Verletzlich ist das neue Stark - Käthe Lachmann - E-Book

Verletzlich ist das neue Stark E-Book

Käthe Lachmann

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Beschreibung

Ewig jung, stark und leistungsfähig bleiben, jede Herausforderung annehmen und dabei immer schneller perfekte Leistung bringen – das, so nehmen wir an, macht uns attraktiv auf dem Arbeitsmarkt genauso wie bei der Partnersuche oder im Freundeskreis. Doch sind wir wirklich stark, wenn wir unsere Schwächen verstecken? Oder würde es uns nicht sogar stärken, wenn wir anderen Menschen Einblick in unser Seelenleben gewähren und unsere Verletzlichkeit preisgeben? Spielen Scham und Verletzlichkeit überhaupt noch eine Rolle in einer schamlosen Zeit von Dschungelcamp, Rettungskräfte behindernden Gaffern auf der Autobahn und Nacktdatingshows? Dieser und anderen brennenden Fragen geht die Komikerin Käthe Lachmann in ihrer humorvollen und gleichzeitig tiefgründigen Art auf den Grund. Dies tut sie anhand ihrer eigenen Biographie, interviewt darüber hinaus Spezialisten zum Thema und befragt ihre prominenten Kollegen Axel Hacke, Eckart von Hirschhausen und Carolin Kebekus.

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Seitenzahl: 268

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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Anja Schmidt

Lektorat: Anna Cavelius

Covergestaltung: independent Medien-Design GmbH, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Ina Maschner

ISBN 978-3-8338-6983-9

1. Auflage 2019

Bildnachweis

Illustrationen: Serge Bloch

Fotos: Monika Schuerle

Syndication: www.seasons.agency

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Achtung: Scham-Alarm!

Peinlichkeiten sind der erfolgreichen Stand-up-Entertainerin und Komikerin Käthe Lachmann nicht fremd. Jahrelang begeisterte sie ihr Publikum mit ihren skurrilen Figuren und Geschichten aus dem »ganz normalen Alltag« und trieb ihm die Lachtränen in die Augen. Trotzdem zog sich der Quatsch-Comedy-Club-Star im Jahr 2015 aus der Öffentlichkeit zurück. Ihre Angststörung machte eine weitere Bühnenkarriere unmöglich. Das sensible Thema verarbeitete sie – wieder sehr komisch – in ihrem Buch Keine Panik, liebe Angst.

In Ihrem neuen Werk setzt sich dieAutorin intensiv mit dem Thema Verletzlichkeit auseinander. Sie zeigt, dassVerwundbarkeit ein Geschenk ist, wennwir richtig damit umzugehen lernen. Dazu spricht sie unter anderem mit Axel Hacke, Eckart von Hirschhausen, Carolin Kebekus und Julia Tomuschat über Verletzlichkeit und holt sich Rat bei dem Hamburger Psychologen Dr. Michael Zorawski. Letztlich, so ihr Fazit, muss einem nichts im Leben peinlich sein, wenn man lernt zu sich zu stehen und sich so anzunehmen, wie man ist.

Tu mir nix!

Wir Menschen sind von Haus aus schon einmal rein körperlich ziemlich verletzlich. Die meisten von uns werden ohne Panzer geboren (ja, alle, – das war ein Scherz!), sind also recht anfällig für dies und das und müssen zuallererst davor beschützt werden, sich in irgendeiner Weise zu verletzen, um groß und stark werden zu können.

Man kann uns auch vergiften, verprügeln, vergewaltigen. Ersticken geht (ohne Luft), erstechen (oder nur piksen), auch verbrennen kann vorkommen, ertrinken (viel Wasser!) ist möglich.

Denn für Verletzungen gibt es im Leben mannigfaltige Möglichkeiten: Wir können die Treppe herunterfallen und uns etwas brechen oder auf dem unbehelmten Kopf aufkommen und eine Gehirnerschütterung kriegen, wir können uns verbrühen (zum Beispiel in der Küche beim Kürbissuppe oder irgendetwas anderes kochen) oder schneiden (ebenda); nicht nur im Wilden Westen (auch beim Duell) können wir angeschossen oder gar erschossen werden und im ganz normalen Straßenverkehr an- oder überfahren werden.

Eine Operation kann fehlschlagen (sorry!), Gliedmaßen können uns abfaulen (Zehen, Ohren, Nase etc.), wir können sie uns quetschen und einklemmen (Finger und Autotür! Aua!), und wir können erfrieren (oder nur Teile von uns, etwa Zehen, Ohren, Nase etc.). Eine Schlange kann uns beißen (oder ein tollwütiger Hund) oder eine Mücke stechen (oder eine Wespe! Biene! Hornisse!), unsere Speiseröhre kann von zu scharfer Speise reißen (Chili!), wir können mit Krankheitserregern (haben Salmonellen irgendetwas mit Lachs zu tun?) infiziert werden und einen Schnupfen bekommen oder gefressen werden (nein, nicht von Salmonellen – von waschechten Kannibalen), traumatische Erlebnisse können uns krankmachen, wir können einen Stromschlag bekommen oder explodieren. Vielleicht.

