Keine Panik, liebe Angst - Käthe Lachmann - E-Book
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Keine Panik, liebe Angst E-Book

Käthe Lachmann

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Beschreibung

Comedy ist lustig. Panikattacken sind nicht lustig. Was passiert, wenn beides aufeinandertrifft? Der Comedienne Käthe Lachmann ist genau das passiert, mehrfach. Irgendwann war sie keine Solokünstlerin mehr, sondern stand zu zweit auf der Bühne, zusammen mit ihrer Angst. Und diese Angst fand das so lustig, dass sie weitere Ängste zu Käthe Lachmann eingeladen hat, zum Beispiel die Angst vor der Angst. Oder die Panik vor dem Essen in Gesellschaft anderer. Das führte soweit, dass Käthe Lachmann sich immer weiter zurückzog, nicht mehr in die Öffentlichkeit ging und alleine für sich blieb – ein denkbar schlechtes Lebenskonzept für jemanden, der bis dahin von Auftritten in der Öffentlichkeit lebte. Ein Mut machendes Buch, das zeigt, dass man sich seinen Ängsten stellen muss, statt Unmengen an Energie darauf zu verwenden, sie zu verstecken - und in dem die Autorin trotz des massiven Leidensdrucks einer Angststörung versucht, den Blick auch mal auf die komischen Momenten der Krankheit zu lenken.

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Seitenzahl: 286

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VORWORT

»Angst klopfte an.Vertrauen öffnete.Keiner war draußen.«

AUS CHINA

Es ist geschafft. Dieses Buch zu schreiben, hat mich einige Überwindung gekostet. Schließlich habe ich mich sehr lange schon für meine Ängste geschämt, schäme mich heute noch manchmal dafür. Und jetzt – mache ich mich nackig!

Aber nicht einfach so. Ich hoffe, dass ich Menschen erreiche, die meine oder ähnliche Ängste kennen und die sich im Buch wiederfinden und merken: Ich bin nicht allein. Die während oder nach der Lektüre den Mut finden, sich jemandem anzuvertrauen, sich Hilfe zu holen. Es gibt so bescheuerte Ängste, doch keine ist so bescheuert, dass man sich dafür zu schämen braucht und sich keine Hilfe holen kann.

Angehörige möchte ich erreichen, Menschen, die sich fragen, was genau ist eigentlich mit meiner Mutter, der Nachbarin, meinem Bruder, der Kollegin – wie fühlt sie oder er sich?

Manchmal habe ich mich während des Schreibens gefragt: »Nehme ich mich nicht zu wichtig? Wen interessiert das denn, wie es mir geht?«

Aber eigentlich wusste ich die Antwort schon. Denn mir hat zu Beginn meiner Angstkarriere auch ein Buch gutgetan, ein reines Sachbuch über Ängste, durch das ich merkte: Ich bin nicht verrückt. Was ich habe, das ist eine Krankheit. Und es gibt sehr, sehr viele Menschen, die auch darunter leiden. Und: Man kann etwas tun, damit man besser mit ihr leben kann.

»Wo Lachen ist, ist keine Angst« heißt es, ich bin eigentlich Komikerin und kann das so nicht ganz unterschreiben. Anderen Menschen unbeschwerte Stunden mit meinem Humor zu bescheren, bedeutete in der Vergangenheit oft eine nahezu übermenschliche Arbeit für mich mit dicker, fetter Angst im Nacken.

Dennoch habe ich selbst in verzweifelten Zeiten immer mal wieder in kurzen Momenten auch das Glück, meinen Zustand aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können und kurz darüber zu schmunzeln. Und weil mir als Angsterkrankter ein Erfahrungsbericht über Panik und Ängste auch eher Angst einjagt, habe ich versucht, meine komische Seite in diesem Buch mitreden zu lassen und es so etwas leichtfüßiger werden zu lassen.

Darüber zu reden, mit dafür zu sorgen, dass psychische Krankheiten als genauso normal angesehen werden wie körper­liche, ist mir ein großes Anliegen, und ich hoffe, dass ich mit diesem Buch ein Stück dazu beitragen kann.

