Keiner spricht mehr von Schimmeling - Michael Häusler - E-Book

Keiner spricht mehr von Schimmeling E-Book

Michael Häusler

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Beschreibung

Ein vergnügliches, aber auch dramatisches Gesellschaftsdrama über das Synchronsprechergewerbe in München: Kay Schimmeling, der Protagonist des Romans, ist solch ein anonymer Sprecher im „Dunkelkammergewerbe“; er redet sich heiser für andere, berühmte Stars, leiht ihnen seine Stimme, bekommt aber nicht den Ruhm eines Brad Pitt, Tom Cruise, oder Robert de Niro. Daher lechzt Kay nach Anerkennung, denn er hat eine Stimme, aber kein Gesicht. Er ärgert sich ein wenig, weil er nicht zur eigenen Karriere beiträgt, sondern zusätzlich zu der der amerikanischen Stars, denen er seine Stimme leiht. Seine zahlreichen Sprechrollen nehmen Kay derart in Anspruch, dass er seine Freundin, die Fotografin Karin Sebald, vernachlässigt. Prompt hält diese sich einen Lover unbekannter Herkunft. Der rasend eifersüchtige Kay verdächtigt argwöhnisch seine gesamten Synchron-Kollegen. Auch mit denen bekommt er reichlich Zoff, besonders mit seinem Synchronregisseur Karl-Uwe Plappsig, aber vor allem tobt sich Kay regelmäßig verbal bis zur Schmerzgrenze mit seinem Lieblingsfeind und Erzrivalen Dr. Manfred Schludermann aus, dem Programmdirektor vom Münchner TV-Privatsender „R 4“. Zwischen den beiden fliegen stets aufs Neue die Fetzen, aber für Kay ist das routinemäßige, gegenseitige Beleidigungsprogramm jedes Mal gleichbedeutend mit einer Verjüngungskur; die beiden Kontrahenten brauchen einfach die tägliche Erniedrigungs-Redeschlammschlacht, um sich abzureagieren von ihren Sorgen. Völlig ausgebrannt und psychisch am Boden, will er sich am Starnberger See von den Strapazen der Synchronisiererei und von Karins „Verrat“ erholen, und macht dort beinahe die größte Dummheit seines Lebens. Wieder zu Hause in München, lernt Kay einen reichen Gönner und Freund kennen, einen Unternehmer, der sein Glück wird: Kay wird wohlhabend und märchenhaft reich, denn mit Ludwig Bodenstedts Hilfe ist er praktisch selber zum reichen Unternehmer geworden. Doch bald droht neues Unglück: Kay gerät zusehends in den Dunstkreis von Bodenstedts verführerischer Frau Miranda und deren teuflischer Schwester Bianca. Kay verkraftet die neuen Herausforderungen dieser Dreier-Konstellation nicht und wird zum schweren Alkoholiker. Mit Karin Sebalds Hilfe fängt er sich einigermaßen wieder, doch dann geschieht ein neues, unfassbares, furchtbares Unglück ... Unfall? Mord? Selbstmord? Die Polizei tappt im Dunkeln. Wie wird der gute Kay diesen neuen Schicksalsschlag verkraften? Wird er sich je wieder erholen?

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Zu Risiken und Nebenwirkungen im Text fragen Sie

bitte Ihren Lieblings-Synchronsprecher oder

Synchron-Regisseur vor Ort,

oder gleich direkt am Tatort:

Im nächsten Synchron-Studio an oder weit von Ihrem Wohnort entfernt.

Inhalt:

Ein vergnügliches, aber auch dramatisches Gesell-schaftsdrama über das Synchronsprechergewerbe in München: Kay Schimmeling, der Protagonist des Romans, ist solch ein anonymer Sprecher im „Dunkel-kammergewerbe“; er redet sich heiser für andere, berühmte Stars, leiht ihnen seine Stimme, bekommt aber nicht den Ruhm eines Brad Pitt, Tom Cruise, oder Robert de Niro. Daher lechzt Kay nach Anerkennung, denn er hat eine Stimme, aber kein Gesicht.

Er ärgert sich ein wenig, weil er nicht zur eigenen Karriere beiträgt, sondern zusätzlich zu der der amerikanischen Stars, denen er seine Stimme leiht.

Seine zahlreichen Sprechrollen nehmen Kay derart in Anspruch, dass er seine Freundin, die Fotografin Karin Sebald, vernachlässigt. Prompt hält diese sich einen Lover unbekannter Herkunft. Der rasend eifersüchtige Kay verdächtigt argwöhnisch seine gesamten Synchron-Kollegen. Auch mit denen bekommt er reichlich Zoff, besonders mit seinem Synchronregisseur Karl-Uwe Plappsig, aber vor allem tobt sich Kay regelmäßig verbal bis zur Schmerzgrenze mit seinem Lieblingsfeind und Erzrivalen Dr. Manfred Schludermann aus, dem Programmdirektor vom Münchner TV-Privatsender „R 4“. Zwischen den beiden fliegen stets aufs Neue die Fetzen, aber für Kay ist das routinemäßige, gegenseitige Belei-digungsprogramm jedes Mal gleichbedeutend mit einer Verjüngungskur; die beiden Kontrahenten brauchen einfach die tägliche Erniedrigungs-Redeschlammschlacht, um sich abzureagieren von ihren Sorgen. Völlig ausgebrannt und psychisch am Boden, will er sich am Starnberger See von den Strapazen der Synchro-nisiererei und von Karins „Verrat“ erholen, und macht dort beinahe die größte Dummheit seines Lebens.

Wieder zu Hause in München, lernt Kay einen reichen Gönner und Freund kennen, einen Unternehmer, der sein Glück wird: Kay wird wohlhabend und märchenhaft reich, denn mit Ludwig Bodenstedts Hilfe ist er praktisch selber zum reichen Unternehmer geworden.

Doch bald droht neues Unglück: Kay gerät zusehends in den Dunstkreis von Bodenstedts verführerischer Frau Miranda und deren teuflischer Schwester Bianca. Kay verkraftet die neuen Herausforderungen dieser Dreier-Konstellation nicht und wird zum schweren Alkoholiker.

Mit Karin Sebalds Hilfe fängt er sich einigermaßen wieder, doch dann geschieht ein neues, unfassbares, furchtbares Unglück ... Unfall? Mord? Selbstmord? Die Polizei tappt im Dunkeln. Wie wird der gute Kay diesen neuen Schicksalsschlag verkraften?

Wird er sich je wieder erholen und glücklich werden?

Ein vergnüglicher Roman voller liebenswerter Sonderlinge und exzentrischer Typen aus der Münchner Film- und Geschäftswelt. Heitere Ereignisse und urkomische Farcesituationen wechseln sich ab mit dramatischen Geschehnissen, doch der Autor hat dafür gesorgt, dass Humor und Komik in dem Roman eindeutig überwiegen. Außerdem ein sehr spannender Roman voller Verschrobenheiten.

Guter Schreibstil aus den Sechziger Jahren, absichtlich so gewählt vom Autor, liest sich schön.

Letztendlich auch sehr gelungene Namensgebung für die Protagonisten.

***

Das Titelbild wurde leider nur vom Autor gemalt.

Kay Schimmeling ist ein gestresster Synchron-sprecher. Oder Synchron-Schauspieler, wie sich manche Sprecher lieber betiteln lassen. Aber nicht alle.

Was das bedeutet, weiß jeder: Der Mann hat eine Stimme, aber kein Gesicht. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte, im Gegenteil: Kay liebte es, in den dumpfen, anonymen Niederungen der diversen Synchronstudios abzutauchen, um unbedeutenden Nebendarstellern seine Stimme zu leihen, und sei es auch nur für Sekunden.

Es gefiel ihm, wenn er es wieder einmal geschafft hatte, einem fiesen Bösewicht mit Knarre die unsterblichen Worte: „Gleich schicke ich dich zur Hölle, du dreckige Wanze“ einzuhauchen. Der eingedeutschte Gangster wurde dann fast jedes Mal schon einen Augenblick später selber um die berühmte Ecke gebracht, sodass Kay Schimmeling sich rühmen konnte, gleichsam Zeuge seiner letzten Worte gewesen zu sein. Woraufhin er sich gewöhnlich behaglich an sein schmales Synchronpult lehnte, und seine Zigarette weiterrauchte. Kay hatte es sich verdient, denn seine Rolle war zu Ende. Er beherrschte die Synchrontechnik perfekt, bekam manchmal auf der Stelle seine kleine Gage direkt ausbezahlt und konnte gehen.

