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Angsterkrankungen sind heilbar!
Angst ist eine Grundemotion und ein natürliches Alarmsystem. Was aber, wenn man an der Angst selbst erkrankt, wie rund 10 Millionen allein in Deutschland? Professor Dr. Andreas Ströhle und Dr. Jens Plag, Angstexperten mit langjähriger Erfahrung in Forschung und Praxis, überraschen mit bisher vernachlässigten Befunden. Sie zeigen, weshalb man aktiv gegen die Angst angehen muss und warum allein dagegen anzukämpfen langfristig nicht zum Ziel führt. Denn Angehörige können den Heilungsprozess maßgeblich beeinflussen – positiv wie negativ. Woran man eine Angsterkrankung erkennt, wie das soziale Umfeld unterstützen kann und wie sich die Panik vor der Angst in Zuversicht verwandeln lässt, erfährt man in dem praxisnahem Standardwerk, ergänzt um authentische Fallgeschichten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2020
Über das Buch
Sind das ganz »normale« Ängste, die ich habe, oder ist das eine Angsterkrankung, die behandelt werden sollte? Wie entsteht eine solche Erkrankung? Was passiert da eigentlich im Gehirn? Warum trifft es gerade mich? Und vor allem: Was kann ich dagegen tun?
Prof. Dr. Andreas Ströhle und Dr. Jens Plag, Angstexperten der Charité mit langjähriger Erfahrung in Forschung und Praxis, beantworten diese Fragen wissenschaftlich fundiert und erklären, welche Behandlungsmöglichkeiten es für die verschiedenen Angsterkrankungen gibt. Neben medikamentösen und psychotherapeutischen Ansätzen setzen sie auf innovative, individuelle Strategien und beziehen u. a. körperliche Aktivität und Sport mit ein.
Authentische Fallgeschichten von Betroffenen und ihren Angehörigen zeigen, wie unterschiedlich die Wege aus der Angst und zurück zu Zuversicht und Lebensfreude aussehen können.
Über die Autoren
Prof. Dr. med. Andreas Ströhle und Dr. med. Jens Plag sind Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und zählen zu den renommiertesten Experten für Angsterkrankungen im deutschsprachigen Raum.
Andreas Ströhle forschte u. a. als Leiter der Arbeitsgruppe Angsterkrankungen am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. 2002 wechselte er an die Charité Berlin, Campus Mitte. Seit 2007 ist er leitender Oberarzt, seit 2008 Universitätsprofessor.
Jens Plag forscht u. a. zu den biologischen und psychologischen Grundlagen von Angststörungen sowie den therapeutischen Effekte von körperlicher Aktivität.
Gemeinsam leiten Prof. Dr. Ströhle und Dr. Plag die Spezialambulanz für Angsterkrankungen an der Charité.
Prof. Dr. Andreas Ströhle/Dr. Jens Plag
unter Mitarbeit von Petra Kunze
Keine Panik vor der Angst!
Angsterkrankungen verstehen und besiegen
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Originalausgabe
© 2020 Kailash Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: lesbar – Annette Gillich-Beltz, Essen
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
Umschlaggestaltung: ki 36, Sabine Krohberger Editorial Design, München
Autorenfoto: © Urban Zintel
ISBN 978-3-641-25894-8V001
www.kailash-verlag.de
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Inhalt
Noch ein Angstbuch – warum denn das?
1
Angst – eigentlich ganz normal
Eine überlebenswichtige Reaktion
Ein Instrument der Vorsorge
Wie wir das Fürchten lernen
Wenn Pawlows Glöckchen läutet
Was wir uns von anderen abschauen
Wie wir Erlerntes verstärken
Das Gehirn vernetzt sich
Im Zentrum: die Amygdala
Angstreaktionen stoppen
Wenn Angst zum Problem wird
Von der Angst zur Angsterkrankung
Wann eine Behandlung empfohlen wird
2
Angst hat viele Gesichter
Mehr Hilfesuchende
Es kann jeden treffen
Vielfältige Auswirkungen
Angehörige leiden mit
Wenn Verständnis fehlt
Hilfe aus dem Umfeld
Systemische Erkrankungen
Die Panikstörung und die Agoraphobie
Wiederkehrende und unerwartete Panikattacken
Platzangst
Was bedeutet eine Panikstörung mit Agoraphobie für das Umfeld?
Die generalisierte Angststörung
Eine Spirale aus Sorgen
Typische körperliche Symptome
Was bedeutet eine generalisierte Angststörung für das Umfeld
Die soziale Angststörung
Ein Teufelskreis aus Angst
Von der Kindheit bis ins Berufsleben
Verschiedene Erscheinungsformen
Was bedeutet eine soziale Angststörung für das Umfeld?
Spezifische Phobien
Was bedeutet eine spezifische Phobie für das Umfeld?
Die Trennungsangst
Auch Erwachsene sind betroffen
Was bedeutet eine Trennungsangst für das Umfeld?
Selektiver Mutismus
Mögliche Folgen von Angststörungen
Depression als Folgeerkrankung
Der Konsum von Alkohol
Die Einnahme von Beruhigungsmitteln
Ist Angst immer ein Fall für den Psychiater?
Die Schilddrüse
Herzerkrankungen
Lungenerkrankungen
Mögliche Folgen körperlicher Vorerkrankungen
Drogen als Auslöser
Angst bei psychischen Erkrankungen
Psychosen
Depressionen
Somatoforme Störung
Essstörung
Substanzgebundene Störungen
Kognitive Störungen und Demenzerkrankungen
3
Wie Angsterkrankungen entstehen
Wenn Stress auf Empfindlichkeit trifft
Psychische Stressoren
Biologische Stressoren
Einflüsse der Biologie
Das Stresshormon Kortisol
Wenn die Herzfrequenz abweicht
Noradrenalin messen
Serotonin als Anschieber
Die erbliche Komponente
Wichtig: Lebensgeschichte und Persönlichkeit
Biografische Aspekte
Einfluss der Persönlichkeit
Biologie und Psychologie greifen ineinander
Von der Angstreaktion zur Angsterkrankung
Klassische Konditionierung
Beobachtungslernen
Operante Konditionierung
Komplexe Lernmodelle
4
Angsterkrankungen behandeln
Unterschiedliche Ansätze
Wann die Pharmakotherapie sinnvoll ist
Individuelle Therapieplanung
Die medikamentöse Therapie
Antidepressiva auch gegen Angst
Nebenwirkungen beachten
Pregabalin bei GAS
Wenn die Wirkung ausbleibt
Die Möglichkeiten pflanzlicher Mittel
Beruhigungsmittel (Sedativa) nur im Notfall
Vorsicht bei Sedativa!