ANKUNFT IM MEISENHEIM

»Es riecht nach Klinik.« Kein sehr schlauer Satz, wenn man gerade in einem Krankenhaus eincheckt. Das scheint auch mein Freund zu merken. Er beißt sich auf die Lippen und sieht mich an, als habe jetzt ER Angst; Angst davor, dass ich meine Notfallpillen brauche. Die kleinen blauen, die ich zwar schon lange nicht mehr genommen habe, bei denen es aber gut ist, dass ich sie nehmen könnte, wenn ich es müsste. Ohne sie verlasse ich Hamburg nicht.

Das hier ist weit weg von Hamburg. Wir haben fast drei Stunden im Auto gesessen, bevor wir an dem riesigen Klinikkomplex mitten im Wald ankamen. Ist das denn überhaupt noch Deutschland hier?

Ich hasse es, von zu Hause weg zu sein. Noch mehr hasse ich es, alleine von zu Hause weg zu sein. Deshalb hat sich meine Krankenkasse ausgedacht, dass ich genau das machen soll: Fünf (in Zahlen: 5!) Wochen in einer »Psychosomatischen Reha«, Hunderte Kilometer von Hamburg entfernt. Im herrlichen November. Und mein Freund darf nicht mit …

Genau so muss sich ein Hummer über dem sprudelndkochenden Wasser im Topf fühlen.

Macht man eine Reha nicht eigentlich erst dann, wenn die Operation vorbei ist und der Gips wieder ab? Um das Laufen wieder zu lernen? Mein Gips ist aber noch dran, und ich brauche meine Krücke. Wie stellen die sich das hier eigentlich vor, diese Komiker?

Ach nein, die Komikerin bin ja ich.

Wenn man mich allerdings auf der Fahrt hierher gefilmt hätte, wäre dabei kein YouTube-taugliches Comedy-Video entstanden. Ich habe ständig versucht, nach Plan zu atmen, und gehofft, dass der Sprit ausgeht oder das Navi versagt oder wir wie von Geisterhand wieder nach Hause gelenkt werden und nie dort ankommen, wo ich gar nicht hinwollte.

War eher unkomisch. Auch für mich.

Aber jetzt sind wir hier, und – wie sonnig, wie positiv, wie aufmunternd! Die Wände in hellem Gelb gehalten, die Türrahmen türkis abgesetzt – der Architekt wusste, was uns Gestörten gefällt. Allerdings riecht es nicht nur nach Klinik, sondern es sieht auch eindrucksvoll klinisch aus. Das liegt vor allem an den vielen Leuten im Bademantel und an den Krankenschwestern und -pflegern, die in orthopädischen weißen Schuhen durch die Flure eilen. An den sonnengelben Gängen liegt es auch.

Aber was soll’s – es gibt wohl viel schlimmere Orte, um die nächsten fünf Wochen durchzuheulen. Etwa an einer Autobahnraststätte.

Die Schwester, die mit mir den Papierkram erledigt und meinen Blutdruck misst, wirkt noch sehr jung – nicht viel älter als mein Patenkind, das gerade 14 geworden ist. Allerdings scheint die Frau im weißen Kittel die Pubertät schon hinter sich zu haben. Sie merkt mir meine Aufregung an, erklärt mir alles in ruhigem Ton und lächelt verständnisvoll. Ich versuche, möglichst »normal« zu erscheinen, und labere irgendetwas von »noch nie in einer Psychoklinik gewesen« und »ja, ich nehme Tabletten, aber quasi eine homöopathische Dosis«.

Es ist mir unangenehm, hier einzuchecken. Dabei ist das ja kein Erotikshop. Und außerdem – das hat eine Klinik wiederum mit selbigem gemeinsam – ist der Umgang mit Leuten wie mir für das Personal ja Alltag. Vermutlich sogar selbst gewählt.

Ich mache mir mal wieder zu viele Gedanken.

