinen Vater zusammengeführt. Sie brachten ihm bei, dass Häftlinge, die gegen die Vorschriften des Lagers verstießen, den Tod verdient hatten. Auf einer Anhöhe in der Nähe seiner Schule hatte man eine große Inschrift angebracht: »Alles nach den Regeln und Vorschriften«. Der kleine Junge lernte die Regeln des Lagers, »die zehn Gebote«, wie er sie später nannte, auswendig und kann sie auch heute noch aufsagen. Die erste lautete: »Jeder, der bei einem Ausbruchsversuch gefasst wird, wird auf der Stelle erschossen.«

Zehn Jahre nach der ersten Hinrichtung stand Shin erneut auf demselben Feld. Auch jetzt hatten die Wärter eine große Menge von Häftlingen hierher getrieben. Auch jetzt wurde wieder ein gespitzter Pfahl in den Boden gerammt. Daneben hatte man einen behelfsmäßigen Galgen errichtet.

Shin wurde diesmal auf dem Rücksitz eines Wagens hergebracht, den ein Wärter steuerte. Shin trug Handschellen und eine Augenbinde aus Lumpen, genau wie sein Vater, der neben ihm saß.

Sie hatten acht Monate in einem innerhalb des Lagers gelegenen unterirdischen Gefängnis hinter sich und waren erst entlassen worden, als sie sich schriftlich verpflichteten, niemals mit anderen darüber zu sprechen, was sie in diesen acht Monaten erlebt hatten.

In diesem Gefängnis im Gefängnis versuchten die Wärter, aus Shin und seinem Vater durch Folter ein Geständnis zu pressen. Sie wollten Näheres über den gescheiterten Fluchtversuch von Shins Mutter und seinem einzigen Bruder wissen. Die Wärter zogen Shin aus, fesselten seine Hand- und Fußgelenke und hängten ihn an einen Haken an der Decke. Anschließend machten sie unter ihm ein Feuer und ließen ihn langsam von der Decke herab. Als seine Haut Blasen warf, fiel er ihn Ohnmacht.

Doch er gestand nichts. Er hatte nichts zu gestehen. Er hatte sich mit seiner Mutter und seinem Bruder nicht zur Flucht verabredet. Er glaubte den Drohungen der Wärter, die ihm seit seiner Geburt im Lager immer wieder eingetrichtert hatten, dass er nicht entfliehen könne und jeden anzeigen müsse, von dem er wisse, dass er eine Flucht plane. Nicht einmal im Traum hatte Shin sich ein Leben außerhalb des Lagers vorstellen können.

Die Wärter hatten ihm nie beigebracht, was jeder nordkoreanische Schuljunge draußen lernt: Die US-Amerikaner sind »Schweine«, die in ihr Heimatland einfallen und die Bevölkerung demütigen wollen. Südkorea ist der »Hund« seines amerikanischen Herrn, Nordkorea dagegen ein großes Land, dessen heldenhafte und brillante Führer den Neid der übrigen Welt auf sich ziehen. Shin wusste nicht einmal von der Existenz Südkoreas, Chinas und der Vereinigten Staaten.

Anders als seine Landsleute wuchs er nicht mit den unvermeidlichen Fotos des »Geliebten Führers« auf, wie Kim Jong Il genannt wurde. Ebenso wenig kannte er die Fotografien und Statuen von Kims Vater, Kim Il Sung, dem »Großen Führer«, der Nordkorea gegründet hatte und bis heute der »Ewige Präsident« des Landes ist, obwohl er schon 1994 verstarb.

Zwar war Shin als Häftling zu unwichtig, um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, wie sie den Nordkoreanern üblicherweise zuteil wird, aber man erzog ihn dazu, seine Eltern und seine Schulkameraden zu bespitzeln. Als Belohnung erhielt er zusätzliche Essensrationen, und gemeinsam mit den Wärtern verprügelte er die Kinder, die er verriet. Die wiederum ihn verpetzten und sich daran beteiligten, wenn er von den Wärtern geprügelt wurde.

Als ihm einer der Wärter die Augenbinde abnahm und er die Menge vor sich sah, den Pfahl und den Galgen, war Shin überzeugt, dass er hingerichtet werden sollte.

Doch man stopfte ihm keine Kieselsteine in den Mund. Seine Handschellen wurden ihm abgenommen, dann führte ihn ein Wärter ganz nach vorn. Er und sein Vater sollten Zuschauer sein.

Die Wärter zerrten eine Frau mittleren Alters zum Galgen und banden einen jungen Mann an den Pfahl – es waren Shins Mutter und sein älterer Bruder.

Ein Wärter legte seiner Mutter eine Schlinge um den Hals. Sie versuchte Shin in die Augen zu schauen, doch er sah zur Seite. Als ihr Körper am Ende des Seils nicht mehr zuckte, wurde Shins Bruder von drei Wärtern erschossen. Jeder gab drei Schüsse ab.

Während er mit ansah, wie die beiden starben, war Shin erleichtert, dass es nicht ihn getroffen hatte. Er war wütend auf seine Mutter und seinen Bruder, weil sie die Flucht geplant hatten. Und er wusste, dass er für ihre Hinrichtung verantwortlich war, was er jedoch in den nächsten 15 Jahren für sich behielt.

EINLEITUNG

Im Lager hörte er nie das Wort »Liebe«

Neun Jahre nachdem seine Mutter im Lager gehängt worden war, arbeitete sich Shin durch einen Hochspannungszaun und flüchtete im Schnee nach Norden. Es war der 2. Januar 2005. Bis zu diesem Tag war noch keinem, der in einem der politischen Arbeitslager Nordkoreas geboren worden und aufgewachsen war, die Flucht gelungen. Nach allem, was man weiß, ist Shin bis heute immer noch der Einzige.

Er war 23 Jahre alt und kannte keinen Menschen außerhalb des Lagers.

Einen Monat später erreichte er die chinesische Grenze, und nach zwei Jahren traf er in Südkorea ein. Vier Jahre später lebte er in Südkalifornien und war Senior Ambassador für die Organisation Liberty in North Korea (LiNK), eine US-amerikanische Menschenrechtsgruppe.

In Kalifornien fuhr er mit seinem Fahrrad zur Arbeit, wurde Anhänger des Baseballteams Cleveland Indians (da dort ein Südkoreaner namens Shin-Soo Choo der Star der Mannschaft war) und aß zwei- bis dreimal in der Woche im In-N-Out Burger, weil es dort die seiner Ansicht nach besten Burger gab.

