1941: Fünf Frauen kämpfen ums Überleben - Michael Häusler - E-Book

1941: Fünf Frauen kämpfen ums Überleben E-Book

Michael Häusler

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Beschreibung

Ein zutiefst verstörender Roman, der den Leser im wahrsten Sinne des Wortes in den Abgrund führt. Direkt hinein in den Massentod in unzugänglichen, ukrainischen Schluchten. Die totale Judenvernichtung wird schonungslos in beklemmender Unmittelbarkeit geschildert, so drastisch und furchtbar anschaulich wie wohl noch nie zuvor. Ukraine 1941: Es ist Krieg und Hitlers SS deportiert viele Juden erst einmal in behelfsmäßige Lager. Man redet ihnen ein, es wären nur Durchgangslager, bald dürften die Juden, nach Registrierung, Passausstellung und medizinischer Untersuchung, nach Palästina ausreisen. Zunächst dürfen sie tatsächlich ihre Baracken beziehen, doch schon bald beginnen heimlich die ersten Massenerschießungen, angeblich nur von nichtjüdischen Staatsfeinden, Partisanen und Saboteuren. Auch die beiden jüdischen Schwestern Judith und Miriam aus Berlin, und Judiths drei Töchter sind mittendrin im Strudel der albtraumhaften Vernichtung des jüdischen Volkes, die langsam, aber unaufhaltsam beginnt, doch vorerst überleben sie, weil sie als Dolmetscherinnen gebraucht werden. Doch um welchen Preis, fragen sie sich. Denn die fünf verlieren nach und nach alles: Zuerst ihre Würde, dann ihren Stolz und zuletzt die Selbstachtung, den Anstand und die Ehrlichkeit. Denn damit ihre drei Töchter überleben dürfen, sieht sich Judith gezwungen, sogar selber mittöten zu müssen, und wirkt so an der Ermordung ihres eigenen Volkes mit. Mit großem Unbehagen beobachten die Schwestern, wie jeden Tag größere Menschentransporte in das angebliche Durchgangslager getrieben werden. Bald ist alles heillos überfüllt, die Lebensmittel werden knapp und es mangelt an Hygiene. Was soll mit all den Menschen geschehen? Schikanen und zügellose Gewalt sind in dem Lager, das immer mehr ausgebaut und von der Umwelt abgeschottet wird, bald an der Tagesordnung. Miriam und Judith erleben wahre apokalyptische Weltuntergangsszenarien im ersten, geheimen, getarnten Vernichtungslager, an denen sie psychisch und physisch bald zu zerbrechen drohen.

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Ein zutiefst verstörender Roman, der den Leser im wahrsten Sinne des Wortes in den Abgrund führt. Direkt hinein in den Massentod in unzugänglichen, ukrainischen Schluchten. Die totale Judenvernichtung wird schonungslos in beklemmender Unmittelbarkeit geschildert, so drastisch und furchtbar anschaulich wie wohl noch nie zuvor.

Ukraine 1941: Es ist Krieg und Hitlers SS deportiert viele Juden erst einmal in behelfsmäßige Lager. Man redet ihnen ein, es wären nur Durchgangslager, bald dürften die Juden, nach Registrierung, Passausstellung und medizinischer Untersuchung, nach Palästina ausreisen. Zunächst dürfen sie tatsächlich ihre Baracken beziehen, doch schon bald beginnen heimlich die ersten Massenerschießungen, angeblich nur von nichtjüdischen Staatsfeinden, Partisanen und Saboteuren. Auch die beiden jüdischen Schwestern Judith und Miriam aus Berlin, und Judiths drei Töchter sind mittendrin im Strudel der albtraumhaften Vernichtung des jüdischen Volkes, die langsam, aber unaufhaltsam beginnt, doch vorerst überleben sie, weil sie als Dolmetscherinnen gebraucht werden. Doch um welchen Preis, fragen sie sich. Denn die Fünf verlieren nach und nach alles: Zuerst ihre Würde, dann ihren Stolz und zuletzt die Selbstachtung, den Anstand und die Ehrlichkeit. Denn damit ihre drei Töchter überleben dürfen, sieht sich Judith gezwungen, sogar selber mittöten zu müssen, und wirkt so an der Ermordung ihres eigenen Volkes mit. Mit großem Unbehagen beobachten die Schwestern, wie jeden Tag größere Menschentransporte in das angebliche Durchgangslager getrieben werden. Bald ist alles heillos überfüllt, die Lebensmittel werden knapp und es mangelt an Hygiene. Was soll mit all den Menschen geschehen? Schikanen und zügellose Gewalt sind in dem Lager, das immer mehr ausgebaut und von der Umwelt abgeschottet wird, bald an der Tagesordnung. Miriam und Judith erleben wahre apokalyptische Weltuntergangsszenarien im ersten, geheimen, getarnten Vernichtungslager, an denen sie psychisch und physisch bald zu zerbrechen drohen.

Hilfe! Nein! Was geschieht hier nur mit uns?

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!???

Ich kann es einfach noch nicht glauben, dass mein größter Albtraum wahr geworden ist: Seit Stunden schlurfen wir mit leichtem Handgepäck zu Fuß durch die weiten Ebenen, durch liebliche Eichenwäldchen mit unbekanntem Ziel. Denn wir Frauen und Mädchen werden alle deportiert. Angeblich, weil wir an unserem Wohnort nicht mehr sicher sind. Unsere Männer seien schon in einem anderen Versorgungs-Lager untergebracht, in Sicherheit. Hier ganz in der Nähe, versichert man uns jedenfalls. Bald würden wir sie sehen können. Begleitet werden wir von Militär und SS-Soldaten, Krankenschwestern, Hilfspersonal, die uns zwar freundlich behandeln, aber: Nun wird also auch an uns eine der berüchtigten „Umsiedlungsaktionen“ vollzogen, von denen wir seit Wochen schon so viel gehört haben in unserer bisher relativ sicheren Zufluchtsstätte bei Verwandten in Kiew, die am Ende aber wohl doch nur in Tod und Vernichtung enden kann!

Doch ich klammere mich verzweifelt an mein Wunschdenken, das wären alles nur Gerüchte.

„Mama, ich habe solchen Durst“, quengelt meine Tochter Sarah. Ich sehe traurig auf sie herab und sage ihr: „Es gibt nichts mehr zu trinken Schatz; aber wir sind ja gleich da, hat uns der Soldat gesagt!“, tröste ich sie.

Es ist sehr heiß, und unser Trinkwasser ist aufgebraucht.

Warum sind wir eigentlich so bereitwillig mitgegangen, als uns die deutschen Offiziere, zwar wohl keine Nazis, die heute früh plötzlich vor unserer Tür standen, zum überstürzten Packen anhielten und zum Mitkommen aufforderten?

Hätten sie uns was getan, wenn wir „Nein“ gesagt hätten?, überlege ich gerade fieberhaft und voller Reue über unseren übereilten Kadavergehorsam. „Wir bleiben lieber hier bei unseren deutschen Verwandten, wenn Sie nichts dagegen haben“, hätten wir einen Einwand erheben können. „Denn hier fühlen wir uns sicherer!“ Hätten wir wirklich? Diese nämlich waren schon zwei Jahre vor uns aus Deutschland hierher nach Russland geflohen, und haben uns gerade erst vor drei Monaten selber aufgenommen, unsere kommunistischen Verwandten…

Werden wir vielleicht nur deshalb deportiert, weil die SS uns Flüchtlinge auch für Kommunisten hält? Obwohl wir es gar nicht sind

Als es unserer jüdischen Familie im Mai 1941 endlich auch gelang, uns unter Lebensgefahr aus Nazi- und Kriegstreiber-Deutschland herauszuschmuggeln…

Wir marschieren jetzt durch einen kleinen Wald, atmen die Frische der Luft ein.

Wir haben jetzt wenigstens unser Ziel erreicht, wie es scheint.

Endlich kommen wir an einer kleinen Baracke an, wo eine medizinische Behelfsstation eingerichtet worden ist: Ja, die ersten Frauen werden schon von Ärzten untersucht. Nackt stehen sie alle in einer endlosen Schlange an, die bis weit hinaus in die freie Natur reicht.

Meinem verwunderten und fragenden Blick erwidert eine Krankenschwester freundlich: „Wir haben hier leider in der großen Eile, in der wir das hier alles aufbauen mussten, noch keine weiteren Lazarette und Krankenstationen errichten und einrichten können, daher müssen wir auch Sie Neuankömmlinge leider fast alle hier draußen einer medizinischen Untersuchung unterziehen, denn es grassiert hier vielerorts das Fleckfieber, die Cholera und der Typhus. Das ist immer eine unvermeidliche, unerfreuliche Begleiterscheinung bei großen Menschenkonzentrationen auf engem Raum. Die Untersuchungen dulden also keinen Aufschub. Daher muss ich Sie alle bitten: Legen Sie bitte Ihre Koffer ab und ziehen Sie sich bitte ganz aus. Die Kleidung können Sie im Gras ablegen, die wird auch untersucht. Wenn alles in Ordnung ist, bekommen Sie sie nachher sofort wieder“, versichert mir eine Ärztin, die aus der Baracke herausgetreten ist.

Wir sind stur und bleiben erstmal angezogen..

Die vielen Hundert Frauen, die mit uns marschiert sind, scheinen zu meinem Erstaunen so abgestumpft zu sein, dass sie es als ganz natürlich empfinden, sich vor allen Frauen, aber auch Männern, die im Hintergrund mit umgehängten Maschinenpistolen Wache halten, im Freien splitternackt auszuziehen!

Als wären sie im wohligen FKK-Urlaub in einer Nudistenkolonie! Oder wie sagt man heute schon so schön neumodisch dazu: Naturistencamp? Oder so ähnlich?

Keiner murrt, meine Familie ist die einzige, die lautstark protestiert.

Unglaublich! Und die anderen Frauen lassen sich das einfach so gefallen?, frage ich meine Schwester.