Gelenke und Organe nutzen sich ab (je älter wir werden) oder sind schon genetisch bedingt nicht völlig in Ordnung. Wir können verhungern und verdursten, zu wenig Licht (Goethe: »Mehr Licht!« Zack – tot) und zu wenig Sauerstoff können uns krank machen. Wir können uns die Haut aufschürfen, uns überfressen (siehe Attila, der Hunnenkönig), das Falsche essen, zu viel trinken, das Falsche (immer aufs Etikett achten!) trinken. Einen Hitzschlag bekommen können wir auch oder vom Blitz getroffen werden (Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du auch nicht aufsuchen). Es kann etwas auf uns fallen, und wir können uns überanstrengen und dann mindestens Muskelkater kriegen. Wir können die falschen Drogen nehmen. Wir können eine Allergie entwickeln. Erblinden (aber nur vom Masturbieren). Stolpern und uns etwas ausrenken/auskugeln. Uns auf die Zunge beißen (selbst Vegetarier!).

Wenn man sich das so durchliest, merkt man: Wir Menschen sind wirklich ziemlich verletzliche Wesen. Außer, wir sind Superman. Aber das sind ja bekanntlich nur wenige von uns.

Und dann gibt es das alles noch in den verschiedensten Kombinationen. Also mit ausgekugelter Schulter vom Baum fallen, wo man einen vergifteten Apfel gegessen hatte, und dann unten mit Schürfwunden auf der Straße liegen und von einem Auto angefahren werden, das – mit einem selbst darunterliegend – explodiert. Jetzt mal nur als Beispiel.

Wir denken aber selten an all die Missgeschicke, die uns widerfahren könnten. An manche haben wir uns auch gewöhnt (Mückenstiche! Schnupfen!), und bei manchen ist die Wahrscheinlichkeit so gering, dass wir davon ausgehen können, dass wir niemals damit behelligt werden (Schlangenbiss nur im Sommer im Süden ohne Schuhe im hohen Gras; in eine Schießerei geraten genauso selten, aber auch mit Schuhen und ohne Gras). Vielleicht orientieren wir uns an Statistiken, um Gefahren zu umgehen, oder wir schützen uns entsprechend mit passender Kleidung (Kondome, Helme, Schutzanzüge, Schutzbrillen, Taucherausrüstung, kugelsichere Westen) oder mit entsprechenden Maßnahmen (Impfungen, weiträumiges Umschiffen von potenziell gefährlichen Situationen, nur mit Schuhen im hohen Gras im Süden. Im Sommer. Regelmäßige Kontrollen beim Arzt, gesunder Lebensstil, nirgendwo hinaufklettern, von wo man hinunterfallen könnte).

BODY AND SOUL

Und wir sind aber ja nicht nur körperlich verletzlich, nein, wir sind auch sensibel, kränkbar, unsere Seele ist verletzlich, aus körperlichen Verletzungen können seelische entstehen und auch andersherum.

Aber die meiste Zeit leben wir einfach fröhlich vor uns hin und denken an nichts. Also an nichts, was uns passieren könnte. Und das ist auch genau richtig so, sonst würde man ganz verrückt werden, wenn man immerzu daran denken würde, dass man ertrinken, erfrieren, ersticken – na, du weißt schon.

Vor allem im zwischenmenschlichen Umgang ist unsere Seele sehr verletzlich. Denn wir brauchen unsere Mitmenschen, Freundschaften, Beziehungen und ein respektvolles Miteinander. Wir sind auf das Wohlwollen anderer angewiesen, damit es uns gutgeht und wir seelisch intakt bleiben. Und wir haben Angst, dass sie uns meiden, wenn wir ihnen unsere vermeintlichen Schwächen zeigen, und schämen uns deshalb für alles Mögliche und behalten unsere Macken für uns.

Ein Dankeschön an Dr. Michael Zorawski. Er ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut mit Schwerpunkt Kognitive Verhaltenstherapie in Hamburg und Norderstedt und hat mir auf meine Fragen kluge Expertenantworten gegeben.

Wie wir besser mit dieser ganzen Verletzlichkeit umgehen können, ohne ständig verletzt zu sein, darum geht es in diesem Buch. Aber Vorsicht: Alles, was du hier liest, entspringt meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen als verletzlichem Wesen. Und denen bekannter (und deshalb nicht weniger verletzlicher!) Menschen und Verletzlichkeits-Profis wie Dr. Zorawski.

Ich wünsche mir sehr, dass du dich nach der Lektüre weniger oft schämst und deine »Schwächen« als wertvollen Teil deiner Persönlichkeit anerkennen kannst.

Hab mich doch lieb

Herr Dr. Zorawski, wozu brauchen wir denn eigentlich unsere Mitmenschen?

