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Als Ellen Bruckner nach einem Sturz in die Trave am Ufer erwacht, findet sie sich in einer ihr völlig fremden Welt wieder. Sie wähnt sich im Koma und erlebt einen schrecklich realen Albtraum, in dem sie sich im Jahre 1235 in Lübeck befindet. Bald schon wird sie des Teufels bezichtigt und ihr Kampfsporthobby zu einer Überlebensfrage. Der geächtete Däne Mikael Ranulfson nimmt die merkwürdige, aber wunderschöne junge Frau in Not bei sich und seiner Truppe auf. Sie fasziniert und bezaubert ihn gleichermaßen. Er möchte nicht nur ihre Kampfkunst erlernen, sondern sie beschützen und in seinem Leben behalten. Doch Niedertracht und Verrat sowie mächtige Feinde lauern, und gemeinsam müssen Ellen und Mikael nicht nur für ihre Liebe, sondern auch für ihr Schicksal kämpfen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Keltische Nächte
Ria Wolf
Zeitreise Roman
Keltische Nächte
by Ria Wolf
2. Auflage
Copyright © 2024 Marita Böttcher, Osnabrücker Str. 28,
33829 Borgholzhausen
Alle Rechte vorbehalten
Coverdesign © 2024 Marita BöttcherBildmaterial: iStock, Canva
ISBN 9783759295811
Inhaltsverzeichnis
Keltische Nächte
Impressum:
Lübeck, 17. August 2012
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin:
Keltische Nächte
Der Chauffeur - Ein Bodyguard für die Liebe
Lady Eve, - die Sünde der Väter
Beloved Escort - Lügen
Beloved Escort - Schatten
Ein Herz, zerbrechlich wie Glas
Marla - Gefährliches Blut
Jetzt noch nicht! Sie wollte noch nicht sterben. Die Schmerzen waren unbeschreiblich. Sie glaubte, in zwei Hälften gerissen zu werden. Der Sog wirbelte sie in rasendem Tempo um die eigene Achse. Ihre Beine zog es schneller fort als ihren Oberkörper.
Sie wollte schreien, aber reiner Überlebenswille verbat ihr den Mund zu öffnen. Die Luft ging ihr aus. Bunte Lichter tanzten hinter ihren Augenlidern. Dann folgte erlösende Schwärze.
Mit dem Drang des Erbrechens riss Ellen die Augen auf. Geblendet vom grellen Licht der Sonne rollte sie zur Seite und verabschiedete sich vom Inhalt ihres Magens. Es hinterließ einen widerlichen Geschmack, doch jetzt ging es ihr ein Quäntchen besser. Ungewohnt unbeholfen setzte sie sich auf und rutschte auf dem steinigen Untergrund zurück, um die Füße aus dem Wasser zu ziehen. Die Lungen schmerzten. Sie atmete tief durch, hustete und versuchte es noch einmal. Jeder freie Atemzug bewies, dass sie diesen höllischen Strudel tatsächlich überstanden hatte. Das Zittern der Finger war noch Tribut des durchlebten Grauens und ließ sich kaum kontrollieren, als sie nasse Haarsträhnen von Mund und Nase strich.
Unfassbar, dass in der Trave so eine tückische Strömung herrschte. Ob Peter ahnte, dass er sie mit dem idiotischen Stoß ins Wasser fast umgebracht hätte? Vermutlich nicht, aber sie würde es ihm so klarmachen, dass er es nie wieder vergaß.
In der Erwartung ihn schadenfroh grinsend irgendwo auszumachen, schaute sie sich um.
Himmel nochmal. Die Strömung musste sie ziemlich weit flussabwärts getrieben haben. Keine Menschenseele weit und breit. Auch keine Häuser! Nicht mal die Skyline der Stadt war zu sehen! Nur ganz schön viel … Gegend.
So lange war ihr das unfreiwillige Bad gar nicht vorgekommen. Es durfte doch nicht wahr sein, dass sie sich auch noch ganz allein zur Stadt zurückschleppen musste. Nass und zerzaust, wie ein begossener Pudel.
Beim Anblick der Lederstiefel rutschte ihr ein Fluch über die Lippen. Damit konnte man im trockenen Zustand kilometerweit laufen, aber das bedeutete nicht, dass ihr der Sinn danach stand. Außerdem hatten die Dinger ein kleines Vermögen gekostet. Sie würde sie Peter um die Ohren hauen. Sich darüber zu mokieren, dass sie keine zehn Zentimeter Pfennigabsätze hatten, sondern praktisch und flach waren, war eine Sache, sie damit ins Wasser zu stoßen und zu ruinieren eine andere.
Zum Glück musste sie wenigstens nicht frieren, bis sie duschen und etwas Sauberes überziehen konnte. Die Sonne brannte noch immer mit gefühlten dreißig Grad und fast senkrecht auf sie herunter. Blieb also Zeit genug, um Kräfte zu sammeln, die Klamotten trocknen zu lassen und trotzdem im Hellen die Stadt zu erreichen. Ob sie eine Stunde früher oder später dort ankam, war egal. Sollte ihr dämlicher Ehemann zur Strafe ruhig etwas länger in Sorgen schmoren.
Sie zog Stiefel samt Strümpfen aus, damit sie besser trockneten. Jeans und Top behielt sie an. Die schwarze Farbe der Kleidung würde das Verdunsten beschleunigen. Sie lehnte sich zurück, um die Sonne ungehindert ihre Arbeit an ihrer Vorderseite vornehmen zu lassen. Die Wärme auf ihrem Körper zu spüren hatte etwas Beruhigendes.
Himmel nochmal, sie hatte wirklich geglaubt, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Dieses brüllende Tosen, die reißenden Schmerzen …
Warnschilder wegen der Strömung wären das Mindeste gewesen. Ob die Peter von dem Blödsinn abgehalten hätten, bezweifelte sie jedoch. Nie dachte er über Konsequenzen seiner Taten nach.