Ich wende mich an die Lagerleiterin: „Aber Sie können uns doch nicht so einfach dazu zwingen, uns hier draußen in aller Öffentlichkeit diesem entehrenden Ritual der kollektiven Nacktheit zu unterziehen, wie in einem Frauen-Zuchthaus? Wir sind doch keine Verbrecherinnen! Und es sind ja auch junge Mädchen und Kinder dabei, die sich alle splitterfasernackt entblättern müssen! Wo bleibt da Ihr Anstand? Respektieren Sie gar nicht den Intimbereich dieser… nackten Frauenbrigade?“, frage ich aufgebracht.

„Was sollen wir sonst tun? Wir können Sie ja nicht angezogen untersuchen, und wir müssen Sie ja auch alle wiegen, das geht leider nicht mit soviel Kleidung, das würde das Messergebnis verfälschen, das müssen Sie doch einsehen“, sagt eine freundliche Ärztin zu mir.

Wir Fünf, meine drei Töchter und meine Schwester, wir sind die einzigen, die noch völlig angezogen in unserer Reihe dastehen.

„Also ziehen Sie sich jetzt endlich aus?“, fragt die Lagerleiterin schon etwas strenger.

„Sie halten den ganzen Betrieb auf, und wenn Sie sich nicht Ihrer Kleidung entledigen, darf ich Ihnen auch nichts zu essen geben, auch kein Trinkwasser; ich muss erst feststellen lassen, ob Sie alle gesund sind“, sagt sie mit Bedauern in der Stimme.

Stichwort Durst! Da bemerken wir Fünf auf einmal unseren großen Durst, denn unser Trinkwasser aus unseren Feldflaschen vom langen Herkunftsmarsch ist ja schon lange aufgebraucht.

Wir betteln würdelos um Wasser, denn auf einmal haben wir alle noch größeren Durst als jemals zuvor.

„Bitte erst alle Kleider ablegen, dann bekommen Sie zu trinken“, wiederholt die Lagerleiterin monoton.

Währenddessen marschieren schon viele neue Kolonnen von nackten Frauen an uns vorbei, die erst viel später als wir eingetroffen sind, die aber alle schon zu trinken bekommen.

Und keine einzige protestiert, denke ich wehmütig.

Durst macht charakterlos, so ist das nun mal!

Wird das auch uns gleich so ergehen?

„Bitte! Endlich Ihre Kleidung, ich warte!“, sagt eine Art Kapo-Frau in gebrochenem Deutsch.

„Weg mit den Röcken und Schuhen! Ziehen Sie bitte alles aus!“

Und in diesem Augenblick beginnt auch unser Wille zu brechen, der Stolz bröckelt wie morscher Fels.

Mit großem Unbehagen beginnen wir, aus unseren Kleidern zu schlüpfen, legen sie wie befohlen auf einem Haufen ab, der immer größer wird. Meine drei Töchter zieren sich natürlich besonders und zögern ihre zukünftige Nacktheit quengelig und gleichzeitig apathisch hinaus. Sie zittern und bekommen es mit der Angst zu tun.

„Mama, was werden sie jetzt mit uns tun?“, fragt mich meine Tochter Petruschka weinend und wehklagend.

„Mama, ich will nicht nackt vor all den Leuten stehen!“, quengelt auch meine Jüngste.

Schließlich sind wir doch alle nackt, auch meine Schwester Miriam.

„Na also, die letzte Bastion der hartnäckigen Bekleideten-Fraktion ist endlich gefallen!“, sagt die Lagerleiterin etwas zynisch, aber erleichtert, weil sie offensichtlich doch keine Gewalt anwenden wollte.

So viel Lautmalerei in ihrer Bildungssprache hätte ich ihr nicht zugetraut.

„Na, ist doch gar nicht so schlimm, nicht wahr? Ihr seht ja alle fabelhaft aus!“, sagt ein hinzugetretener, junger SS-Mann schlüpfrig. „He, gehen Sie weg von uns!“, schreie ich ihn empört an.

Meine Kinder greinen und verlangen auch, den Mann von uns wegzuschaffen.

Umgehend erteilt ihm da die Lagerleiterin tatsächlich einen Rüffel.

Wahrscheinlich werden sie uns jetzt doch alle töten, oh, mein Gott!, denke ich mir. Denn warum haben sie uns sonst hierher gebracht? Aber auch uns Frauen, die vielen Frauen und die vielen Kinder? Das können sie doch nicht tun! Uns würde nichts geschehen, wir sollten uns keine Sorgen machen, versichern uns dauernd die Ärzte von der SS von neuem und lachen heiter und unbeschwert über unsere kindische Furcht. Sie schütteln ihre Köpfe und beruhigen uns mit freundlichen Gesten. Sie sind wirklich nett und hilfsbereit. Aber warum haben sie uns alle dann denn wirklich splitternackt antreten lassen, hier draußen vor dieser lieblichen Schlucht? Angeblich ja, um uns medizinisch zu untersuchen, einfach lächerlich! Und weil in der kleinen behelfsmäßigen Baracke, die sie „Lazarett“ nennen, nicht genug Platz ist für alle Jüdinnen, und weil wir so viele sind, die hier eine neue Unterkunft finden sollen, müssen die meisten die medizinische Untersuchung leider im Freien über sich ergehen lassen. Erklären uns jetzt jedenfalls auch die deutschen Soldaten, die uns zu Fuß hierher begleitet hatten, alle paar Minuten.

Immer wieder memoriere ich zwanghaft diese schizophrene Begründung für die Massennacktheit vor mich hin, um nicht verrückt zu werden aus Angst vor einer möglichen Misshandlung oder sogar Erschießung!

Bisher haben sie ja immer nur einzelne Menschen, oder kleine Gruppen von unserem jüdischen Volk getötet, seit der furchtbaren Reichskristallnacht, denke ich gerade.

Aber was haben sie dann erst in dieser Einöde mit uns vor?

Warum diese Heimlichkeit der Ausgrenzung, die mir spanisch vorkommt?

Verräterische Spuren einer baldigen Massentragödie für uns, denke ich. Jetzt erst bekomme ich richtig Angst.

Denn vielleicht ist ihr perfider Plan, uns hier einfach alle verhungern zu lassen? Zur Entlastung der Kriegswirtschaft, wie es im brutalen Amtsdeutsch der Braunhemden so schön heißt! Denn das wäre noch billiger für die Nazis als unsere teure Erschießung! Denn Patronen sind ja teuer. Und rar. So wie ja alles im Krieg rar wird.

Denn Ärzte gebe es genug, doch leider eben nur eine einzige medizinische Baracke, erklärt mir eine Krankenschwester vom Roten Kreuz von neuem, und schiebt mich und meinen naturbelassenen Anhang weiter in eine andere nackte Frauenreihe, nach vorne, bis wieder genau zehn Frauen beisammen stehen.

Die Krankenschwestern nicken uns freundlich zu und reichen uns Thermosflaschen mit Wasser und Kaffee.

Aber immerhin haben sie eines ihrer Versprechen gehalten, und sie geben auch uns FKK-Verächtern wirklich zu trinken!

Gierig saugen wir uns mit Flüssigkeit voll, wie ausgetrocknete Schwämme.

Dauernd entschuldigen sie sich für die Unannehmlichkeiten, die uns zu bereiten sie leider notgedrungen gezwungen sind.

Meine drei Töchter, meine elf Jahre jüngere Schwester und ich zittern fürchterlich, dabei ist es Mitte August und die Sonne brennt unbarmherzig heiß auf unsere nackten Körper. Aber wir zittern ja auch vor Angst, nicht vor Kälte.

Aber auf unsere Bitte hin dürfen wir uns dann doch unter eine dürftige Baumgruppe stellen, als wir mit der ersten Untersuchung fertig sind, die zum Glück ganz in unserer Nähe ist, die uns dennoch sehr behaglich vor der größten Hitze abschirmt.

Während wir zehn Frauen uns inzwischen im Kreis aufgestellt haben, zu einem schützenden Innenkreis gruppiert haben, und dabei notdürftig unsere ärgsten Blößen mit den Händen verdecken, bekommen wir von weiteren Rotkreuzschwestern jetzt Nahrungsmittel gereicht, denn getrunken haben wir inzwischen genug Liter Wasser und Kaffee bei dieser Affenhitze.

Ich seufze erleichtert, während mein Herz immer schneller schlägt.

Denn das ist doch ein gutes Zeichen, denke ich mir, dass man uns jetzt sogar belegte Brote und reichlich Obst zu essen gibt.

Das bedeutet doch eindeutig, dass man uns nicht umbringen will, oder nicht?

Warum schließlich sollte man uns so viel zu essen geben, nur um uns danach zu erschießen, wie ein Gerücht seit Stunden im Umlauf ist?

Angeblich gab es im besetzten Polen ja auch schon seit 1940 vereinzelte Judenerschießungen in Wäldern und Schluchten.

Das alles sage ich jetzt auch zu meiner Schwester.

Und natürlich meinen drei Töchtern.

Natürlich mit Ausnahme meiner Überlegung mit den Erschießungen in Polen, die lasse ich lieber weg!

„Ja… Du hast recht… Das hätte doch keinen Sinn, das wäre doch absurd, nicht wahr, Judith?“, fragt mich meine 33jährige Schwester Miriam nun zurück, die ähnlich wie ich denkt, ängstlich und gierig kauend an ihrem Brötchen.

Sie nimmt dazu nun beide Hände von ihrem Schamdreieck, um besser essen zu können, denn das ist ja in unserem inneren nackten Kreis gut vor den Blicken der Ärztinnen und Schwestern verborgen.

Und vor allen vor den Männern, denn: Es sind ja auch einige Männer dabei, die uns bewachen, bei unserer unfreiwilligen, kollektiven Nacktheit!

Doch die beachten uns im Augenblick gar nicht, wuseln einfach nur eilfertig in der Gegend rum, organisieren die Untersuchungen, die jetzt tatsächlich bei einigen Zehnergruppen von Frauen beginnen, wie ich verstohlen zu einer nackten Frauengruppe herüberspähe.

„Ja, du hast ganz recht, liebe Miriam“, sage ich mechanisch wie in Trance, „das mit unserer Verpflegung ist wirklich ein gutes Zeichen“, wiederhole ich. „Und man hört ja auch gar keine Schüsse, oder Gewehrsalven, alles war ruhig, während unseres gesamten Fußmarsches ins Lager hat man keinen einzigen Schuss gehört, noch einen Mädchenschrei – es wird also niemand hier drinnen erschossen“, beruhige ich Miriam und streiche mit meiner freien Hand über ihr langes, schwarzes Haar. Dann kaue ich weiter mein Brot.