Der Mensch ist ein soziales Lebewesen, was zunächst evolutionäre Gründe hat. Wir brauchen zumindest einen Mitmenschen, um uns fortzupflanzen. Als Baby und Kind sind wir auf unsere Eltern angewiesen, um zu überleben und uns zu entwickeln. Aber auch darüber hinaus sind wir sozial organisiert, in Familien, Gruppen, Vereinen usw. Das erhöhte seit jeher die Chancen auf unser Überleben, vom besseren Schutz vor wilden Tieren vor 100 000 Jahren bis hin zur garantierten Minimalversorgung im modernen Sozialstaat. Die, die besonders sozial veranlagt waren, hatten größere Überlebens- und Reproduktionschancen und konnten somit ihre Gene mit höherer Wahrscheinlichkeit in die nächste Generation einbringen. So hat sich diese Neigung im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer mehr ausgeprägt. Subjektiv erlebt, äußert sich das darin, dass Menschen die Nähe anderer Menschen suchen, nicht nur wegen Sicherheit und Sex, sondern auch, um komplexere Ziele zu verfolgen. Kulturelle Entwicklung, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, Wettbewerb und Kooperation, Sinnstiftung und Spaß, Romantik und Geborgenheit sind ebenfalls Ausdruck unserer sozialen Neigung. Deren Ausprägung kann genetisch oder umweltbedingt jedoch variieren. So ist eine zentrale angeborene Persönlichkeitsdimension der Grad unserer Intro- beziehungsweise Extrovertiertheit. Einige Menschen fühlen sich im Zentrum der Aufmerksamkeit am wohlsten, andere sind lieber am Rand oder ganz für sich. Zudem spielt das Kollektiv im Vergleich zum Individuum in einigen Kulturen oder politischen Systemen eine mehr oder weniger große Rolle.

Wir brauchen unsere Mitmenschen also nicht nur, sondern wir bevorzugen es auch oder genießen es gar, unser Leben in Gesellschaft zu führen. Das menschliche Miteinander gehört zu einer gesunden Psyche und einem zufriedenen Leben. Diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Negative zwischenmenschliche Erfahrungen gefährden unsere psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Psychische Störungen wiederum können zu Problemen im Kontakt mit unseren Mitmenschen führen.

Probleme im Kontakt mit unseren Mitmenschen? Das ist mir sowas von egal, denken die wenigsten von uns. Im Gegenteil, wir neigen dazu, uns im besten Licht darzustellen, denn es gibt die unterschiedlichsten Dinge, für die wir uns schämen, die uns kränkbar und angreifbar machen, Fähigkeiten, die wir nicht erlernt haben (zum Beispiel auf Kommando schielen), körperliche Gegebenheiten, die uns wie ein Mangel erscheinen (Dinkelackerspoiler), Ängste, die wir seit der Kindheit mit uns herumschleppen (der böse Watz!), Minderwertigkeitskomplexe (»Ryan Gosling würde mich niemals heiraten!« – »Aber der ist doch schon verheiratet!« – »Aber nicht mit mir!«), Schüchternheit (Ich trau mich nicht. Egal, was.) und vieles mehr. Wir sind verletzlich. Aber was bedeutet das?

Brené Brown, eine US-amerikanische Autorin psychologischer Schriften, die seit Jahren unter anderem zum Thema Verletzlichkeit forscht, schreibt: »Verletzlichkeit ist der Kern aller Emotionen und Gefühle. Zu fühlen heißt, verletzlich zu sein.«

Wir wollen uns damit nicht befassen. Wir verstecken unsere Schwächen und denken nicht über unsere Verletzlichkeit nach, schließlich haben wir dafür auch überhaupt keine Zeit. Wir haben nämlich ständig zu tun, wir rennen durch die Gegend, hasten von Termin zu Termin, holen die Kinder von der Schule ab und bringen sie zum Chinesisch-Unterricht und hetzen zum Meeting und besorgen auf dem Weg noch schnell ein Brot und telefonieren währenddessen mit dem Handwerker und holen das nächste Kind schon mal vom Schlagzeugunterricht ab, und das muss dann eben mit zum Friseur, und da sitzt es dann und darf mit dem Tablet spielen, und dann müssen noch die Winterreifen runter und die Sommerreifen drauf, deshalb müssen wir nach dem Friseur die anderen Kinder mit dem Taxi abholen, und dann kommt das Kindermädchen nicht rechtzeitig, und wir sind eine Viertelstunde zu spät beim Yoga, wo wir uns endlich entspannen können. Für anderthalb Stunden. Dann aber schnell nach Hause und auf dem Weg den Mann anrufen, dass er das vergessene Kind vom Chinesisch-Unterricht wieder abholt, und das Meeting für morgen vorbereiten.

Wann will man da an einen eingewachsenen Zehennagel denken? Oh, den habe ich oben ganz vergessen. Zu spät! Wir haben ihn sowieso vergessen bei all den Terminen und Meetings und Telkos und allem.