Medikamentöse Therapie – unser Fazit
Die Psychotherapie
Erste Wahl: die kognitive Verhaltenstherapie
Therapiemanuale erleichtern die Behandlung
Die Betroffenen informieren
In den Teufelskreis einsteigen
Aus dem Teufelskreis aussteigen
Bewertungen hinterfragen
Mit der Angst konfrontieren
Flexibel und offen behandeln
Weitere Therapieformen
Sport und körperliche Aktivität
Entspannung und Achtsamkeit zur Stressbewältigung
Selbsthilfegruppen
Homöopathie und Klopfen
Neurostimulation
Sich selbst helfen – und Unterstützung suchen
Stress reduzieren
Die Vermeidung vermeiden und mit der Angst konfrontieren
Wie Bezugspersonen helfen können
»Was mir geholfen hat« – Erfahrungsberichte
»Keine Angst vor der Panik!«
Literatur
Quellenverzeichnis
Zum Weiterlesen
Nützliche Adressen und Links
Glossar
Register
Für Janina und Louis
Andreas Ströhle
Für Clarissa und Noah
Jens Plag
Noch ein Angstbuch – warum denn das?
An Büchern über »Angst« mangelt es wahrlich nicht – zumindest nicht auf dem deutschen Buchmarkt. Dies ist sicherlich zu einem guten Teil dem Umstand geschuldet, dass das Thema für viele Menschen interessant ist, insbesondere jedoch für diejenigen, die selbst von Ängsten betroffen sind und Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen suchen: Was ist das für eine Angst, die ich erlebe? Ist sie noch normal oder schon »krankhaft«? Wo kommt sie her? Wie entsteht sie? Warum gerade bei mir? Und die drängendste Frage lautet verständlicherweise meist: Was kann ich dagegen tun?
Leider gibt es trotz des großen Angebots nur wenig Literatur, die sich mit diesen Aspekten auf wissenschaftlich fundierte Weise befasst oder – wenn doch – die bisherige Studienlage so aufbereitet, dass sie auch dann verstanden wird, wenn man kein medizinisches Examen abgelegt hat und keinen Masterabschluss in Psychologie besitzt. Darüber hinaus wenden sich die Bücher über Angst – durchaus nachvollziehbar und mit Recht – überwiegend an die Menschen, die unter Angsterkrankungen leiden und sprechen die für sie relevanten Themen an. Nach unserer Erfahrung sind Angsterkrankungen jedoch auch für mindestens eine weitere Gruppe von besonderer Bedeutung: nämlich für die Bezugspersonen der Betroffenen. Freundinnen und Freunde, Partnerinnen und Partner, Kinder, Geschwister, Eltern und andere Verwandte sind in oft vielfältiger Weise in das Krankheitsgeschehen miteinbezogen, sei es durch intensives Mitleiden, durch praktische Unterstützung der Betroffenen im Alltag oder in anderer Form. Bisher kommen diese Menschen hinsichtlich ihrer Situation und Bedürfnisse jedoch kaum zu Wort und finden in der Literatur nur wenig, was ihnen in Bezug auf einen möglichst sinnvollen Umgang mit der Symptomatik der ihnen Nahestehenden weiterhilft. Gerade dieser Aspekt ist unserer Erfahrung nach jedoch sehr wichtig, um sowohl denjenigen, die unter einer Angsterkrankung leiden, als auch denjenigen, die sie in ihrem Leben mit der Erkrankung begleiten, den Alltag zu erleichtern.
Insbesondere diese Punkte waren es, die uns dazu ermutigt und motiviert haben, dieses Buch zu schreiben. Wir möchten allen Interessierten, allen Betroffenen und ihren Bezugspersonen näherbringen, was Angst ist, wofür sie gut sein kann und was »normale« Angst von »pathologischer« Angst – also Angsterkrankungen – unterscheidet. In den verschiedenen Kapiteln stellen wir die einzelnen Angsterkrankungen mit ihren jeweiligen Besonderheiten vor und versuchen einen Überblick über die wichtigsten Entstehungsfaktoren der jeweiligen Angsterkrankung zu geben. Ein wichtiger Punkt sind die Behandlungsmöglichkeiten, sprich die möglichen Therapien. Wir erläutern die medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsstrategien, die sich nicht nur in wissenschaftlichen Studien als wirksam erwiesen, sondern auch in der Praxis bewährt haben und somit durch aktuelle Behandlungsleitlinien empfohlen werden. Abgerundet wird dieses Thema durch einen Ausblick auf innovative Strategien, die zwar (noch) nicht zum therapeutischen Standardrepertoire gehören, sich jedoch im Rahmen der Forschungsarbeit als effektiv erwiesen haben und deshalb einen persönlichen Behandlungsplan ergänzen können. Nicht zuletzt wollen wir aufzeigen, wie Betroffene und auch Bezugspersonen selbst dazu beitragen können, die Angsterkrankung bestmöglich in den Begriff zu bekommen und die Chance auf eine Besserung zu erhöhen.
Beim Schnüren dieses Themenpakets hat uns unsere jeweils langjährige wissenschaftliche und klinische Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München beziehungsweise an der Berliner Charité sehr geholfen. Unsere Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Angsterkrankungen hat Schwerpunkte unter anderem in den Bereichen der Psychotherapie, des Stresshormonsystems und der Gehirnaktivität. Darüber hinaus untersuchen wir seit vielen Jahren intensiv die therapeutischen Effekte verschiedener Formen von körperlicher Aktivität bei Menschen, die unter Angsterkrankungen leiden. Die hier gewonnenen Ergebnisse und der intensive Austausch mit anderen Forscherinnen und Forschern auf diesem Gebiet ermöglichen es uns, aktuelle Entwicklungen zu überblicken und diese, wo immer es sich anbietet, im Behandlungsalltag zu berücksichtigen. Im Rahmen unserer Sprechstunden der Angstambulanz sind wir täglich mit Betroffenen, aber auch mit deren Bezugspersonen im Gespräch und Austausch. Wir glauben, hierdurch im Laufe der Zeit ein Gefühl dafür entwickelt zu haben, was in Bezug auf Angst gebraucht, vermisst, nicht gewusst oder vermutet wird und welcher Sprache es bedarf, um den Betroffenen auch den ein oder anderen komplexen Zusammenhang verständlich zu vermitteln.