Sein Name ist Shin Dong-hyuk.1 So nennt er sich, seit er in Südkorea angekommen ist, damit versuchte er, sich als einen freien Menschen neu zu erfinden. Er sieht gut aus und hat lebendige, wache Augen. Ein Zahnarzt in Los Angeles hat sich seiner Zähne angenommen, die er im Lager nicht pflegen konnte. Seine physische Verfassung ist insgesamt sehr zufriedenstellend, sein Körper ist jedoch gezeichnet vom harten Leben in einem der Zwangsarbeitslager, deren Existenz die nordkoreanische Regierung bis heute beharrlich bestreitet.

Wegen der unzureichenden Ernährung im Lager ist Shin eher klein und mager – er misst 1,67 Meter und ist knapp 55 Kilogramm schwer. Seine Arme sind infolge der Kinderarbeit gekrümmt, der untere Teil seines Rückens und das Gesäß übersät mit Brandmalen, die ihm seine Peiniger zugefügt haben. In der Haut über seinem Schambein ist die Stichnarbe von einem Haken zu sehen, mit dem er über dem Feuer festgehalten wurde. Seine Knöchel zeigen die Spuren der Abschürfungen durch die Fußfesseln, an denen man ihn aufhängte. Am Mittelfinger seiner rechten Hand fehlt das erste Glied. Ein Wärter schnitt es ihm ab, weil ihm in einer Textilfabrik eine Nähmaschine aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen war. Seine beiden Schienbeine weisen von den Knöcheln bis zu den Knien Narben auf, Folgen der Verbrennungen, die er sich bei seiner Flucht durch den Hochspannungszaun zugezogen hat.

Shin ist etwa so alt wie Kim Jong Un, der pummelige dritte Sohn von Kim Jong Il, der nach dem Tod seines Vaters 2011 dessen Platz als Führer einnahm. Als Altersgenossen repräsentieren sie die Antipoden von Privileg und Armut in Nordkorea, einer angeblich klassenlosen Gesellschaft, in der tatsächlich allein die Herkunft und der Zugang zu Bildung über das Schicksal des Einzelnen bestimmen.

Kim Jong Un wurde als kommunistischer Prinz geboren und wuchs in den Mauern eines Palasts auf. Seine höhere Bildung erhielt er unter einem anderen Namen in der Schweiz, bevor er wieder nach Nordkorea zurückkehrte, um dort an jener Eliteuniversität zu studieren, die den Namen seines Großvaters trägt. Aufgrund seiner Abstammung steht er über dem Gesetz, alles ist möglich für ihn. So wurde er 2010 zum Vier-Sterne-General der nordkoreanischen Volksarmee ernannt, obwohl ihm jegliche militärische Erfahrung fehlte. Ein Jahr nachdem sein Vater an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben war, schilderten ihn die staatlichen Medien Nordkoreas als »einen weiteren Führer, den der Himmel geschickt hat«. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass man ihn zwingt, seine irdische diktatorische Macht mit Verwandten und Militärführern zu teilen.

Shin dagegen wurde als Sklave geboren und wuchs hinter einem unter Hochspannung stehenden Stacheldrahtzaun auf. Unterrichtet wurde er in einer Schule im Lager, wo er rudimentär lesen, schreiben und rechnen lernte. Da seine Abstammung durch die »Verbrechen« der Brüder seines Vaters einen Makel hatte, genoss er nicht den Schutz des Gesetzes. Für ihn standen keinerlei Möglichkeiten offen. Was der Staat für seinen Lebensweg vorbestimmt hatte, waren schwere Arbeit und ein vorzeitiger Tod, verursacht durch Krankheiten, die ein durch Hunger geschwächter Körper nicht abwehren kann – das alles ohne eine Anklage, ein Gerichtsverfahren oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Und alles im Geheimen.

Die Geschichten vom Überleben in deutschen Konzentrationslagern haben einen konventionellen Erzählverlauf: SS-Männer entreißen den Protagonisten Familie und Heim. Um zu überleben, gibt er seine moralischen Grundsätze auf, unterdrückt seine Gefühle für andere und ist schließlich kein zivilisiertes menschliches Wesen mehr.

In der vielleicht berühmtesten dieser Geschichten, Die Nacht des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel, verdeutlicht ein 13-jähriger Junge seine Qualen durch die Schilderung des normalen Lebens, das er und seine Familie geführt hatten, bevor sie alle in einen Güterzug gepfercht wurden, dessen Ziel ein deutsches Todeslager war. Der junge Wiesel hatte bis dahin täglich im Talmud gelesen, sein Vater besaß ein Handelsgeschäft und war in der jüdischen Gemeinde in einem Siebenbürger Städtchen hoch geachtet. Sein Großvater war an den jüdischen Feiertagen stets anwesend. Doch nachdem seine ganze Familie in den Todeslagern umgekommen war, fühlte sich Wiesel »allein, furchtbar allein in einer Welt ohne Gott, ohne Menschen. Ohne Liebe oder Mitgefühl«.

Die Geschichte von Shins Überleben verlief anders.

Seine Mutter schlug ihn, und er sah in ihr eine Rivalin um die Essensrationen. Sein Vater, dem die Aufseher nur fünfmal im Jahr erlaubten, eine Nacht bei seiner Frau zu verbringen, schenkte ihm keinerlei Beachtung, sein Bruder war für ihn ein Fremder. Den Kindern im Lager konnte man grundsätzlich nicht trauen, und sie misshandelten sich gegenseitig. Bevor man ihm überhaupt etwas beibrachte, lernte Shin zu überleben, indem er alle anderen denunzierte.

»Liebe«, »Mitgefühl« und »Familie« waren für Shin Wörter ohne Bedeutung. Gott war nicht verschwunden oder tot. Shin hatte nie von ihm gehört.

Im Vorwort zu einer englischen Ausgabe von »Die Nacht« schrieb Wiesel, das Wissen eines Heranwachsenden über den Tod und das Böse solle sich auf das beschränken, was man in der Literatur entdecke.

Im Lager 14 wusste Shin nicht einmal, dass es Literatur gab oder was der Begriff überhaupt bedeutete. Das einzige Buch, das er im Lager jemals sah, war eine koreanische Grammatik in den Händen eines Lehrers, der die Uniform eines Aufsehers und einen Revolver an der Hüfte trug und eine seiner Mitschülerinnen in der Grundstufe zu Tode prügelte.