Aber wie soll ich mir denn keine machen? Das geht ja schlecht, so wie man bekanntlich auch nicht auf Befehl nicht an einen rosa Elefanten denken kann. Und die Frage, wie es wohl werden wird, fünf Wochen lang mit lauter Bekloppten in einer Klinik, die wird ja wohl erlaubt sein. Hoffentlich sind auch ein paar Normale dabei. Solche wie ich. Und schon fange ich an, bitterlich zu heulen.

Schließlich bin ich noch nie so lange alleine von zu Hause weg gewesen. Um auf alle Eventualitäten eingestellt zu sein, habe ich sämtliche Gepäckstücke, die wir besitzen, beschlagnahmt und randvoll gestopft, und zwar mit allem, was mir in den Sinn kam, von Wattestäbchen und Kuscheltieren über Notfallkekse, Wanderschuhe und ein eigenes Kopfkissen bis hin zu Radio und Plätzchenausstechern. Schließlich werde ich die Adventszeit hier verbringen. Hätte mein Freund mir nicht beim Hochtragen der vielen Taschen geholfen, so wären die fünf Wochen vorbei gewesen, bevor ich jemand anderen außer dem freundlichen Portier zu Gesicht bekommen hätte.

Was denken bloß die anderen, wenn ich hier mit einer Containerladung Klamotten ankomme? Schnell versuche ich, den Gedanken wieder wegzuschieben. Zum einen meint mein Therapeut ja, ich müsse mir nicht ständig überlegen, was andere von mir denken (ach so?), und das will ich hier und jetzt verinnerlichen. Zum anderen weiß ich ja nicht, ob nicht doch gleich noch einer mit einem Tieflader anrückt und sechshundertzwanzig Seemannskisten nach oben schleppt.

Der liebe Gott lässt an diesem Novembertag die Sonne noch mal Vollgas geben, als wolle er mir den Start erleichtern. Sie scheint durch die verglaste Front meines – natürlich – in zartem Gelb gestrichenen Zimmers und spielt mit den bunten Blättern des spätherbstlichen Walds gegenüber. Danke dafür. Es erscheint mir nicht mehr vollkommen unmöglich, dass ich mich hier vielleicht auch so was wie wohlfühlen kann.

Ich entscheide mich dafür, nur kurz zu weinen, als mein Freund sich verabschiedet. Vermutlich ist es ja kein Abschied für immer, und er versichert mir mehrmals, dass er mich rausholen würde, sollte es gar nicht gehen. Ich frage das sicherheitshalber etwa zweiundsechzigmal, und er gibt jedes Mal dieselbe Antwort. Könnte also stimmen. Ich nehme mir vor, meine »richtige« Trauer auf später zu verschieben. Schließlich bin ich erwachsen. Ich kann es schaffen. Ich kann ja heute Abend noch ein wenig in mein Kissen weinen, das soll sowieso gut sein zum Einschlafen.

Trotzdem – als er weg ist, wird mir meine Situation schlagartig klar: Ich bin in der kanadischen Wildnis abgesetzt worden. Von einem Helikopter. Nur mit einem Gewehr, etwas Brot, Wasser und dem Schlüssel für eine zwei Meilen entfernte Blockhütte. Okay, die Hütte hier hat Fußbodenheizung und WLAN; das Badezimmer ist viel größer als unseres zu Hause; die Krankenschwestern sind freundlich, und ich werde bestimmt auch die eine oder andere Mitinsassin finden, mit der ich Karten spielen, handarbeiten oder was man noch so machen kann in einer Psychoklinik.

Aber es ist doch eine Wildnis – die brandenburgische eben.

Übrigens: Meine letzte Handarbeit bestand aus einer Makramee-Blumenampel. Das war in der siebten Klasse. Und mit Spielkarten kann ich normalerweise auch nicht viel anfangen. Aber das hier, das ist nicht normalerweise, sondern ein anderer Planet. Vielleicht werde ich hier sogar zum Äußersten schreiten und mal wieder ein Brettspiel spielen.