Dann harrte er der Dinge, die da kommen würden: Meist in Gestalt einer anderen, kurzen Sprechrolle, die sich oft schon am gleichen Tag, in einem anderen Synchronstudio bot; irgendwo am anderen Ende der Stadt München. Dann brach Kay flugs wieder auf, um pünktlich anzukommen, denn Zeit ist Geld. Gerade bei der Filmsynchronisation, einem der wichtigsten Erwerbszweige tausender ansonsten arbeitsloser Schauspieler, die von diesem Schattendasein leben.

Schimmeling würde dann einen anderen Part zu sprechen haben, wahrscheinlich wieder nur wenige Sätze; diesmal vielleicht in einem drittklassigen Western. Da würde er dann den heruntergekommenen Trunkenbold sprechen, der zur Schande des ganzen Städtchens geworden ist. Und Kay würde der Elendsgestalt folgende Worte aufzwingen, gegen die sie sich nicht wehren konnte, und welche sich auf die besseren Zeiten dieser Lumpengestalt beziehen würden: „Früher mal, mein lieber Joe, ja, da hättest du fürwahr wer weiß was dafür gegeben, wenn ich dir auch nur erlaubt hätte, mich am Arsch lecken zu dürfen...“ Danach: Schluss, aus! Schimmelings Rolle wäre damit wieder zu Ende. Rasch würde er seine Prämie vor Ort kassieren, manchmal wurde sie auch überwiesen. Dann nichts wie raus aus dem dunklen, schalldichten Studio, in irgendein Verkehrsmittel gesetzt, zum nächsten Synchronatelier... Irgendwo hatte der gute Kay heute bestimmt noch einer Jammergestalt seine Stimme zu leihen!

Weit war sein Weg für ein paar Worte. Im Gegensatz zu Clint Eastwood war Kays Weg nicht mit Leichen gepflastert, sondern mit Worten.

Und da war sie auch schon, die dunkle Gestalt! Ängstlich und schreckensbleich im Gesicht fühlte sich ein jugendlicher Falschgelddrucker am Ende eines schmalen Ganges in die Enge getrieben, denn er drückte seinen Rücken gegen die unerbittliche Wand des finsteren Kellers, die Hände hinter dem Rücken verkrallt.

Vor ihm stand sein Komplize mit einem Revolver und einem dreckigen Grinsen auf der Visage.

„Nein, Hank, bitte, das kannst du doch nicht tun!“, synchronisierte Kay kreischend ins Mikrofon an seinem Stehpult. „Ich habe immer die ganze Arbeit gemacht, und du hast immer nur dabeigestanden und zugesehen!“, sagte der junge Gangster entsetzt mit schriller Stimme.

„Genau die Arbeitsteilung, die ich liebe, mein guter Harry, ich bin dir auch sehr dankbar dafür, aber von jetzt ab kann ich leider keinen weiteren Nutzen in dir erkennen, denn ausgeben will ich das Geld lieber selber; Adieu, mein Guter!“, schnarrte Kays Synchronpartner in sein Pultmikrofon. Und dann hörte man auch schon den finalen Revolverschuss, der vielfach widerhallte in dem dumpfen Kellergewölbe, in vielfach sich überlappenden Echos. Gerade noch einen lang anhaltenden Todesschrei durfte Kay ausstoßen, dann war seine Rolle leider schon wieder beendet, denn „er“ war ja tot! Zumindest seine Figur war tot, wenn man es sauber ausdrücken wollte. Und Tote haben ja bekanntlich nichts mehr zu sagen.

Kay Schimmeling beherrschte die Synchro aus dem Effeff, nie gab es Probleme mit ihm, immer erschien er pünktlich schon lange vor der angesetzten Zeit, er versprach sich selten, fast immer bewegte er seine schmalen Lippen synchron zu der auf der Leinwand zu sehenden Gestalt. Deshalb wurde er von den Synchronregisseuren so sehr geschätzt.

Nie wurde Kay bisher eine Hauptrolle zuteil, doch das sollte sich heute ändern. Eine neue Comedy-Serie aus Amerika stand an zur Synchronisation; darin lauter schräge Typen mit vielen Kieksern und schrillen Tönen in der Stimme. Einer davon, dessen Tonfärbung sich genau mit der von Schimmeling deckte, und zwar der Hauptdarsteller, musste so lustig wie möglich eingedeutscht werden, und das gleich hundertfünfzig Mal. Kay, der die Wartezeit bis zu seinem Einsatz in der Kantine des Synchronstudios überbrückte, freute sich wie ein Blöder über den endlosen Sprechfluss, den er von nun an tagtäglich zu bewältigen haben würde. Vielleicht würde es ja sogar eine neue Lebensaufgabe für ihn werden, falls die amerikanische Sitcom ins Uferlose verlängert werden würde!

Eine Sache nur machte dem guten Kay Kummer: Der Synchronregisseur, denn dieser war Karl-Uwe Plappsig. Und Plappsig war gefürchtet für seine uferlose Pedanterie, manchmal einen Take, die kleinste Synchron-Einheit, beim geringsten Fehler endlos wiederholen zu lassen. Doch Kay würde ihn sich schon zurechtbiegen, seine gute Laune wollte er sich von Plappsig auf keinen Fall verderben lassen. So pfiff er bei einem Hörnchen und Kaffee, das er an seinem kleinen Tisch fröhlich zu sich nahm, munter vor sich hin.

Da kam unversehens Hans-Dieter Zimmermann an seinen Tisch, der König aller Synchronsprecher, der fast nur auf Hauptrollen abonniert war. Keck tunkte die große, massige Gestalt im Vorbeilaufen ihr eigenes Hörnchen in Schimmelings Kaffee ein und besaß zudem noch die freundliche Nonchalance, sich neben ihm niederzulassen. Kay sperrte gehörig Augen und Ohren auf, soweit es irgendwie nur ging, und heute ging es ziemlich weit, denn er glaubte einfach nicht, was er da sah: Hans-Dieter Zimmermann ließ sich herab, sich neben ihn zu setzen, den fast unbekannten Mini-Synchronsprecher, das hatte er noch nie erlebt! Noch nie war Kay ihm persönlich begegnet.

Zudem war der Sprecherriese auch noch ausnehmend guter Laune, die sich darin manifestierte, dass er Schimmeling abschlägig beschied, als dieser Anstalten machte, vor ihm aufzustehen, um ihm gebührend zu huldigen. Ja, er verlangte nicht einmal, dass Schimmeling sich als nichtigen, kleinen Wurm bezeichnete, der es in seiner unbedeutenden Existenz nicht wert war, dass ein Zimmermann ihn auch nur entfernt zu zertreten gedächte! Nein, Zimmermann ließ seine raue, bass-kratzige Synchronstimme zu einem gutmütigen Gesprächseinleitungslächeln ertönen, eine gewaltige Donnerstimme, an der kein Fernsehzuschauer vorbeikam, der Liebhaber von Krimis, Westernserien, Komödien, Science-fiction-Serien, Sitcoms, Dramen oder Problemfilmen war. Immer war Zimmermann dann sprachlich präsent mit seiner rauen Reibeisenstimme, die mal zu einem rauchigen Lachen erschallte, dann wieder tadelte, außer sich vor Zorn tobte oder weinte vor Rührung. All das konnte dieser Mann, der weitaus mehr Zeit im Synchron-Dunkel verbrachte, als vor Kamerascheinwerfern zu stehen!

So an die zehntausend Mal wird er wohl schon zum Einsatz gekommen sein in seiner Synchronlaufbahn; fast war er beinahe ein akustischer Mythos im gesamten, deutschen Sprachraum geworden ... Seine Stimme dröhnte von allen Leinwänden. Und er hatte zudem den großen Vorteil, dass man auch sein Gesicht kannte. Obwohl es eigentlich gar nicht mehr so schön war, sein Gesicht – es war eher eine verwitterte Visage, die sich durch den Genuss von übermäßigem Whiskeykonsum und das Rauchen von allzu vielen filterlosen Zigaretten in einen verschrumpelten Mumienkopf verwandelt hatte. Die dichten, schlohweißen Haare waren dabei noch das Natürlichste an Zimmermann, der ein geheimnisvolles Alter hatte, von dem man aber wusste, dass man so alt, wie er jetzt schon aussah, eigentlich gar nicht werden konnte.