„Auch aus den Verwaltungsgebäuden ist kein Schuss zu hören, alles ist ruhig, nur die Vögel zwitschern, noch ist kein einziger Schuss gefallen, seit wir hier sind – außer der permanente ferne Kanonendonner bei der Umkämpfung von Kiew - und keiner der Offiziere und Soldaten trägt eine Hakenkreuzbinde – immerhin!“, gebe ich meinem Anhang stakkatoartig plappernd Entwarnung durch.

Miriam lächelt zaghaft zu mir hoch, denn sie ist kleiner als ich, doch zu zittern hört sie immer noch nicht auf.

„Stimmt!“, kreischt sie förmlich, fröhlich, spitz, fast etwas zu hysterisch; kein Wunder bei dieser Anspannung und Hitze, und der großen Ungewissheit unserer Lage!

„Und selbst hier, an unserem Zielort, hört man immer noch keinen Schuss aus unmittelbarer Nähe im Lager!“, wiederholt Miriam weinend. „Warum sollten sie uns also töten, wenn sie uns doch so gründlich untersuchen?“, fragt Miriam erneut, wimmernd, und ich tröste sie mit sanft geflüsterten Worten in ihr Ohr.

Ein Knacken im Gebüsch lässt Miriam aufschrecken. Panikartig verdreht sie ihren schönen schwarzhaarigen Kopf in Richtung des Geräusches und schreit laut auf.

Alle Frauen blicken in ihre Richtung.

„Judy! Da! Hinter den Büschen! Da wird ein Maschinengewehr aufgebaut! Sieh doch mal: Wir sollen… also doch erschossen werden!“, wimmert Miriam in Panik und bricht aus unserer Zehnerreihe aus. Ich schaue und erstarre vor Schreck: Sie hat recht!!! Ich sehe die MG-Stellung auch, klar und deutlich, trotz des grünen, tarnenden Buschwerks drum herum. Nackt, mit wehenden Korkenzieherlocken läuft sie auf den Soldaten zu, der das MG in Stellung bringt.

Doch sogleich wird sie von den Schwestern wieder eingefangen.

„Langsam, langsam, aber nein, beruhigen Sie sich“, redet die eine Rotkreuzschwester lachend auf meine total verstörte Schwester ein. Sie wird bei den Armen gegriffen und beruhigt.

„Das Gewehr ist doch nur zu Ihrem und unserem Schutz da aufgestellt, denn Sie wissen doch wahrscheinlich: Hier in der Ukraine verstecken sich Partisanengruppen, deutsche Kommunisten und Russen, und auch vereinzelte Deserteure und Verbrecher, die uns allen an den Kragen wollen, Juden wie Deutschen“, behauptet die Schwester eindringlich, und dreht Miriam sanft zu sich herum.

„Und glauben Sie mir bitte: Die Ukrainer hassen euch deutsche Flüchtlings-Juden und ihre eigenen Juden noch mehr als uns deutsche Besatzer! Die würden Sie alle umbringen, wenn wir Sie nicht schützten, hier in diesem Lager! Und uns deutsche Nichtjuden würden sie auch alle töten, das ist sicher! Nicht nur uns Funktionäre, nein, auch alle anderen nichtjüdischen Frauen hier würden sie töten! Daher müssen wir Vorkehrungen treffen, daher das Gewehr! Wir müssen schließlich mit einer Attacke aus dem Hinterhalt rechnen!

Denn das Lager hier wird doch gerade erst aufgebaut, ist noch nicht sicher abgeschirmt und eingezäunt.

Und nun gehen Sie bitte zurück zu Ihren Verwandten“, drängt sie Miriam.

„Denn eine Ärztin kommt gleich, um Sie weiter eingehend zu untersuchen. Daher: Gehen Sie alle bitte zurück in Ihre Zehnerreihe“, mahnt die Schwester die sich auflösenden, fliehenden Jüdinnen-Scharen, die von Miriams Panikausbruch angesteckt worden sind, „denn wir wollen doch nicht, dass eine von Ihnen durch das wilde Chaos am Ende nicht untersucht wird, nicht?“, fragt sie, scheinbar sachlich, scheinbar engagiert.

„Und eine andere dafür zweimal“.

„Bitte“, sagt sie noch einmal engelssanft mit milder Fürsorge, dass wir ihr einfach glauben müssen.

Zitternd fügt sich meine Schwester und bildet mit mir und ihren drei Nichten bald schon wieder einen festen Zehnerverband, als sich dann noch fünf weitere Frauen zu uns gesellen, diesmal sind andere dabei.

Splitternackt dreht sich Miriam trotzdem wieder von mir, ihrer Schwester weg, bricht aus der Reihe aus, und hält ihren üppigen, schwarzen Schamhügel fassungslos mit beiden Händen bedeckt: „Aber ich sehe doch schon so viele Soldaten mit umgehängten Maschinengewehren umherlaufen… Warum brauchen Sie dann noch solch ein gewaltiges MG-Nest dort hinter dem Busch?“, fragt sie weiterhin misstrauisch die Ärztin, die gerade bei uns mit ihrem Stethoskop eingetroffen ist.

„Geben Sie es doch zu: Gleich werden wir erschossen, nicht wahr?“, fragt Miriam und weint leise.

„Diese Geschützstellung ist für uns bestimmt, nicht wahr?“

„Unsinn, was reden Sie sich da ein? Glauben Sie wirklich, wir würden uns solche Mühe machen mit Ihnen allen, Ihnen zu essen geben und Sie zeitraubend auf Ihren Gesundheitszustand untersuchen, wenn wir Sie umbringen wollten?“, fragt sie lachend und untersucht meine Brust.

„Mama, wann werden wir denn erschossen?“, plappert meine Jüngste, die fünfzehnjährige Sarah, abgeklärt dazwischen und dreht sich zu mir um. Sie ist als einziges Kind so blond wie ich, sieht genau wie ich gar nicht wie eine Jüdin aus mit ihrer hellen, „germanischen“ Haut, die auch ich habe, samt meiner weizenblonden, allerdings schon etwas schütteren Mähne! Aber ich habe immer schon, auch als Kind, sehr dünne, ganz glatte blonde Haare gehabt. Mein Gott! Sarah ist der totale Gegensatz zu meiner Schwester und Sarahs eigenen, älteren beiden Schwestern, die wirklich die typischen rabenschwarzen, üppigen „Judenmähnen“ auf ihren hübschen Köpfen spazieren tragen! Wie unsere Rasse laufend von den Nazis diffamiert wird!

Gerade schaut meine Älteste, die schlanke Rebecca, tränenäugig zu mir auf, die ihren natürlich ebenfalls völlig aller schützenden Kleidung entblößten, schlanken Mädchenkörper fast gänzlich mit ihrer dichten, lockigen Haarmähne einhüllen kann, die ihr glücklicherweise in fantastischer Überlänge kohlpechrabenschwarz bis weit über ihre entzückende Poritze wallt, wie ein beinahe bis zum Knie reichender, schützender Mantel fungiert sie, der sie vor den allzu begehrlichen Blicken einiger Soldaten schützt.

Ihre restlichen Blößen bedeckt meine 21jährige Tochter gerade mit einigen, für die bereits geschützte Hinteransicht – oder Hinternansicht - entbehrlichen Strähnen ihrer üppigst wuchernden Haargardine, die sie mit beiden Händen vor ihre eher kleinen Brüste führt, wobei Rebecca mechanisch so geschickt agiert, dass auch ihr Venushügel mit der ungewöhnlich starken, flauschigen Schambehaarung komplett abgedeckt ist, allen lüsternen Blicken entzogen! Ausgenommen ihre erzwungene Barfüßigkeit, ist sie also eigentlich in gewissem Sinne völlig bekleidet.

Allein durch ihre langen Haare! Trotzdem: Was für eine lächerliche, entwürdigende Zirkusnummer!

Meine „Mittlere“, meine 17jährige Tochter Petruschka, verfügt über ebensolche, kohleschwarzen Haarmassen wie ihre ältere Schwester Rebecca; doch reichen ihr diese völlig ungewellt, ungelockt, im Gegensatz zu Rebecca gerade bis zum Ende ihrer ausladenden Brüste, die sie jetzt eigentlich auch ganz gerne mit ihrem Kopfhaar würde verdecken wollen. Denn sie schämt sich schon seit drei Jahren wegen ihres gewaltigen Glockenbusens (den übrigens auch meine Schwester Miriam hat), da dieser prächtige, erotische Vorbau mit den beiden „Magdeburger Halbkugeln“, wie sie oft verspottet wird, ihr viel zu zeitig allzu viele aufdringliche Verehrer eingetragen hatte, für die mein schüchternes Mädchen sich noch längst nicht reif fühlt…

Stattdessen entscheidet sich mein armes, verschüchtertes Kind, lieber doch ihre beiden Halbkugeln weiterhin heftig wippen zu lassen im Takt ihrer zitternden Aufgeregtheit und Verzweiflung, und bedeckt stattdessen mit den Händen hastig doch lieber ihren rabenschwarzen Schamberg, der genauso üppig ausgefallen ist wie bei uns allen drei schwarzhaarigen Frauen.

Vor allem das riesige, schwarze Dreieck „da unten zwischen den Beinen“ war ihr immer schon hochnotpeinlich, vor allem. wenn sie und ihre Mitschülerinnen nach dem Schulsport hurtig nackt unter die Duschen gescheucht wurden von der nationalsozialistisch ungeheuer angehauchten Sportlehrerin.

Als einzige Jüdin in der Klasse war Petruschka permanent dem rassistischen Terror ihrer Sportlehrerin ausgesetzt. So verhöhnte sie Petruschka unter anderem einmal, als sich meine Tochter nackt unter die Brause stellte, mit einem rassistischen Seitenhieb: „Was hast du da für einen ekligen, verfilzten Urwald dort unten zwischen den Beinen! Kein anständiges, deutsches Mädchen würde so verwahrlost herumlaufen. Dieses verlauste Dreieck rasierst du dir das nächste Mal gefälligst weg, verstanden, du Judenschlampe?“, donnerte die Sportlehrerin los, als sie entsetzt zufällig den Intimbereich von Petruschka erspähte.