Es wurde Zeit, die Sonne auf ihre Rückseite scheinen zu lassen, damit die ebenfalls trocknete. In der Position nahm sie die steile sandige Böschung in Augenschein, die sie würde erklimmen müssen. Doch das bereitete ihr wenig Sorgen. Zum einen war der Sand mit reichlich Wurzeln von Bäumen durchsetzt, die oben am Rand standen, zum anderen war sie durch ihren Sport durchtrainiert. Was Peter immer wieder gern kritisierte, da er Kampfsport bei einer Frau absolut unweiblich fand. So unweiblich wie ihre neuen Stiefel. Und die nicht vorhandenen Miniröcke. Aber das alles hatte er gewusst, bevor er sie heiratete. Nach fünf Jahren Ehe war es ein bisschen spät, deswegen ständig auf die Palme zu gehen.
Ob er sich überhaupt Sorgen machte, weil sie nicht wieder auftauchte? Wohl kaum. So, wie sie ihn kannte, ging er einfach davon aus, dass sie schon irgendwo unbeschadet ans Ufer kroch. Wahrscheinlich saß er mit Bastian und Isa längst im Biergarten ihres Hotels und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, weil sie zu lange auf sich warten ließ.
Na ja, es wurde wirklich Zeit, den Rückweg anzutreten. Was jetzt noch nass oder klamm war, konnte auf dem Weg zur Stadt trocknen.
Grobe Verwünschungen gegen Peter und alle Angehörigen seines Geschlechts ausstoßend, zog sie die teils noch feuchten, mit Sand verklebten Sachen wieder an und krabbelte gleich darauf die Böschung hinauf. Oben angekommen wurde ihr noch viel bewusster, dass wohl ein beträchtlicher Weg vor ihr lag. Nicht mal ein richtiger Radweg führte am Ufer entlang. Nur ein sandiger Trampelpfad, der in Windungen zwischen den Bäumen am nahen Waldrand verlief.
Automatisch fuhr ihre Hand zum Gürtel. Ihre Zähne knirschten selbst in ihren Ohren ungewöhnlich laut, als sie feststellte, dass die Schlaufe gerissen war, an der für gewöhnlich ihr Handy hing. Wäre ja auch zu einfach gewesen, ein Taxi rufen zu können. Aber die Idee war sowieso idiotisch. Hier wäre ohnehin keines hingekommen. Das hier war das beste Beispiel für: Ein Königreich für ein Pferd.
Frustriert stemmte sie die Hände in die Hüften. Eigentlich ging sie gern im Wald spazieren, nur heute musste das echt nicht mehr sein! Sie schwor, mit Peter einen ganzen Hühnerstall zu rupfen! Auch wenn ihr restlicher Urlaub dann Katastrophenstatus bekam! Aber dafür musste sie erst einmal zurück und der Himmel mochte wissen, wie weit die Strömung sie von Lübeck fortgetrieben hatte. Wenn Peter Glück hatte, war sie für den Rest des Tages zu erschöpft, um ihm etwas an den Kopf zu werfen, aber spätestens morgen konnte er sich warm anziehen.
Sie wischte den Sand von Händen und Jeans und begann dem Weg flussaufwärts zu folgen. Irgendwann musste Lübeck zwangsläufig auftauchen.
Ein Hoch auf flache, bequeme Treter. Geschätzt folgte sie schon gut eine Stunde dem Pfad der Trave entlang und immer noch war kein Haus in Sicht. Unglaublich, im sonst so dicht besiedelten Land. Gab es hier einen Naturpark, von dem sie noch nichts gehört hatte?
Irgendwo links von ihr, zwischen den Bäumen, vernahm sie Stimmen. Doch statt Erleichterung zu verspüren, rann ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Die Stimmen erhoben sich immer wieder zu grausigem Jammern, Schreien, bis hin zu Gebrüll. Sie verließ ihren Weg und versuchte, mit möglichst wenig Rascheln und Knacken von Ästen und Laub den Lauten näher zu kommen. Es klang sehr danach, dass jemand Hilfe brauchte. Was war passiert? War eine Wandergruppe in eine Grube gefallen oder sowas?
Der Schall im Wald verzerrte die Richtung der Stimmen irgendwie. Bunte Shirts oder Jacken waren zwischen den Bäumen auch nicht zu sehen. Was sie fand, war ein weiterer unbefestigter Weg, der nach schätzungsweise hundert Metern tiefer in den Wald hinein abbog.
Bewegung in der Kurve. Personen wurden nach und nach sichtbar, kamen in ihre Richtung. Seltsame Leute. Sehr … seltsame Leute. Definitiv kam das Jammern und Schreien aus dieser Gruppe. Begleitet von dem Knarzen und Rumpeln eines altertümlichen Käfigwagens. Aber nicht nur der und das Gebrüll waren befremdlich, auch die Kleidung aller. Die Gruppe vor dem Wagen umfasste sieben Männer in Gewandung, die gut als Mönchshabit durchgehen mochte. Zwei gewaltige Ochsen zogen den Wagen und wurden von einem wie ein mittelalterlicher Soldat gekleideten Mann geführt. Einen weiterer lief an der Seite des Wagens. Beide trugen gefährlich aussehende lange Speere. Das Jammern und Schreien verursachten erbärmlich aussehende Gestalten in dem Käfig.
Sehr realistisch nachgestellt. Hier musste irgendwo ein Mittelalterfest stattfinden. Das würde bestimmt einen Besuch wert sein, so anschaulich echt, wie schon dieses kleine Szenario wirkte. Vielleicht gehörten sie auch zu einem Filmset?