Warum ich hier bin? Wegen meines ganz persönlichen Dachschadens. Seit über dreißig Jahren kennen meine Angst und ich uns schon – und dennoch kann ich mich nicht so richtig an sie gewöhnen. Ach so, ich muss sie vielleicht erst einmal vorstellen. Gestatten: Panikstörung mit Agoraphobie. Man könnte jetzt denken, dreißig Jahre lang dieselbe Psychomacke, wird das nicht langweilig? Weit gefehlt! Mit der Angst ist es wie mit einem Comedy-Soloprogramm: Jeder Abend läuft anders, obwohl das Programm feststeht. Hoppla, blöder Vergleich – schließlich hat mich die Angst von der Bühne geholt.

Wie das?

Also. Meine Angst äußert sich aktuell in der bereits ansatzweise erwähnten Abneigung dagegen, mich weiter als 12 Meter von meiner Haustür zu entfernen. Und neuerdings auch in der Unfähigkeit, in Anwesenheit anderer Menschen Speisen und Getränke zu mir zu nehmen. Was meine Sozialtauglichkeit doch ziemlich einschränkt. Und auch das Beziehungsleben leidet auf die Dauer, wenn mein Freund das von ihm zubereitete Sonntagsmenü alleine in der Küche essen muss, damit ich im Wohnzimmer beim Mümmeln keine Angstattacke mit garantiertem Erstickungsanfall kriege.

Jedenfalls probiere ich jetzt, nachdem ich alles, aber wirklich alles versucht habe, meine Angst loszuwerden, das letzte Mittel der Wahl aus: eine Klinik. Weit weg von zu Hause. Und das, obwohl ich doch solche Angst davor habe, an einem Ort zu sein, von dem ich nicht einfach wieder so schnell in meine vertrauten vier Wände komme.

Aber eine Klinik ist schließlich kein Sessellift in den Südtiroler Bergen. Die sind ja nur dafür gebaut worden, dass Leute wie ich genau dann darinsitzen, wenn er stundenlang über einer achttausend Meter tiefen Schlucht stehen bleibt. Nicht, dass mir das je wirklich passiert wäre, aber meine Vorstellung davon ist schon schlimm genug. In einer Klinik dagegen, gerade in einer psychosomatischen, gibt es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit jemanden, der sich mit meinen Ängsten auskennt, und wahrscheinlich bin ich hier sehr gut aufgehoben. Das rede ich mir jetzt ein. Hier gibt’s meine kleinen, blauen Beruhigungs­tablettchen sicher auf jedem Stockwerk aus dem Spender, und die Valiumspritzen liegen aufgezogen neben dem Vollkornbrot im Speisesaal. Und Ärzte gibt’s hier bestimmt fast so viele wie auf dem Golfplatz. Eigentlich doch paradiesisch.

Natürlich hatte ich mich vorher im Internet über diese Klinik informiert. Soll man ja gerade in medizinischen Angelegenheiten immer tun – sich schön im Netz umsehen. Zum Glück gibt es reichlich Bewertungsportale, in denen jeder, aber wirklich jeder seine Meinung kundtun kann. Es kann also eine schöne Zeit hier in der Klinik werden – wenn man auf die richtigen Leute trifft –, darin waren sich im Netz alle einig. Allerdings gibt es nur Doofe hier (laut Wackelpetra56 und Ihrkönntmichalle67). Das Haus zieht demnach Arschgeigen an, interessant. Das Essen schmeckt furchtbar (Zimbria_DR), ist dabei aber ganz okay, auch für Veggies (E-M.ausF). Die Therapeuten haben keine Ahnung von nix (Veramaus69), sind aber ganz toll, besonders Herr M. aus der Physio (Schmüggler.Beate). Man sollte diese Klinik »auff keinen Fal weiter emfelen« (Dausden-Matthias), aber auf jeden Fall die Verlängerung annehmen, wenn sie einem angeboten wird (Petraschauer). Ich bin also sehr gut vorbereitet, weiß auch, dass ein Zimmer im Altbau »scheisse ist, da viel zu laut« (diePaula), der Neubau allerdings »richtig weite Wege und die Raucherecke vor dem Fenster« (Marioneschmidtz) zu bieten hat und man sich zu allem Unglück »das Zimmer nicht selbst aussuchen darf«, was Elvira.Faust »unmöglich« findet für »physisch angeschlagene Menschen«. Vielleicht bilde ich mir doch meine eigene Meinung. Jetzt geht’s erst mal zum Klinikrundgang mit alten Hasen.