Und die kluge Leserin hat schon gemerkt, dass ich da etwas reingeschmuggelt habe in die Aufzählung: Na? Was? Richtig, den Friseur! Denn bei all der Hektik wollen wir auch noch gut aussehen. Neue Strähnchen wollen wir, am besten über das Grau. Frische Strähnchen, damit die Haare aussehen wie frisch aus dem Malediven-Urlaub. »Ach, das war alles die Sonne – ich bin eigentlich ja wesentlich dunkler!«. Das stimmt nur sehr selten. Leider. Ich weiß es, ich habe selbst Strähnchen. Eigentlich habe ich so viele Strähnchen, dass es einfacher wäre, die anderen Haare dunkler zu machen. Aber davon ginge das Grau ja nicht weg. Doch genug von mir, bleiben wir bei uns: Wir wollen nicht nur gut aussehen, wir wollen perfekt aussehen. Deswegen gehen wir joggen (nicht JEDEN Tag, meine Güte! Donnerstag ist Pause, deshalb fehlt der oben) und kaufen diesen sehr sauren Joghurt mit 0,3 % Fett, in den wir unsere ungezuckerten Cranberries rühren. Superfood! Natürlich Cranberries! Superfood essen wir am liebsten! Chia und Quinoa und Hirse und Avocados! Weil die wahnsinnig gesund sind. Damit wir nicht explodieren – also, daran denken wir dann schon auch manchmal. Und wir trinken Grünkohl-Mango-Avocado-Smoothies. Und machen Yoga, fürs Anti-Aging. Wieso Anti-Aging? Führt das direkt zum Tode, oder wie? Das ist ja traurig! Aus dem Herabschauenden Hund direkt ins Grab? Perfect Future stand mal auf einer Gesichtscreme, und das hört sich auch viel besser an!

Wobei es regional verschieden ist, ob man seine Verletzlichkeit zeigt oder nicht. So soll man im Schwabenländle gar nicht den Eindruck vermitteln, dass einem alles ganz locker von der Hand geht: »Sie sähet aber arg abgschafft aus!« ist eins der größten Komplimente in Baden-Württemberg. Das ist gut, wenn man bedenkt, dass ein weiteres, noch größeres Kompliment lautet: »Sie send a Fässle!« Also ein kleines Fass. Und wer möchte schon damit verglichen werden? Aber bleiben wir beim »abgschafft« aussehen, abgearbeitet also. Wieso verdient das Respekt? Im Schwäbischen ist es klar: Weil man nicht nur auf der faulen Haut liegt, sondern sich abrackert, etwas tut, arbeitet, fleißig ist. Und dafür gibt es natürlich höchste Anerkennung!

Genauso wie im ganzen Land ein Burn-out, Herzinfarkt oder Magengeschwür honoriert wird: »Toll, da hat sich jemand krank gearbeitet!« Extrem bewundernswert für viele. Nur schade, dass er sich nicht totgearbeitet hat – naja, kann ja noch kommen.

Also am liebsten wollen wir sehr viel arbeiten und dabei auch immer sehr gut aussehen. Und statt uns der Gründe für unsere Augenringe anzunehmen und dafür zu sorgen, mehr zu schlafen und gesünder zu leben, überschminken wir sie einfach. Oder wir spritzen ein bisschen Botox, nur ein klitzekleines bisschen und auch gar nicht oft und auch nur, weil wir da eine Kosmetikerin kennen, die hat da ab und zu was übrig, und das spritzt sie dann ein bisschen in die Stirn, nur wegen der Sorgenfalten, die Lachfältchen will ich ja behalten, um Gottes willen, natürlich, ich will ja nicht aussehen wie Nicole Kidman! Hm, mein Kinn könnte auch etwas straffer sein und die Reiterhosen – ich reite doch gar nicht, und die stören mich noch nicht. Nicht so sehr, jedenfalls. Immer eins nach dem anderen.

Selten sind wir wirklich bei uns und dem, was uns wirklich beschäftigt, weil wir mit dem um uns herum so viel zu tun haben. Und zu dem, was sowieso schon an Stress und Hektik und Aufgaben um uns herum los ist, fügen wir noch mehr hinzu, was uns von uns ablenkt

Wir perfektionieren uns äußerlich, wenn es sein muss, auch chirurgisch, und wir optimieren unser Leben. Wirklich. Es wird alles sehr viel optimaler! Und einfacher. Zum Glück leben uns die ganzen Promis vor, wie man auszusehen hat und was man zu essen und zu tun hat, dann muss man sich das nicht auch noch selbst überlegen, das kostet Zeit, und man würde sich eventuell aus Versehen mit sich selbst beschäftigen und damit, wie wir wirklich leben wollen, was uns ganz und gar erfüllt und was uns traurig macht und wofür wir uns schämen.