Selbstverständlich können wir mit diesem Buch keine fachliche Diagnose, keine Therapie, keine individuellen Gespräche ersetzen. Aber Sie können erfahren, was es mit den eigenen Ängsten oder denen anderer auf sich haben könnte, welche Therapieansätze es gibt und wie es anderen Betroffenen – und deren Angehörigen – mit der Diagnose »Angststörung« ergeht. Denn eine ganz besondere Freude ist es für uns, dass wir einige Patientinnen und Patienten aus unseren Sprechstunden der Angstambulanz sowie ihre jeweiligen Partner oder Partnerinnen, Eltern oder Kinder dafür gewinnen konnten, in diesem Buch ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Hierdurch soll nicht nur die Theorie mit realem Leben gefüllt, sondern auch dem Anspruch des Buches Rechnung getragen werden, das »System der Angst« möglichst umfassend zu berücksichtigen. In diesen Abschnitten werden jeweils beide Seiten von der Symptomatik berichten, von den daraus für sie resultierenden Herausforderungen und Veränderungen sowie von individuellen Erfahrungen mit verschiedenen Therapiemethoden. Hierfür möchten wir an dieser Stelle Philip und Lukas Auer, Barbara und Julia Schmidt, Nina Bromm und Christian Liebscher, Jean Fischer und Claudia Fischer-Altmann sowie Hannah und Christoph Stamm noch einmal ganz herzlich danken!
Für die Erfahrungsberichte haben wir bewusst komplexe Fälle ausgewählt, bei denen auch der systemische Aspekt eine große Rolle spielt. Sie dienen dazu, deutlich zu machen, welche Herausforderungen Angsterkrankungen für alle Beteiligten sind. Natürlich gibt es auch »einfachere« und kürzere Krankheitsverläufe, bei denen die Betroffenen schneller die passende Therapie finden. Wir hoffen, dass insbesondere diese persönlichen Berichte Menschen mit Angsterkrankungen, aber auch allen anderen Leserinnen und Lesern helfen können zu verstehen, dass eine krankhafte Angst nichts Exotisches ist, schon gar nichts mit »verrückt sein« zu tun hat. Es kann prinzipiell jede und jeden treffen. Diese Erkenntnisse sind zentral für ein Ende der (Selbst-)Stigmatisierung und unserer Erfahrung nach eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Betroffene trauen, mit ihrer Symptomatik an die Öffentlichkeit und zur Psychiaterin oder zum Psychologen zu gehen. Denn hier kann in den meisten Fällen geholfen werden – je früher, umso besser, aber auch dann, wenn die Angst einen schon länger begleitet. Darüber hinaus würden wir uns freuen, wenn sich Menschen, die Betroffenen räumlich oder emotional nahestehen, durch dieses Buch in ihrer Beziehung zu den Erkrankten wiederfinden würden, wenn wir einige ihrer Fragen beantworten und so einen Beitrag zu einer verbesserten Lebensqualität für alle Beteiligten leisten können.
Andreas Ströhle
Jens Plag
1
Angst – eigentlich ganz normal
Jeder Mensch hat Angst – und das ist gut so! Denn Angst hat vor allem eine wichtige Funktion: Sie soll das Überleben sichern. Entsprechend ist sie genetisch verankert und reicht bis in die Anfänge der Menschheit zurück. Wenn unsere Vorfahren keine Angst vor dem Säbelzahntiger gehabt hätten oder wir beim Überqueren der Straße keine Angst vor dem LKW hätten, dann könnten wir dieses Buch nicht schreiben – und Sie könnten es nicht lesen.
Eine überlebenswichtige Reaktion
Tritt Angst akut bei einer konkreten oder vermeintlichen Bedrohung auf, wird sie auch als »Furcht« bezeichnet. Dann verspüren wir ein beklemmendes Gefühl der Enge (das Wort »Angst« ist mit dem lateinischen »angustia« für »Enge, Bedrängnis« verwandt), unser Herz schlägt schneller, die Atemfrequenz erhöht sich, und unsere Muskeln spannen sich an. Das Gefühl der Angst lässt sich im Körper meist recht gut verorten.
Die Alarmreaktionen, die Angst hervorruft, finden sich aber auch auf anderen Ebenen. So werden Botenstoffe und Hormone ausgeschüttet und setzen in unserem Körper komplexe biologische Abläufe in Gang. Das alles ermöglicht uns höchste Konzentration und Leistungsbereitschaft. Wir erfahren einen Energieschub, der unsere Kräfte mobilisiert und uns in die Lage versetzt, Gefahren zu erkennen und schnell auf sie zu reagieren. Wir stellen uns den bedrohlichen Herausforderungen und »kämpfen« – oder wir ergreifen Schutzmaßnahmen und »fliehen«. Dieser Vorgang wird als »Kampf-oder-Flucht-Reaktion« bezeichnet.
Jeder Mensch verfügt über ein gewisses Repertoire an Angstreaktionen, die je nach Situation aktiviert werden. Ist eine sofortige Reaktion nötig, weil beispielsweise Lebensgefahr besteht (z. B. wenn man überfallen wird), kommt es zu einer unmittelbaren Alarmreaktion, die es ermöglicht zu kämpfen oder zu flüchten. Gilt es, sich vorab auf gefährliche Situationen einzustellen oder sie vorwegzunehmen, entsteht eine situative Angst, zum Beispiel die Angst vor der Konfrontation mit einem gefährlichen Tier oder vor einer Verletzung. Da der Mensch ein soziales Wesen ist und den Kontakt mit anderen zum (Über-)Leben braucht, ist auch die Angst vor Isolation eine Urangst. Entsprechend kann sich eine Angst entwickeln, sich in sozialen Situationen zu blamieren oder zu versagen, was der Isolation Vorschub leisten könnte. Und eine gewisse Leistungsangst kann sinnvoll sein, um sich beispielsweise auf eine Prüfung einzustellen und die Leistungsfähigkeit zu steigern.
Ein Instrument der Vorsorge
Andererseits ist Angst nicht nur eine akute Reaktion, sondern kann sich auch auf die Zukunft richten. Dann hat Angst in Form von Sorgen eine vorbeugende Schutzfunktion: Wir beschäftigen uns gedanklich mit möglichen Gefahren und bereiten uns auf diese vor. Jeder kennt sie als private und berufliche Sorgen, wenn uns Fragen beschäftigen wie: Welche Auswirkungen wird diese oder jene Entscheidung auf mein Leben, meine Partnerschaft oder meine Freundschaften haben? Wie wird es mit dem neuen Kollegen laufen, der nächste Woche anfängt? Welche Risiken gehe ich ein, wenn ich einen dreiwöchigen Solotrip in das Amazonasgebiet buche? Bin ich diesen gewachsen? Sorge kann also in diesem Sinne auch Vorsorge sein: Sie ermöglicht uns, Wahrscheinlichkeiten zu durchdenken und gegeneinander abzuwägen – und damit eine bestmögliche Sicherheit für sich selbst und/oder andere herzustellen.