Im Unterschied zu all jenen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wurde Shin nicht aus einem zivilisierten Leben herausgerissen und gezwungen, in eine Hölle hinabzusteigen. Er wurde bereits in der Hölle geboren und aufgezogen. Er akzeptierte ihre Werte. Für ihn war sie sein Zuhause.

Die nordkoreanischen Zwangsarbeitslager existieren inzwischen doppelt so lange wie der sowjetische Gulag und rund zwölfmal so lange wie die deutschen Konzentrationslager. Es steht außer Frage, wo sie sich befinden. Hochauflösende Satellitenfotos, die über Google Earth jedem zugänglich sind, der über eine Internetverbindung verfügt, zeigen ausgedehnte eingezäunte Lager, die sich über die zerklüfteten Berge Nordkoreas erstrecken.

Die südkoreanische Regierung schätzt, dass dort etwa 154 000 Häftlinge festgehalten werden, während das US-Außenministerium und etliche Menschenrechtsgruppen von 200 000 Gefangenen ausgehen. Nach der Auswertung von Satellitenfotos aus einem Zeitraum von zehn Jahren hat Amnesty International 2011 in den Camps neue Bauten gefunden und befürchtet daher, dass die Zahl der Häftlinge zunimmt. Möglicherweise um Unruhen vorzubeugen, da die Macht inzwischen von Kim Jong Il auf seinen jungen und unerfahrenen Sohn übergegangen ist.2

Schätzungen des südkoreanischen Geheimdienstes und von Menschenrechtsgruppen zufolge gibt es sechs solcher Lager. Das größte ist rund 50 Kilometer lang und 40 Kilometer breit, seine Fläche ist größer als die von Los Angeles. Hochspannungszäune – unterbrochen von Wachttürmen und von bewaffneten Wachen kontrolliert – bilden zum größten Teil die Grenzen der Lager. In zwei dieser Lager, Nr. 15 und Nr. 18, gibt es Umerziehungszonen, in denen eine kleine Zahl glücklicher Häftlinge in Förderkursen in den Lehren von Kim Jong Il und Kim Il Sung unterrichtet wird. Wenn sie die Lehren zufriedenstellend auswendig gelernt und die Aufseher von ihrer Loyalität überzeugt haben, können sie freigelassen werden, stehen jedoch für den Rest ihres Lebens unter der Aufsicht des Geheimdienstes.

Die übrigen Lager sind »Bezirke unter absoluter Kontrolle«, in denen die Häftlinge, die als »nicht verbesserungsfähig«3 bezeichnet werden, durch Arbeit zu Tode gebracht werden.

Shins Lager, Nr. 14, ist solch ein »Bezirk unter absoluter Kontrolle«. Es gilt wegen seiner besonders brutalen Arbeitsbedingungen, der Wachsamkeit seiner Wärter und der unversöhnlichen Einstellung des Staates zur Schwere der Verbrechen, die den Häftlingen vorgeworfen werden, als das schlimmste Lager in Nordkorea. Bei den Gefangenen handelt es sich vielfach um »gesäuberte« ehemalige Beamte der herrschenden Partei, der Regierung und des Militärs samt ihren Familienangehörigen. Das Lager wurde 1959 in Zentralnordkorea – Landkreis Gaecheon, Provinz Hamgyeong – errichtet, umfasst 15 000 Häftlinge und erstreckt sich über eine Fläche von 280 Quadratkilometern. Auf diesem Gelände befinden sich landwirtschaftliche Betriebe, Bergwerke und Fabriken, verteilt auf fünf Bergtäler.

Zwar ist Shin der einzige in einem dieser Arbeitslager Geborene, dem die Flucht gelang, so dass er seine Geschichte erzählen kann, doch gibt es mindestens 60 weitere Augenzeugen aus den Arbeitslagern, die sich heute in der freien Welt aufhalten.4 Darunter sind mindestens 15 Nordkoreaner, die im Lager 15 einer Förderung für würdig befunden worden waren, sich bewährten, schließlich entlassen wurden und später in Südkorea auftauchten. Kim Yong, ein ehemaliger nordkoreanischer Oberstleutnant aus einer privilegierten Familie in Pjöngjang, verbrachte sechs Jahre in zwei Lagern, bevor ihm in einem Kohlengüterzug die Flucht gelang.

Die Zusammenfassung ihrer Berichte durch die Korean Bar Association (Koreanische Anwaltskammer) in Seoul gibt ein detailliertes Bild vom täglichen Leben in diesen Lagern: Jedes Jahr werden einige Häftlinge vor den Augen der übrigen hingerichtet. Andere werden zu Tode geprügelt oder heimlich ermordet von Wärtern, die nahezu schrankenlose Freiheiten haben, Häftlinge zu misshandeln oder zu vergewaltigen. Die meisten Häftlinge arbeiten in der Landwirtschaft oder in Kohlenbergwerken, nähen Militäruniformen oder stellen Zement her, während sie sich von viel zu kleinen Portionen Mais, Kohl und Salz ernähren müssen. Ihnen fallen mit der Zeit die Zähne aus, ihr Zahnfleisch wird schwarz, ihre Knochen bilden sich zurück, und wenn sie die vierzig überschritten haben, krümmt sich ihr Oberkörper nach vorn. Ein- oder zweimal im Jahr erhalten sie Kleidung, sie arbeiten und schlafen in schmutzigen Lumpen, leben ohne Seife, Socken, Handschuhe, Unterwäsche oder Toilettenpapier. Tag für Tag müssen sie zwölf bis fünfzehn Stunden arbeiten, bis sie sterben, gewöhnlich an den Folgen der Unterernährung und noch bevor sie fünfzig Jahre alt sind.5 Auch wenn wir keine genauen Zahlen ermitteln können, gibt es Schätzungen westlicher Regierungen und Menschenrechtsgruppen, dass in diesen Lagern Hunderttausende umgekommen sind.