Wir twittern und posten unser Essen (Sellerieschnitzel mit Quinoa und Bohnen! Lecker!) und ein neues Augen-Make-up (Magic Eyes!) und einen tiefsinnigen Spruch von Paulo Coelho (»Man ertrinkt nicht, weil man unter Wasser taucht, sondern weil man unter Wasser bleibt.«) und ein Foto davon, wie süß unser Hund gerade daliegt (süß!), und dass wir uns auf den Urlaub freuen oder wie schön wir es am Meer finden, und machen weiter damit, so zu tun, als sei alles wunderbar, und gleichzeitig hoffen wir jedes Mal, wenn wir in eines unserer Social-Media-Konten starren, dass wir aus unserer selbstverschuldeten Einsamkeit geholt werden, durch eine Unmenge von Likes unter unserem Selfie mit Aperol Spritz in der Hand vor dem Sonnenuntergang (witzig, die Farben vom Spritz und vom Sonnenuntergang sind sich total ähnlich!). Denn die Likes zeigen uns, dass wirklich alles in unserem Leben so super ist wie auf dem Bild aus dem Urlaub (Ein Schnäppchen! Und echt tolles Wetter!), den wir uns sowas von verdient haben!

Und in Wirklichkeit ist vielleicht gar nichts gut, aber das wollen wir niemandem zeigen und schon gar nicht uns selbst, weil wir uns in unserer Unvollkommenheit schlecht aushalten. Wir decken unser Inneres zu, mit Arbeit, mit Ablenkung, mit einem Leben im schönen Schein. Wir werden immer perfekter darin, uns zu inszenieren, immer dünner, mit immer weißeren, geraderen Zähnen und immer strahlenderem Lachen. Bis wir alle gleich aussehen.

Und wenn wir dann doch mal ein kleines bisschen an uns zweifeln oder traurig sind oder beginnen, etwas infrage zu stellen, dann kritisieren wir uns dafür selbst am meisten. Unser innerer Kritiker ist so ein Arsch. Denn als wäre unser Leben nicht schon hektisch und anstrengend genug, gibt er immer noch seinen Senf dazu: Du musst mehr schaffen! Du bist faul! Du verdienst zu wenig! Du bist eine Rabenmutter! Du bist zu fett! Zu schlaff! Zu irgendwas, aber auf jeden Fall zu! Und gleichzeitig zu wenig!

Im Uns-selbst-Kritisieren sind wir Weltmeister!

Herr Dr. Zorawski, hat jeder von uns einen »inneren Kritiker«? Ist das gar gesund? 

Kritik bedeutet zunächst einmal Beurteilung. Und wer sein eigenes Handeln nicht beurteilt, der kann es auch nicht korrigieren und auf seine Lebensziele, Normen und Werte ausrichten. Insofern ist ein »innerer Kritiker« nicht nur ganz normal, sondern auch gesund. Wichtig ist dabei nur, dass die innere Kritik rational und konstruktiv ist.

Der Begriff »innerer Kritiker« meint zumeist eine negative Stimme, die einen pauschal abwertet (»Wenn ich die Klausur nicht bestehe, bin ich ein Versager.«), Dinge fordert, die nicht in unserer Macht liegen (»Ich muss diesen Job kriegen.«), und mit zweierlei Maß misst (andere behandeln wir oft wohlwollender als uns selbst). Das ist dann nicht mehr gesund und kann zu Selbstwertproblemen und psychischen Störungen führen.

Es gab einmal eine Studie vom Haut- und Haarpflegeproduktehersteller Dove. In der wurden Frauen befragt, was sie alles an sich nicht mögen. Sie setzten sich dann zu zweit in ein Café und redeten über sich, als wäre es jemand anderes, also in etwa so: »Carola ist richtig fett. Die hat aber auch so zugenommen! Und diese Tränensäcke – also, da muss man doch mal etwas machen!« Sie lästerten schlimm ab und gaben sich nicht viel Mühe, leise zu sprechen. Die anderen Leute in dem Café waren entsetzt. Einige Frauen kamen an den Tisch und sagten: »Wie reden Sie über ihre Freundinnen, die sich nicht verteidigen können?« – Aber sie waren ja da. Sie redeten über sich selbst. Es ist erschreckend, wie wir über uns selbst denken und sprechen, wir wären zutiefst empört, wenn andere so über uns sprächen.

Wenn man sich vorstellt, ein anderer spricht so mit einem, dann kann das ganz schön wütend machen! Wir selbst aber tun es.

Das kennt bestimmt jeder, dass man mal sagt: »Ich bin aber auch zu blöd! Wo habe ich dämliches Ding schon wieder den Schlüssel hingetan?« oder ähnlich. Es fühlt sich nicht sonderlich schlimm an, wenn man das zu sich selbst sagt. »Boah, ich Doofi!« oder »Wie kann man nur so bescheuert sein?« klingt für einen selbst ganz normal.