Mönche und Soldaten schauten ihr ungewöhnlich wachsam entgegen. War sie gerade in eine Aufnahme gelaufen? Selbst der Lärm im Käfig verstummte schlagartig. Schmutzige, verkratzte und blutbeschmierte Gesichter starrten sie neugierig durch das Gitter an. Der Mönch an der Spitze hob die Hand zum Haltesignal. Keiner dieser mittelalterlichen Truppe wirkte, als hätte er Spaß an dem Treiben. Nun ja, würde im Film blöd aussehen, wenn die Gefangenen ihre Situation lustig fänden. Und es war auch ziemlich heiß heute. Hier im Wald stand die Luft regelrecht, da saß jeder lieber bei einer kühlen Limo oder einem Glas Bier.
Der Mann an der Spitze der Gruppe sah sie besonders finster an. Seine gewaltige Hakennase trug nicht dazu bei, ihn freundlicher wirken zu lassen. Das plötzliche Schweigen aller bewirkte eine beklemmende Stille. Nicht mal die Ochsen gaben einen Laut ab. Wenigstens wackelten noch deren Ohren, sonst hätte sie sich in ein Standbild versetzt gefühlt.
Gerade weil alles sehr skurril wirkte, bemühte sie sich um ein höfliches Lächeln.
„Hallöchen. Kompliment, ihr seht ja wirklich fabelhaft aus, Herrschaften.“
Niemand erwiderte ihren Gruß. Ihr Nacken kribbelte. Kein gutes Zeichen. Das passierte nur, wenn Unannehmlichkeiten drohten. Und ja, sie fühlte Unsicherheit in sich aufsteigen. Scheiß Gefühl. Sie hasste verunsichert zu sein. Sie strich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Hakennases stechende Augen folgten dieser Bewegung, dann glitten sie über ihre langen schwarzen Haare, die momentan bestimmt einen grauenhaften Anblick boten, und ihrem ganzen Stolz, einem alten Armreif, der sich um ihren Oberarm schlang. Vorwitzig streckte der goldene Drache jedem Betrachter die Zunge entgegen. Zuletzt richtete sich der Blick des Mönches auf ihre enge Jeans. Ein paar der anderen hefteten ihre mehr auf den tiefen Ausschnitt ihres Sporttops.
Für gewöhnlich störte sie so etwas nicht, aber bei diesen Gestalten bereitete es ihr Unbehagen. Sie zog an dem dünnen Gewebe über ihren Brüsten, um sie mehr vor den stierenden Blicken zu verbergen. Das brachte einen gequälten Seufzer eines der Mönche mit sich, welcher sofort unter dem ruppigen Ellbogenstoß des Nachbarn ersticke.
Mit einem immer mulmigeren Gefühl ließ sie ihre Hand wieder sinken und versuchte erneut, das anhaltende Schweigen zu brechen.
„Tut mir leid, wenn meine Aufmachung nicht zu eurer Veranstaltung passt, Leute, aber ich hab mich auch nur hierher verlaufen. Hat vielleicht jemand ein Handy, damit ich meinen Möchtegern Herrn und Gebieter anrufen kann?“
Bei dem Knirschen von Hakennases Zähnen stellten sich ihr die Nackenhärchen auf.
„Wie unverfroren, uns in solch liederlicher Kleidung unter die Augen zu treten und so auch noch den Herrn anrufen zu wollen! Hast du denn nicht das geringste Schamgefühl, Weib?“
Der unerwartet schroffe Ton ärgerte sie maßlos. Schließlich war sie nicht absichtlich in ihre Veranstaltung oder was auch immer, gestolpert. War ein höfliches Nett Sie zu sehen, aber IhreAufmachung stört gerade unser Gruppenbild wirklich zu viel verlangt gewesen?
„Du spielst deine Rolle wirklich klasse, Pfaffe, das muss ich dir lassen, aber jetzt mach mal einen Punkt. Schließlich gehöre ich nicht zu eurem Schauspiel.“
„Schauspiel?“, brüllte Hakennase so explosiv, dass sie automatisch einen Schritt zurückwich. „Glaubst du denn, wir zögen zur Belustigung irgendwelcher Narren übers Land?“
Sein Finger fuhr wie ein Messer in Richtung Käfig.
„Hältst du Ketzerei und Unzucht für belustigend?“
Angewidert wischte sie sich einen Tropfen seines Speichels von der Wange und reinigte die Hand an ihrer Jeans. Wie Verunsicherung hasste sie auch, wenn jemand eine feuchte Aussprache hatte und nicht angemessenen Abstand hielt. Außerdem ging ihr dieser Kerl allmählich auf den Senkel. Sie war in ihren neunundzwanzig Lebensjahren einigen kuriosen Gestalten begegnet, aber dieser übertrumpfte sie gerade alle. Und sie war heute nicht mehr in der Stimmung, um sich blöd anmachen zu lassen.
„Himmel, Arsch und Wolkendonner, komm mal wieder in die Realität zurück, Mann! Sag einfach, ob ihr mir mit einem Handy aushelfen könnt, und dann störe ich euch nicht länger.“
Seine Nasenflügel flatterten, als er die Luft scharf einzog.
„Respektlos mir und dem Herrn gegenüber“, giftete er. „Das ließ schon dein Anblick vermuten. Hast wohl den Anschluss an dein räuberisches Gesindel im Wald verloren“, er deutete, anklagend auf ihren goldenen Drachen. „… wo du neben Unzucht wohl auch noch Schlangenbeschwörung betreibst. Aber jetzt haben wir dich! Und wir werden alles über dich und dieses Pack aus dir herausquetschen, das schwöre ich dir.“
Ohrenbetäubend brülle er Richtung Wagen: „Wachen! Ergreift sie!“
Für heute war sie mit ihrer Geduld am Ende. Sie war fast ertrunken, verdammt! Und statt von einem netten, verantwortungsbewussten Kerl gerettet und zum Hotel gebracht zu werden, stapfte sie allein bei glühender Hitze durch Wald und Flur, wo sie bei der ersten menschlichen Begegnung übelst beschimpft wurde?