Die meisten Nordkoreaner, die in ein Lager geschickt werden, sind nicht einmal vor ein Gericht gestellt worden. Viele sterben dort, ohne jemals zu erfahren, aus welchem Grund sie interniert wurden. Mitarbeiter der Bowibu, der Nationalen Sicherheitsbehörde, holen sie – gewöhnlich in der Nacht – zu Hause ab. Teil der nordkoreanischen Rechtsauffassung ist, dass man kraft Verbindung oder Verwandtschaft schuldig wird, und so wird ein Übeltäter häufig zusammen mit seinen Eltern und Kindern ins Gefängnis eingeliefert. Kim Il Sung hat dazu 1958 folgendes Gesetz formuliert: »Klassenfeinde müssen ohne Ansehung der Person bis ins dritte Glied ausgemerzt werden.«

Meine erste Begegnung mit Shin war ein Mittagessen im Winter 2008. Wir trafen uns in einem koreanischen Restaurant im Zentrum von Seoul. Gesprächig und hungrig verdrückte er mehrere Portionen Reis mit Fleisch. Während er aß, erzählte er meinem Dolmetscher und mir, wie es für ihn war, als seine Mutter vor seinen Augen hingerichtet wurde. Er machte sie verantwortlich für seine Leiden im Lager, und es fiel ihm sichtlich schwer zuzugeben, dass er noch immer wütend auf sie war. Er sei »kein guter Sohn« gewesen, sagte er, ohne näher darauf einzugehen.

Während seiner Jahre im Lager habe er kein einziges Mal das Wort »Liebe« gehört, jedenfalls nicht von seiner Mutter, einer Frau, die er selbst nach ihrem Tod noch immer verachtete. In einer südkoreanischen Kirche hatte er das Wort »Vergebung« gehört, aber es verwirrte ihn. Die Bitte um Vergebung bedeutete im Lager 14, »darum zu bitten, nicht bestraft zu werden«.

Er hatte einen Bericht über das Lager veröffentlicht, der jedoch in Südkorea wenig Beachtung gefunden hatte. Er war ohne Arbeit, mittellos, hatte Mietschulden und wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen sollte. Die Vorschriften im Lager 14 hatten ihn daran gehindert, intimen Kontakt mit einer Frau aufzunehmen, auf dieses Vergehen stand schließlich die Todesstrafe. Jetzt wollte er eine richtige Freundin finden, hatte jedoch keine Vorstellung, wie er das anstellen sollte.

Nach dem Essen ging er mit mir zu der winzigen, traurigen Wohnung in Seoul, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Ohne mir ins Gesicht zu sehen, zeigte er mir seinen Mittelfinger, dem das erste Glied fehlte, und die Narben auf seinem Rücken. Er erlaubte mir, ihn zu fotografieren. Trotz aller Torturen, die er durchgestanden hatte, wirkte sein Gesicht noch kindlich. Er war 26 Jahre alt – nur drei davon hatte er außerhalb des Lagers verbracht.

Am Tag dieser denkwürdigen Begegnung war ich 56 Jahre alt. Als Korrespondent der Washington Post in Nordostasien hatte ich seit mehr als einem Jahr eine Story gesucht, die erklären könnte, mit welchen Repressionsmethoden das Regime Nordkoreas arbeitete, um nicht auseinanderzufallen.

Politische Implosionen waren zu meinem Spezialthema geworden. Für die Post und die New York Times verbrachte ich fast drei Jahrzehnte damit, über das Scheitern von Staaten in Afrika zu schreiben, über den Kollaps des Kommunismus in Osteuropa, den Zerfall Jugoslawiens und den quälend langsamen Prozess der Fäulnis Birmas unter den Generälen. Aus der Distanz gesehen schien Nordkorea reif, um nicht zu sagen überreif zu sein, wenn ich die Lage mit meinen bisherigen Erfahrungen verglich. In einem Teil der Welt, in dem fast alle anderen reich wurden, war seine Bevölkerung zunehmend isoliert, arm und hungrig.

Dennoch schaffte es die Kim-Dynastie, sich an der Macht zu halten. Totalitäre Unterdrückung sicherte dem heruntergewirtschafteten Staat das Leben.

Leider konnte ich nicht zeigen, wie Kims Regierung dies so lange geschafft hatte, denn mir fehlte der Zugang zu dem Land. In anderen Weltgegenden waren repressive Staaten nicht immer in der Lage, die Bevölkerung von der Außenwelt abzuschotten. Es war mir möglich gewesen, ebenso offen in Mengistus Äthiopien zu arbeiten wie im Kongo Mobutus und in Serbien unter Milošević, und ich war als Tourist nach Birma eingereist, um über das Land zu berichten.

Nordkorea ist wesentlich vorsichtiger. Reporter aus dem Ausland, vor allem US-Amerikaner, erhalten nur in seltenen Fällen eine Einreiseerlaubnis. Ich habe Nordkorea nur ein einziges Mal besucht. Ich sah das, was meine Aufpasser mir zeigen wollten, und erfuhr kaum etwas von Belang. Journalisten, die illegal einreisen, laufen Gefahr, monate- oder jahrelang als Spione im Gefängnis zu verbringen. Manchmal hilft dann nur noch die Unterstützung durch einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, um wieder freizukommen.6

Angesichts dieser Beschränkungen sind die meisten Berichte über Nordkorea nichtssagend und wenig konkret. Abgeschickt aus Seoul, Tokio oder Peking, beginnen sie mit einer Schilderung der jüngsten Provokation Pjöngjangs, etwa der Versenkung eines Kriegsschiffs oder der Erschießung eines Touristen. Danach folgen die sattsam bekannten Rituale des Journalismus: US-amerikanische und südkoreanische Amtsträger äußern ihre Entrüstung. Ihre chinesischen Kollegen mahnen zur Zurückhaltung. Experten spekulieren darüber, was möglicherweise hinter der Aktion steckt. Ich habe auch jede Menge solcher Artikel geschrieben.

Shin sollte diese Konventionen durchbrechen. Sein Leben ermöglichte Außenstehenden einen Blick darauf, wie die Kim-Familie sich von Kindersklaverei und Mord ernährt. Einige Tage nach unserer ersten Begegnung wurden Shins sympathisches Foto und seine entsetzliche Geschichte auf der Titelseite der Washington Post an die Öffentlichkeit gebracht.