Zimmermann war der ungekrönte König aller Synchronstudios. Vielmehr noch: Er wurde von den Synchronregisseuren wie ein Heiliger verehrt, ihm widersprach man nicht, er konnte sich alles erlauben. Und gerade weil er das konnte, machte er sympathischerweise nie viel Gebrauch davon. Niemand würde ihn je als arrogant bezeichnen, diese Vokabel auf Zimmermann laut anzuwenden, wäre gleichzusetzen mit der achten Todsünde.

Man glaubte an ihn wie an die zehn Gebote, obwohl die wenigsten sie einhielten. Er war immer zuverlässig und schien Tag und Nacht einsatzbereit zu sein, wenn er nur die stets angezündete Zigarette in der rechten, das volle Whiskeyglas in der weiß behaarten, linken Pranke halten durfte. Niemals konnte sich je einer erinnern, Zimmermann mit einem leeren Glas in der Hand herumlaufen gesehen zu haben. Er war vermutlich im Besitz des Zaubertricks, der das Glas nie leer werden ließ.

„Nun, mein lieber, guter Kay Schimmeling ...“ So fing die Sprecherlegende ihren Sermon an, als sie geruhte, sich mit einer unteren Charge abzugeben, und ihre Stimme klang wie gewohnt von unverdünntem Whiskey geschwängert.

Aber, oh, Wunder, dachte Kay ungläubig. Gleich zwei wahre Wunder verbargen sich in Zimmermanns Einleitung, erstens: Er kannte seinen Namen, sprach ihn sogar richtig aus; nicht „Schimm-Mehling“, wie Kay von manchen Kollegen tituliert wurde. Auch sagte er nicht „Schimmelding“, zu welch schamloser Bezeichnung sich schon mancher bedeutende Kollege verstiegen hatte, Zimmermann war eben ein gutmütiger Riese ohne Häme und Hintergedanken und ohne Lux und Filter.

Kay wusste eigentlich nicht recht, wie er sich dieser Persönlichkeit gegenüber verhalten sollte, so lächelte er erst einmal freundlich zurück. Er wusste noch weniger, ob sein Lachen synchronreif war, denn die Kontrolle über seine Gesichtszüge beherrschte er natürlich nicht so gut wie über seine Stimme. Hier aber würde er beides gebrauchen müssen, und schon lachte Zimmermann sein raues Marlboro-Lachen, als er die gequälte Grimassenschneiderei seines Kollegen begutachtet hatte. „Nun mach nicht solch ein Gesicht, als ob du gar keines hättest, Junge!“, juxte Mr. Synchron. „Hahaha, man merkt dir deutlich an, mein lieber Kay, dass du nicht gern vor einer Kamera stehst“, sagte er weiterlachend, während er dem schmächtigen Kerlchen Schimmeling einen harten Klaps auf den Rücken gab, während er zugleich die Kunst beherrschte, die Restmahlzeit von Kays Teller aufzuessen. „Ich darf doch mal, ja?“, ließ er sich anständigerweise noch herab zu fragen.

„Ei, gewiss doch, ein Zimmermann darf bei mir immer alles, ich muss mich ja schon sehr geehrt fühlen, wenn eine Persönlichkeit Ihres Formates mal zu uns in die unteren Sphären des Dunkelmännergewerbes hinabsteigt. Ich freue mich ehrlich, Sie an meinem Tisch zu haben ... Bitte, behalten Sie Platz, so lange Sie wollen, ich bestelle Ihnen gerne gleich einen neuen Whiskey, und dazu Ihre geliebte Havanna ... Herr Ober“, sagte Kay dienstbeflissen und er winkte nervös einen Kellner heran. Doch das war gar kein Kellner, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte. „Der Mann sieht zwar aus wie ein Kellner, Kay, ist auch angezogen wie einer, doch das ist einer unserer Schauspielkollegen, der nur einen Kellner spielt; er ist hier selber Gast, denn er hat gerade eine Drehpause, genau wie wir“, erklärte Zimmermann gutmütig. „Außerdem gibt es hier in der Künstlerkantine gar keine Kellner, hier ist doch Selbstbedienung“, ergänzte Mr. Synchron.

„Aha, aber wenn er halt schon mal so preisgünstig angezogen ist, dann könnte er den Kellner doch eigentlich kurz wirklich mal für uns spielen und uns bedienen – das würde seinen Wirkungseffekt erhöhen, und unser Kollege bliebe gleich in Übung für seine Rolle“, bemerkte Kay hochnäsig und extra laut, damit es hörbar für den vermeintlichen Kellner wäre.

„Haha, du bist wirklich gut drauf, Kay“, meinte Zimmermann prustend. „Das war ja schon ein richtig kleiner Sketch, den du da vom Stapel gelassen hast, mein Junge!“, lobte er. „Aber ein sehr kleiner, Ver-Schwiemeling“, sagte der Gefoppte schmollend zu Kay. „Wenn ihr beiden Witzvögel wirklich von mir bedient werden wollt, dann verlange ich aber auch, dass ihr mir ein echtes Kellner-Gehalt dafür zahlt, klar, ihr beiden Schießbudenfiguren?“, motzte der gekränkte Schauspieler und trollte sich. „Was für ein unsympathischer Kackvogel! Leute gibt´s!“, wetterte Kay verstimmt.

„Ja, du hast recht, manche Leute verstehen eben keinen Spaß“, sagte Zimmermann und grinste.

„Aber das ist ja auch kein Wunder bei dem tristen Namen, mit dem der arme Junge herumlaufen muss!“, erklärte der Synchron-Riese mitfühlend.

„Ach? Ja, wie heißt er denn?“, fragte Kay verwundert.

„Ernst Leichen-Bitter“, sagte Zimmermann lakonisch.

„O weh – ja dann!“, meinte Kay wie vor den Kopf geschlagen.

Nach dieser etwas peinlichen Ansprache war Zimmermann ehrlich ergriffen. Mit hängenden Schultern saß er da und deklamierte in seinem schönsten Synchron-Deutsch: „Übrigens hast du das auch hübsch rezitiert, deine kleine Humoreinlage, werter Kollege, wirklich ausgezeichnet!“, sagte er ehrlich baff. „Du hättest doch lieber Schauspieler werden sollen, Junge!“ Und wieder bekam Kay einen Taps auf die Schulter. Von einem dröhnend lachenden Zimmermann.

„Aber das bin ich doch schon, verehrter Meister aller Sprecherklassen“, sagte er lächelnd. Schimmeling fuchtelte dazu nervös mit den Händen in unbestimmten Luftschichten herum und verzerrte gequält sein Gesicht. Es sollte eigentlich ein Lächeln werden.

„Ha, ich weiß schon, worauf du anspielst, mein kleiner Scherzbold, ich sehe, man hat den Richtigen für die Rolle ausgesucht, die du bald sprechen wirst, die zu deiner zweiten Haut werden soll“, sagte Zimmermann lachend und nahm von Kay die Zigarre und den Whiskey in Empfang, welche dieser ihm eben vom Tresen geholt hatte. „Aber ich warne dich, dieser Plappsig ist kein einfacher Mensch, der schurigelt dich wie einen Laufjungen, nimm dich in Acht, Kay. Ich bin extra hierher gekommen zu dir, um etwas von meinem väterlichen Unrat auf dich wirken zu lassen, wenn ich darf … Glaube mir, ich meine es gut mit dir“, warnte die massige Gestalt ernst, indem sie sich gutmütig und verschwörerisch zu Schimmeling hinunterbeugte, so als wären beide schon immer ein unzertrennliches Paar gewesen.

„Oh, bitte, lassen Sie nur wirken“, bat Kay entzückt.