Ganz oft nennen wir uns »dämlich«, »trantütig«, »Heulsuse« etc. Oder mache nur ich das? Das wäre mir jetzt wirklich peinlich. Ich will darauf hinaus, dass wir mit uns selbst gnädig sein sollten. »Warum kann ich das nicht?« sollte nicht mit »Ich dämliche Ziege!« weitergehen, sondern mit: »Na, dann eben nicht. Dann lasse ich mir das noch einmal zeigen.« Oder: »Das muss ich noch üben.«

Wir haben doch allen erdenklichen Grund dazu, nett zu uns selbst zu sein, uns mit all unseren Unsicherheiten und Schwächen anzunehmen und zu sagen: Das bin alles ich. Und das ist völlig okay. Und ich bin noch viel mehr. Ich mag mich. Außerdem kann ich einen tollen Kartoffelsalat machen, und ich weiß den Erlkönig noch ganz auswendig. Und ich bin eine 1-a-Freundin und -Patentante.« Wir sollten uns immer wieder darauf berufen, was wir an uns gut finden. Und was wir mögen.

Herr Dr. Zorawski, kann man das üben?

Es macht Sinn, sich seiner Stärken und Ressourcen bewusst zu sein und sich zu freuen, wenn man sich im Einklang mit den eigenen Werten befindet oder seinen Zielen nähergekommen ist. Auch in der Psychotherapie wird oft versucht, den Selbstwert zu »stabilisieren« oder zu »erhöhen«, indem man sich darauf besinnt, was man gut kann oder was andere an einem mögen. So ein Ansatz ist jedoch nicht unproblematisch. Menschen kommen nicht mit den gleichen Grundvoraussetzungen zur Welt. Wie schön, stark oder intelligent man wird, liegt zu einem großen Anteil an den Genen. Und im Anschluss wächst jeder in seiner Umwelt auf und durchlebt eine mehr oder weniger problematische Kindheit und Jugend. Beides ist also dem Zufall geschuldet, und es wäre unsinnig, sich für das eine oder andere verantwortlich zu machen.

Genauso wenig ist es sinnvoll, die Schwächen durch irgendwelche Stärken aufzuwiegen: »Ich bin zwar durch die Prüfung gefallen, aber niemand macht so gute Lasagne wie ich!« Das mag schon kurzfristig funktionieren, aber man bliebe im gleichen Hamsterrad gefangen. Üben sollte man eher, seine Gefühle nicht pauschal von Leistung, Beliebtheit oder Status abhängig zu machen. Das würde viel an Angst, Scham, Ärger und Niedergeschlagenheit ersparen. Die Inhalte der Betrachtung sind zwar die gleichen (»Ich bin durch die Prüfung gefallen.«), aber die Schlussfolgerung ist eine, die sich auf eigene Ziele und Werte bezieht (»Schade, nun muss ich nächste Woche zur Nachprüfung.«), statt auf ein pauschales Selbstwertgefühl (»Ich bin ein Loser.«).

Für solch eine Haltung bedarf es oft viel Übung. Neue Muster im Gehirn müssen zunächst geformt und eintrainiert werden. Sonst reagieren wir in aller Regel im Autopiloten, was bedeutet, dass unser Denken, Bewerten und Handeln auf Basis alter und potenziell schädlicher Muster abläuft. Vor allem, wenn der Alltag gerade sehr monoton oder stressreich ist.Der Bauch muss lernen zu glauben, was der Kopf schon weiß.

Unser Autopilot kann »ungünstig programmiert« sein, weshalb oft eine rationalere Analyse von Vorteil wäre: So erkennt man besser, dass Kritik zwar bellt, aber nicht unbedingt beißt.

Und was andere Gutes über uns sagen, dürfen wir ruhig auch glauben! Das kommt ja dann auch noch dazu. Wenn jemand uns lobt, etwas Nettes sagt, vermuten wir gleich entweder eine Lüge (»Der ist doch besoffen! Ich habe Schlupflider und keine schönen Augen!«) oder einen Hintersinn (»Das sagt die doch nur, weil sie heiß ist auf meinen Job, die blöde Kuh!«).

Was, wenn wir Lob und Komplimente einfach annehmen und uns darüber freuen würden? Bräche uns dann ein Zacken aus der Krone? Aus welcher Krone? Na, wir sind doch alle Königinnen und Könige unseres Lebens! Und so können wir uns auch selbst behandeln. Uns selbst öfter auf die Schulter klopfen, wenn etwas gut gelungen ist.

Wem stehen wir näher als uns selbst? Wie wollen wir denn nett zu anderen sein, wenn wir es nicht einmal zu uns sein können? Warum fällt es uns so schwer, uns selbst zu vertrauen, auf unsere Fähigkeiten zu vertrauen?

Ich hatte in meiner Zeit auf den Kleinkunstbühnen Deutschlands immer mal wieder ganz plötzlich, aus dem Nichts, den Gedanken: »Ich kann das alles doch gar nicht. Was, wenn das jemand herausfindet? Bisher hatte ich einfach Glück …« Wie froh war ich, als mir sowohl eine befreundete Kollegin als auch eine Journalistin, die beide erfolgreich in ihren Metiers sind, erzählten, dass sie genau diese Gedanken auch ab und zu haben. Dass sie sich wie Hochstaplerinnen fühlten und auf den Tag warteten, an dem ihr Betrug aufgedeckt würde. »Wenigstens bin ich damit nicht alleine«, dachte ich.