»Wow«, schrieb Donald E. Graham, der Vorsitzende der Washington Post Company, in einer lakonischen E-Mail, die ich am Morgen nach dem Erscheinen der Geschichte erhielt. Wie es der Zufall wollte, besuchte ein deutscher Filmemacher gerade an dem Tag, an dem der Artikel erschien, das Holocaust Memorial Museum in Washington und beschloss daraufhin, einen Dokumentarfilm über das Leben Shins zu drehen. Die Washington Post brachte einen Leitartikel, in dem es hieß, die Brutalität, die Shin habe erdulden müssen, sei skandalös, aber ebenso skandalös sei die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber der Existenz der Zwangsarbeitslager in Nordkorea.

»In den Highschools in Amerika diskutieren Schüler darüber, warum Präsident Franklin D. Roosevelt die Eisenbahngleise, die in die Vernichtungslager Hitlers führten, nicht bombardieren ließ«, hieß es zum Schluss. »Ihre Kinder werden eine Generation später vielleicht fragen, warum der Westen auf die wesentlich schärferen Satellitenfotos von Kim Jong Ils Lager geblickt und nichts dagegen unternommen hat.«

Shins Geschichte schien den Lesern jedenfalls unter die Haut zu gehen. Sie schrieben Leserbriefe und schickten E-Mails, boten Geld und Unterkunft an und wollten für Shin beten.

Mein Artikel hatte Shins Leben nur in groben Zügen geschildert. In einer ausführlicheren Erzählung hoffte ich den geheimen Apparat entschleiern zu können, mit dem sich die totalitären Herrscher in Nordkorea an der Macht halten. Außerdem wollte ich zeigen – anhand der Details von Shins unglaublicher Flucht –, dass der Unterdrückungsapparat Lücken aufweist, da er einem weltfremden jungen Flüchtling erlaubt, unentdeckt zu Fuß das Land zu durchqueren und nach China zu gelangen. Genauso wichtig war mir, dass kein Mensch nach der Lektüre dieses Buchs über einen Jungen, den die nordkoreanische Regierung nur zu dem Zweck aufgezogen hatte, ihn sich zu Tode schuften zu lassen, in Zukunft die Existenz solcher Lager würde ignorieren können.

Ich fragte Shin, ob er Interesse an diesem Projekt habe. Es dauerte danach neun Monate, bis er sich entschieden hatte. Während dieser Zeit drängten ihn Menschenrechtsaktivisten in Südkorea, Japan und den Vereinigten Staaten, doch mitzumachen. Sie sagten ihm, ein Buch in englischer Sprache werde die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen, den internationalen Druck auf Nordkorea verstärken und ihm vielleicht einiges Geld einbringen, das er dringend benötigte. Nachdem Shin eingewilligt hatte, stand er für sieben Runden von Interviews zur Verfügung, zuerst in Seoul, später in Torrance, Kalifornien, und schließlich in Seattle, Washington. Shin und ich einigten uns darauf, sämtliche Einkünfte aus diesem Projekt fifty-fifty zu teilen. Diese Vereinbarung sah außerdem vor, dass ich die Kontrolle über die Inhalte behielt.

Im Frühjahr 2006, etwa ein Jahr nach seiner Flucht aus dem Lager, begann Shin mit der Niederschrift eines Tagebuchs. Nachdem er in Seoul wegen Depressionen eine Zeitlang im Krankenhaus behandelt worden war, setzte er seine Aufzeichnungen fort. Das Tagebuch wurde die Grundlage für seinen koreanisch verfassen Bericht »Ausbruch in die Außenwelt«, der 2007 vom Database Center for North Korean Human Rights in Seoul veröffentlicht wurde. Dieser Bericht war dann der Ausgangspunkt für unsere Interviews und zugleich die Quelle für zahlreiche der wörtlichen Zitate, die in diesem Buch ihm selbst, seiner Familie, den Gefängniswärtern sowie Bekannten in Nordkorea und China zugeschrieben werden. Doch alle Gedanken und Handlungen Shins, von denen auf den folgenden Seiten berichtet wird, stützen sich auf die Interviews mit ihm, in deren Verlauf er seinen koreanisch verfassten Erinnerungsbericht erweiterte und in vielen Fällen korrigierte.

Obwohl er mit mir zusammenarbeitete, hatte ich den Eindruck, dass Shin nur widerstrebend mit mir sprach. Immer wieder kam ich mir wie ein Zahnarzt vor, der ohne Betäubung im Zahn eines Patienten bohrt. Dieses Bohren erstreckte sich mit Unterbrechungen über gut zwei Jahre. Einige unserer Sitzungen hatten eine befreiende Wirkung, andere lösten bei ihm dagegen Depressionen aus.

Es fiel ihm schwer, Vertrauen zu mir zu fassen. Er gibt bereitwillig zu, dass er überhaupt Schwierigkeiten hat, anderen Menschen zu vertrauen. Dies ist wohl die zwangsläufige Folge der Umstände, unter denen er aufgewachsen ist. Die Wärter im Lager hatten ihn angehalten, seine Eltern und Freunde zu bespitzeln, und so musste er annehmen, dass jeder, mit dem er zusammenkam, wiederum ihn verraten würde.

Beim Schreiben dieses Buchs hatte ich gelegentlich selbst Probleme, ihm zu vertrauen. Während unseres ersten Interviews schenkte er mir über seine Rolle bei der Hinrichtung seiner Mutter keinen reinen Wein ein, und ähnlich verhielt er sich bei über einem Dutzend weiterer Gespräche. Als er seine Geschichte dann änderte, fragte ich mich, was er sich vielleicht sonst noch ausgedacht hatte.

Eine Überprüfung von Fakten ist in Nordkorea selbst nicht möglich. Außenstehende haben die politischen Straflager des Landes nie kennengelernt. Berichte über das, was in ihrem Inneren vorgeht, lassen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen. Auch wenn Satellitenfotos einen wesentlichen Beitrag zu unserem Wissen über die Lager geleistet haben, sind Flüchtlinge noch immer die hauptsächlichen Informationsquellen. Doch ihre Motive und ihre Glaubwürdigkeit sind nicht makellos. Sie haben häufig große Probleme, sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, und sind daher bereit, vorgefasste Meinungen von Menschenrechtsaktivisten, antikommunistischen Missionaren und rechtslastigen Ideologen zu bestätigen. Manche Lagerflüchtlinge verlangten Geld für ihre Aussagen. Andere gaben reißerische Anekdoten vom Hörensagen wieder, ohne selbst Augenzeuge gewesen zu sein.