„Und dann erst diese Cutterin, Marie-Luise Krähvogel, oh Gott“, schnarrte Zimmermann entsetzt, allerdings eher mit hörbar gespieltem Entsetzen. Er wollte nur Show machen. „Ihre ätzenden Anweisungen befolgen zu wollen kommt dem Versuch gleich, eine Banane gerade biegen zu wollen, während man bei Sturmwind auf einem Laufband steht, oh, du Ärmster ...!“

Zimmermann war auch ein Meister der Vergleiche, wie sich jetzt im Gespräch mit Schimmeling herausstellte. „Oh, mit den Cutterinnen bin ich bis jetzt eigentlich immer sehr gut zurechtgekommen, vor allem mit Yvonne Cutterfeld, hähä“, sagte Kay scherzend. Zimmermann lachte vergnügt. „Aber nicht mit der Krähvogel, mein Junge“, sprach Zimmermann entschieden, indem er die Kunst beherrschte, gleichzeitig zu paffen, Hörnchen einzutunken, zu essen und zu sprechen. Eine Entdeckung, die den sich immer weiter aus der Deckung hervorwagenden Schimmeling zu der mutigen Äußerung veranlasste: „Fantastisch, Maestro, nicht nur das Synchronisieren, auch Essen, Trinken und Rauchen beherrschen Sie perfekt lippensynchron, mein Kompliment“, sagte Kay lachend. Er machte sich plötzlich eine Idee kleiner, weil er glaubte, sich in seinen Äußerungen zu weit vorgewagt zu haben. Doch der gemütliche Riese setzte ein gutmütiges, schelmisches Gesicht auf, das er gekonnt in die Länge zog, als wären es drei Gesichter. Dann drohte er neckisch mit dem Zeigefinger. „Oh, ich sehe mit Freuden, Kay: Dein Humor reicht locker für drei Comedy-Serien, hahaha, sehr gut, du solltest unbedingt auch vor der Kamera auftauchen, mein Freund“, lobte er, durchaus ernsthaft. „JA, ich würde tatsächlich gerne mal einen Taucher spielen, dann bin ich länger im Bild zu sehen, und muss endlich mal nicht so viel reden wie sonst bei der Synchro, wenn ich zur Abwechslung mal unter Wasser zu sehen bin“, scherzte Kay. „Ich sehe schon, du wirst es doch ganz leicht mit der Krähvogel aufnehmen, wenn du nur weiter so auch mit ihr sprichst, so wie du es mit mir tust, hähä ...“

Der weiße Riese klatschte in die Hände und verdrehte vergnügt das Gesicht. Dabei schnitt er unglaubliche Grimassen, die einfach nur Kays Bewunderung hervorriefen.

„Aber“, betonte Zimmermann ulkig, „sei trotzdem auf unglaubliche Anweisungen von ihr gefasst...“ Er paffte, trank und lachte. Kay lauschte gespannt. „Oh, bitte, erzählen Sie doch mal“, bat Kay. Da sprach Zimmermann mit erschreckend treffender Tonimitation die quäkige Krähvogel-Stimme nach: „Gut, wenn Sie hart auf vier anfangen, dann können Sie die erste Hälfte ein bisschen breiter nehmen, dann in der Mitte wieder etwas knapper – Zimmermann fuchtelte dazu wild mit Daumen und Zeigefinger, urkomisch, unnachahmlich – und nach dem Atmer haben Sie noch reichlich Zeit ...“ - „Das sind so typische Anweisungen von ihr“, sprach Zimmermann lachend. Schimmeling lachte auch.

Zimmermann lächelte zurück, beide blödelten nach Herzenslust. Er aber, der große Zimmermann, der absolute Starsprecher, schien alles gleichzeitig zu beherrschen: Reden, Essen, Trinken, Gestikulieren, Abschiednehmen. „Also dann, mein lieber Kay, ich muss wieder los“, sagte der Weißhaarige liebenswürdig und gab dem kleinen Schmalen einen freundschaftlichen Stups in die Seite. Der erhob sich rasch und reichte dem Altstar dankbar die Hand, murmelte betreten einige freundliche Worte, wie sehr er sich über seine Gesellschaft gefreut habe. „Du darfst ruhig sitzen bleiben, mein lieber Kay“, sagte der Alte.

Er sprach jetzt extra näselnden Ruhrgebiet-Dialekt, aus dem Gebiet seiner engeren Heimat, was ihn für Schimmeling noch sympathischer machte. Ganz leicht war Zimmermann jetzt seine Herkunft anzumerken, die ihn wie einen alten Bergmann aussehen ließ.

„Übrigens sehen wir uns heute eh´ noch einmal dienstlich“, raunte er herb zu Kay zurück, jetzt wieder in Hochdeutsch. Der Riese blickte paffend zu Kay hin, kurz innehaltend.

Kay staunte erfreut: „Ja, wirklich?“, fragte er verblüfft. „Nachher im Studio“, erwiderte die Synchron-Legende und hob eine Hand, grinste dazu. „Um fünf Uhr hier im Haus, ich habe dann mit dir zusammen eine Szene zu sprechen – dann geht´s der Krähvogel an den Kragen, toi, toi, toi, bis dahin, alter Junge, zusammen sind wir stark!“, deklamierte Zimmermann fröhlich. Er grinste und zeigte Kay seinen emporgereckten Daumen. Dann winkte er noch einmal überlegen, lässig, wie zum Zeichen, Kay solle sich keine Sorgen machen, und vollzog leise singend und torkelnd seinen Abgang.

Kay freute sich riesig und eine euphorische Stimmung ergriff von ihm Besitz, weil er mit Zimmermann zusammen synchronisieren würde. Denn das wäre das erste Mal, dass beide zusammen vor dem Synchronpult stünden. Kays gehobene Stimmung wollte sich indes nicht lange in seinem Inneren einnisten, denn er sah, noch bevor er sich wieder an seinem Tisch niedergelassen hatte, zu seinem Schrecken eine unerwartete Gestalt auftauchen, noch eine, die es zielstrebig darauf angelegt zu haben schien, geradewegs auf seinen Tisch zuzusteuern.

Das also war der gefürchtete Synchronregisseur Karl-Uwe Plappsig, der sich nun lässig und leger zu ihm gesetzt hatte. Er war mit einem leicht pedantischen Gang einher geschlendert, und er trat auf wie ein schneidiger Oberst. Deswegen allein war er Kay allerdings keineswegs gleich unsympathisch, wie man vorschnell aus seiner Gemütsverfassung hätte deuten können, die Kay ringsherum abstrahlte wie ein junger zorniger Bulle. Nein, es war eher die Überkorrektheit, die Plappsig bei den Leuten verdächtig und gefürchtet machte.

Der Mimikminimalist sonderte einen ultrakurzen Gruß an Kays Adresse ab, dann starrte der Regisseur ihm ins Gesicht, einen Arm auf der Tischkante aufstützend. Plappsig war selber auch ein versierter Synchronsprecher, er hatte noch vor drei Jahren in einer rumänischen Mini-Billigfernsehserie die Hauptrolle gesprochen: Graf Dracula persönlich! Die Rolle passte glänzend zu ihm, die langen Zähne hatte er jetzt noch, denn die waren leider echt. Den Draculablick hatte er auch gerade hier noch drauf, als er Kay unverwandt anblickte. Das schräge Etwas des blutsaugenden Vampirblickes nahm Kay hart ins Visier. Der Gute beschloss spontan eiskalt, ganz cool zu bleiben. Keinesfalls wollte er dem Oberpedanten eine Angriffsfläche für dumme Bemerkungen oder faule Witze bieten.

So begann Kay honigsüß selbst mit der Eröffnung: „Was für eine Überraschung, dem Herrn Regisseur ist nichts zu schwör ... Freut mich, dass Sie es schließlich hier bis zu meinem Niveau hinunter geschafft haben ...“ Kay lächelte über seinen eigenen Witz, trommelte mit den Fingern den Dracula-Rhythmus der Melodie aus der Fernsehserie auf die Tischplatte. Plappsig blieb stoisch ruhig, unbewegt sitzen.