Natürlich ist es Quatsch, seinen Selbstwert (wir nennen es oft Selbstbewusstsein) von anderen abhängig zu machen, aber es tut doch sehr gut zu wissen, dass wir viele sind, die diese Komplexe haben. Und wenn wir bei anderen nicht verstehen, warum sie unter den Komplexen leiden, können wir vielleicht auch gnädiger mit uns selbst sein.

Herr Dr. Zorawski, wie kann man ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln?

Ein gesundes Selbstwertgefühl ist möglichst nicht an Bedingungen geknüpft. Bei der Entwicklung des eigenen Selbstwertkonzepts spielt das Elternhaus eine große Rolle, wenn auch nicht die einzige. Das gesamte Umfeld kann Einfluss nehmen bei der Vermittlung von Werten und der Haltung zu sich selbst. Auch muss man den Zeitgeist berücksichtigen: Unsere Gesellschaft ist geprägt durch Globalisierung, Digitalisierung, Konsum und Soziale Medien. Werte wie Leistung, Attraktivität, Beliebtheit und Erfolg werden hochgehalten, sodass manch einer lernt, seinen Wert davon abhängig zu machen. Je nachdem, wie sehr man mit Talent, Schönheit oder Wohlstand gesegnet ist, ist es mehr oder weniger realistisch, solche Selbstwertbedingungen dauerhaft zu erfüllen.

Oft führt dies jedoch zu emotionalen Problemen, wie etwa Scham, Angst oder Burn-out. Sich von dem Anspruch zumindest etwas frei zu machen und das Wohlbefinden möglichst wenig daran zu koppeln kann eine Herausforderung sein. Wie gut das gelingt, hängt stark davon ab, wie man aufgewachsen ist, welche Lebensereignisse einen geprägt haben und welche Werte einem vermittelt wurden. Es hat immer Gründe, »warum man wie tickt«, und womöglich waren heute ungesunde Leitsätze früher wichtige »Überlebensstrategien« (zum Beispiel, gute Noten schreiben zu müssen, um sich einer Bestrafung zu entziehen).

Es ist nie zu spät, an einem gesünderen Selbstwertkonzept zu arbeiten. Man kann es lernen wie eine Fremdsprache, entweder allein oder im Rahmen einer Psychotherapie.

AXEL HACKE ÜBER VERLETZLICHKEIT

Axel Hacke ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller und setzt sich jede Woche in seiner Kolumne des Süddeutsche Zeitung Magazins mit dem Besten aus aller Welt auseinander.

Wie mutig waren Sie als kleiner Schuljunge?

Ich weiß nicht: Wann ist man »mutig« als Kind? Meine Kindheit spielte im Wesentlichen in den Sechzigerjahren, damals waren wir als Kinder sehr frei, es gab keine Fernüberwachung per Handy. Man ging aus dem Haus und sollte zum Essen wieder da sein, und wo man zwischendurch so war, das wussten die Eltern eigentlich nicht so genau.

Wir gingen oft Risiken ein, ohne zu wissen, dass es welche waren, das ist ja eigentlich nicht mutig. Wir waren es zum Beispiel auch gewohnt, uns zu prügeln oder verprügelt zu werden, und in dieser Hinsicht war ich sicher nie mutig. Physischen Auseinandersetzungen bin ich eher aus dem Weg gegangen, ich mochte das nie, weil ich einfach nicht gerne zugeschlagen habe – und das hätte man aber eben gemusst, sonst wäre man verloren gewesen. Also habe ich die Beine in die Hand genommen, wenn es ernst wurde in dieser Hinsicht, was wahrscheinlich nicht feige war, sondern nur vernünftig. Aber geträumt habe ich schon davon, dem einen oder anderen mal ganz simpel eine reinzuhauen. War aber eben nicht mein Ding. Was meinen Rang auf der Straße nicht gerade sonderlich erhöhte. War schade, aber nicht zu ändern.

In diesen Zeiten war vieles schon recht gruselig für uns Kinder, zum Beispiel führte ein Teil meines Schulwegs durch einen Wald, und da erzählte man sich immer Horrorstorys von Selbstmördern, die da am Baum gehangen hätten – ich würde nicht ausschließen, dass das sogar stimmte. Andererseits war es für uns normal, da im Wald zu spielen, Frösche zu fangen an den mit Wasser gefüllten Bombentrichtern zum Beispiel. Oder, als Mutprobe, im Dunkeln durch die Gärten der Nachbarn zu streifen, da war ich gerne dabei, als Abenteuer.