„Scher dich zur Hölle, Armleuchter. Ich gehe nirgends mit euch hin!“
Wild kreischte Hakennase auf und drückte ihr ein Kreuz gegen die Stirn: „Ergreift sie endlich und bindet ihr den schändlichen Mund.“
Jetzt langte es aber! Sie schlug seine Hand mit dem Kreuz zur Seite.
„Nimm mir das Ding aus dem Gesicht.“
„Packt sie endlich“, forderte er auch die Mönche hinter sich zornig auf, die sie bisher nur angestarrt hatten.
Zwei sprangen vor und ergriffen ihre Arme, während einer der Soldaten noch in einer Kiste am Wagen kramte und der andere die Ochsen stillhielt. Hakennase baute sich vor ihr auf und nickte zufrieden.
„Im Kerker werden wir schon alles aus dir herausbekommen, erbärmliches Weib. Und deine schändlichen Reden werden dir schnell vergehen.“
Von links kam schließlich der Soldat mit Ketten in der Hand. Ganz offensichtlich wollte er sie mit den widerlichen Dingern fesseln. Ein berittener Soldat, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte, preschte aus dem Wald heran. In der Schule hatte sie Rollenspiele schon nicht gemocht, wo sie das Opfer darstellen sollte, und das Mitspielen verweigert. Gefühlt würde hier ein Nein nicht genügen.
Die Griffe um ihre Arme waren nicht besonders fest. Mit einem kräftigen Ruck befreite sie sich aus den Händen der Pfaffen.
„Schluss mit dem Theater, ihr Spinner!“
Der berittene Soldat sprang neben Hakennase aus dem Sattel. Bevor sie noch einen weiteren Ton von sich geben konnte, rammte ihr der Mann eine Faust in den Bauch.
Echt jetzt? Keuchend schnappte sie nach Luft. Das war doch nicht zu fassen! Was waren das für Verrückte? Dass dieser Treffer sie nicht auf die Knie zwang, verdankte sie nur ihrem regelmäßigen Training asiatischer Kampftechniken. Ihre Bauchmuskeln spannten sich reflexartig an, sobald ein Schlag in ihre Richtung deutete.
Als sie grob an den Haaren nach hinten gerissen wurde, platzte ihr endgültig der Kragen. Mit einem wütenden Aufbrüllen griff sie nach dem hinteren Angreifer, ließ ihn über ihre Schulter zu Boden krachen und trat dem Schläger so gewaltig vor die Brust, dass er Hakennase und noch drei weitere Pfaffen mit sich riss. Mit dem Gefühl innerlicher Zufriedenheit schaute sie auf das Knäuel Menschen zu ihren Füßen.
„Ihr seid doch alle nicht mehr ganz dicht. Hat jetzt vielleicht jemand ein Handy für mich?“
Fragend und eingeschüchtert schauten die übrigen Mönche von einem zum anderen, dann schüttelten sie synchron die Köpfe.
„Habe ich jetzt fast schon befürchtet. Na dann … gehabt euch wohl.“
Sie hatte dem seltsamen Zug kaum den Rücken gekehrt, da stürmten von der Wegbiegung hinter dem Wagen weitere Fußsoldaten heran. Das wurden ihr entschieden zu viele geistig verwirrte Spinner. Wenn sie jetzt nicht rannte, würde noch jemand ernsthaft Schaden nehmen. Gewaltiger Frust brodelte in ihr auf, als sie sich genötigt sah in den Wald zu flüchten. Sie hoffte, dass diese merkwürdige Truppe dann endlich wieder auf den Teppich kam.
Kaum hatte sie einige Bäume zwischen sich und die Truppe gebracht, hörte sie hinter sich Äste unter Hufen krachen und Gebrüll: „Ergreift sie! Ergreift sie!“
Das konnte doch nicht wahr sein. Stand der ganze Verein unter Drogen und glaubte sich wirklich im Mittelalter? Da kam sie ihnen als Hexe, die sie jagen konnten, wahrscheinlich gerade recht. So durchgeknallt, wie die waren, stand zu befürchten, dass sie nicht lange fackelten und sie auf einen Scheiterhaufen schnallten. In den nächsten Tagen wäre sie die Schlagzeile jeder Lübecker Tageszeitung: Verkohlte Leiche im Lübecker Wald gefunden. Nein, danke!
Also rannte sie. Sprang über Baumstämme und wurde von vorbeirasenden Ästen gepeitscht. Ihre Rechnung mit dem Verantwortlichen für diese Scheiße, nämlich Peter, wurde immer länger. Der Laubwald ging in dichteres Gesträuch über. Die Flucht wurde beschwerlicher, trotzdem kam sie schneller voran als ihre Verfolger. Irgendwann war das Gebrüll hinter ihr kaum noch zu vernehmen. Das Gesträuch löste sich mit höheren Kiefern ab. Nicht mehr so viele tiefhängende Zweige bremsten ihren Lauf. Mit ausholenden Schritten rannte sie über den federnden Waldboden und hielt einen Arm schützend vor ihr Gesicht. Plötzlich fiel der Boden vor ihren Füßen zu einer Senke ab. Sie trat ins Leere, stürzte kopfüber, rollte sich ab, kam wieder auf die Füße und stolperte über ein Liebespaar, das verdutzt aufschrie.
Der Mann riss ein Schwert an seiner Seite hoch und zielte damit auf sie. Noch mehr Mittelalterjunkies? Wie viel Pech konnte man an einem Tag haben?
„Ziel nicht mit so einem Ding auf mich“, keuchte sie erbost, trat nach seinem Schwertarm, beförderte die Waffe mit einer geschmeidigen Bewegung ihres Fußes in ihre eigene Hand und hielt sie dem Mann an den Hals.
Die Fassungslosigkeit, mit der das nackte Paar sie anstarrte, gab ihr ein kleines Gefühl von Genugtuung. Glaubte diese Bagage, es wäre allein ihr Privileg mit solchen Dingern umgehen zu können? Hinter sich hörte sie ihre Verfolger aufholen.