„Andernfalls kommst du mir so nicht mehr unter die Dusche!“

Meiner armen Petruschka ist es daher sichtlich am unangenehmsten, sich völlig nackt allen Blicken preisgeben zu müssen, und in ihrer Verzweiflung nimmt sie ihre eine Hand nun her, um ihren nackten Po damit zu bedecken.

Nackt vor anderen stehen zu müssen, hat sie schon immer mit Peinlichkeit erfüllt. Auch in unverfänglichen, harmlosen Situationen. Zum Beispiel bei den obligatorischen ärztlichen Untersuchungen in der Schule.

„Mama, warum müssen wir hier so nackt stehen, ich hab Angst“, wimmert sie mir leise zu.

„Und wann sehen wir endlich Papa wieder?“

Petruschka hat ein rundlicheres, volleres Gesicht als Rebeccas schönes ovales.

Ein stummer Aufschrei geht durch meine vom peinigenden Schmerz meiner Tochter gequälten Eingeweide, Tränen fließen über meine Wangen: Ich kann diese ungerechte, perverse Erniedrigung meiner Mädchen nicht mehr ertragen, und will mich schon auf die Krankenschwestern stürzen, und die gleichgültigen SS-Offiziere, die uns eher gelangweilt aus dem Hintergrund beobachten.

Aber unsere entwürdigende Nacktheit ist dabei noch nicht das Schlimmste für mich! Viel mehr beunruhigt mich, was danach kommt!

Was sie dann wirklich mit uns vorhaben!

Da tritt meine Schwester Miriam hurtig vor ihre schluchzende Nichte Petruschka, stellt sich hinter sie und legt ihr mitfühlend ihre Hände vor die riesigen Brüste, die ihr heftiges Wippen im Takt ihrer Nervosität abrupt einstellen.

„Danke, Tante Miriam“, röhrt Petruschka dankbar.

„Gott im Himmel, was tut man uns hier an!!!“, schreit es atemlos vor Wut aus mir heraus.

Und ich balle zitternd die Fäuste und fletsche die Zähne.

Denn ich denke mir plötzlich: Das will noch gar nichts heißen, dass man uns füttert und zu trinken gibt! Das ist doch bloß ein geschicktes Ablenkungsmanöver der Nazis, ein perfider Trick, um uns in Sicherheit zu wiegen! Gleich werden sie uns doch alle erschießen! Aber mein fieberhaft arbeitendes Hirn weigert sich, diesen schrecklichen Gedanken weiterzudenken.

Ich will leben, leben, leben!

Und weiterleben sollen auch meine Töchter!

Unser Überleben nehme ich mir fest vor!

Wir hätten gleich einen Fluchtversuch unternehmen sollen, sofort, als wir hier ankamen und noch nicht nackt waren wie jetzt, noch alle unsere Kleidung auf dem Leib hatten. Denn dann hätten sich die Nazis vielleicht noch nicht getraut, auf uns zu schießen, denn dann wären sie unvorbereitet gewesen, und weil sie bisher hier in diesem Lager offensichtlich noch niemanden ermordet haben, denke ich. Da hätten sie wohl noch eine Hemmschwelle gehabt. Doch nackt und ohne Wasser können wir jetzt natürlich erst recht nicht mehr fliehen!

Eine Krankenschwester und die Ärztin umringen mich und beruhigen mich. Noch sind sie sehr höflich und reden zivilisiert auf mich ein. Aber – mein Gott: Wie lange noch, bis auch sie ihr wahres Gesicht zeigen?, denke ich verheult in sie verklammert.

Denn man hört ja seit einigen Wochen so einiges über immer umfassendere Judendeportationen und sogar angebliche Massenerschießungen! Entkleidungen vor Massengräbern! Allerdings nur im besetzten Polen!

Sind das alles wirklich nur Gerüchte? Hoffentlich!, denke ich, nein, bete ich innerlich inbrünstig!

„Oh, Gott, ja, das ist es, das blüht hier jetzt auch uns!“, heule ich leise in die Arme meiner Trösterinnen hinein.

„Ruhig, keine Angst, alles wird wieder gut, nichts blüht Ihnen hier, Sie können gleich in Ihre Quartiere einziehen und morgen dann eine warme Dusche genießen, wenn die Brauseanlagen fertig montiert sind!“, versichert mir die Ärztin wieder so glaubwürdig, dass ich mich etwas beruhige.

Mit üppiger weizenblonder, kurzer ungewellter Pagenfrisur starrt Sarah mich in geduldiger Erwartung auf Antwort auf ihre Frage, mehr wissbegierig und neugierig denn ängstlich an. Aber die kommt noch später, die Angst, wenn es ernst wird!, denke ich gerade, als ich von einer neuen Schauderwelle erschüttert werde.

Die Angst meiner 17jährigen Petruschka wirkt sich wieder ungeheuer ansteckend auf mich aus!

„Aber was redest du denn, mein Kind, keiner wird erschossen – wir sind doch Ärzte und keine Mörder!“, versicherte die Ärztin schon vor geraumer Zeit eindringlich und zutraulich meiner Jüngsten Sarah.

Doch meine Fünfzehnjährige schaute dabei immer nur stumm auf mich, während ihr weiterhin von verschiedenen Personen versichert wurde, keiner werde erschossen.

Ich war da bereits derartig in völliger Katatonie erstarrt, dass ich ihre gutwilligen Versicherungen unserer Unversehrtheit nur noch mit halbem Ohr im Unterbewusstsein des Schreckens vernommen habe.

Und die medizinische Untersuchung kommt mir plötzlich auch so fadenscheinig vor.

Außer uns abzuhorchen haben die Ärzte eigentlich nichts getan!

Sind das überhaupt richtige Ärzte?

Alles nur Tarnung, um uns irrezuführen, denke ich mir mit klopfendem Herzen.

Um ihre wahren Absichten vor uns zu verbergen.

„Ja, die ganze Untersuchung ist ein einziges Täuschungsmanöver! Ich sehe auch nirgendwo irgendwelche echte Kranke“, sage ich alarmiert, aber flüsternd zu meiner Schwester.

„Schwerkranke, meine ich!“, ergänze ich, mich ängstlich umblickend.

„Davon müssen doch auch einige dabei sein, bei unserem Transport“, stottere ich diese realistische Überlegung heraus.

Sie schaut erschrocken zu mir hin.

„Du meinst: Die wirklich Kranken und Siechen haben sie schon alle aussortiert und heimlich umgebracht?“, fragt sie, die meine weiteren Gedankengänge erraten hat und schaudernd vorwegnimmt.

„Genau das meine ich, Miriam“, sage ich mit elend krächziger Stimme.

„Du hattest übrigens wohl recht mit dem Maschinengewehr“, sage ich leise zu Miriam, „da, schau: Da drüben wird gerade noch eins in Stellung gebracht!“

Sie schaut herüber und zittert, senkt stumm den Kopf, bedeckt entrüstet mit den Händen wieder mal ihr riesiges Schamdreieck, als ein Soldat mit geschultertem Gewehr zu unserer Zehnerreihe tritt, die in Auflösung begriffen ist; aus Angst vor sofortigen Repressalien protestiert meine Schwester aber nicht gegen die Verletzung ihrer Intimität.

„Bitte bleiben Sie in Ihrer Reihe, meine Damen, wir müssen noch weitere Untersuchungen bei Ihnen anstellen!“, bittet der Soldat, fast unterwürfig. Er wischt sich keuchend den Schweiß von der Stirn. Denn er schwitzt natürlich sehr in seiner schweren Uniform.

„O weh! Ich glaube nicht, Judy, dass wir uns jemals wieder anziehen dürfen!“, wispert meine Schwester mir zu, als der Soldat sich entfernt hat.

„Ich hätte diesen Soldaten nur zu gerne gefragt, wann wir unsere Kleidung endlich wiederbekommen, doch ich habe Angst davor, es zu tun“, gestehe ich Miriam, „weil ich fürchte, dass unsere Zehnergruppe dann die erste ist, die wegen dieser unbotmäßigen Frage eventuell sofort erschossen wird“, gebe ich meine Befürchtungen preis.

Miriam nickt schaudernd, meine drei Töchter drängen sich dicht zusammen zu einem inneren Dreierkreis und umfassen ihre Körper schützend mit den Händen.

„Wo sind eigentlich unsere Wohnstätten, wo wir angeblich untergebracht werden sollen, und die angeblich noch nicht fertigen Duschen?“, fragt Miriam plötzlich finster, wütender als ängstlicher.

„Ich kann nämlich nichts davon entdecken, du?“

Ich verneine mit trister Miene.

„Du hast recht, liebe Miri“, sage ich entnervt.

„Wenn sie wenigstens das typische KZ-Dekor samt Zubehör aufbauen würden, mit Wachttürmen, Stacheldraht und Verwaltungsgebäuden, ein richtiges Arbeitslager wenigstens, mit alldem würde ich mir ja noch eine größere Überlebenschance für uns alle ausrechnen, als mit dieser kargen Einöde hier, wo man eigentlich nur gleich erschossen werden kann“, stimme ich Miri zu.

„Genau, Judy: Die tiefe Schlucht da unten zum Beispiel vor dem gewaltigen Bergrücken im Hintergrund lädt doch geradezu dazu ein, unser gesamtes Frauenbataillon hier irgendwie für immer verschwinden zu lassen“, bestätigt sie mir düster, immer zittriger, trotz der großen Hitze.

„Das Ende unserer Existenz muss ja nicht unbedingt durch Erschießen eingeläutet werden, vielleicht verabreichen sie uns ja auch ein langsam wirkendes, tödliches Gift, das wir mit den Getränken einnehmen?“, schlägt Miriam makaber vor.

„Oder schon längst eingenommen haben!“, bestätige ich mit einem peinigenden, plötzlichen, neuen Gedanken.

„Oh ja… Und dann schmeißen sie unsere Leichen ganz bequem, in aller Seelenruhe, in die Schlucht!“, rührt meine kleine Schwester Miriam ihre gedankliche Giftsuppe apathisch weiter an.

„Meine Güte, ja, du hast recht… Wir dürfen hier nichts mehr trinken“, sagt Miriam hysterisch.