»Ich bin Anke.« Die kleine brünette Frau mit dem fröhlichen Lächeln wirkt vollkommen normal. Aber sind das nicht die richtig Gefährlichen? »Und ich Jennifer. Wir zeigen euch jetzt, wo hier alles ist in der Meisenklinik.« Die blond gefärbte Frau kichert und fügt hinzu: »So nennen die Leute im Ort das Haus.«

Riesenlacher. Klar fühlt man sich gleich besser, wenn man alles nicht so ernst nimmt. Die Ängste, die Erschöpfung und Trauer, Zwänge und was sich sonst noch alles im bunten Garten der Psychoprobleme tummelt. Wenn man sich darüber einfach mal lustig macht und sagt, »Hihi, wir sind die mit der Meise«, ist das bestimmt besser, als sich gegenseitig noch mehr runterzuziehen. Aber ich habe leider, beruflich bedingt, gewisse Mindestansprüche an Gags und Pointen. Ich fürchte, das wird mir hier noch Schwierigkeiten bereiten.

Jennifer erinnert mich an ein Pferd – ein gesundes, schönes Dressurpferd. Sie wirkt sehr sportlich, und der Eindruck entsteht nicht nur durch ihre eng anliegende Gymnastikhose nebst Turnschuhen, von denen Loriot gesagt hätte, sie sähen aus, als sei sie in eine Sahnetorte getreten, sondern auch durch die Person, die das durchaus tragen kann. Jennifer hat eine laute Stimme und kommt mir eher wie die mutige Anführerin einer Bande vor und nicht wie eine Person mit psychischen Schwierigkeiten. Anke, wie Jennifer schon seit zwei Wochen hier zu Gast, ist im ausgeleierten Jogginganzug unterwegs. Ich hatte mir bereits in Hamburg vorgenommen, keine der anstehenden Mahlzeiten im Jogginganzug einzunehmen und auch sonst weitestgehend zu versuchen, Stil zu bewahren. Vielleicht ist das Quatsch. Vielleicht aber auch sehr weise. Möglicherweise hat Karl Lagerfeld ja recht mit der These, wer Jogginghosen trage, habe die Kontrolle über sein Leben verloren.

Aus der Klinikbroschüre weiß ich, dass die Neuankömmlinge in kleinen Gruppen zusammengesteckt werden und dann die ganze Zeit in dieser Konstellation zusammenbleiben. Ob das hier und heute mit der Klinikführung schon anfängt? Ist das hier meine Gruppe für die kommenden fünf Wochen? Ich öffne sicherheitshalber schon mal ein paar Klischeeschubladen: Die sind ja alle älter als ich. Die unförmige Rothaarige mit dem Faltenrock guckt irgendwie böse, und die kleine Blonde mit der Stoppelfrisur hat so einen Watschelgang und ständig den Mund offen – die nimmt doch bestimmt sehr, sehr starke Psychopharmaka. Die lange Dünne mit den blonden Locken sieht ganz sympathisch aus, aber sie redet ohne Unterlass. Was ist denn mit dem jungen Mädchen mit dem Kapuzenpulli und den Turnschuhen? Die ist doch ganz in meinem Alter. Die sieht nett aus! Hat ein sehr ansteckendes Lachen und wirkt offen. Mit ihr möchte ich meine Zeit hier absitzen, nehme ich mir vor und überlege, wie ich am besten bei ihr andocken kann.