Obwohl Shin sich mir gegenüber weiterhin vorsichtig zeigte, beantwortete er jede Frage über seine Vergangenheit, die ich ihm stellte. Sein Leben mag unglaublich erscheinen, doch es entspricht den Erfahrungen anderer ehemaliger Häftlinge in den Lagern und den Schilderungen ehemaliger Lagerwärter. »Alles, was Shin erzählt hat, deckt sich mit dem, was ich über diese Lager gehört habe«, sagte David Hawk, ein Menschenrechtsaktivist, der Shin und weitere rund 60 ehemalige Häftlinge von Arbeitslagern befragt hat. Die Antworten erschienen in The Hidden Gulag, einem Bericht, der Schilderungen von Überlebenden mit kommentierten Satellitenbildern verknüpft. Erstmals veröffentlicht wurde er 2003 vom Committee for Human Rights in North Korea, und nachdem weitere Zeugenaussagen und bessere Satellitenbilder verfügbar waren, wurde er aktualisiert. Hawk wies darauf hin, dass Shin aufgrund seiner Geburt, Kindheit und Jugend im Lager Dinge wusste, die andere Überlebende nicht wissen konnten.

Die Geschichte Shins wurde zudem von den Autoren des von der Korean Bar Association herausgegebenen »White Paper on Human Rights in North Korea« überprüft. Sie führten ausführliche Interviews mit Shin und weiteren bekannten ehemaligen Lagerhäftlingen, die bereit waren, sich befragen zu lassen. Wie Hawk schreibt, gibt es für Nordkorea nur eine einzige Möglichkeit, die Aussagen von Shin und anderen Lagerüberlebenden zu »widerlegen, zu bestreiten oder zu entkräften«, nämlich Experten aus dem Ausland zu erlauben, die Lager zu besichtigen. Solange dies nicht der Fall sei, erklärt Hawk, hätten ihre Aussagen Bestand.

Sollte das Regime Nordkoreas stürzen, könnte sich die Vermutung Shins bewahrheiten, dass seine Führer, die mit einem Prozess wegen Kriegsverbrechen rechnen müssen, die Lager abreißen, bevor sie von Ermittlern untersucht werden können. Kim Jong Il erklärte einmal: »Wir müssen unsere Umwelt in einen dichten Nebel hüllen, um unsere Feinde daran zu hindern, irgendetwas über uns zu erfahren.«7

In dem Bestreben, das zu einem Bild zusammenzufügen, was ich nicht sehen konnte, verbrachte ich drei Jahre fast ausschließlich damit, über Nordkoreas Militär, Führung, Wirtschaft, Lebensmittelknappheit und Verstöße gegen Menschenrechte zu berichten. Ich befragte zahlreiche nordkoreanische Überläufer, unter denen sich auch drei ehemalige Häftlinge des Lagers 15 befanden, sowie einen ehemaligen Wärter und Fahrer, der in vier Arbeitslagern gearbeitet hatte. Ich sprach mit südkoreanischen Wissenschaftlern und Technikern, die regelmäßig nach Nordkorea einreisten, und ich sichtete die Erinnerungs- und Forschungsliteratur. In den Vereinigten Staaten führte ich lange Interviews mit Amerikanern koreanischer Abstammung, die Shins engste Freunde wurden.

Um das Lagerschicksal Shins besser einschätzen zu können, muss man bedenken, dass viele weitere Häftlinge in den Arbeitslagern ähnliche und sogar schlimmere Umstände erdulden müssen. Folgt man dem Urteil von An Myeong Chul, einem ehemaligen Lageraufseher und Fahrer, dann hatte »Shin ein vergleichsweise bequemes Leben, gemessen an den Bedingungen anderer Kinder in den Lagern«.

Mit Atombombentests, bewaffneten Überfällen auf südkoreanisches Territorium und durch ihre Gereiztheit und Angriffslust hat die Regierung Nordkoreas auf der koreanischen Halbinsel einen nahezu ständigen Alarmzustand erzeugt.

Wenn sie sich einmal herablässt, an internationalen Gesprächen teilzunehmen, sorgt sie regelmäßig dafür, dass die Frage der Menschenrechte nicht zur Sprache kommt. In den Krisenverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea ging und geht es in der Hauptsache um Kernwaffen und Marschflugkörper. Die Zwangsarbeitslager spielten dabei bislang nur eine untergeordnete Rolle.

»Mit ihnen über diese Lager zu reden ist ein Ding der Unmöglichkeit«, sagte mir David Straub, unter den Regierungen Clinton und Bush Chefexperte im US-Außenministerium für Korea. »Sie gehen an die Decke, sobald man sie darauf anspricht.«

Die Lager haben das kollektive Gewissen der Welt bisher nicht wachrütteln können. In den USA erschienen in der Presse zwar Artikel über sie, doch im Großen und Ganzen weiß kaum jemand etwas von ihrer Existenz. Über mehrere Jahre hinweg versammelte sich regelmäßig im Frühling eine kleine Gruppe ehemaliger Flüchtlinge und Lagerhäftlinge auf der National Mall in Washington, um Reden zu halten und zu demonstrieren. Die Presse der Hauptstadt nahm davon kaum Notiz. Zum Teil lag das an fehlenden Sprachkenntnissen: Die meisten Flüchtlinge sprachen nur Koreanisch. Ein weiterer wichtiger Grund ist eine Medienkultur, die von Berühmtheiten lebt. Bisher ist keine Filmgröße, kein Popstar, kein Nobelpreisträger ins Rampenlicht getreten und hat dazu aufgefordert, sich zu engagieren in einer Sache, zu der es leider keine guten Bilder oder Filme gibt.

»Die Tibeter haben den Dalai Lama und Richard Gere, die Birmanen haben Aung San Suu Kyi, die Einwohner von Darfur haben Mia Farrow und George Clooney«, sagte mir einmal Suzanne Scholte, eine langjährige Aktivistin, die Überlebende der Lager nach Washington brachte. »Die Nordkoreaner haben keine solche Lobby.«

Shin ist der Meinung, er verdiene es nicht, für die Zehntausende zu sprechen, die sich noch in den Lagern befinden. Er schämt sich dessen, was er alles getan hat, um zu überleben. Er hat sich dagegen gesperrt, Englisch zu lernen, zum Teil aus dem Grund, weil er nicht bereit war, seine Geschichte immer wieder neu in einer Sprache zu erzählen, die ihn zu einer wichtigen Person machen könnte. Dagegen wünscht er sich von Herzen, dass die Welt erfährt, was Nordkorea mit allen Mitteln zu verbergen versucht. Er trägt eine schwere Bürde. Kein anderer, der in einem dieser Lager geboren und aufgewachsen ist, konnte bislang fliehen und der Welt erzählen, was dort geschah – und was bis heute dort geschieht.