„Aber nein! Das halten wir eh´ nicht durch, Miri“, flüstere ich ihr zu.

„Und wenn wir das Gift schon eingenommen haben sollten, dann ist es für uns eh schon zu spät“, schlussfolgere ich logisch zu Ende.

Damit überzeuge ich schließlich auch Miriam, und wir werden wieder etwas ruhiger.

Ein Rundblick bringt uns die Erkenntnis, dass wenigstens keine neuen Frauenscharen hier vor der Schlucht eingetroffen sind. Wir sind wahrscheinlich doch nur wenige hundert Frauen, verzweifelte, verschreckte Geschöpfe, die Angst vor der Zukunft haben.

„Wieso wenigstens?“, fragt mich Miriam.

„Na, ich meine halt, dass es auch ein gutes Zeichen ist, dass hier nicht unendlich viele Frauentransporte eintreffen, die hier zusammengepfercht werden sollen; denn das bedeutet doch, dass man uns tatsächlich unterbringen will, in wenigen Baracken, die vielleicht doch irgendwo hinter dem Wäldchen da drüben versteckt liegen“, meine ich hoffnungsfroh.

„Das ist doch wahrscheinlich ein weiteres Zeichen dafür, dass man uns nicht umbringen will, sondern weiter verpflegen wird, denn überall werden schon wieder Lebensmittel und Wasser an die Zehnergruppen ausgegeben, wie ich gerade sehe“, sage ich hysterisch freudig mit einem Hoffnungsschimmer.

Und dann kommen tatsächlich die Ärzte und Ärztinnen zurück, die weitere Untersuchungen mit uns durchführen, wenn auch weiterhin im Freien.

Danach werden wir tatsächlich zu unseren Kleiderhaufen zurückgeführt, die inzwischen sogar gut sortiert und gebügelt auf Tischen liegen. Ich muss gestehen: Ich hätte es nicht mehr geglaubt!

Die Rotkreuzschwestern helfen uns sogar beim Ankleiden, und auch meine Lackschuhe sind tadellos gebürstet.

Auch meine drei Töchter haben alle ihre richtigen Sachen zum Anziehen wiederbekommen, nichts fehlt.

Unseren teuren Schmuck hat man uns allen Fünfen sowieso von Anfang an gelassen, schon bei der ärztlichen Untersuchung.

Miriam und ich behielten unsere teuren Ketten um den Hals, als wir abgehorcht wurden, und auch meine Mädchen haben alle ihre Ohrringe und Uhren an ihren gewohnten Körperteilen.

Wir bekommen auch alle unsere Kleiderkoffer wieder, vollständig, samt allen Geldes und Wertsachen!

Nichts deutet also darauf hin, dass die Lagerkommandanten und SS-Offiziere vorhaben, uns auszuplündern.

Dann führt man uns weg von der Schlucht, in eine schmucke Holzbarackensiedlung, die also tatsächlich existiert, wo wir zehn Frauen eine saubere Unterkunft mit Stockbetten bekommen. Allerdings sind wir so müde, dass wir gleich in unseren Kleidern einschlafen. Wir haben sogar Kissen und Bettzeug zur Verfügung, und reichlich Behälter mit Selterwasser und sogar Orangensaft.

Ein Soldat mit Gewehr tritt vor uns hin und sagt uns, er halte die ganze Nacht über Wache vor unserer Baracke.

Die Schwestern wünschen uns eine gute Nacht.

Doch sind wir keineswegs beruhigt.

„Was meinst du, liebe Judith: Ob wir morgen tatsächlich alle zehn wieder lebend erwachen werden?“, fragt mich Miriam mit mulmigem Gefühl in der Bauchgegend, noch kurz vor dem Eindösen.

„Was bleibt uns anderes übrig, als es einfach auszuprobieren?“, sage ich sarkastisch zu meiner Schwester, die wohl befürchtet, in tiefer Nacht von SS-Truppen heimlich niedergemetzelt zu werden.

Aber nein!

Auch am nächsten Morgen gibt es uns noch. Wir wachen zwar verschlafen und orientierungslos auf, hören die Soldaten von drinnen beim Exerzieren, aber: Weiterhin sind keinerlei Schüsse zu hören! Nur der nie nachlassende, ferne Kanonendonner im umkämpften Kiew.

Alles ganz harmlos. Oder etwa nicht?

Miriam jauchzt mich vor Freude an, dass wir noch leben und umarmt mich in voller Montur!

„Jetzt könnte ich eine frische Dusche vertragen“, sagt sie fröhlich, doch wenig später tritt eine Aufseherin in unsere Baracke und teilt uns verdruckst und entschuldigend mit: Die Duschanlagen seien leider doch noch nicht einsatzbereit, morgen werde aber bestimmt geduscht werden können. Da sei dann alles fertig. Sie bietet uns sogar an, uns von der Wahrhaftigkeit ihrer Worte zu überzeugen, indem sie uns sofort zu den unfertigen Duschen führen will. Wir danken ihr freudig und lehnen ab. Wir glauben ihr aufs Wort.

Sie nickt und verlässt die Baracke.

Wir bekommen ein schönes Frühstück serviert und können uns an Brot, Butter, Kuchen, Hörnchen und Marmelade satt essen.

Dann dürfen wir hinaustreten ins Freie und uns überall frei hin und her bewegen.

Wir bleiben tatsächlich den ganzen Tag schicklich angezogen und helfen der Lagerleitung, wo wir können.

Denn es gibt viel zu tun.

Von überall her sehen wir neue Frauenschwärme eintreffen, mit Koffern und Kindern. Viele der Neuankömmlinge sehen wir gerade nackt in Zehnerreihen im Freien antreten zur medizinischen Untersuchung, genau wie wir gestern. Doch nur die Neuen sind ebenso splitterfasernackt und verängstigt wie wir gestern; alle anderen Frauen, die ich schon oberflächlich von gestern wiedererkenne, bleiben tatsächlich in ihren Kleidern, genau wie wir, wie versprochen. Und wir Gestrigen werden von der Lagerleitung gebeten, die neuen Frauen und Kinder zu beruhigen, sie sanft über ihre Lage aufzuklären, sie in die neuen Lebensverhältnisse einzuführen. Dazu sollen wir ihnen ruhig genau schildern, dass es uns gestern genau wie ihnen erging, und dass sie nichts zu befürchten hätten. Ihr Leben wäre nicht in Gefahr, man wolle uns allen nur helfen, uns vor rachsüchtigen russischen Partisanen und Kommunisten und der Roten Armee in Sicherheit zu bringen, bis man uns Visa besorgen würde, damit wir nach Palästina auswandern können.

Und vor allem vor den echten Nazis wolle man uns deutsche Juden schützen, den unbelehrbaren Judenhassern, denen hier wirklich keiner von der Lagerleitung nacheifern wolle, in punkto Grausamkeit.

Später würden wir alle weiterreisen können, auch in neutrale Länder, wenn das unser Wunsch sei, sobald sich die Kriegslage etwas beruhigt hätte, sagt uns die Lagerleitung. Und das sollen wir auch den neu angekommenen Frauen sagen.

Das alles tun wir, denn meine Schwester und ich sind zudem sehr bewandert in Fremdsprachen, da wir dem jüdischen, deutschen Bildungsbürgertum entstammen.

Miriam spricht gut Russisch und Polnisch, da sie ausgebildete Dolmetscherin für diese Sprachen ist, was uns jetzt sehr gut zupasskommt, da auch viele polnisch- und russischsprachige Jüdinnen mitsamt ihren weiblichen Familienmitgliedern heute zu uns gestoßen sind. Miriam ist den slawischen Sprachen zugeneigt, hatte auch diverse Liebschaften mit Polen und Russen.

Ich selber werde eingesetzt, die französischsprachigen Neuankömmlinge zu betreuen, denn ich beherrsche diese Sprache perfekt, da ich als junges Mädchen die gesamten Kriegsjahre von 1914–1918 in Paris verbracht habe, wo ich Architektur studiert habe. Und dann blieb ich noch zwei Jahre, bis ich mein Studium abgeschlossen hatte. Erst 1920 kehrte ich nach Berlin zurück. Doch davon später.

Wir erklären den neuen Frauen ihre vorübergehende Nacktheit, und schon gehen sie die peinliche Situation wesentlich gelassener an, und suchen immer wieder Trost bei uns.

Meine drei Töchter, Miriams Nichten, helfen eifrig beim Essenausteilen und der Versorgung mit Trinkwasser, denn es wird immer heißer.

Vor allem sind sie glücklich, dass sie wieder völlig bekleidet herumlaufen dürfen.

Obwohl sie nun immer mehr entbehrliche Kleidungsstücke freiwillig wieder ausziehen, wegen der Hitze.

Alle neuen Frauen wundern sich, wo sie eigentlich sind und fragen dauernd danach.

Diese Ungewissheit kommt nun auch uns erst so richtig zu Bewusstsein, wie wir uns schlagartig darüber klar werden, Miriam und ich.

Galt es vorher, gestern noch, den ganzen Tag über, allein unser nacktes Überleben zu sichern, wie wir uns in unserer krankhaften Angst einredeten, so merken wir plötzlich, dass heute alles ganz anders ist: Heute sind wir ruhiger geworden, denn die permanente Angst vor unserem angeblich unmittelbar bevorstehendem Tod ist verflogen.

Weil uns die Vorgesetzten im Lager bisher nicht belogen haben, uns keine falschen Versprechungen gemacht haben.

Daher werden wir mutiger und neugieriger. Daher fragen nun auch wir unsere Lagerleiterin, wo genau wir uns eigentlich befinden.

Denn gestern war diese Frage für uns völlig bedeutungslos. Heute ist sie sehr wichtig für uns. Wie wir immer deutlicher erkennen.

Und dann wollen wir natürlich auch noch wissen, was man in Wirklichkeit weiter mit uns vorhat.

Aber erst einmal unser genauer Standort.

„Wir sind hier in der Nähe von Kiew. In den Wäldern außerhalb von Kiew“, antwortet die Lagerleiterin uns freundlich. „Und das da unten ist ein Steinbruch, da kommen bald Häftlinge zum Arbeiten runter“.

„Aber wo genau sind wir? Und wie heißt dieser Ort hier eigentlich, wo gerade unser Lager entsteht?“, fragt nun auch Miriam begierig nach.