Die Fähigkeit, Angst zu entwickeln, ist demnach durchaus sinnvoll und eine grundsätzlich normale und wichtige Reaktion der Psyche. Tatsächlich scheinen einige Ängste zu einem großen Teil evolutionär verankert zu sein, da sie bei fast allen Menschen in mehr oder weniger starker Ausprägung vorkommen. Hierzu gehören zum Beispiel die sogenannte Fremdheitsreaktion (Fremdeln) und die Angst vor der Trennung von den Eltern, die bei nahezu allen Kindern um den achten Lebensmonat und noch einmal ab dem dritten Lebensjahr auftritt. Evolutionär bedingt sind wohl auch einige Ängste, die sich auf (wilde) Tiere oder potenziell gefährliche Situationen wie Höhe, Enge oder Weite beziehen und zur Entwicklung spezifischer Phobien führen können. Aber auch die unterschiedliche Ausprägung von Angst bei verschiedenen Menschen ist evolutionär sinnvoll: Diejenigen, die weniger ängstlich, die mutiger waren, haben Neues entdeckt und ausprobiert, die Ängstlicheren haben sich um die Sicherheit und den Nachwuchs gekümmert. Haben sich Menschen dann zu Gruppen zusammengeschlossen, so haben je nach Situation und Notwendigkeit jeweils die Personen gehandelt, deren Reaktion am besten passte. Überspitzt formuliert: Wären nur sehr ängstliche Personen zusammen gewesen, so wäre diese Gruppe verhungert. Wären nur wenig Ängstliche zusammen gewesen, so wären sie vermutlich gefressen worden.
Wie wir das Fürchten lernen
Die meisten Ängste unterscheiden sich von Mensch zu Mensch deutlich hinsichtlich ihrer Art und Ausprägung. Die Wissenschaft konnte in den letzten Jahrzehnten sehr genau zeigen, dass Erfahrungen, die jemand in seiner Lebensgeschichte gesammelt hat, sowie damit verbundene Lernprozesse eine zentrale Rolle spielen. Für Angst relevante Lernprozesse finden in Form sogenannter Konditionierungen statt – als »klassische Konditionierung« und als »operante Konditionierung« – sowie als »Imitationslernen« bzw. »Beobachtungslernen«. Die Begriffe werden im Folgenden erklärt.
Wenn Pawlows Glöckchen läutet
Die klassische Konditionierung kennen die meisten von uns noch aus dem Biologie-Unterricht. Sie wurde um das Jahr 1911 von dem russischen Wissenschaftler Iwan Petrowitsch Pawlow im Rahmen eines Experiments entdeckt: Pawlow beobachtete, dass sein Hund immer, wenn er etwas zu fressen bekam, als Zeichen der Vorfreude einen vermehrten Speichelfluss entwickelte. Für sein Experiment läutete Pawlow regelmäßig ein Glöckchen, kurz bevor der Hund etwas zu fressen bekam. Nach einiger Zeit läutete er nur noch das Glöckchen und stellte fest, dass der Speichelfluss beim Hund ausschließlich durch das Läuten des Glöckchens hervorgerufen wurde, auch wenn danach keine Fütterung stattfand. Der Hund hatte also gelernt, das Klingeln des Glöckchens so stark mit der Nahrungsaufnahme zu verbinden, dass allein dieses Geräusch die eigentlich mit dem Fressen verbundene Reaktion hervorrief.
Man weiß mittlerweile, dass dies beim Menschen nahezu analog funktioniert. Das folgende Szenario zeigt dies bei jemandem, der Höhenangst entwickelt: Ein Mensch hat während eines Aufenthalts auf einem Turm eine unangenehme Situation erlebt. Hierbei muss es sich gar nicht um etwas Dramatisches wie einen (Beinahe-)Unfall gehandelt haben. Oft reicht es schon, dass ihm schwindelig oder übel war, was gar nichts mit der Höhensituation zu tun hatte, sondern vielleicht eher auf Müdigkeit oder unverträgliches Essen zurückzuführen war. Beide Symptome können schon vor dem Aufstieg auf den Turm leicht vorhanden gewesen sein, wurden jedoch durch den Stress mit der Höhensituation verstärkt. Denn eine Höhensituation bedeutet für jeden Menschen mehr oder weniger bewusst Stress, der in der Regel aber gut bewältigt werden kann. Doch der Schwindel oder die Übelkeit lösen in Verbindung mit der Höhensituation nun eine Angstattacke aus, weil die betroffene Person möglicherweise Angst davor hat, unter diesen Umständen zu stürzen oder hinunterzufallen.
Die Erfahrung von Angst in dieser sehr spezifischen Situation (Turm X in Stadt A) unter den sehr speziellen Umständen (erhöhte Stressempfindlichkeit sowie Übelkeit oder Schwindel) koppelt sich nun an »Höhe« allgemein. Dadurch werden automatisch Lernprozesse in Gang gesetzt, die die Angst aus dieser Situation auf andere Situationen, die mit Höhe verbunden sind, übertragen. Deshalb löst fortan auch jeder andere Turm, das Wandern in den Bergen oder das Klettern im Hochseilgarten eine Angstreaktion aus – und manchmal genügt schon der Gedanke daran, um Angst zu bekommen. Im Bild des pawlowschen Hundes wäre die erste Angstattacke auf Turm X in Stadt A das Fressen, also die Situation, die eine nachvollziehbare Reaktion ausgelöst hat. Andere Höhensituationen oder die Vorstellungen davon stellen das Glöckchenläuten dar. Sie lösen eine Angstreaktion aus, ohne dass ein Bezug zu Turm X in Stadt A besteht.
Was Ihnen sicher aufgefallen ist: Pawlow musste das Glöckchen über einen gewissen Zeitraum läuten, bis die Reaktion konditioniert war. Bei der betroffenen Person in unserem Beispiel genügte schon eine einzelne Angsterfahrung in einer spezifischen Situation, um die Höhenangst zu entwickeln. Der Grund dafür sind die besonders starken Emotionen, die dabei im Spiel waren. Wir wissen aus der Forschung, dass wir umso schneller lernen, je stärker unsere Angst – oder auch unsere Freude oder Trauer – ist. Nicht immer sind uns im Rückblick solche auslösenden Situationen bewusst. Wir behalten diesen Punkt im Kopf und werden ihn uns an einer anderen Stelle des Buches wieder in Erinnerung rufen.