„Warten Sie“, beeilte sich Schimmeling zu versichern, „ich bestelle Ihnen auch gleich den angemessenen Drink zur blutigen Stimmung, wenn´s recht ist – Herr Ober, eine Bloody Mary für den Herrn Meister-Regisseur!“

Kay fuhr hastig mit dem Oberkörper herum und rief seine Worte in den Raum hinein. Er war so laut, dass der Redefluss an den umliegenden Tischen für einen Moment völlig still stand. Neugierig blickten sich die Gäste um. Einige hatten durch diesen Zwischenfall den Regisseur erst jetzt bemerkt, der da bei Kay so dekorativ am Tisch saß. Der Regisseur ließ sich jedoch nicht durch dieses Gehabe beeindrucken und verharrte still an seinem Tisch. Er war überhaupt nicht der Typ, der sich leicht provozieren ließ, und das imponierte Kay.

„Hier gibt es keine Ober, Herr Schimmeling“, sprach Plappsig bräsig.

„Und das wissen Sie auch ganz genau!“.

Alle Blicke waren weiterhin auf den Tisch des kleinen Schimmeling gerichtet.

Alle Blicke? Nein! Einige harte, unbeugsame Menschen starrten eigensinnig extra ganz woanders hin.

Mit gespielter, steifer Würde saß der bräsige Regisseur kerzengerade da.

„Wenn Sie gesagt hätten, eine Bloody Mary für Dracula...“, machte er endlich den Mund auf.

„Dann würden Sie jetzt mein Blut saugen, nicht wahr?“, ergänzte Kay Schimmeling ihn schelmisch.

Dazu lachte er zu seinem Schrecken weitaus dreckiger, als er das vorgehabt hatte, doch so eine Sache war eben nicht mehr rückgängig zu machen, wie etwa eine missglückte Filmszene, die man getrost noch einmal drehen konnte. Plappsig trug den Blick des tief im Inneren Verletzten vor sich her wie einen halb verwesten Tierkadaver.

„Keine schlechte Idee“, antwortete er tonlos zu Kay hin, mit einem Anflug von ernsten Humorabsichten.

Dazu lachte der Regisseur leise, versöhnlich, ohne Ironie oder eine Spur von Verstimmtheit. Es war ein vorsichtiges Lächeln, aber auch ein nachsichtiges, eins, wie man es für vorlaute Kinder lächelt, aber nicht für nachlaute. Kay lachte vorsichtshalber mit, denn er hielt es für das Beste, erst einmal etwas zu tun, was sie beide gut beherrschten: Albern Lachen.

Als beide ausgelacht hatten, bemerkte der Regisseur versonnen: „Ja, wirklich, Sie scheinen mir, zumindest partiell, brauchbar zu sein für die Rolle des Roger Dopey, ich werde es wohl mal mit Ihnen versuchen...“ Mit ausdruckslosem Gesicht sah er zu Kay hin. „Aha, ist das der Charakter, den ich zu sprechen habe?“, fragte Kay. „Ja, das ist er in der Tat, der arme Mann, ich bedaure ihn jetzt schon“, sagte Plappsig stichelnd.

Kay grunzte. Plappsig nahm wieder seine steife, würdevolle Sitzpose ein.

„Was macht eigentlich dieser Roger Dopey? Was ist das für eine Figur?“, fragte Kay.

„Lauter Blödsinn macht er, genau wie Sie“, sagte der Regisseur spitz.

„Aha, gut, dann gefällt er mir gleich schon sehr“, sagte Kay vergnügt.

„Daher haben Sie mich also für diese Rolle ausgewählt!“, rief er lachend aus.

Der Regisseur baute mühsam ein erneutes, kleines Lächeln zusammen, das aber gleich wieder einzustürzen drohte. Beide stierten sich wieder belauernd an.

„Nicht nur daher, vermutlich auch, weil ich genauso bescheuert bin wie Sie“, sagte Plappsig matt.

„Und nur, um mir das zu sagen, sind Sie extra bis hierher zu mir heruntergekommen?“, fragte Kay trocken. „Noch tiefer herunterkommen kann man doch eigentlich gar nicht“, sagte Kay feixend.

„Nein, hauptsächlich bin ich hierher gekommen, weil ich Durst hatte“, sagte der Regisseur lächelnd.

„Wissensdurst natürlich“, ergänzte er trocken. „Denn ich wollte einfach nur einmal testen, was für ein Typ Sie sind“, sagte er sachlicher.

„Übrigens“, sagte Kay nachdenklich, „waren Sie stimmlich ein sehr guter Dracula-Sprecher, wirklich, Ihre Synchronisation war von großer Klasse, keiner sprach je Dracula gleichzeitig mit so großer Eleganz und Arroganz, und Firlefanz; ohne Monstranz und Lichterglanz“, bemerkte Kay bissig.

Der große, stämmige Regisseur neigte sich darauf mit seinen breiten Schultern ganz nahe zu Kay vor und sagte feixend: „Na, es hat mich jedenfalls gefreut, mit Ihnen zu fachsimpeln, und zu flachsimpeln, Herr Schmeling...“ Dann reichte er Kay die Hand. „Ich muss jetzt wirklich wieder losziehen.“

„Ah, hoffentlich ziehen Sie dabei gleich ein Gewinnlos!“, wünschte ihm Kay zum Abschied.

„Übrigens“, sagte Plappsig noch, „die Szene vorhin hier an diesem Tisch mit Zimmermann war wirklich filmreif: Schade, dass keiner eine Handkamera dabeigehabt hat; das wären ein paar schöne Aufnahmen geworden!“

Beide Männer verabschiedeten sich fast herzlich. Karl-Uwe Plappsig entschwand fast lautlos wie der dritte Mann.

Zur festgesetzten Zeit befanden sich alle relevanten Personen bereits vollständig im Synchronatelier.

Ein Synchronstudio besteht aus zwei Bereichen, dem Regieraum und dem Aufnahmeraum. Beide Räume sind durch eine schalldichte Glasscheibe voneinander getrennt.

Im Regieraum sitzen der Synchronregisseur und sein Tonmeister und sorgen dafür, dass jede Aufnahme nach Raum klingt. Denn eine Person, die auf der Leinwand von ihrem Gesprächspartner durch eine größere, räumliche Distanz getrennt ist, muss stimmlich anders klingen als ein Dialogpartner, der sich zum Beispiel im Vordergrund des Bildes befindet. Dafür sind Regisseur und Tonmeister zuständig.

Der Regisseur sitzt daher in der Regel neben dem Tonmeister und beurteilt, ob Stimmung und Inhalt einer gerade synchronisierten Szene zueinander passen. Ist das nicht der Fall, wird die Szene wiederholt.

Auf der anderen Seite der Glasscheibe sitzt die Cutterin an einem Tisch, auf dem auch das fertige Synchrondrehbuch liegt. Dies ist der Aufnahmeraum, denn in ihm befinden sich die Mikrofone und das Sprecherpult für die Synchronsprecher, die auf einen Monitor schauen, auf dem ihnen die zu synchronisierenden Szenen eingespielt werden.

Dabei rückt das schauspielerische Können der Sprecher ganz in den Hintergrund, weil es quasi nur noch auf ihre Stimme reduziert wird. Viele Schauspieler verzichten daher lieber auf Synchronarbeit, weil sie dadurch nicht zu Ruhm kommen und die Anerkennung von außen fehlt. Es gibt auch etwa nur 30 bis 50 Leute in Deutschland, die Hauptrollen sprechen. Kay hoffte inständig, einer von denen zu werden.

Er begab sich an sein Sprecherpult, auf dem sich die Mikrofone für die Aufnahmen befanden und wo sein Text schon für ihn bereitlag. Auf dem Weg dorthin glitt sein Blick kurz zur Regieloge, und er sah, dass hinter der großen Glasscheibe Regisseur und Tonmeister bereits ihre Posten bezogen hatten.

Kay fühlte sich irgendwie nicht ganz wohl in seiner Haut.

Dieses gruselige Gefühl verstärkte sich noch um ein Erkleckliches, als er die Cutterin Marie-Luise Krähvogel zum ersten Mal vor ihrem aufgeschlagenen Synchrondrehbuch bemerkte, in das sie bereits ganz vertieft war. Der Beruf der Cutterin ist in der Tat fast nur mit Frauen besetzt. Die Cutterin schneidet auch die Tonspur und schiebt die Sätze an die richtige Stelle.