„Und diese weitläufige Schlucht dort vor uns? Wozu gehört die? Die Schlucht muss doch auch einen Namen haben?“, fragt meine Schwester aufgeregt.

„Die ist namenlos, die hat keinen Namen“, antwortet die Lagerleiterin lapidar.

„Warum sollte diese Schlucht auch einen Namen haben? Die ist bedeutungslos, so sehen hier in der Ukraine viele Schluchten und Bergmassive aus, es gibt Hunderte davon, die kann man doch nicht alle benennen“, behauptet sie doch tatsächlich.

„Deswegen haben wir ja hier auch in aller Eile ein provisorisches Lager eingerichtet, in aller Stille, in dieser Einöde, wo noch kein bekannter Anlaufpunkt für Spione und Saboteure erreichbar ist, für Partisanen und übergeschnappte Marxisten. Und durchgedrehte Nationalisten, die uns alle gefährlich werden könnten in den großen Städten“, erklärt mir die Lagerleiterin.

Bilde ich mir das nur ein, oder schaut die große, blonde Frau Miriam tatsächlich lüstern an?

„Aber in einer Einöde wie dieser hier sind wir doch noch weitaus gefährdeter als in einer befestigten Stadt“, plärrt es aus meiner Schwester geradezu heraus, die diesen vernünftigen Einwand meiner Meinung nach mit vollem Recht und einer gehörigen Portion von gesundem Menschenverstand hervorbringt.

„Nein“, meint ein sich in unser Gespräch einmischender Offizier nun zu Miriam, „denn die großen Städte werden natürlich von unserer deutschen Wehrmacht angegriffen, wie das schon fast besiegte und niedergeworfene Kiew, wo wir die kommunistische Führung verhaftet und schon zum größten Teil unschädlich gemacht haben. Die Schlacht um Kiew ist schon so gut wie zu unserem Gunsten entschieden. Man hört manchmal nur noch einzelne, entfernte Schüsse von kleinen Rest-Scharmützeln. Da würden wir nur die neue, deutsche Verwaltung bei ihrer Arbeit stören, wenn wir die ukrainische jüdische Zivilbevölkerung dort ließen, und auch die deutschen Juden, die in der Ukraine Zuflucht gefunden haben… Sie alle würden allein durch Ihre jüdische Existenz die ukrainischen Behörden gegen sich aufbringen, mit denen unsere deutsche Verwaltung schon fest zusammenarbeitet, sofern es sich um Nicht-Kommunisten handelt, glauben Sie mir! Und den meisten Ukrainern sind ja zum Glück auch die stalinistischen Kommunisten verhasst, denn die Ukrainer wollen die brutalen Besatzer der stalinistischen Unterdrückungsmaschinerie mit Freuden loswerden, sie sind froh, dass der Führer sie von den Russen befreit hat. Denn durch unsere Hilfe, durch uns Deutsche wird die Ukraine in Kürze wieder ein freies, demokratisches Land werden“, behauptet der Offizier kühn.

„Aber euch deutsche Juden konnten wir ja dadurch natürlich keinesfalls in der Ukraine belassen, denn Sie wissen doch: Die Ukrainer hassen seit Jahrhunderten schon genug ihre eigenen ukrainischen Juden. Sie hassen sie, und natürlich erst recht eingewanderte deutsche Juden, wie Sie Fünf zum Beispiel; alle Juden hassen sie fast so sehr wie die ungeliebten Russen, die so lange ukrainisches Territorium okkupiert hatten. Von der Zarenzeit bis jetzt!

Doch das ist jetzt zum Glück vorbei. Ukrainer und Deutsche lieben sich, haben sich verbündet mit uns Deutschen und gemeinsam werden wir in wenigen Wochen nach Moskau vorstoßen, deutsche und ukrainische Truppen, und dort das Hauptnest von Stalins Welt-Kommunismus ausheben, und bald ist auch die Hauptstadt frei von Russen und unter deutscher Verwaltung. Und dann noch einige Monate, und die ganze Sowjetunion wird unter dem Hakenkreuz des Führers stehen und sich unserer deutschen Weltherrschaft beugen“, gelobt der Offizier feierlich.

„Und wir Juden?“, frage ich konsterniert.

„Was wird aus uns Juden?“ - „Wenn wir den Ukrainern im Weg stehen, warum setzt man uns dann hier in diesem merkwürdigen Lager in der Ukraine fest?“, frage ich anklagend, jetzt völlig ohne Angst und Zittern.

„Aber das hier ist doch nur ein Durchgangslager – Sie bleiben natürlich nicht für lange Zeit hier!“, sagt mir der Offizier schmunzelnd.

„Wenn Sie pro Person tausend Reichsmark in unsere Kriegskasse zahlen, dann schleusen wir Sie sicher ins Ausland, wo Sie sicher mit Ihren Familien leben können: Zum Beispiel nach England, oder Amerika, nach Kanada oder Südamerika oder Australien, Brasilien; - na, das ist doch ein Angebot?“, fragt er etwas frivol.

Wir schweigen.

„Und nach dem finalen Endsieg des Führers über Sowjetkommunisten und die amerikanischen Finanzjudentum-Kapitalisten, helfen wir Ihrem in der Diaspora verstreuten, jüdischen Volk dann gerne bei der Gründung eines eigenen, jüdischen Staates in der Gegend von Palästina, dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan“, fährt der Offizier eifrig und fanatisch fort.

Ich aber schüttele missbilligend den Kopf.

„Mein Anhang und ich zum Beispiel, das sind meine drei Töchter und meine Schwester, verfügen aber über keine 5000 Reichsmark um uns loszukaufen aus deutscher Gefangenschaft“, sage ich nach einer Weile müde zu dem Offizier.

„Na und? Dann verdienen Sie sich die Summe eben, indem Sie für uns arbeiten!“, sagt der Offizier leichthin, aber ohne Häme.

„Sie und Ihre Schwester hatte ich ja heute schon reichlich Gelegenheit, zu beobachten; Sie beide gefallen mir, Sie sind tüchtig, haben uns sehr geholfen bei der Eingewöhnung der neuen Frauen“, sagt er anerkennend.

„Psychologisch gewand haben Sie den Neuen die Angst genommen, und sehr gut gedolmetscht. Dafür bekommen Sie auch auf der Stelle von mir eine gerechte Entlohnung: Sagen wir – 100 Reichsmark für Sie und Ihre Schwester“, sagt er burschikos, öffnet tatsächlich seine Brieftasche, und reicht uns die Scheine.

Kein Zweifel, der Mann meint wirklich, was er sagt.

„Bewahren Sie das Geld gut auf, bald schon werden Sie es brauchen können“, sagt der Offizier lachend.

Es gefällt mir immerhin, dass er, sollte er auch ein überzeugter Nazi sein, der an die meisten Ideen seines Führers glaubt, wenigstens kein verblendeter Judenhasser ist. Der will uns Jüdinnen bestimmt nicht vernichten, so wie er mit seinem leichten, blutvollen Berliner Akzent munter auf uns los spricht.

„Aber was würde uns das Geld schon nützen, selbst wenn wir die 5000 Reichsmark beisammen hätten?“, fragt Miriam jetzt resigniert den Offizier.

„Denn bedenken Sie: Keines dieser von Ihnen erwähnten Länder würde uns aufnehmen; ganz Europa und die beiden Amerikas und auch alle anderen außereuropäischen Länder haben ihre Grenzen für die Aufnahme weiterer Juden gesperrt“, wirft meine arme Schwester dem Manne verbittert vor.

Ich nicke zustimmend.

„Das stimmt nicht ganz, mein schönes Judenfräulein“, sagt er lässig dahin.

Aber er meint es nicht gehässig, was er sagt. Ich erkenne es an seinem legeren Tonfall.

„Wir stehen in Verbindung mit den Pass-Stellen, Ämtern und Konsulaten der besagten, von mir erwähnten Länder. Viele lehnen Bestechung ab, das stimmt, aber nicht alle Sachbearbeiter sagen nein zu einem kleinen Bakschisch, glauben Sie mir. Und ich bin da ganz zufällig an einer kleinen Nebenstelle meines eigentlichen Betätigungsfeldes eingesetzt: Ich könnte da bestimmt einiges für Sie deichseln“, sagt er mit einem ganz unverstellten, natürlichen Charme, ganz ohne Bosheit.

Doch ich fahre ihm trotzdem wieder in die Parade, ganz aufgehetzt von meinen widerstreitenden Gefühlen.

„Ich glaube Ihnen kein Wort: Nach einiger Zeit nehmen Sie uns das Geld ja doch wieder ab, und dazu noch alle unsere Koffer mit den Wertsachen, und lassen uns alle erschießen, vielleicht noch in diesem Lager“, höre ich mich brutal, eigentlich ganz gegen meinen inneren Willen herauspressen zu dem Mann, der es doch eigentlich gut mit uns meint.

Doch zu meinem Erstaunen bleibt er ganz höflich und erklärt mir, ganz ohne auszurasten über meine Kratzbürstigkeit: „Aber meine Dame, was halten Sie denn von mir? Ich gebe ja zu, dass wir die Juden loswerden wollen aus dem deutschen Machtbereich, natürlich, aber doch ohne Gewalt – ganz friedlich. Und ohne Sie etwa so hundsgemein auszuplündern, wie das ja leider tatsächlich so oft geschieht! Und ich gebe ja durchaus zu: Natürlich kam es bei den Juden auch schon mal zu Übergriffen, zu tödlicher Gewalt. Sicherlich wurden einzelne Judengruppen von unseren Einsatzgruppen erschossen, auch hier in der Ukraine. Aber das waren alles einzelne Partisanen, Gewalttäter oder Marxisten, ja auch schon mal Frauen, die unsere tapfere Wehrmacht aus dem Hinterhalt beschossen haben, aber das sind doch nur noch Einzelfälle“. Behauptet der behäbige Offizier jedenfalls treuherzig. „Dann und wann wurden auch schon mal ein Dutzend jüdischer Frauen erschossen, die in den Wäldern und auf den Heeresstraßen Sprengfallen für unsere deutschen Panzerverbände mitgebaut haben. Das stimmt schon Aber die mussten wir doch töten, das konnten wir doch nicht zulassen, dass uns jemand so feige und hinterhältig in den Rücken fällt, das müssen Sie doch einsehen…“

Wir hören ganz erschrocken zu.