Was wir uns von anderen abschauen
Ein weiterer wichtiger Lernmechanismus für Angst ist das Imitationslernen oder Beobachtungslernen, das in den 1970er Jahren erstmalig beschrieben wurde. Es beginnt bereits im ersten Lebensjahr, wenn wir unsere Bezugspersonen beobachten: Wie verhalten sie sich in verschiedenen Situationen? Wie reagieren sie auf bestimmte Ereignisse und andere Menschen? Zuerst Eltern, Großeltern und Geschwister, später auch Freunde und Fremde – wir schauen uns von ihnen etwas ab und lernen dadurch. Viele Jahre lang geschieht dies relativ unkritisch, da Babys und Kleinkinder noch nicht dazu fähig sind zu hinterfragen, ob die beobachteten Bewertungs- und Reaktionsweisen stimmig sind. Sie übernehmen diese in ihr eigenes Bewertungs- und Verhaltensrepertoire, was oft unproblematisch ist. Bei langfristig vorgelebten Ängsten, etwa vor der Höhe, vor Spinnen oder anderen Tieren, kann dies allerdings auch zu einer Übertragung dieser Ängste führen. Reagiert eine Mutter zum Beispiel mit Angst auf eine Spinne, ist es für ein kleines Kind nur normal, ebenfalls Angst vor Spinnen zu haben.
Wie wir Erlerntes verstärken
Angst wird aber nicht nur durch die klassische Konditionierung und das Beobachten erlernt, sondern auch durch die operante Konditionierung, die vor allem für die Aufrechterhaltung einer bereits erworbenen Angst verantwortlich ist. Kurz gefragt: Warum bleibt ein gewisses Verhalten oder eine Reaktion überhaupt bestehen? Dies wurde in den 1930er Jahren erstmalig durch den amerikanischen Psychologen Burrhus Frederic Skinner beschrieben. Danach führt ein Mensch Handlungen häufiger aus, wenn er eine positive Konsequenz, etwa eine Belohnung oder einen Gewinn, erwartet. Im Unterschied zu solchen »positiven Verstärkern« spricht man von »negativer Verstärkung«, wenn Handlungen zunehmen, durch die eine negative Konsequenz vermieden werden kann, etwa eine Bestrafung oder ein Verlust. Bezogen auf die Angst bedeutet dies, dass ein Mensch vermehrt Handlungen ausführt, durch die er die negative Konsequenz »Angstreaktion« verhindern kann. Beziehungsweise handelt er so, dass die positive Konsequenz »Ausbleiben der Angst« sehr wahrscheinlich auftritt.
Für unser konkretes Beispiel bedeutet dies, dass jemand, der im Rahmen der klassischen Konditionierung aufgrund einer sehr negativen Erfahrung auf einem Turm Höhenangst entwickelt hat, nun aufgrund der negativen Verstärkung viele oder alle Situationen vermeidet, die mit Höhe zu tun haben. Die betroffene Person bleibt lieber im Hotelzimmer oder im Straßencafé, während der Rest der Familie zum Bergwandern aufbricht oder den Eiffelturm besteigt. Durch dieses sogenannte Vermeidungsverhalten wird jedoch eine korrigierende Erfahrung blockiert, das heißt, die betroffene Person kann nicht erleben, dass die Angst, die sich auf Turm X in der Stadt A unter bestimmten Bedingungen zeigte, unter den anderen Voraussetzungen in den Bergen oder auf dem Eiffelturm möglicherweise gar nicht auftritt. Statt also eine schöne Erfahrung auf Turm Y machen zu können, wird die Angst durch das Vermeidungsverhalten aufrechterhalten und gefestigt. Dieses Ineinandergreifen von klassischer Konditionierung bzw. Beobachtungslernen und operanter Konditionierung wird auch als das »Zwei-Stufen-Modell der Angst« bezeichnet.
Das Gehirn vernetzt sich
Im Folgenden wollen wir Ihnen einen kurzen Überblick über die Mechanismen in unserem Körper und Gehirn geben, die für Angst bedeutsam sind.
Die beschriebenen (emotionalen) Lernprozesse laufen nicht nur auf psychologischer Ebene ab, sondern lassen sich parallel auch auf biologischer Ebene anhand bestimmter Strukturen des Gehirns aufzeigen, die für das Erlernen von Angst verantwortlich sind. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Amygdala, die aufgrund ihrer Form auch als »Mandelkern« bezeichnet wird. Sie befindet sich als doppelt angelegte Gehirnstruktur relativ mittig in beiden Hälften des Gehirns. Zahlreiche Untersuchungen konnten zeigen, dass die Amygdala während des Erlernens von Angst (der sogenannten Angstakquisition) bei der klassischen Konditionierung sowie beim Beobachtungslernen besonders stark aktiviert wird. Dasselbe gilt für die Angstreaktion auf bereits bekannte Gefahren und Bedrohungen. Deshalb wird die Amygdala auch als »Angstzentrum« bezeichnet.
Um dieses Zentrum herum gibt es noch andere Gehirnstrukturen, die bei der Angstreaktion eine wichtige Rolle spielen. Zusammen mit der Amygdala bilden sie das »Angstnetzwerk« (englisch »fear network«) des Gehirns (siehe Abbildung). Neben der Amygdala sind hierfür noch andere Bereiche des Gehirns wichtig: »Thalamus« (»Kammer«), »Hypothalamus« (»untere Kammer«), »Hippocampus« (»Seepferdchen«) und »Insula« (»Insel«). Die Bezeichnungen sind meist der Form geschuldet.
Die Funktionen der einzelnen Komponenten des Angstnetzwerks lassen sich am besten am Verlauf einer Angstreaktion auf einen Reiz darstellen, der bereits als potenziell bedrohlich bekannt ist: Diejenigen Hirnbereiche, die Sinneseindrücke, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten oder Fühlen, als Erste verarbeiten, leiten diese Information zunächst zum Thalamus weiter, wo die Sinneseindrücke (z. B. ein lauter Knall, ein plötzlich auftauchender Schatten, ein beißender Geruch oder Schmerz) wahrgenommen werden. Dann wird über die »untere Route« (»low route«) blitzschnell die Amygdala aktiviert, um die Gefahr mit Vorerfahrungen bzw. bereits bestehenden Informationen abzugleichen und gegebenenfalls unmittelbar auf eine mögliche Gefahr reagieren zu können. Auf dem Weg dorthin wird in der Insula geprüft, ob andere Veränderungen, etwa von Körperfunktionen, auftreten, die zu einer Gefahr passen. So können eine Wärmeempfindung und Schwitzen zusammen mit beißendem Geruch einen Brand bedeuten. Oder Blutdruckveränderungen bei gleichzeitigem Schmerz in der Brust könnten zu einem Herzinfarkt passen.