Kay Schimmeling streifte sie zuerst nur mit einem kurzen Blick, denn er erinnerte sich mit Unbehagen daran, was der große Zimmermann vorhin im Erfrischungsraum über ihre Qualitäten als Kleinigkeitskrämerin gesagt hatte.

Mit einem fröhlichen Gruß begrüßte Kay die zurücklächelnde Amazone, die sich ihm gegenüber eigentlich ganz liebevoll verhielt.

Da war Kay endlich an seinem vertrauten Pult angelangt.

Marie-Luise Krähvogel war im Augenblick damit beschäftigt, einen Satz aus dem Drehbuch auszustreichen, den sie handschriftlich mit einem Filzstift durch neue Formulierungen ersetzte. So wurde diese Praxis immer gehandhabt, denn nie war das vorläufige Dialogbuch ein endgültiges, da einige Szenen erst im Augenblick der Sprachaufnahmen neu dazu kamen. Das hatte zur Folge, dass die letzte Fassung des Buches am Ende der Synchronarbeiten stark von der ersten abwich.

Am Sprecherpult begrüßte Kay seinen Synchronpartner Heiko Weyer, der dort schon stehend auf ihn gewartet hatte. Er war ein blasser, schlanker junger Mann mit blonden, strubbeligen Haaren.

Heiko würde den zweiten Hauptdarsteller der Serie synchronisieren. Er hatte sich schon in den Text auf seinem Pult vertieft und lachte über einige lustige Sätze. Er sah zu Kay auf und sagte: „Sag mal, ich hörte, du hast da vorhin in der Kantine eine ganz lustige Nummer mit diesem eitlen Plappsig abgezogen, stimmt das?“ Heiko lachte dazu. „Aha, die „Nummer mit Plappsig“ heißt das jetzt also“, bemerkte Kay trocken. Er drehte sich abrupt zu Heiko hin. „Ja, sag mal: Hat das denn gleich jeder Trottel aus unserem Synchronzirkus mitbekommen?“, fragte Kay halb pikiert, halb verlegen.

„Wundert dich das, so wie du auch schon die Ober-Nummer durchgezogen hast?“, sagte Heiko im Flüsterton.

„Du verstehst es wirklich, einen ganz verlegen zu machen, und das ausgerechnet vor der Aufnahme“, sagte Kay. „Und überdies noch bei völlig neuen Charakteren, die erst einmal einstudiert sein wollen...“

Heiko zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Na ja, ein Talent muss halt jeder haben“, sagte er herumalbernd. Kay lachte auch.

Erneut stellte Kay einen Augenkontakt zum Regieraum her, um herauszufinden, was der Herr Regisseur nun täte. Dieser palaverte immer noch mit seinem Tonmeister Helmut Kindermann, der beharrlich seine Aussteuerungsgeräte überprüfte, dazu eifrig Regler, Knöpfe und Tasten probeweise bediente und drückte, um zu sehen, ob sie funktionierten. Ab und zu nickte Kindermann, wenn Plappsig etwas sagte. Hier im Aufnahmeraum konnte man davon allerdings noch keinen Ton hören, denn es war noch keine Sprechverbindung zwischen den beiden Räumen hergestellt.

„Ist „Graf Dracula“ eigentlich sauer auf mich, was meist du?“, fragte Kay leicht nervös.

Denn er fing an, schwer zu bereuen, den Regisseur dermaßen in der Kantine geneckt zu haben. Zu spät!

Er fuchtelte mit den Händen. „Nö, das glaub ich nicht“, sagte Heiko, schaute auf die große Glasscheibe, hinter der die Szenerie hell erleuchtet war, während der Sprecherraum schon in ein dezentes Halbdunkel getaucht war; ein deutliches Indiz dafür, dass es gleich losgehen würde.

„Nachtragend ist der plappsige Plappsig eigentlich noch nie gewesen“, ergänzte Heiko.

Da schaute der Regisseur zu Kay hin. Dieser winkte ihm kurz zu, jener kurz zurück, obwohl er den Winkenden nur undeutlich ausmachen konnte.

Das Licht wurde weiter gedämpft. Im Halbdunkel des Aufnahmeraumes war Kay jetzt nur noch schemenhaft zu erkennen, selbst für den neben ihm stehenden Heiko Weyer.

„Was ist das eigentlich für ein Comedy-Quatsch, den wir da synchronisieren sollen? Und warum wird diese Serie selbst vor uns so sehr geheim gehalten? Bis zum letzten Augenblick sollten wir nichts davon wissen“, fragte Kay mit seiner etwas fisteligen Stimme.

„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass diese Serie drüben in den Staaten ein Riesenerfolg war“, sagte Heiko. „Frag mich also nicht, ich wundere mich ja auch über die Geheimhaltung. Aber du hast ja schon selber hinreichend von der Exzentrizität Plappsigs gehört“, sagte Heiko mit seiner sehr seriös klingenden Stimme, die man gerne für gebildete, erfolgreiche, junge Männer einsetzte.

„Karl-Uwe will wohl, dass wir unbefangen und unvoreingenommen an die Eindeutschung herangehen“, brummte Heiko. „Und ich sage dir eins“, juxte Heiko vergnügt, „wenn der Plappsig ein neues Telefonbuch bekommt, dann versteckt der das auch bis zuletzt, hahaha“, sagte er und lachte drauflos.

Kay machte ein saures Gesicht. Er wechselte das Thema und die Blickrichtung, die ihn wieder zu der Krähvogel hinführte. Diese hatte noch eine Extrabeleuchtung, die von einer Tischlampe auf ihrem Pult herrührte, und sie beschäftigte sich nach wie vor bis zuletzt mit ihrem halbgaren Drehbuch, an dem sie auch jetzt noch Änderungen anbrachte. Dabei war die eifrige Cutterin die Ruhe selbst.

„Die Krähvogel soll ja ein garstiges Biest sein“, sagte Kay flüsternd zu Heiko.

„Wer sagt denn so einen Blödsinn?“, fragte Heiko flüsternd zurück, mit spürbarem Staunen in der Stimme.

„Zimmermann!“, erwiderte Kay lapidar.

„Ach ... Du meinst Gott!“, sagte Heiko mit einem Flunsch. „Na, der muss es ja wissen, keine Ahnung, ich kenne sie auch nicht so gut...“

Die Krähvogel rührte sich kaum. Sie gluckte wie eine Henne auf ihrem Synchrondrehbuch herum.

Einen harten Job hatte sich die Gute da gewählt. Die Aufgabe einer Cutterin besteht darin, zu überprüfen, ob die Lippensynchronität gewahrt ist. Eine mühselige Aufgabe, denn der Job erfordert nicht nur gute Augen und gutes Rhythmusempfinden, sondern auch viel Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen. Es kommt nämlich vor, dass manche Schauspieler auch etwas ungeduldig und dann schnell unwillig sind, wenn die Cutterin immer wieder noch eine Aufnahme fordert.

Kay seufzte. Heiko sah zu ihm hin.

„Du bist heute ganz schön schwermütig, mein lieber Kay“, sagte er. „Ist deine Angst vor dem plappsigen Dracula mitsamt seiner krähvogeligen Vampirella wirklich so groß?“, fragte er teilnahmsvoll.

„Was? Nein, da ist noch etwas anderes, was mich bedrückt“, sagte Kay zerstreut.

„Karin, vermute ich, nicht wahr?“, sagte Heiko ahnungsvoll.

Kay nickte. „Sie hat mir heute früh wieder eine Szene à la Hollywood gemacht ... Du weißt schon, wir wollten ja eigentlich morgen endlich unseren Urlaub auf Santorin nachholen, aber da ich heute so völlig unvermutet und kurzfristig endlich eine Hauptrolle zum Synchronisieren angeboten bekommen habe, da kann ich das doch nicht einfach den Bach runter gehen lassen ... Denn mein Urlaub hätte doch auf alle Fälle die Umbesetzung des Roger Dopey durch einen anderen Sprecher zur Folge gehabt, und wenn ich dann in drei Wochen zurück bin aus Griechenland, dann gluckt doch mein Ersatz-Kollege auf ewig auf meiner Rolle herum, wie die Krähvogel auf ihrem heiligen Buch, und ich könnte dann ewig darauf warten, bis ich mal wieder so eine lukrative und gut bezahlte Dauersynchronrolle angeboten bekomme, wenn überhaupt, weil ich dann nicht mehr als zuverlässig gelte“, sagte Kay bedrückt.