Als ich mir zu Hause die fünf Wochen vorgestellt hatte, sah ich mich alleine in meinem Zimmer, zwischen vollgerotzten Taschentüchern auf dem Bett lümmelnd, meinem Leiden hingegeben und den winzigen Fernseher durch pausenloses Zappen zur Kabelschmelze bringend. Bücher habe ich stapelweise dabei, Musik und was zum Malen, es kann also keinerlei Langeweile aufkommen, wenn ich keine finden sollte zum Reden, Spazierengehen und Brettspielespielen. Aber die Auswahl an Frauen ist tatsächlich riesig. Denn Psychos sind selbstverständlich weiblich. Männer trinken Bier, essen fettes Grillfleisch und kriegen einen Herzinfarkt. Die gehen nicht in so eine Klinik. In meiner Gruppe ist es also wie im Tanzkurs oder im Kirchenchor. Wobei mir Männer nicht direkt fehlen, außer einem.

Beruhigend finde ich, dass hier alle ziemlich normal aussehen. Niemandem wächst eine Palme aus dem Ohr, und es gibt auch keine, die sich intensiv mit den Aufzugknöpfen unterhält. Am Hamburger Hauptbahnhof laufen wesentlich durchgeknalltere Leute rum.

Im vierten Stock halten wir, und Anke öffnet die Tür. Ihre Kollegin übernimmt: »Es gibt vier Waschmaschinen für sechshundert Leute. Passt auf eure Wäsche auf, bleibt dabeisitzen, während sie wäscht.« Jennifer ist ganz ernst geworden. Und so werden wir eingeweiht in die Sage von der verschwundenen Wäscheladung:

Es begab sich zu der Zeit, dass eine Frau alles aus ihren sieben Koffern und Taschen aufgetragen hatte und es an der Zeit war, einiges davon einem Reinigungsprozess zu unterziehen. So ging sie denn an einem Dienstag zu den Vier Waschmaschinen – einem verwunschenen Ort, der von den weisen Frauen des Ortes häufig aufgesucht wurde, um dem Zauberer Persil zu huldigen. An den Dienstagen aber, so ging die Mär, war man meist alleine mit den Persilmaschinen, weil das der Abreise- und Ankunftstag war. Als die Frau eine Maschine beladen und angestellt hatte, schickte sie sich an, den gepriesenen Ort zu verlassen, um sich dem Fango oder dem Leibwickel hinzugeben. Sie hatte vor, erst nach Ablauf einer Stunde zurückzukehren. Eine weise Frau, die zufällig des Weges kam, riet ihr aber, besser bei ihrem Waschgute Wacht zu halten. Allein, die Frau schlug die Warnung als Waschweibergeschwätz in den Wind und trollte sich. Als sie gut sechzig Minuten später wiederkam, war, so sagt der Volksmund, der Waschmaschineninhalt verschwunden. In der magischen Trommel befand sich nur noch ein Zettel, auf dem geschrieben stand: »Die Wäsche passt mir auch!«

Diese grausige Geschichte scheint in der Klinik seit Erfindung der Waschmaschine in Umlauf zu sein – jedenfalls bekomme ich sie im Laufe meines Aufenthalts noch mehrfach aus verschiedensten Mündern zu hören. Ich grusele mich immer wieder aufs Neue. Wie kann man etwas so Schreckliches in einer Psychoklinik erzählen? Man sollte wissen, dass man mit solchen Gruselgeschichten den Verbrauch von blauen Pillchen in ungeahnte Höhen treibt!

Wir gehen weiter. »Im Altbau gibt’s Aufenthaltsräume, die habt ihr im Neubau nicht. Zum Teil stehen da auch Bücher drinne.« Anke scheint im Altbau zu wohnen, und sie brüstet sich ein bisschen zu sehr mit den unermesslichen Möglichkeiten, die uns armen Neubaumenschen verwehrt bleiben, finde ich. »Außerdem finden die meisten Behandlungen im Altbau statt.« Irre ich mich, oder sehe ich da Schadenfreude in ihrem Gesicht?

»Habt ihr im Altbau eigentlich auch Fußbodenheizung und elektrische Jalousien?«, frage ich arglos.

»Und auf jedem Stockwerk eine Teeküche? WLAN im Zimmer? Pay-TV mit Kino-Blockbustern im 75-Zoll-LED-TV? Bade­mantel und Hausschuhe? Extra-Kissen? Einen Whirlpool im Bad? Wasabi-Nüsschen in der Minibar? Nicht?«

Ich mache eine Kunstpause, bevor ich auflöse: »Wir auch nicht. Doch, Fußbodenheizung und Teeküche stimmt.« Wenn ich in die Gesichter um mich herum gucke, habe ich den Eindruck, mir viele neue Freundinnen gemacht zu haben.