Das Angstnetzwerk des Gehirns
Im Zentrum: die Amygdala
Wird eine Bedrohung oder Gefahr erkannt, aktiviert die Amygdala den Hypothalamus und den Hirnstamm. Der Hypothalamus wiederum setzt das sympathische Nervensystem in Gang, wodurch die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt werden. Diese wirken in den einzelnen Körperregionen ganz unterschiedlich und lösen die typischen körperlichen Symptome einer Angstreaktion aus:
Eine Erweiterung der Bronchien, wodurch ein größeres Atemvolumen entsteht, das zu einer stärkeren »Aufladung« des Blutes mit Sauerstoff führt.Eine Steigerung der Herzfrequenz (der sprichwörtliche »Adrenalinstoß«) und eine Verengung der Blutgefäße. Dadurch wird der Blutdruck erhöht, es kommt zu einer besseren Durchblutung und damit Sauerstoffversorgung der Muskeln, die dadurch wiederum besser arbeiten können. Eine Umverteilung des Blutflusses zugunsten der Muskeln und zu Ungunsten des Gehirns, was ebenfalls zu einer besseren Muskelleistung führt.Eine Erweiterung der Pupillen, damit eine Gefahr besser erkannt werden kann. Eine Steigerung der Verdauungsleistung, um schneller Energie bereitzustellen.Der Hypothalamus aktiviert aber nicht nur das sympathische Nervensystem, sondern auch die sogenannte Stressachse, wodurch das Stresshormon Kortisol aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Bildung von Glucose (Zucker), die anschließend in die Blutbahn freigesetzt wird, um Energie für die Muskeln und das Gehirn bereitzustellen. Außerdem bewirkt das Kortisol einen vermehrten Abbau von Speicherfett (z. B. aus der Bauch- oder Hüftregion), was ebenfalls Energie für die Muskeln bereitstellt.
Neben dem Hypothalamus aktiviert die Amygdala auch den Hirnstamm, der einerseits evolutionär gespeicherte und automatisierte Verhaltensweisen, etwa Erstarren, Fluchtinstinkt, Kampfmodus oder »Tunnelblick« mit Fokus auf die Gefahr, auslöst sowie andererseits die Atemfrequenz steigert.
Die Amygdala löst also über die Aktivierung des Hypothalamus und des Hirnstamms die Symptome einer Angstreaktion aus, die es ermöglichen, sich der Gefahr zu stellen (»Kampf«) oder sich ihr möglichst schnell zu entziehen (»Flucht«) – die erwähnte Kampf-oder-Flucht-Reaktion.
All diese körperlichen Veränderungen während einer Angstreaktion sind auch für die psychischen und körperlichen Symptome verantwortlich, die wir ganz unmittelbar mit Angst verbinden:
Der beschleunigte Herzschlag führt zu Herzrasen.Der ansteigende Blutdruck und die Umverteilung des Blutes hin zu den Muskeln und weg vom Gehirn kann Schwindel verursachen.Die Mehrarbeit der Muskeln kann Zittern bewirken.Die beschleunigte Atmung kann zu Hyperventilation führen.Die beschleunigte Verdauung kann Übelkeit und Durchfall zur Folge haben.Die vermehrte Wirkung von Noradrenalin auf die Blase kann Harndrang auslösen.Der Fokus auf die Gefahr kann dazu führen, dass ein Fremdheitsgefühl entsteht und man die (restliche) Welt »wie durch eine Käseglocke« wahrnimmt oder das Gefühl hat, »neben sich zu stehen« – eine sogenannte Derealisation oder Depersonalisation.Angstreaktionen stoppen
Waren Kampf bzw. Flucht erfolgreich, muss die Angstreaktion wieder beendet werden, um nicht in »Dauerangst« zu erstarren. Hierfür spielt das Frontalhirn eine wichtige Rolle, das ist der Hirnbereich ganz vorne, direkt über den Augen. Generell ist dieser Teil des Gehirns für die Kontrolle von Impulsen zuständig und sorgt dafür, dass wir nicht jedem Bedürfnis unmittelbar nachgehen, sondern es gegebenenfalls aufschieben oder unterdrücken. Diese Fähigkeit ist wichtig für unser soziales Miteinander. Bei Angst hemmt das Frontalhirn die Aktivität der Amygdala, sobald die Gefahrenlage beendet ist. Dadurch lassen die psychischen und körperlichen Symptome nach und verschwinden schließlich.
Um einer »Überempfindlichkeit« des Angstnetzwerks entgegenzuwirken, ist es wichtig, einen Fehlalarm, der über die »low route« angestoßen wurde, schnell wieder zu stoppen. Hierfür existiert die »high route«, die »obere Route«. Sie führt über den sogenannten Neokortex, einen entwicklungsgeschichtlich jüngeren Bereich der Hirnrinde, und den Hippocampus. Die »high route« wird parallel zur »low route« aktiviert und analysiert etwas zeitverzögert die angstauslösenden Informationen genauer. Hierbei wird insbesondere im Hippocampus ein Abgleich mit bereits vorhandenen Informationen vorgenommen, die entweder evolutionär gespeichert sind oder durch persönliche Erfahrungen in der Vergangenheit erworben wurden.
Wird die Gefahr durch die »high route« bestätigt, etwa indem der Knall tatsächlich als Schuss identifiziert wird oder der beißende Geruch als Brandgeruch, wird die auf der »low route« ausgelöste Angstreaktion aufrechterhalten und gegebenenfalls weiter verstärkt. Stellt sich die Angst jedoch als unbegründet heraus, weil der Schatten zum Partner gehört, der unbemerkt früher von der Arbeit nach Hause gekommen ist, wird die schnelle Angstreaktion – auch unter Zuhilfenahme des Frontalhirns – gebremst beziehungsweise beendet. Dann bleibt es beim Erschrecken.