„Ja, da hast du recht“, bestätigte Heiko Kays Befürchtung. „So etwas ist ja schon öfter vorgekommen: In der Tat hatte der Urlaub eines Sprechers einem Hollywoodstar schon manches Mal zu einer neuen Stimme verholfen, so war es bei Christian Brückner, als er verreiste, da hatte dann Robert de Niro plötzlich in seinem neuesten Film eine völlig andere Stimme, sodass kein Fan ihn auf den ersten Horcher erkannt hat, erinnerst du dich?“, fragte Heiko lachend. „Die Fans im Kino hatten da nur Unverständnis und Verdruss dafür übrig, als sie die Ersatzstimme hörten und buhten und pfiffen. Einige verließen sogar das Kino...“

„Und wir beide waren ja auch zusammen bei der deutschen Erstaufführung dieses Films, damals, erinnerst du dich?“, schob Heiko lachend nach. „Ein Mann rief: „Hä, wie spricht der Robert de Niro denn plötzlich? Was ist das denn für ein Seichtarsch von einem Sprecher? Was macht der für einen blassen Affen aus so einem beinharten Kerl wie Robert de Niro, das ist ja furchtbar, der klingt ja plötzlich wie ein zahnloser Tiger...“. Kay lachte. „Es stimmte natürlich; die Ersatzstimme war zu schön moduliert für einen ungebildeten Schwerverbrecher aus der Unterschicht, die Leute hatten recht, sie war zu zart für Robert de Niro“, führte Heiko aus. „Und dann haben die Zuschauer einen Tumult veranstaltet, sie wurden alle mitgerissen von der Hetzerei, und der arme Filmvorführer ist vor Schreck ganz verdruckst in sein Kabäuschen geflüchtet, weißt du noch, hahaha?“, lachte Heiko ausgelassen.

„Natürlich erinnere ich mich daran“, sagte Kay aufgekratzt. „Aber Robert de Niro ist grad´ ein schlechtes Beispiel für dieses Phänomen: Der Christian Brückner war da ja schon ein bekannter Superstar im Dunkelkammergewerbe, als er mal kurz eine Auszeit von seiner Paraderolle nahm“, wandte Kay ein.

„Er hat dann natürlich seinen Robert de Niro sofort wieder sprechen dürfen, als er zurückkam von seinem Urlaub...“

„Stimmt, das kann man eigentlich nicht vergleichen“, gab Heiko lächelnd zu. „Sowas kannst du dir noch nicht leisten, Kay“, bestätigte er.

„Eben, und als ich das auch Karin zu erklären versucht habe, da ist sie total ausgerastet und hat mir die gröbsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen; sie wolle mich verlassen, wenn ich nicht endlich mal mein Wort hielte, etc., ... Du weißt schon – es war schrecklich, sie ist aus unserer Wohnung gerannt wie eine Furie...“

„Ach, die beruhigt sich schon wieder“, beschwichtigte Heiko seinen Synchronpartner. „Du wirst sehen, wenn du erst nach wochenlanger, harter Arbeit einen Haufen Kies vor ihre schönen Füße legst, dann wird Karin dir dankbar sein für deine Entscheidung, die Rolle angenommen zu haben ... Dann könnt ihr überall hin fahren, wohin ihr wollt, dann könnt ihr euch den teuersten Urlaub leisten, Kay, und alles ist wieder gut“, tröstete ihn der gutmütige Heiko.

„Nein, das ist es ja eben, das sind diesmal wohl ein paar Wochen zu viel Verzögerung“, wandte Kay missgelaunt ein.

„Bis dahin hat sie mich längst verlassen!“, rief er ungestüm.

„Ach was“, sagte Heiko selbstsicher.

Kay seufzte, sah zu der unbeweglichen Krähvogel hin, die scheinbar ungerührt weiter den Text studierte. Seltsam, dachte Kay, Cutter sind eigentlich immer nur Frauen, während am Mischpult kurioserweise fast immer ein Mann saß. Die Cutterin muss genau sehen, ob die Lippenschlusslaute, die sogenannten Labiale, wie zum Beispiel m, p, b, an den richtigen Stellen sitzen. Sie muss auch beurteilen können, inwieweit sie eine Fassung, die vom Ausdruck her perfekt war, aber nicht einwandfrei synchron gesprochen worden ist, hinterher am Schneidetisch bearbeiten kann.

Endlich begann hinter der Glasscheibe ein reges Treiben. Synchronregisseur Karl-Uwe Plappsig schaltete sich von seiner Regieloge in den Aufnahmeraum ein. Kay und Heiko schauten zu ihm hin, auch die Cutterin hob den Blick von ihrem Buch.

„So, meine Dame, meine Herren, ich glaube, wir können beginnen“, sagte Plappsig in ruhigem, feierlichem Tonfall.

„Also, Marie-Luise, an die Arbeit!“

Wie allgemein üblich, gab nun der Regisseur den Schauspielern eine kurze Einführung in die erste Szene, die aufgenommen werden sollte. Dazu nahm er eine rasche Charakterisierung der Rolle vor: Dabei wandte er sich nun im Besonderen an Kay Schimmeling, denn dieser hatte ja die Hauptrolle zu sprechen.

„Die ganze Geschichte setzt gleich mit einem Dialog des Hauptdarstellers ein, also, mein lieber Klei Schlimmeling, Sie dürfen sich gleich betroffen fühlen“, sagte der Regisseur lächelnd. Alle anderen lachten ebenfalls vergnügt. „Ah, sehr schön, ich bin also betroffen und bereit!“, sagte Kay mutig.

Dann stellte der Regisseur die Sprechverbindung zum Synchronpult her, prüfte noch einmal, ob auch die Verbindung zur Cutterin klappte, und nachdem sich herausgestellt hatte, dass technisch alles zum Besten stand, ging es los.

Plappsig drückte einen Knopf auf seinem Pult, schaltete sich durch zu Schimmeling und sagte: „Also, Herr Schimmeling, es dreht sich bei Ihrer Figur um einen verrückten, durchgeknallten Typen, eben um Roger Dopey, der Erfinder ist, und ständig bemüht ist, seine meschuggen Erfindungen an den Mann zu bringen. Immer wieder meldet er Patente an für Erfindungen, die kein Mensch braucht, und die auch nie den geringsten Nutzen haben, weil sie völlig abwegige Funktionen erfüllen. Kurz gesagt, dieser Roger Dopey ist immer euphorisch, gehetzt, hochnervös und verliert trotz aller Rückschläge niemals seine gute Laune und hat nie Selbstzweifel an seinem Tun.“

Der Regisseur holte einmal tief Luft, dann fuhr er martialisch hämmernd fort: „Mit seinem unerschütterlichen Selbstvertrauen und der Gabe, seine Mitmenschen ständig zu belabern, bis sie von seinen Fähigkeiten überzeugt sind, erwirbt sich Roger Dopey das Vertrauen seiner Mitmenschen, doch treibt er sie oft genug auch in den Wahnsinn, wenn seine Projekte spektakulär Schiffbruch erleiden. Trotzdem kann ihm keins seiner Opfer je wirklich böse sein, weil alle erkennen, auch diejenigen, die er nervt, dass er im Grunde seines Herzens ein netter Kerl ist, ein guter Kumpel, ein naives, großes Kind, obwohl schon 32 Jahre alt, dem man einfach alles verzeihen muss.“

Plappsig hielt kurz inne, um sich zu entspannen, dann fuhr er fort: „Eine Besonderheit in der Struktur dieser dreißigminütigen Comedy-Reihe ist die, dass die Erfindungen dieses Roger Dopey in der Anfangsphase ihrer Entstehung und Erprobung erstaunlicherweise durchaus des Öfteren gute Ergebnisse zeitigen, und erst auch einen praktischen Anwendungszweck finden, doch im Laufe der Zeit erweisen sie sich bald als Fiasko. Denn die Erfindungen haben enorme „Nebenwirkungen“, und dann ist der Erfinder wieder der Gelackmeierte, der alle Schelte auf sich zieht, und den man daraufhin so ähnlich wie in der Commedia dell´Arte wegprügelt, oder ihm zumindest die Tür weist...“

Das Synchronteam lachte und klatschte Beifall.