„Sorry, Leute, wollte euer Tête-à-Tête nicht stören.“
Mit fliegendem Puls sah sie sich um. Verdammt, in welche Richtung sollte sie jetzt weiterrennen? Zwischen kleineren Nadelbäumen entdeckte sie ein nostalgisch gesatteltes Pferd. Entschuldigend lächelte sie das Paar an.
„Weitermachen. Borge mir nur grad euer Pferd aus. Eure Kollegen nehmen ihre Rollen etwas zu ernst.“
Mit vier langen Schritten war sie bei dem Tier, riss die Zügel aus den Zweigen und schwang sich in den ungewohnt altertümlichen Sattel. Sie hatte es kaum in die gewünschte Richtung gewendet, da sprang der Mann nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, an ihre Seite und fiel ihr in die Zügel. Himmel, wie hübsch der Kerl war, fiel ihr jetzt erst auf. Sie schaute in die blauesten Augen, die ihr je begegnet waren. Nach und nach richteten sich alle Härchen mit einem elektrisierenden Prickeln an ihrem Körper auf. Wie magisch angezogen schweifte ihr Blick auch über den Rest seines beachtlichen Körpers.
Samtene Haut spannte über wohl proportionierten Muskeln, so weit das Auge reichte. Der Flaum auf seiner Brust war so strohblond wie die breite Strähne, die seine Wange umschmeichelte, und das krause Nest um sein sich zu ganzer Größe aufrichtendes … Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und versuchte mit Schlucken der plötzlichen Trockenheit in ihrem Mund Herr zu werden.
„Bei Thors Eiern!“
Sein verblüffter Ausruf riss sie aus ihrer versunkenen Betrachtung. Auch er schüttelte den Kopf, als müsse er eine Vision abstreifen. Dann verfinsterten sich seine schönen Augen bedrohlich.
„Hiergeblieben, Weibsbild. Glaubst du wirklich, ich lasse dich einfach mit meiner Waffe und meinem Pferd verschwinden?“
Das erinnerte sie schlagartig daran, weshalb sie auf dem Pferd saß und sein Schwert in der Hand hielt. Dieser Wald war voller Irrer. Sie schenkte dem bisher ansehnlichsten unter ihnen ein süßsaures Lächeln.
„Vermutlich nicht. Leihst du mir die Sachen, wenn ich höflich frage? Oder noch besser … bringst du mich nach Lübeck?“
„Natürlich nicht, Weib.“
Er streckte sich und langte nach dem Schwert.
„Wie ungehobelt.“
Kurz, aber heftig trat sie ihm gegen das Schlüsselbein. Er kippte nach hinten wie ein gefällter Baum. Sie würde diesen schönen nackten Rüpel später bedauern, jetzt hatte sie nur den Wunsch, möglichst schnell aus diesem Wald zu kommen. Mit einem scharfen „harr, Pferd, harr“, trieb sie ihr Reittier an.
Mikael starrte dem schwarzhaarigen Weib vor Wut brodelnd nach und rieb sich die schmerzende Stelle. Wie einem Tölpel hatte ihr Anblick seinen Verstand gelähmt. Er konnte es nicht fassen. Und zu seiner Beschämung hatte sich sein Schaft auch noch unter ihren faszinierend grünen Augen aufgerichtet. So etwas war ihm nie zuvor passiert. Eine unkontrollierte Anwandlung von lustvoller Faszination hatte ihn außer Gefecht gesetzt, nicht der Tritt dieses … dieses Weibes. Oder war es gar kein Weib gewesen? Der Tritt war unglaublich kräftig für so eine kleine Person ausgefallen.
Er wischte sich über das Gesicht, um seine Gedanken zu sammeln. Bei Thors Eiern, er würde seines Lebens nicht mehr froh, wenn der Blick eines Mannes seine Mitte in Wallung gebracht hatte. Nein! Kein Mann verfügte über so ausgeprägte volle Brüste, so schöne Augen und Lippen. Und dank seines Triebes war er nun seiner Waffe und seines Pferds ledig. Er würde dieses ungewöhnliche Frauenzimmer finden und seine Erbstücke zurückholen. Er ging zu Sofie zurück. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihm entgegen.
„Zieh dich an, Sofie. Ich bringe dich ins Lager zurück.“
Während sie sich rasch ihre Kleidung überstreiften, stürmten ein Berittener und zwei Fußsoldaten in die Senke. Vor Schreck machte Mikaels Herz einen solchen Satz, dass er befürchtete, es höre auf zu schlagen. Er hatte geglaubt, von seinen Männern wären welche hinter dem diebischen Frauenzimmer her gewesen. Ein Soldat riss Sofie sofort an ihrer dunklen Haarpracht zu sich herum, stieß sie zum Glück aber gleich wieder von sich.
„Wer seid ihr?“, bellte der Soldat von seinem Pferd herunter.
Mikael erkannte ihn sofort. Sebolt von Berchem, Hauptmann der Lübecker Soldaten. Bösartig bis in den kleinsten Zeh und der Letzte, dem er hier begegnen wollte. Schon gar nicht ohne Waffe. Man sagte dem Bastard nach, dass er es besonders liebte, Folterungen im Kerker selbst durchzuführen. Sie hatten sich noch nie gegenübergestanden, aber Sebolt ließ händeringend nach ihm suchen. Mikael gab sich demütig, machte sich möglichst klein und blickte zu Boden.
„Bauern, Herr, nur einfache Bauern.“
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Sebolt skeptisch zwischen ihm und Sofie hin und her schaute.
„Bauern, hä? Nun denn, einfältiges Pack, habt ihr diese Hure des Teufels gesehen? Rabenschwarzes Haar, grüne Augen, gekleidet wie ein Mann?“
Sofie nickte sogleich und holte Luft zum Antworten. Mikael gebot ihr mit einem warnenden Blick zu Schweigen.