So machen wir in der Forschung Angst sichtbar
Die Aktivität des Angstnetzwerks kann mithilfe eines Magnetresonanztomografen (MRT) in wissenschaftlichen Untersuchungen sichtbar gemacht werden. Landläufig auch als »Röhre« bekannt, baut dieses Untersuchungsgerät ein Magnetfeld um den Kopf herum auf und kann so die Durchblutung des Gehirns beziehungsweise verschiedener Gehirnbereiche messen.
Auf einem Monitor wird die Durchblutung farblich abgestuft dargestellt, wodurch sich Rückschlüsse auf die Aktivität der Hirnregionen ziehen lassen. Dabei spricht eine hohe Durchblutung für einen großen Energiebedarf des jeweiligen Gehirnbereichs und damit für eine hohe Aktivität. Eine geringe Durchblutung hingegen zeigt einen niedrigen Energiebedarf und dementsprechend eine geringe Aktivität an.
Botenstoffe spielen nicht nur bei der Aktivierung, sondern auch bei der Regulation des Angstnetzwerks eine wichtige Rolle. Insbesondere dem Serotonin kommt beim Herunterfahren der Angst eine wichtige Funktion zu. Der oft fälschlicherweise als »Glückshormon« bezeichnete Botenstoff wird sowohl im Gehirn als auch in bestimmten Zellen der Darmschleimhaut gebildet. Während das im Blutkreislauf zirkulierende Serotonin vor allem zur Regulation der Blutgerinnung beiträgt, spielt das Serotonin im Gehirn eine wichtige Rolle bei der Regulation von Emotionen und Stress innerhalb des Emotionsnetzwerks, des »limbischen Systems«.
Serotonin hemmt die Aktivität der Amygdala und steigert die Aktivität des Fontalhirns. Der Botenstoff hilft also dabei, dass das Angstnetzwerk nach einer Aktivierung wieder in den »Normalzustand« zurückkehrt und dabei weder »enthemmt« noch überempfindlich wird. Hierzu dockt der Botenstoff an spezifische Strukturen auf der Oberfläche der Nervenzellen des Angstnetzwerks an, sogenannten Serotoninrezeptoren in der Amygdala und im Frontalhirn. Dies funktioniert nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip, indem sich das Serotoninmolekül, und zwar ausschließlich dieses, an den Serotoninrezeptor bindet und diesen aktiviert – so wie man den richtigen Schlüssel zum passenden Schloss braucht, um eine Tür zu öffnen. Dadurch wird eine Kaskade von Prozessen innerhalb der Zellen beider Hirnregionen in Gang gesetzt, die schließlich dazu führen, dass sich die Zellaktivitäten verändern, was wiederum zu Änderungen des Erlebens und Verhaltens führt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, weshalb bei Angsterkrankungen vor allem Medikamente gegeben werden, die die Konzentration von Serotonin innerhalb des Angstnetzwerks erhöhen (mehr dazu in Kapitel 4).
Neben Serotonin verändern noch einige andere Botenstoffe die Aktivität innerhalb der Nervenzellen des Angstnetzwerks, insbesondere Gamma-Aminobuttersäure, kurz GABA, sowie Glutamat. GABA ist der Botenstoff im Gehirn, der die Aktivität von Nervenzellen am stärksten hemmt, und Glutamat derjenige, der die Zellaktivität am stärksten stimuliert beziehungsweise erhöht. Bei beiden Botenstoffen funktioniert dies wie im Fall von Serotonin durch spezifische Rezeptoren an der Zelloberfläche, an die ausschließlich sie sich binden können.
Allerdings wirken GABA und Glutamat, anders als Serotonin, nicht hauptsächlich im Angstnetzwerk, sondern in allen Bereichen des Gehirns, wo sie mal hemmende, mal aktivierende Effekte haben. So kennen die meisten von uns Glutamat auch in seiner (nicht ganz unumstrittenen) Rolle als Geschmacksverstärker, der nahezu jede fade Mahlzeit aufpeppt und insbesondere in der Gastronomie häufig eingesetzt wird. Auch dieser Effekt ist auf seine anregende Wirkung auf die Nervenzellen zurückzuführen.
Die Wirkung der Botenstoffe an der Nervenzelle
Die dargestellten Vorgänge im Körper bilden nur einen Teil des ausgeklügelten biologischen Systems ab, das dafür zuständig ist, die Angst auszulösen, aufrechtzuerhalten und zu beenden. Wir haben hier den relevanten Hauptmechanismus beschrieben, doch in Wirklichkeit sind die Vorgänge weit komplexer. Eine wissenschaftlich erschöpfende Darstellung würde den Rahmen dieses Buches jedoch sprengen. Wir wollen uns stattdessen auf Sie und Ihre Berührungspunkte mit der Angst konzentrieren.
Wenn Angst zum Problem wird
So wichtig und natürlich Angst für den Menschen ist, so belastend kann sie auch sein. Wird eine Angstreaktion und damit die Aktivierung des Angstnetzwerks durch Situationen oder Objekte ausgelöst, die eigentlich keine Angst machen sollten, wird Angst zum Problem. Dasselbe gilt, wenn das Ausmaß der Angstreaktion in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zum Auslöser steht. Hierzu drei Beispiele:
Wenn jemand beim Anblick einer Taube massiv Angst bekommt, ist diese meist unbegründet. Es ist wahrscheinlich unstrittig, dass der Mensch in der Nahrungskette einer Taube nicht ganz vorne steht und eine »Taubenattacke« aufgrund der geringen Angriffslust dieser Tiere extrem unwahrscheinlich ist. Auch sollte ein Durchschnittsbürger jederzeit in der Lage sein, einen Angriff aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit kurzfristig abzuwehren. Trotzdem gibt es eine Vielzahl von Menschen, die an einer ausgeprägten Taubenangst leiden.
Eine Angst vor (bestimmten) Hunden kann schon eher angebracht sein. Vor allem dann, wenn es sich um ein Exemplar einer einschlägig bekannten Kampfhundeart handelt, der Hund bereits aus einer Entfernung von zweihundert Metern wie verrückt zu bellen anfängt und weit und breit weder eine Leine noch ein Herrchen zu sehen sind. Entwickelt sich eine solch starke Angstreaktion jedoch auch gegenüber dem friedliebenden Rauhaardackel der Nachbarin, der bereits deutliche Zeichen von Altersschwäche zeigt und von allen Kindern in der Umgebung gestreichelt wird, ist die Angst höchstwahrscheinlich unbegründet.