Karl-Uwe Plappsig war sichtlich erleichtert, als er seinen Sermon vom Stapel gelassen hatte, denn er seufzte befreit auf und breitete die Arme aus wie ein Erweckungsprediger.

Dann sagte er, zu Kay gewandt: „So, das wäre in Grundzügen Ihre Rolle, Herr Schimmeling, dieses Handlungsschema wiederholt sich in etwa Folge für Folge, glauben Sie, dass Sie dieser Rolle gewachsen sind?“, fragte er mit seiner tiefen Brummbassstimme.

„Aber ja“, antwortete Kay ohne Überlegung.

„Irre Typen sind genau mein Fall“, sprach er selbstbewusst.

„Sie haben durchaus den Richtigen ausgewählt.“

„Gut, dann weiter im Text“, sagte der Regisseur.

Da schaltete sich Schimmeling noch einmal durch zur Regieloge. Dort sah er voller Bewunderung den Tonmeister Kindermann an seinen technischen Gerätschaften herumhantieren. Es würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben, wie das Ganze im Zusammenklang funktionierte, doch darum brauchte sich Kay ja wirklich nicht zu kümmern.

„Was gibt es denn, Kay?“, fragte der Tonmeister freundlich.

„Äh, dieser komische Roger Dopey“, fragte Kay, „der scheint mir irgendwie ein verkappter Daniel Düsentrieb zu sein, oder wie sehe ich das, Helmut?“

Heiko Weyer, der neben Kay stand, lachte leise. Auch die Cutterin Marie-Luise grinste.

„Das ist irgendwie richtig, oder ... fast richtig“, erwiderte an seiner Statt Plappsig trocken.

„Doch mit dem Unterschied, dass Roger Dopey längst nicht so gescheit ist wie Daniel Düsentrieb“, antwortete er spitz und schürzte die dicken Lippen.

„Sagen Sie mal: Hat der Name „Dopey“ eigentlich zufälligerweise eine tiefere Bedeutung?“, fragte Kay unvermittelt.

„Ja, hat er; „Dopey“ bedeutet „bekloppt“, „bescheuert“, „blöd“, „einfältig“ und noch einiges mehr, ganz wie Sie wollen“, antwortete Karl-Uwe Plappsig kühl, aber ohne Feindseligkeit in der Stimme.

„Aha, und alle diese Eigenschaften trauen Sie mir also so ohne Weiteres zu, sehr interessant“, sagte Kay spitz und spielte aufdringlich den Gekränkten.

Heiko Weyer und Marie-Luise lachten amüsiert und sahen zu Kay hin, welcher hinter der großen Glasscheibe auch den Tonmeister Helmut Kindermann lachen sah.

„Nanu, habe ich unseren jungen Chaos-Freund etwa gekränkt?“, fragte Plappsig, der wieder das Wort ergriffen hatte, indem er seine feierliche Stimme aufklingen ließ.

„Na, kommen Sie, das war doch nicht persönlich gemeint“, sagte der Regisseur lächelnd.

„Ich habe Sie natürlich hauptsächlich für diese Rolle ausgewählt, weil ich glaube, dass Sie eine seltene Gabe für komische, kieksende, abgehackte Zwischentöne haben; genau wie Wolfgang Draeger, wenn er so schön kongenial Woody Allen synchronisiert. Und diese Gabe ist angebracht bei einem so vielschichtigen Typen wie es Roger Dopey ist, obwohl seine zeitweilige Beschränktheit immer wieder ins Auge springt. Aber Roger Dopey ist auch ein Tagträumer, ein Melancholiker, dann wieder ein exaltierter Schwärmer – diese ständige Brechung seines Charakters müssen Sie mittragen, das werden Sie bestimmt hinkriegen, davon bin ich überzeugt“, sprach der Regisseur jetzt ganz ernst und unvoreingenommen mit fester Stimme.

Kay war irgendwie nicht wohl zumute bei der zweideutigen Erklärung seiner Erwählung, die ihm zu voll von angeblich darin versteckten Anspielungen war, die ihm nicht gefielen, wenn ihm auch durchaus das Lob über sein angebliches Einfühlungsvermögen als Sprecher schmeichelte. Trotzdem fand Kay, war die Wortwahl von Plappsig eher despektierlich und frostig. Er wusste nicht, was der Regisseur in Wahrheit mit dieser Charade bezweckte und wie er sich verhalten sollte.

„Natürlich war noch ein ganz entscheidendes Kriterium bei der Vergabe dieser Rolle an Sie meine Einschätzung, dass Ihre Stimme zudem glücklicherweise fast auch noch die gleiche Tonfärbung hat wie die des Roger-Dopey-Darstellers; Sie klingen der Originalstimme verblüffend ähnlich“, erklärte Karl-Uwe Plappsig etwas umständlich.

Kay bemerkte mit einiger Belustigung, dass der Regisseur sogar mit korrektem Anzug und Krawatte ins Synchronatelier gekommen war, obwohl er gar keinen Charakter in Wort und Bild darzustellen hatte, wie das ein Schauspieler tat. Aber vielleicht hatte er nicht mal einen, doch das war Kay heute eigentlich egal. Er war glücklich darüber, dass er nun endlich eine Hauptrolle zu sprechen bekommen hatte.

Allmählich verflog seine unsinnige Angst vor Plappsig ganz.

Der Regisseur mit seinem gespreizten Gehabe thronte jetzt unnahbar wie ein Kaiser in seiner Regieloge. Mit leicht gefalteten Händen stand er da, als habe er noch eine kurze Andacht vor dem Beginn einer neuen Ära zu sprechen. Er blickte nun kurz auf seinen unwürdigen Untertanen Schimmeling herab und sah ihm ins Gesicht, als verteile er einen besonderen Gunstbeweis an ihn, von dem allein sein Durchbruch als Sprecher abhängen könnte. Doch dann gab auch Plappsig seine scheinbare Arroganz plötzlich wieder auf und sagte sachlich: „Jedenfalls sind Sie meiner Meinung nach durchaus ein Mann für konfliktreiche Geschichten, wie mir unser amüsantes Gespräch vorhin im Erfrischungsraum bewiesen hat; und das alles passt eigentlich auch ausgezeichnet zu dieser Rolle“, sagte er noch lobend zum Abschluss. Dann drehte er sich weg und besprach sich wieder mit dem Tonmeister.

Schließlich wandte sich der reizende Ex-Dracula-Darsteller an seinen anderen Sprecher, Heiko Weyer.

„Und nun zu Ihrer Rolle, Herr Weyer“, sagte er apodiktisch.

Heiko blickte zum Regieraum und lauschte.

„Sie sind Andrew Tanner, Roger Dopeys bester Freund, der auch oft seine liebe Not mit dem Erfinder hat. Denn auch Tanner bleibt nicht verschont von Roger Dopeys Eskapaden, stets muss er die Pleiten seines Freundes mit ausbaden, aber die beiden bleiben dennoch auf ewig unzertrennlich wie Stan Laurel und Oliver Hardy.“

„Hey, voll krass, Chef, diese Rolle ist voll und ganz mein Ding!“, rief Heiko spontan mit großer Begeisterung aus.

„Na, umso besser“, meinte der Regisseur dumpf grunzend.

„Oh ja, und da war übrigens auch bei Ihnen eben so ein schöner Kiekser in Ihrer Stimme, wie wir ihn brauchen für den Charakter des exaltierten Andrew Tanner“, sagte Plappsig begeistert.

„Denn Kay hat übrigens eine ähnlich kuriose Stimme; Sie beide können Ihr Stimmorgan so schön hochschrauben, das ist gut ... Andrew Tanner beispielsweise spricht häufig so, vor allem immer dann, wenn er verzweifelt versucht, Roger von einer neuen, verrückten Erfindung abzubringen, weil er sich geistig vorher schon die daraus resultierenden Probleme ausmalt...“

„Geil, das ist meine Rolle!“, rief Heiko noch einmal aus.

„Na prächtig“, schnarrte Plappsig zufrieden, „da Sie nun beide eine Vorstellung von Ihrer Rolle haben, werden wir gleich mal einige Probeaufnahmen machen.“