Eine Kindheit damals bedeutete für die meisten von uns, einen Vater zu haben, der im Krieg Soldat gewesen war, oft auch kriegsverletzt, in unserer Straße wohnten allein drei kriegsblinde Männer. Mein Vater hatte nur ein Auge verloren, aber natürlich war er, das muss man jedenfalls im Nachhinein vermuten, vom Krieg schwer traumatisiert. Über so was redete bloß keiner, das gestand man sich auch nicht zu. Angst zu haben war gewissermaßen etwas Verbotenes, und obwohl mein Vater ein ängstlicher Mensch war und sehr auf Sicherheit bedacht, konnte man mit ihm über Ängste nicht reden, natürlich nicht. Das hätte an seine eigenen gerührt, was unausgesprochen verboten war. Und so machte er sich über die Ängste des Sohnes eher lustig, was bedeutete, dass ich Angst irgendwo in mir vergrub: Besser alles für sich behalten. Das prägt mich bis heute.  

Wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt, sind rot geworden, wollten im Erdboden versinken?

Unvergessen und tatsächlich gnadenlos peinlich war mein Auftritt beim 70. Geburtstag meiner Mutter, der ist allerdings schon mehr als zwanzig Jahre her. Als ältestem Sohn fiel mir – mein Vater war Jahre zuvor gestorben – die Aufgabe zu, eine Rede zu halten. Da mir normalerweise so etwas nicht so wahnsinnig schwerfällt und ich obendrein in den Wochen zuvor kein bisschen Zeit (und auch keine Lust, ehrlich gesagt) hatte, mich vorzubereiten, gedachte ich, aus dem Stegreif zu sprechen, ein Vorhaben, das mich nicht weiter nervös machte, zumal ich es, so gut es ging, einfach verdrängte – bis zum dem Moment, in dem das nicht mehr ging. Der Moment, in dem ich mich erhob.

Ich stand vor hundert Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen, die meisten mit Berufen in der Art: Lateinlehrer, Rechtsanwalt, Apotheker, Architekt. Alle sahen mich an. Ich spürte von links unten den starr-angstvollen Blick meiner Mutter. Der älteste aller Onkels rief: »Ruhe, das Familienoberhaupt spricht!« Man wartete auf etwas Geistreiches, Warmherziges, Witziges oder jedenfalls auf überhaupt irgendwas. Und – mir fiel nichts ein. Ich war vollständig blockiert. Mir wurde schlagartig klar, dass ich die Sache zu leichtgenommen hatte, dass ich dem Leistungsdruck nicht standhalten würde, dass mich diese Zusammenballung familiärer Energie lähmte wie ein Elektroschock.

Ich bekam einen Schweißausbruch, wie es nie zuvor einen Schweißausbruch gegeben hatte. Sämtliche Poren öffneten sich. Aus mir schoss Wasser wie aus einem Sprinkler. Binnen einer Minute sah ich aus wie jemand, der mit einem dunklen Anzug in einen Monsun gekommen war. In meiner Verlegenheit las ich aus der siebzig Jahre alten Tageszeitung vor, deren Original ich meiner Mutter schenken wollte und die glücklicherweise auf dem Tisch lag. Ich zerrte mein Taschentuch aus der Hosentasche, meine Mutter reichte mir von links ein Spitzentuch, meine Frau gab mir von rechts eine Packung Tempos, alles zu wenig, zu wenig, zu wenig. Man hätte mehrere Strandlaken benötigt, um mich zu entfeuchten. Keine Ahnung, was ich geredet habe. Ich sackte irgendwann auf meinen Stuhl, verzweifelt, gebrochen, nass. Nie wieder bin ich seitdem unvorbereitet vor ein Publikum getreten, egal welches.

Wie reagieren Sie, wenn Sie verletzt werden oder Ihnen etwas total peinlich ist?

Wenn ich verletzt werde, traditionell: wütend, auch aggressiv, wie wahrscheinlich viele Menschen. Das ist ja sozusagen die Normalreaktion, wütend zu sein und auf Rache zu sinnen. Was ich aber für sinnlos halte und mir deshalb auch abgewöhnt habe, weitgehend jedenfalls. Es führt ja zu nichts, außer zu Streit und fruchtlosen Auseinandersetzungen. Wobei ich Wut für etwas Normales halte, die Frage ist nur, was man daraus macht. Ich würde auf einen wütenden Menschen, der mich verletzen will, nie wütend reagieren, das eskaliert nur. Ist aber ein frommer Vorsatz, ich schaffe das nicht immer.

Total peinlich? Seltsamerweise kommt das kaum noch vor, das muss am Alter liegen, ich weiß es nicht. Außer wenn es um Fremdschämen geht, ich ertrage das einfach gar nicht, warum auch immer. Eine Zeitlang habe ich mal versucht, das Dschungelcamp anzusehen, weil Leute, die ich für außerordentlich intelligent halte und sehr schätze, das immer sahen. Aber ich habe das einfach nicht ausgehalten, es war mir so unangenehm, dass ich den Raum verlassen musste.

Wie viel von sich und Ihrer Verletzlichkeit zeigen Sie in Ihren Büchern und Kolumnen?