Nicht nur Ängste, auch Sorgen können unverhältnismäßig sein. Sicherlich ist es gut, auf seine Gesundheit zu achten und mögliche Krankheitssymptome wahrzunehmen und gegebenenfalls zu beobachten. Bei manchen Menschen führt jedoch jedes eigentlich harmlose beziehungsweise nachvollziehbare körperliche Symptom wie ein Muskelzittern nach dem Sport oder ein erhöhter Blutdruck nach der fünften Tasse Kaffee zu großer Besorgnis. Andere Menschen entwickeln aufgrund von Berichten über Krankheiten in den Medien oder im Bekanntenkreis regelmäßig massive Sorgen, möglicherweise selbst an allen diesen Krankheiten zu leiden.
Wir möchten in diesem Abschnitt Ihre Ängste nicht werten oder sie grundsätzlich als unbegründet bezeichnen. Uns liegt es am Herzen, dass Sie ein Gefühl und Verständnis für Ihre Ängste bekommen und damit eine Chance, sie zu kontrollieren.
Von der Angst zur Angsterkrankung
Allerdings reicht die Tatsache, dass eine Angst wenig nachvollziehbar oder übertrieben erscheint, noch nicht aus, um sie als »krankhafte Angst«, also als »pathologisch« zu bezeichnen. Die Expertinnen und Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die maßgeblich ist für die Klassifikation der einzelnen Erkrankungen und die Definition des Begriffs der »Erkrankung«, begründen dies zum einen damit, dass die Angst immer vor dem soziokulturellen Hintergrund des Betroffenen betrachtet werden muss. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine Angst, die häufig in kollektivistisch geprägten Gesellschaften wie Japan oder Korea vorkommt: andere Menschen durch das eigene Verhalten bloßzustellen, sie zu kompromittieren oder ihnen Ungemach zu bereiten. Diese Angst spielt in individualistisch geprägten Gesellschaften wie der unseren eine sehr untergeordnete bis keine Rolle. Bei uns drehen sich Ängste im sozialen Kontext eher darum, sich selbst nicht zu blamieren. Ein weiteres Beispiel ist die Angst bei Anhängern von Naturreligionen, dass eigenes negatives Handeln durch übergeordnete Wesen wie Gottheiten (un)mittelbar bestraft werden könnte, etwa mit Naturkatastrophen oder Krankheiten. In beiden Fällen ist die Angst auf spezifische soziale beziehungsweise kulturelle Faktoren zurückzuführen. Entsprechend ist sie nicht per se »krankhaft«, auch wenn sie für uns wenig nachvollziehbar erscheint.
Gemäß der gültigen Klassifikationssysteme muss die Angstreaktion darüber hinaus immer zu einer »psychosozialen Belastung und/oder Beeinträchtigung« führen, damit sie »krankheitswertig« ist. Entscheidend ist also, dass die Betroffenen unter ihrer Angst emotional leiden, etwa in der Form, dass sich ihre Stimmung verschlechtert, sie wegen der Angst reizbarer sind, häufig weinen müssen und sich ihr psychisches Wohlbefinden durch die Angst generell reduziert.
Auch Beeinträchtigungen durch die Angst sind ein wichtiges Merkmal einer Angsterkrankung. Vielleicht kann sich jemand abends nicht mehr mit Freunden treffen, weil er befürchtet, nach Einbruch der Dunkelheit Hunden jeglicher Art schutzlos ausgeliefert zu sein. Oder jemand macht sich Sorgen, wie die Freundin an Multipler Sklerose zu erkranken. Die nächtliche Suche nach möglichen Krankheitszeichen führt zu Schlaflosigkeit und in der Folge zu extremer Müdigkeit, sodass die Person tagsüber Probleme hat, ihre Arbeit zu bewältigen.
Von einer Angsterkrankung spricht man also nur dann, wenn eine in Bezug auf ihren Auslöser »unpassende« Angst so schwer ist und/oder so häufig auftritt, dass die Betroffenen darunter leiden und/oder in ihrem Leben beeinträchtigt sind.
Mehr über die verschiedenen Angsterkrankungen erfahren Sie in Kapitel 2 dieses Buches.
Wann eine Behandlung empfohlen wird
Das Leiden und/oder die Beeinträchtigung der Betroffenen ist auch das entscheidende Kriterium, wenn es um die Behandlungsbedürftigkeit beziehungsweise Behandlungswürdigkeit einer Angst geht. Die Klassifikationssysteme betonen, dass psychische Erkrankungen – zunächst unabhängig von ihrer Art – behandelt werden sollten, wenn sie zu einer unmittelbaren Belastung und/oder Beeinträchtigung der Betroffenen und/oder anderer Menschen führen. Allerdings werden Dritte, wie zum Beispiel Angehörige, durch eine Angsterkrankung in der Regel nicht so unmittelbar belastet, wie es bei anderen psychischen Erkrankungen der Fall sein kann. Trotzdem können Verwandte oder Freunde von Angsterkrankten mittelbar mitleiden oder Einschränkungen erfahren, manchmal sogar sehr ausgeprägt, wie wir in Kapitel 3 zeigen werden.
Auch wenn bei Angsterkrankungen nur selten Dritte psychisch belastet oder in ihrem Leben beeinträchtigt sind, treffen diese Kriterien in der Regel auf die Betroffenen selbst zu. In diesen Fällen sollten sie mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlich geprüften Therapieverfahren behandelt werden. Dadurch kann sehr vielen Menschen gut und nachhaltig geholfen werden. Dennoch müssen die Symptome einer übersteigerten Angst nicht (zwingend) behandelt werden, solange der oder die Betroffene dadurch nicht belastet oder beeinträchtigt ist. Wenn zum Beispiel eine Person große Angst vor australischen Spinnen hat, aber ohnehin nicht nach Australien reisen möchte und auch beruflich nicht dort eingesetzt wird, gibt es zunächst keinen Grund für eine Behandlung. Die Angstsymptomatik allein ist kein hinreichender Grund für eine Behandlung.
Umgekehrt gilt aber auch: Eine Angstsymptomatik sollte behandelt werden, wenn sie die Betroffenen psychisch belastet oder in irgendeiner Weise im Leben einschränkt – auch wenn die Beschwerden nach Einschätzung von Außenstehenden »gar nicht so schlimm« sind. »Stell dich nicht so an!« ist kein hilfreicher Ratschlag. Nur die Betroffenen selbst können und sollen entscheiden, ob sie behandelt werden möchten oder nicht. Das Umfeld kann zwar unterstützend und beratend zur Seite stehen, darf in dieser Frage jedoch nicht ausschlaggebend sein.
Mehr über die unterschiedlichen Therapien bei Angsterkrankungen erfahren Sie in Kapitel 4 dieses Buches.
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Angst hat viele Gesichter