„Was ist nun?“, bellte Sebolt ungehalten. „Hat es dir die Worte verschlagen, dummes Frauenzimmer? Oder dir, Bauerntölpel?“
„Ja, Herr … ich meine, nein, Herr“, stammelte Mikael absichtlich unbeholfen. „Der Anblick dieses Wesens hat uns so überrascht … erschreckt … wir sind ganz verwirrt.“
Sebolt nickte. „Das ist verständlich. Also in welche Richtung ist sie verschwunden?“
Mikael deutete schnell dorthin.
„Geht es da nach Lübeck?“, fragte Sebolt einen Soldaten zu Fuß.
Der schaute ratlos nach dem Sonnenstand, der durch die dichten Zweige kaum auszumachen war, und zuckte die Schultern.
„Wieso fragt Ihr nach Lübeck, Herr?“, hakte Mikael bedächtig nach.
„Möglicherweise will dieses verdorbene Weib dorthin. Sie war in die Richtung unterwegs, bevor sie über die Mönche herfiel.“
„Dann wird sie es sich im Angesicht Eurer Überlegenheit wohl anders überlegt haben, Herr, denn Lübeck liegt in der anderen Richtung.“
Um die Züge Sebolts spielte ein selbstgefälliges Lächeln.
„So wird’s wohl sein, Bauerntölpel.“
Er gab den anderen Soldaten Zeichen in der von Mikael gewiesenen Richtung weiterzusuchen und setzte an ihnen zu folgen, hielt aber nach wenigen Schritten wieder inne und wandte sich Mikael erneut zu.
„Dein Aussehen passt auf die Beschreibung dieses Geächteten, Mikael dem Dänen.“
Langsam griff er zu dem Schwert an seinem Gürtel. Mikael sank auf ein Knie und rang flehend die Hände. Innerlich kochte sein Zorn über diese demütige Haltung fast über, in die ihn dieses merkwürdige Weib getrieben hatte.
„Nein, Herr, ich bin bestimmt nicht der Däne. Ich habe nur das Pech der Beschreibung sehr ähnlich zu sehen.“
Er deutete um sich.
„Seht, Herr, ich habe keine Waffe, nur mein Weib und eine Decke.“
Sebolt lächelte herablassend.
„Habt wohl eure jämmerliche Hütte schon so voller Bälger, dass ihr es nur noch im Wald ungestört treiben könnt, was?“
Sebolt maß Sofie mit neu erwachtem Interesse. Vor allem ihre prallen Brüste, die von dem geflickten Surkot und noch nicht wieder verschnürten Untergewand mehr schlecht als recht bedeckt wurden. Es bedurfte nicht viel Fantasie, um zu wissen, was angesichts dieser Pracht in einem Mann wie Sebolt vorging. Der trieb sein Pferd näher an Sofie heran. Mikael konnte ihre Angst fast körperlich spüren, als sie den Blick senkte und versuchte, mit der Decke in ihren verkrampften Händen ihren Busen etwas besser zu bedecken. Sebolt zog einen Fuß aus dem Steigbügel und drückte mit der Schuhspitze ihre Hände samt Decke wieder hinunter. Aus seiner erhöhten Position musste sich ihm nun ein Anblick bieten, der ihn hoffentlich nicht den Grund seines Hierseins vergessen ließ.
In Mikael spannte sich jeder Muskel an. Er war bereit Sebolt umgehend aus dem Sattel zu reißen und niederzustrecken, sollte der nicht unverzüglich seiner Wege ziehen.
Sebolt beugte sich vor, umfasste Sofies Kinn und hob es leicht an.
„Nun, dralles Prachtstück, ist dieser Kerl dort der Däne, was meinst du?“
Zaghaft stieß sie aus: „Nein, Herr, sicher nicht, Herr. Es ist mein Mann, der Vater unserer acht Kinder. Der Däne soll doch von unglaublich großer Statur sein. Seht ihn euch an, Herr, mein Mann hat einen breiten Buckel, ist aber recht klein.“
Flüchtig schweifte Sebolts Blick über Mikael. Abgelenkt von Sofies prallen Brüsten schenkte er seiner gebeugten Gestalt jedoch nur wenig Beachtung.
„Da magst du recht haben, Weib. Der Däne soll auch mutig sein wie ein Stier. Das trifft auf diesen schlotternden Haufen Elend dort bestimmt nicht zu“, erwiderte Sebolt in so geringschätzigem Ton, dass Mikael ihn schon allein dafür hätte verprügeln mögen.
„Man möchte nicht meinen, dass er acht Bälger zustande gebracht hat.“ Ohne seine Augen von Sofies Brüsten zu lösen, sagte er über die Schulter: „Wäre ich nicht auf der Jagd nach dieser vermaledeiten Hure, würde ich deinem Weib eben zeigen, was ein richtiger Kerl ist, Bauerntölpel.“
Am Ende seiner Beherrschung angelangt, wollte er sich auf Sebolt stürzen, da wendete dieser sein Pferd von Sofie ab und schnalzte bedauernd mit der Zunge.
„Wirklich zu schade, dass ich so in Eile bin.“ Sprach’s und gab seinem Pferd die Sporen.
Fluchend sprang Mikael auf die Füße und schaute Sebolt nach, bis dieser im Dickicht verschwunden war. Sofie trat an seine Seite und fuhr mit den Händen unter seine Cotte. Sinnlich
strich sie über seine Muskeln, die das weite Gewand gut verbarg.
„Klein mit breitem Buckel also?“
Er konnte seine Gereiztheit noch nicht wieder bezähmen.
„Was hätte ich denn sonst sagen sollen, mein wilder Stier?“,
gurrte Sofie.
Sanft, aber bestimmt stieß er ihre Hände von sich.
„Hör auf. Mir ist der Appetit gründlich vergangen.“
Schmollend trat sie einen Schritt zurück.