1Im Unterschied zu den nordkoreanischen werden südkoreanische Namen mit einem Bindestrich geschrieben.

2Amnesty International, »Images Reveal Scale of North Korean Political Prison Camps«, 3. Mai 2011, http://www.amnesty.org/en/news-and-updates/images-reveal-scale-north-korean-political-prison-camps-2011-05-03.

3Kang Chol-hwan und Pierre Rigoulot, The Aquariums of Pyongyang, New York 2001, S. 79.

4Diese Zeugen wurden ebenso wie Shin von David Hawk interviewt, Mitarbeiter des in Washington D. C. ansässigen Committee on Human Rights in North Korea. Ihre Geschichten und Satellitenaufnahmen von den Lagern finden sich in der zweiten Auflage von Hawks Bericht The Hidden Gulag: The Lives and Voices of »Those Who are Sent to the Mountains«, 2012; siehe auch http://www.davidhawk.com/HRNK_HiddenGulag2_Web_5-18.pdf.

5Korean Bar Association, »White Paper on Human Rights in North Korea 2008«, Seoul, Korea Institute for National Unification 2008.

6Die US-amerikanischen Fernsehjournalistinnen Laura Ling und Euna Lee wurden fast fünf Monate in Gefängnissen in Nordkorea festgehalten, nachdem sie 2009 die Grenze illegal überschritten hatten. Sie wurden erst wieder freigelassen, nachdem der ehemalige Präsident Bill Clinton nach Pjöngjang geflogen und zusammen mit Kim Jong Il fotografiert worden war.

7Hyun-sik Kim und Kwang-ju Son, Documentary Kim Jong Il, Seoul, Chonji Media 1997, S. 202, zit. in Ralph Hassig und Kongdan Oh, The Hidden People of North Korea, Lanham, Md. 2009, S. 27.

KAPITEL 1

Der Junge, der seiner Mutter das Essen wegaß

Shin und seine Mutter wohnten in den besten Gefangenenunterkünften, die das Lager 14 zu bieten hatte: in einem »Musterdorf« am Rand einer Obstplantage und unmittelbar gegenüber dem Platz, auf dem später seine Mutter gehängt wurde.

In jedem der insgesamt vierzig einstöckigen Gebäude in dem Dorf lebten vier Familien. Shin und seine Mutter hatten ihr eigenes Zimmer, in dem sie nebeneinander auf einem Betonboden schliefen. Die vier Familien teilten sich eine Gemeinschaftsküche, in der eine einzige nackte Glühbirne hing. Elektrischen Strom gab es nur zwei Stunden lang am Tag, von vier bis fünf Uhr morgens und von zehn bis elf Uhr am Abend. Die Fensterscheiben bestanden aus grauem Vinyl, zu trüb, um dahinter etwas sehen zu können. Die Zimmer wurden – nach koreanischer Art – mit einem Kohlenfeuer in der Küche und Rauchabzügen im Fußboden der Zimmer beheizt. Auf dem Gelände des Lagers befanden sich Kohlengruben, so dass Heizkohle stets verfügbar war.

Es gab keine Betten, Stühle oder Tische. Es gab kein fließendes Wasser. Weder ein Bad noch eine Dusche. Häftlinge, die baden wollten, schlichen sich manchmal im Sommer zum Fluss. Etwa dreißig Familien teilten sich einen Brunnen für Trinkwasser, außerdem den Abort, der in eine Hälfte für Frauen und eine für Männer unterteilt war. Nur dort durften die Häftlinge ihre Notdurft verrichten, da die Fäkalien als Dünger für die Lagerfarm verwertet wurden.

Wenn Shins Mutter ihre tägliche Arbeitsnorm erfüllt hatte, konnte sie Lebensmittel für den Abend und den nächsten Tag nach Hause bringen. Um vier Uhr in der Früh machte sie das Frühstück und das Mittagessen für sich und ihren Sohn. Jede Mahlzeit war dieselbe: Maisbrei, eingelegter Kohl und Kohlsuppe. Shin aß dieses Mahl 23 Jahre lang fast jeden Tag, ausgenommen an den Tagen, an denen er zur Strafe nichts zu essen bekam.

Als er noch zu jung war, um zur Schule zu gehen, ließ ihn seine Mutter vormittags öfter allein zu Haus und kam zum Mittagessen vom Feld zurück. Shin war immer hungrig, und sobald seine Mutter frühmorgens das Haus verlassen hatte, machte er sich bereits über das ihm zugedachte Mittagessen her.

Danach aß er auch ihre Portion.

Kam sie dann um die Mittagszeit zurück und fand kein Essen mehr vor, wurde sie wütend und schlug ihren Sohn mit einer Hacke oder einer Schaufel, mit allem, was gerade zur Hand war. Manchmal waren ihre Schläge so heftig wie jene, die er später von den Wärtern erhielt.

Dennoch nahm Shin so oft und so viel vom Essen seiner Mutter, wie er bekommen konnte. Er kam gar nicht auf die Idee, dass sie hungrig bleiben musste, wenn er ihre Portion aufaß. Jahre später, als sie schon länger tot war und er in den Vereinigten Staaten lebte, erzählte er mir, dass er seine Mutter liebe. Doch das war eine nachträgliche Empfindung. Er hatte sie erst, nachdem er gelernt hatte, dass ein zivilisiertes Kind seine Mutter lieben müsse. Als er noch im Lager lebte – und wegen seiner Nahrung völlig von ihr abhängig war, ihr Essen wegaß und ihre Schläge ertrug –, sah er in ihr nur eine Konkurrentin im Kampf ums Überleben.

Ihr Name war Jang Hye Gyung. In seiner Erinnerung war sie klein, etwas pummelig und hatte starke Arme. Ihr Haar trug sie kurz geschnitten wie alle Frauen im Lager, und sie musste den Kopf mit einem weißen, zu einem Dreieck gefalteten Tuch bedecken. Shin entdeckte ihr Geburtsdatum – 1. Oktober 1950 – auf einem Dokument, das er während seiner Vernehmung im unterirdischen Gefängnis sah.