»Und hier probt der Chor.« Jennifer öffnet eine Tür. Toll, von dem habe ich schon gehört! Da will ich hin. Singen ist gesund. In Hamburg war ich auch mal in einem Chor. Es machte Spaß – bis die ersten öffentlichen Auftritte anstanden. Noch mehr Auftritte, sogar in meiner Freizeit – das wollte ich nicht.

Der Chorraum ist groß, eine Seite ist verglast, und vorne steht ein ziemlich runtergerockter Flügel. Anscheinend finden hier auch Vorträge statt, stelle ich messerscharf angesichts der zahlreichen Stuhlreihen fest. »Ohgottohgott, ruhig sitzen mit vielen Menschen in einem Raum!«, zählt mein nervöses Hirn umgehend eins und eins zusammen. Ich bestelle beim Universum schon mal für sämtliche Veranstaltungen in diesem Raum einen Stuhl neben dem Ausgang und bete, dass nicht alle hier so drauf sind wie ich. Obwohl das ja anzunehmen ist.

Ich erinnere mich an eine Premiereneinladung, als ich die Dame vom Kartenservice anrief, mich bedankte und um Plätze am Rand bat. Sie lachte und sagte: »Bei einer Premiere, wenn viele Schauspieler und Regisseure kommen, könnte ich Randplätze bis zur Alster vergeben. Künstler sind doch alle neurotisch.« Das fand ich irgendwie beruhigend. Ich war stolz auf mich und meine Kollegen.

Tiefenentspannt mittendrin sitzen ist eben nur etwas für unsensible Holzklötze. Klar, man sieht von da aus mehr. Aber die wirklich feinen Gemüter sitzen am Rand.

Lange Zeit galt für mich: Lieber auf der Bühne als mitten im Publikum. Das waren noch Zeiten! Heute will ich nirgends mehr sein. Höchstens zu Hause vor dem Fernseher. Vorausgesetzt, es kommt nichts Schlimmes. Schöne Filme will ich sehen, mit kleinen Häschen und Kätzchen und kichernden Mädchen im Sonnenschein.

Wir kommen zum Fitnessraum. »Hier rein dürft ihr nur zu dritt. Weil, wenn einem was passiert, bleibt einer bei ihm, und einer holt Hilfe.« Im Kopf ergänze ich die meines Erachtens nicht unerhebliche weibliche Form. Schließlich ist es recht unwahrscheinlich, dass sich in der gesamten Klinik überhaupt drei Männer finden, geschweige denn welche, die zusammen sporteln wollen. Obwohl diese Höhle wirklich mehr als einladend daherkommt, mit ihrem verschlissenen grünen Teppichboden und dem defekten Laufband. (Ich mag es, wenn etwas »daherkommt«. Vor allem bei Räumen.)

Abends in meinem Zimmer ziehe ich Bilanz.

Wie geht es mir gerade?

Schlecht ist: Ich will nach Hause! Ich fühle mich alleine – und so fehl am Platz wie ein Biertrinker in Italien. Und ich bin so weit weg von Hamburg.

Gut ist: Die Tabletten scheinen zu wirken. Sonst hätte mich heute Morgen niemand ins Auto bekommen.

Schlecht ist: Ich habe meinen Kompass vergessen und werde deshalb in diesem Labyrinth aus Altbau, Neubau, Turnhalle, Schwimmbad, dem Physiobereich, dem Tischtennisraum, dem Speisesaal nebst Cafeteria, den Ergotherapieräumen, dem Vortragssaal und dem verwunschenen Waschmaschinenraum verloren gehen.

Gut ist: Ich werde nicht waschen müssen. Mein Gepäck reicht notfalls auch für zehn Wochen.

Schlecht ist: Ich habe keine Ahnung, was mir das alles hier bringen wird.

Gut ist: Es könnte auch was Gutes sein.