„Wir hatten doch gerade erst angefangen. Wieso hast du die Soldaten überhaupt in die falsche Richtung geschickt?“
Er stützte sie am Ellbogen und begann sie zielsicher durch den Wald zu führen.
„Dieser Satansbraten hat mein Schwert und mein Pferd gestohlen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, noch eine Horde Soldaten über uns stolpern lassen. Wenn jemand ein Recht darauf hat, sie zu greifen, dann ich.“
„Aber wenn sie nun eine Braut des Teufels ist, Mikael? Du hast es doch gesehen. Dein Schwert ist in ihre Hand geflogen. Geflogen! Und sie hat dich einfach umgestoßen. Dich, den besten Kämpfer von allen.“
Das hatte ihn mehr schockiert, als er zugeben mochte. Aber wäre er nicht so abgelenkt gewesen, wäre ihr das nie gelungen. Ein abfälliges Schnauben, das seiner unpassenden männlichen Regung galt, entschlüpfte ihm.
„Sie hat mich überrascht, das war alles. Ich denke, sie ist ebenso wenig eine Braut des Teufels, wie du oder ich.“
„Wo willst du sie überhaupt suchen, Mikael? Sie hat dein Pferd und wird längst über alle Berge sein.“
„Sie fragte mich, ob ich sie nach Lübeck bringe und die Soldaten meinten auch, dass sie dorthin wollte. Ich bin sicher, früher oder später wird sie dort auftauchen.“
Dieser Wald war Ellen absolut fremd. Ziellos irrte sie umher. Sich in einem Wald zu verlaufen beunruhigte sie nicht sonderlich, schließlich stieß man früher oder später immer auf Zeichen von Zivilisation, wie asphaltierte Straßen und Häuser, aber es nervte sie einfach, nicht direkt zur Stadt zurückzukommen. Nach den erschreckenden Ereignissen stand ihr heute nicht mehr der Sinn nach einem ausgedehnten Ausritt.
„Wer hätte gedacht, dass eine simple Sightseeingtour durch Lübeck zum reinsten Abenteuerurlaub wird, Pferd.“
Irgendwann hatte sie es aufgegeben die Richtung zu bestimmen und einfach dem Pferd die Führung überlassen. Tiere hatten einen guten Orientierungssinn, es würde sie früher oder später zu seinem Stall tragen. Hoffte sie zumindest. Bisher sah es eher danach aus, als brächte es sie noch tiefer in den Wald hinein. Aber vielleicht lag sein Stall am entferntesten Ende des Waldes. Sollte ihr auch egal sein. Hauptsache, sie traf dort auf normale Menschen, die sie um Hilfe bitten konnte.
Der Duft nach gebratenem Fleisch stieg ihr in die Nase. Irgendjemand grillte in der Nähe. Endlich würde sie diesen abenteuerlichen Tag abschließen können und bald in ihrem Hotelbett herzhaft über die kuriosen Gestalten lachen, die ihr heute über den Weg gelaufen waren. Vor allem über den nackten blonden Kerl, die anderen waren weniger erheiternd gewesen.
Sie musste unwillkürlich lächeln. Der war doch mal was fürs Auge gewesen und die Situation im Nachhinein urkomisch. Noch immer rief es einen wohligen Schauer hervor, wenn sie an seine Erscheinung dachte. Es tat ihr leid, ihn so grob getreten zu haben. Für gewöhnlich löste sie Konflikte nicht wie ein niveauloser Straßenlümmel. Sie konnte ihr Handeln nur mit überreizten Nerven erklären.
Das Pferd trottete mit ihr auf eine Waldlichtung und blieb zufrieden schnaubend stehen. Eine Zufriedenheit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Je mehr ihre Augen erfassten, umso dünner fühlte sie sich lächeln. Als sie alles angesehen hatte, war ihr nur noch danach vor Frust laut zu schreien. Aber das hier musste ja nicht auch so negativ verlaufen wie ihre bisherigen Begegnungen. Schließlich würden doch wohl nicht alle Mittelalterfreaks oder Schauspieler bekifft sein. Vielleicht ein bisschen sauer, weil sie in ihr Bühnenbild gestolpert war. Damit ließ sich aber leben. Jedenfalls hatten sie sich auch hier alle Mühe gegeben, das Mittelalter lebensecht nachzustellen. So lebensecht, dass Ellen mehr von einer Kulisse für Filmaufnahmen, als von einem einfachen Fest ausging. Touristen waren jedenfalls nicht zu sehen. Nur jede Menge in altertümliche Lumpen gekleidete Statisten zwischen nicht weniger zerlumpt wirkenden Zelten und Unterständen.
Jedes Detail entsprach dem dargestellten Zeitalter. Hölzerne Eimer, Bottiche, Baumstämme als Sitzgelegenheit um ein offenes Feuer, auf dem ein totes Tier braun gebrannt brutzelte, alles, was man glaubte, dass es sich in einem solchen notdürftigen Lager befunden haben mochte.
Langsam trieb sie das Pferd in die Mitte. Die Statisten starrten sie ebenso verwundert an, wie Ellen sie. Bewegung kam erst in die Leute, als ein kleiner Bengel rief: „Das ist Mikaels Pferd!“
Sechs verwegen aussehende Männer bildeten einen Kreis um sie herum. Mächtig beunruhigt schaute sie sich einen nach dem anderen an. Keiner wirkte sonderlich freundlich. Nahmen denn alle Schauspieler ihre Rollen so bitterernst? Sie hätte sich gern aus diesem ungemütlichen Kreis entfernt, aber der Rückweg war versperrt, wollte sie nicht Frauen und Kinder über den Haufen reiten, die auch näher gerückt waren, sie angafften und mit aufgerissenen Mündern auf ihren Rücken deuteten.