Sie sprach mit ihm nie über ihre Vergangenheit, ihre Familie oder den Grund, warum sie im Lager war, und er fragte sie auch nie danach. Seine Existenz als ihr Sohn war von den Wärtern arrangiert worden. Diese hatten sie und den Mann, der Shins Vater wurde, als Prämien füreinander im Rahmen einer »Belohnungsehe« ausgewählt.

Unverheiratete Männer und Frauen schliefen voneinander getrennt in eigenen Schlafräumen. Die achte Vorschrift im Lager 14, die Shin auswendig lernen musste, lautete: »Sollte es ohne vorherige Erlaubnis zu sexuellen Kontakten kommen, werden die Täter auf der Stelle erschossen.«

In anderen nordkoreanischen Arbeitslagern galten dieselben Vorschriften. Sollte ein unerlaubter Sexualverkehr eine Schwangerschaft oder eine Geburt zur Folge haben, wurden die Frau und das Neugeborene in der Regel getötet. Das ergab sich aus meinen Interviews mit einem ehemaligen Lagerwärter und mehreren ehemaligen Häftlingen. Nach ihren Aussagen gingen die Frauen, die sich mit Wärtern einließen in der Hoffnung, Zusatzrationen zu erhalten oder leichtere Arbeit zugewiesen zu bekommen, ein hohes Risiko ein. Sobald sie schwanger wurden, verschwanden sie.

Eine »Belohnungsehe« war die einzige sichere Möglichkeit, das Verbot sexueller Kontakte zu umgehen. Eine Heirat wurde den Häftlingen als die höchste Prämie für harte Arbeit und verlässliche Denunziationen in Aussicht gestellt. Männer kamen hierfür ab 25, Frauen ab 23 Jahren in Frage. Die Wärter kündigten die Hochzeiten drei- bis viermal im Jahr an; gewöhnlich fielen sie auf besondere Tage, etwa Neujahr oder den Geburtstag von Kim Jong Il. Weder die Braut noch der Bräutigam hatten ein Mitspracherecht bei der Bildung der Paare. War einer oder eine der Ausgewählten mit dem für ihn oder sie bestimmten Partner aus welchen Gründen auch immer nicht zufrieden, konnte es vorkommen, dass die Wärter die Hochzeit absagten. In diesem Fall erhielten weder die Frau noch der Mann eine zweite Chance.

Shins Vater, Shin Gyung Sub, erzählte seinem Sohn, dass die Wärter ihm Jang als Frau zugedacht hatten, weil er ein besonderes Geschick bei der Bedienung der Drehbank in der Maschinenhalle des Lagers hatte. Shins Mutter erzählte ihm nie, weshalb sie für die Ehe auserwählt worden war.

Doch für sie wie für viele andere Bräute im Lager war die Heirat eine Art Beförderung. Mit ihr war eine etwas leichtere Arbeit verbunden und eine bessere Unterkunft – im »Musterdorf«, wo es eine Schule und ein Krankenhaus gab. Bald nach ihrer Hochzeit zog sie aus einem überfüllten Schlafsaal für Frauen in der Textilfabrik des Lagers dorthin um. Außerdem erhielt sie eine begehrte Arbeitsstelle in einem nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieb, wo man Mais, Reis und frisches Gemüse »organisieren« konnte.

Nach seiner Hochzeit erhielt das Paar die Erlaubnis, fünf Nächte hintereinander zusammen zu verbringen. Von da an durfte Shins Vater, der weiterhin in einer Unterkunft neben seiner Arbeitsstelle wohnte, seine Frau mehrmals im Jahr besuchen. Im Verlauf ihrer Ehe brachte Jang zwei Söhne auf die Welt. Der Ältere, He Geun, wurde 1974 geboren; Shin kam acht Jahre später zur Welt.

Die Brüder kannten einander kaum. Als Shin geboren wurde, besuchte sein Bruder zehn Stunden täglich die Grundschule. Als Shin vier Jahre alt war, zog sein zwölfjähriger Bruder aus dem Haus aus und lebte, den Lagervorschriften entsprechend, von nun an in einer Sammelunterkunft.

Shin konnte sich daran erinnern, dass sein Vater gelegentlich am späten Abend zu seiner Frau kam und sie am frühen Morgen wieder verließ. Seinem jüngeren Sohn schenkte er nur wenig Beachtung, und Shin stand seinen seltenen Besuchen gleichgültig gegenüber.

In den Jahren nach seiner Flucht aus dem Lager lernte Shin, dass viele Menschen Wärme, Geborgenheit und Zuneigung mit den Worten »Mutter«, »Vater« und »Bruder« in Verbindung bringen. Er nicht. Die Wärter hatten ihm und den anderen Kindern im Lager immer wieder gesagt, sie seien wegen der »Sünden« ihrer Eltern im Lager. Man sagte ihnen auch, sie müssten sich zwar fortwährend schämen wegen ihrer treulosen Herkunft, sie könnten es jedoch schaffen, ihre angeborene Sündhaftigkeit »abzuwaschen«, indem sie hart arbeiteten, den Wärtern Gehorsam leisteten und ihnen über ihre Eltern Bericht erstatteten. Die zehnte Vorschrift des Lagers forderte, dass ein Häftling in jedem Wärter aufrichtig seinen Lehrer sehen müsse. Das leuchtete Shin ein. Während seiner Zeit als Kind und als Heranwachsender waren seine Eltern überarbeitet und abweisend und redeten wenig mit ihm.

Shin war ein abgemagertes, in sich gekehrtes und die meiste Zeit hindurch einsames Kind ohne Freunde, dessen einzige Quelle der Gewissheit die Ermahnungen der Wärter waren, sie könnten sich von ihrer Sünde dadurch befreien, dass sie ihre Eltern denunzierten. Seine Vorstellungen von Richtig und Falsch wurden allerdings immer wieder verwirrt, wenn er Zeuge von Begegnungen zwischen seiner Mutter und den Wärtern wurde.

Shin war gerade zehn Jahre alt, als er eines Abends das Haus verließ und seine Mutter suchte. Er hatte Hunger, und es war die übliche Zeit, zu der sie das Abendessen zubereitete. Er ging zu einem nahe gelegenen Reisfeld, auf dem seine Mutter arbeitete, und fragte eine Frau, ob sie sie gesehen habe.

»Sie putzt das Büro vom Bowijidowon