„Und diese jüdischen Widerstandskämpfer und Kämpferinnen haben ja vielfach auch dann noch aus vollen Rohren auf uns geschossen, als wir sie aufforderten, sich zu ergeben“.

„Das mussten wir doch ahnden!“

„Aber im Allgemeinen haben wir uns jetzt neuerdings, seit einigen Wochen schon, mit unseren Kriegsgegnern, den Alliierten daraufhin verständigt, die Judenfrage human zu handhaben, durch friedliche Auswanderung der Juden, unter Belassung all ihrer beweglichen Habe und Wertsachen. Und dafür sind die Auswandererländer da, wo Sie hinsollen. Wir haben extra für die Juden einen Auswandererrat eingerichtet, der sich um alle Formalitäten kümmert. Wir verkaufen Sie an unsere Feinde, denn die Auswandererländer bekommen ja auch von uns Geld für Ihre Abschiebung – und die andere Hälfte natürlich von Ihnen“, versichert der Offizier uns eigentlich recht glaubwürdig. Doch man muss immer vorsichtig und skeptisch bleiben.

„Denn die andere Hälfte des Geldbetrages für Ihre Aufnahme in einem anderen Land müssen allerdings Sie selber zahlen – das kann schon schwieriger für Sie werden, das gebe ich zu…“

„Aber die Auswandererländer für Juden haben doch gerade erst in der internationalen Presse verlauten lassen - zum Beispiel hat Roosevelt in Amerika gesagt, und auch der australische Kontinent: - „Bei uns im Land gibt es keinen Antisemitismus, aber nur, weil wir die Einwanderung von Juden aus Europa zu uns gestoppt haben.

Noch herrscht daher nämlich kein Antisemitismus bei uns, und damit es so bleibt, schließen wir schweren Herzens ab sofort die Grenzen für neue jüdische Einwanderer, ehe bei uns auch antisemitische Hetzparteien entstehen und wüten, randalieren und töten wie in Europa, und unser Land durch neue Judeneinwanderung gesellschaftlich zerreißen und verheerend spalten““, schließt Miriam ihre Zitatenflut.

„Sie sehen also: Wir Juden können nirgends mehr hin!“, zieht Miriam vor dem wohlmeinenden Mann ihr düsteres politisches Fazit heraus.

„Dann bleibt doch immerhin noch Palästina für euch Juden als Auswanderungsland. Also gut: Wenn Sie mir nicht mehr vertrauen, meine Damen, dann gebe ich Ihnen zumindest sofort auch das restliche Geld für Ihren Loskauf“, sagt der gutmütige, aufrichtige Kerl, und holt aus seinen Taschen doch tatsächlich den fehlenden Riesen-Batzen Scheine hervor, und händigt Miriam und mir die vollen 5000 Reichsmark einfach so aus! Meine drei Töchter stoßen gerade zu uns und staunen nicht schlecht, als sie Zeuginnen der Großzügigkeit dieses Offiziers werden, der eigentlich kein richtiger Nazi ist, und ungläubig die Geldübergabe beäugen.

„Ihr fünf Mädchen seid mir wirklich spontan ans Herz jewachsen“, sagt der berlinerische Offizier lachend zu unserer Fünferbande.

„Und mit dem janzen Jeld is et jetzt och viel leichta für euch, hier vielleicht janz schnell wieder rauszukommen aus dem Lager“.

Dann scheint er zu überlegen, denn noch fehlen uns die Worte, um dem Offizier für seine Großzügigkeit zu danken. Allein unser dankbares Lächeln scheint ihm bereits Belohnung genug zu sein.

„Aber nee – warten Sie mal! Am besten, Sie behalten das Geld gleich für sich. Dann bringe ik euch fünf doch lieber gleich heute Nacht ganz aus dem Lagerbereich in die Wälder, dann könnt ihr euch auch alleine durchschlagen; und das Geld dafür könnt ihr auf eurer Flucht in ein neutrales Land gut gebrauchen“, schließt er seine hastige Argumentation.

„Ihr müsst nur lernen, die richtigen Leute zu bestechen“, sagt er gleichzeitig humorvoll, aber durchaus auch deutlich hörbar mit ernstem Unterton. „Und es ist wirklich nicht einfach, das zu lernen, aber ihr werdet bald damit anfangen müssen…“ Sagt er ganz resigniert und nachdenklich.

„Aber das geht doch nicht, das ist viel zu gefährlich für meine Mädchen – und das Geld kann ich einfach nicht annehmen“, protestiere ich zaghaft, halte es aber zu meiner Schande bereits fest gedrückt in der Hand. Wie meinen Privatbesitz.

„Aber natürlich können Sie das – verwahren Sie es gut, passen Sie gut auf das Geld auf. Lassen Sie es niemanden sehen, nur im Notfall dürfen Sie davon jemandem Kenntnis geben. Aber auch nur einer Person, der Sie hundertprozentig vertrauen können, verstanden?“, schärft er mir ein. Alle Fünf von uns nicken ernst.

„Oh – wir versuchen, heute Abend weiter zu reden, da kommt die Lagerkommandantin“, sagt der Offizier erschrocken und verlässt uns hastig.

Vorher wiederholt er noch einmal hastig, sie dürfe das Geld keinesfalls sehen.

Wir haben nicht vor, diesen Fehler zu machen.

Am meisten beunruhigt uns fünf Frauen dann aber doch der Umstand, dass es für uns hier im Lager offensichtlich doch noch gefährlich werden könnte; dass wir hier doch nicht so sicher sind, wie man uns weismachen will: Denn warum sonst sollte es der Offizier so eilig haben, uns hier in einer Nacht-und-Nebel-Aktion herauszuschmuggeln?, frage ich Miriam.

Unser großherziger Retter kann uns dazu leider nichts mehr mitteilen.

Denn plötzlich steht die Lagerkommandantin vor uns.

Doch sie mustert uns freundlich, erwähnt nichts von dem Geld, hat es wahrscheinlich nicht gemerkt.

Stattdessen heftet sie Miriam und mir ein Abzeichen an die Kleidung. Aber ihr, der Jüngeren zuerst. Wie sehnsüchtig sie meiner Schwester in die Augen starrt!

„Ja, was ist denn das? Sagen Sie bloß: Sie wollen wohl so eine Art Lager-Kapo aus uns machen, was?“, frage ich misstrauisch und schwer verstimmt.

„Aber nein, was denken Sie sich nur wieder Schlimmes!“, sagt die Lagerleiterin und schüttelt lächelnd den Kopf. „Wir sind doch hier in keinem Konzentrationslager – noch in einem Straflager“, korrigiert sie mit heiterer Miene.

„Das Abzeichen besagt lediglich, dass Sie beide ab heute meine Chefdolmetscherinnen sind. Und Sie sollen durch die Aufschrift auch leichter erkannt und respektiert werden. Gratuliere, Sie haben gute Arbeit geleistet“, lobt sie uns.

„Kommen Sie nun bitte mit mir: Ich brauche Sie zum Übersetzen für neu angekommene, polnische und belgische Frauen, die nur Französisch und Polnisch sprechen können“, sagt sie forsch, aber nicht mal befehlerisch.

Wir wagen nicht zu widersprechen und gehen zitternd vor Aufregung mit.

„Und meine Töchter?“, frage ich zweifelnd.

„Die können machen, was sie wollen. Sie können sich das Lager ansehen, mit Freundinnen spielen oder sich einfach nur mal ausruhen. Unten an dem kleinen See zum Beispiel“, sagt die Leiterin leichthin beschwingt.

„Denn die Mädchen waren wirklich den ganzen Tag fleißig. Sie haben alle Frauen unentwegt mit Speisen und Wasser versorgt. Und sie haben geholfen, wo sie konnten. Sie haben es sich verdient!“, sagt die Lagerleiterin mit honigsüßem Lächeln.

„Au ja, gerne, wir kommen schon klar, Mama, bis später“, ruft mir meine Jüngste heiter zu.

„Aber…“, protestiere ich schwach.

Doch schon sind meine drei Mädchen davongestoben.

Ich bin ganz und gar nicht erfreut, schon gar nicht bin ich auch nur ansatzweise beruhigt. Ich werde im Herzen nicht froh über die ganze merkwürdige Situation hier.

Werde ich meine drei ahnungslosen Mädchen nachher überhaupt noch mal lebend wiedersehen?, frage ich mich mit klopfendem Herzen.

Doch schon haben Miriam und ich uns zusammen mit der Lagerleitung in Marsch gesetzt.

Noch eine Frage treibt mich rastlos um: Wo sollen wir bloß demnächst das viele Geld sicher verstecken?

Wenigstens ging das jetzt für den unmittelbaren Augenblick viel leichter vonstatten, weil wir ja glücklicherweise nicht mehr nackt herumstehen müssen, denke ich mit Galgenhumor.

Wieder ein schrecklich ungewisser Tag später!

Immerhin hat man meine drei Töchter nicht heimlich während unserer Abwesenheit erschossen! Oder sonst irgendwie verschwinden lassen.

Das ist für mich die größte Erleichterung. Noch gab es keinen gewaltsamen Tod in diesem Lager.

Wir Fünferbande wachen wieder wie gerädert auf, kriegen noch karger zu essen und haben immer noch keine Duschen, unter die wir uns erlösend vom Schmutz und Schweiß der letzten Tage stellen können.

Auch haben wir keine Latrinen mehr, müssen unsere Notdurft im Freien verrichten, drunten in der breiten Schlucht! Wo soll das bloß enden?, frage ich mich verzweifelt.

„Nicht mehr lange, und die erste Seuche bricht hier aus – und dann gute Nacht!“, sagt meine Schwester mit Recht.

Immerhin haben wir noch reichlich zu trinken: Sie rollen ganze Wasserbottiche bis nahe an unsere Baracken, die auch schon nicht mehr so reinlich sind.

„Oh, Mann, wenn ich jetzt endlich mal unter eine frische Brause dürfte, dann würde ich glatt meine ganzen Grundsätze vergessen, und sogar zusammen mit allen Männern hier im Lager gemeinsam splitternackt duschen!“, sagt sogar meine prüde Petruschka und kratzt sich und schüttelt dann ihre schon leicht angefettete Haarmähne.

Miriam und ich lachen kurz auf, doch das Lachen bleibt uns natürlich gleich wieder im Halse stecken.

Ein Glück für uns ist ja: Keiner hat bisher unser Geld entdeckt. Es fand noch keine Durchsuchung unserer Kleidung im Lager statt.

„Aber was passiert, wenn die Lagerleitung doch mal eine unerwartete, unangekündigte Leibesvisitation an uns fünf bedauernswerten staatenlosen Frauen vornimmt?“, fragt mich Miriam verschreckt.

Ich wage gar nicht daran zu denken, was dann passiert! Werden wir dann bestraft, wenn das Geld bei uns gefunden wird, oder wird es uns nur weggenommen?

Wir haben die 5000 Reichsmark alle Fünf gleichmäßig in unserer weiträumigen Kleidung verteilt, denn wir erwarten jeden Moment, dass wir uns baldmöglichst in die Büsche schlagen. Will heißen, wir wollen das Lager so schnell wie möglich auf eigene Faust verlassen. Noch heute Abend!

Denn es hat doch wohl noch keine Grenzen? Oder ist es doch schon ringsherum von Stacheldraht eingezäunt?, fragen wir uns. Wie ein Konzentrationslager in Deutschland, Buchenwald oder Mauthausen?

Wir wollen das gleich herausfinden, Miriam und ich, denn heute haben wir sozusagen wohl frei. Daher streifen wir hungrig kreuz und quer durch das Lager.

„Horch mal, Judith? Waren das nicht eben Schüsse?“, fragt mich Miriam und klammert sich an meinem Arm fest.

„Du hast recht“, antworte ich angstvoll. „Und diesmal so nah, so, als kämen Gewehrsalven direkt hier aus dem Lager“, analysiere ich blitzartig meine Beobachtungen.

„Erschießungen? Was meinst du?“, fragt meine Schwester panikartig.

„Du glaubst, sie fangen jetzt doch an, die ersten gefangenen Frauen zu exekutieren?“, frage ich Miriam und sehe direkt in ihre starren Augen.

„Vielleicht nur Verbrecherinnen, Partisaninnen, oder kriminelle Frauen, Mörderinnen, Saboteurinnen?“, fragt mich Miriam mit einem Hoffnungsschimmer.

Harsch reiße ich mich von ihrem Arm los, der mich immer fester umklammert, und herrsche sie an: „Jetzt red doch keinen Stuss! Los, komm lieber mit mir mit: Wir müssen herausfinden, aus welcher Richtung die Schüsse kommen!“, sage ich gebieterisch zu meiner Schwester und ziehe sie mit mir fort.

„Ich kann nicht!“, sagt sie heulend, deren seelische Verfassung zu sehr aufgewühlt ist, und Miriam bleibt wieder stehen, und weigert sich, mir zu folgen.

Schon wieder hören wir einzelne Schüsse. Diesmal noch näher.

Da laufen wir dann doch beide los, in Richtung der Schüsse. Statt die Grenzen des Lagers zu erkunden, wie wir es ursprünglich vorhatten, laufen wir doch lieber wieder zur Schlucht zurück.

Ja, denn von dort kommen die Schüsse, wie es uns jetzt dämmert.

Unsere drei Mädchen haben uns gefunden und sind schnell zu uns gestoßen, denn die Schießerei hat auch sie aufgeschreckt und beunruhigt.

Der Schießlärm wird immer lauter, kommt immer näher, wir laufen also in die richtige Richtung!

„Oje, welche von uns Frauen sie wohl gerade erschießen?“, fragt Petruschka heulend und laufend.

Da werden wir von Soldaten aufgegriffen und mit Gewehrkolben zurückgedrängt.

Petruschka, die Ängstlichste, schreit auf.

„Bleiben Sie zurück! Zu diesem Bereich haben Sie heute keinen Zutritt. Es finden Schießübungen der Truppe statt“, belehrt mich ein Soldat.

„Weg von hier, bitte, meine Damen! Das kann gefährlich werden, denken Sie an mögliche Querschläger!“

„Sie erschießen also keine Gefangenen?“, fragt Miriam keuchend, angespannt.

„Aber nein, was reden Sie denn da; keine Sorge, sehen Sie selber: Da!“, sagt der Soldat zu mir.

Und ich erhasche einen flüchtigen Blick auf einen Trupp Soldaten, die tatsächlich auf Zielscheiben und Strohpuppen schießen. Also kein Grund zur Beunruhigung. Oder?

Spontan atmen wir erst mal erleichtert auf und lachen hysterisch, herzen und küssen uns.

„Sie sehen selbst, alles nur zur Übung“. Sagt der Soldat jedenfalls selbstsicher.

„Gehen Sie jetzt bitte zurück. Hier haben Sie heute nichts verloren“.

Und wir gehorchen ihm gern.

Unter einer schützenden Baumgruppe, nachdem sie festgestellt hat, dass niemand uns belauscht, sagt Miriam flüsternd zu mir: „Aber eins dürfte dir doch klar sein, Judy: Wenn heute Schießübungen auf Strohpuppen durchgeführt werden, dann heißt das doch im Klartext: Morgen werden sie dann Menschen erschießen! Also doch noch! Und heute schießen die Soldaten sich dazu ein“, sagt meine Schwester mir schroff ins Gesicht.

Die Mädchen schreien entsetzt auf.

„Meine Güte! Ich glaube, diesmal ist deine Schlussfolgerung tatsächlich richtig, Miri“, überkommt mich blitzartig dieselbe Überzeugung wie meine Schwester.

„Also los, wir müssen hier raus“, sage ich flüsternd, „und zwar sofort! Ehe erst wieder der neue Morgen graut! Denn dann stehen morgen wir an der Stelle, wo bis jetzt nur die Strohpuppen von den Kugeln zerfetzt werden!“ Und gehetzt folgen mir alle zustimmend ins Dickicht, dann hasten wir zum Ende des Lagers. Wo auch immer das sein mag!

Stundenlang irren wir durch unwegsames Gelände und Unterholz, ohne Plan - bis die Dunkelheit hereinbricht. Wir sind tatsächlich aus dem Lager herausgekommen. Aber was nützt uns das? Und es war ja eigentlich auch noch gar kein richtiges Lager. „Hier draußen sind wir noch gefährdeter, als in der augenblicklichen Sicherheit des Lagers“, bemerkt Miriam plötzlich deprimiert, als sie feststellt, dass wir ziellos herumstaksen.

Sie hat ja so recht.

Schüsse und Kanonendonner aus dem fernen Kiew sind weiterhin leise vernehmbar. Tiere schreien und es raschelt im Gebüsch.

„Mama, was ist, wenn wir auf Wölfe stoßen?“, fragt mich Sarah verschreckt.

„Die gibt es hier nicht, doch noch nicht so nah am Lager“, vertröste ich meine Jüngste. „Höchstens im tiefen Winter, wenn alles dicht verschneit ist, und die Wölfe ausgehungert sind, dann kommen sie den Lagern auch ganz nah“, sagt Miriam.

„Woher willst du eigentlich wissen, Mama, wie weit wir schon vom Lager entfernt sind?“, fragt mich Rebecca.

„Gute Frage“, antwortet an meiner Stelle ihre Tante Miriam trocken.

„Wenigstens scheinen sie keine Wachen aufgestellt zu haben“, bemerke ich, um von unserer Misere der Desorientiertheit abzulenken.

„Wenigstens hat jetzt in der Nacht die gröbste Hitze nachgelassen“, sage ich tröstend zu allen.

„Mama, ich habe solchen Hunger“, sagt Sarah bereits jetzt.

Und wenig später erkenne ich: So planlos und kopflos kommen wir hier nie durch!

Wir hätten die ganze Flucht besser planen sollen, nicht so überstürzt aufbrechen sollen. Das sage ich auch zu allen. Sie stimmen zu.

„Was nützt uns jetzt das viele Geld, wenn wir doch nichts dafür kaufen können – Essen zum Beispiel“, lamentiert Miriam keuchend und lässt sich erschöpft auf einem Felsbrocken nieder.

„Ja, das ist wahr, teure Miri“, gestehe ich müde, und zerschunden mache auch ich Rast und lehne mich an einen Fels, der im Dämmerschein rot leuchtet.

„Wo ja auch wirklich weit und breit kein Mensch zu sein scheint, den man mit dem Geld bestechen könnte“, stimme ich meiner Schwester zu. „Oder der uns dafür Wasser oder Essware gibt“, schließe ich müde den Kreis meiner Argumentation.

„Doch, einer ist schon hier, um Ihnen zu helfen, meine Damen“, hören wir plötzlich eine vertraute Männerstimme auf uns einreden, und wir schrecken zusammen.

Es ist der gutmütige Offizier, der uns die 5000 Reichsmark geschenkt hat, erkennen wir erleichtert. Und nun reicht er uns seine Feldflasche. Wir stehen auf und trinken dankbar reihum.

„Sie hier? Was für eine Freude, aber was tun Sie denn hier?“, fragt Miriam voller Freude.

„Ich will Sie von Ihrem unsinnigen Vorhaben abbringen“, sagt der Berliner.

„Fliehen ist ja ganz schön, aber wo wollen Sie denn hin? Hier draußen ist nur öde Wildnis. Und das über eine verflucht lange Strecke! Sie haben recht gehabt, als Sie sagten, das müsse man planen, da können doch nicht fünf Frauen so einfach losziehen ins Ungewisse, ohne Männer, Proviant, Soldaten oder Kundschafter mit Waffen und Ortskenntnis. Was habt ihr Mädchen euch dabei eigentlich gedacht?“, fragt der Mann fassungslos.

„Ich hätte euch doch gerne weitergeholfen, wir hätten doch gemeinsam türmen können, aber dann mit fachkundigen Gleichgesinnten… Als ich euer Fehlen bemerkt habe, bin ich euch sofort nachgesetzt, habe eure Fährte verfolgt. Denn hier draußen lauern tausend Gefahren, wilde Tiere, Partisanen, Räuber, Deserteure, die Rote Armee, Deutsche, und so weiter, und so weiter…“