Sie taten gerade so, als hätten sie noch nie ein Sporttop gesehen. Ein babygesichtiger Mann in fadenscheiniger Mönchskutte trat zögernd auf sie zu, blieb aber einige Schritte entfernt stehen. Sie rümpfte die Nase. Selbst sein Geruch war den hiesigen Umständen angepasst und erreichte sie noch auf diese Entfernung.
„Wer seid Ihr?“ Seine Augen glitten über ihren tiefen Ausschnitt, dann hörte sie ihn nach Luft schnappen, als ihr Pferd herumtänzelte und ihm ihren Rücken präsentierte, wo die Träger ihres Tops sich zwischen den Schulterblättern zu einem vereinten.
Energisch wendete sie das Pferd wieder dem Möchtegernpfaffen zu. Neben ihm baute sich ein großer, ebenso kräftiger Kerl wie der Blondling aus dem Wald auf. Sein graues Hemd war wohl extra zwei Nummern zu klein gewählt, damit seine Muskeln mehr zur Geltung kamen. Selbst mit der angriffslustigen Miene hatte er ein sehr attraktives Gesicht, aus dem sie braune Augen fixierten, die das Herz einer Frau im Sturm erobern konnten. Von einem Knoten auf dem Kopf fiel sein langes dunkles Haar lose auf seine Schultern. Er sah so verführerisch tollkühn aus, wie man es sich bei einem Filmhelden wünschte, doch ihr war nicht in Erinnerung, ihn schon einmal in einem Streifen gesehen zu haben. Eine Neuentdeckung, wie der Blondling womöglich auch? Beide hatten das Aussehen für kommende Superstars.
„Ein Hoch auf eure Maskenbildner, Leute. Welchem Jahr soll diese Kulisse denn entsprechen? Ich bin nicht so versiert in Geschichte.“
Der Pfaffe und der hübsche Muskelprotz sahen sich verständnislos an, dann verengten sich ihre Augen noch misstrauischer, falls das überhaupt möglich war. Was hatte sie nun wieder Falsches gesagt?
„Bist du einfältig, Weib?“, fragte der Pfaffe bedächtig. „Wir schreiben zwölfhundertfünfunddreißig im Jahre des Herrn.“
„Einfältig? Nicht jeder hat eine Historikerader und erkennt an Kleidern und anderem Zeug das präzise Jahr.“
Sie merkte, dass ihre kaum beruhigten Nerven erneut zu vibrieren begannen. Wollten die hier etwa auch krampfhaft an ihren Rollen festhalten? Die beiden Männer tauschten wieder Blicke. Sie fühlte sich immer unbehaglicher und rang sich alle Höflichkeit ab, zu der sie sich heute noch in der Lage fühlte.
„Falls ich hier in Filmaufnahmen oder eine wissenschaftliche Rekonstruktion vom Leben in der Vergangenheit geplatzt bin, tut es mir leid. Ruft doch bitte jemanden, der hier was zu sagen hat und mich vielleicht nach Lübeck, zu meinem Hotel, fahren kann. Habe ein wenig die Orientierung verloren und es sähe auch verdammt albern aus, wenn ich auf einem Pferd dort ankäme.“
Der Mönch trat einen winzigen Schritt näher.
„Du sprichst eigenartige Worte. Und du bist ebenso eigenartig gekleidet. Woher kommst du?“
„Aus Lübeck, sagte ich doch gerade.“
Was zur Hölle musste sie tun, um mal weiterzukommen? Mitspielen? Das konnte doch nicht deren Ernst sein?
Der große Dunkelhaarige schob den Mönch ruppig zur Seite und rief mit kaum verhohlener Missbilligung: „Mich würde viel mehr interessieren, wie sie zu Mikaels Pferd und Schwert kommt. Wo ist Mikael, Weib?“
„Ist das so ein blonder großer Kerl mit strahlend blauen Augen? Im Adamskostüm?“
Er stutzte kurz. Sie konnte die Rädchen in seinem wohl etwas trägen Hirn geradezu arbeiten sehen, dann nickte er bestätigend.
„Der macht im Wald Pause mit seiner Herzallerliebsten, falls du verstehst, was ich meine, und war so freundlich, mir die Sachen zu borgen.“
Mit einem schnellen Satz war er bei ihr, griff in die Zügel des Pferdes und umklammerte mit der anderen schmerzhaft ihr Handgelenk.
„Mikael würde niemals das Schwert seines Vaters verborgen. Hast du dich als neue Hure für uns angedient und ihn dann auf dem Weg hierher getötet?“
„Geht’s noch, du Affe?“
Mit vor Schreck rasendem Herz schaute sie auf seine Hand.
„Lass mich los!“
Statt sie loszulassen, brüllte er: „Packt und fesselt das Weibsbild! Dann suchen wir Mikael. Und wehe dir, Weib, wenn du ihm etwas angetan hast.“
Bevor sie ihre Gedanken sortieren konnte, stürmten die anderen Männer von allen Seiten auf sie zu. Frauen und Kinder kreischten auf, ihr Pferd brach unter dem Ansturm in die Knie. Hände rissen sie von dem stürzenden Tier fort, bogen ihre Arme nach hinten und versuchten ihre Beine zu fassen. Adrenalin schoss ungebremst in all ihre Körperteile. Mit einem Trommelfeuer aus Tritten und Körperwindungen befreite sie sich aus ihrer Notlage. Zu ihrem Glück waren drei der Angreifer zwischen die strampelnden Beine und den um sich schlagenden Kopf des Pferdes geraten und setzten sich damit selbst außer Gefecht. Sie wünschte zwar niemandem von einem Pferd getreten zu werden, aber in diesem Fall war sie froh, sich der drei nicht auch noch erwehren zu müssen. Sie ergriff einen robusten Besen, den eine der Frauen fallen gelassen hatte, und drosch mit dem Stiel auf die vier Übrigen ein, bis keiner mehr auf den Beinen stand. Der Pfaffe hatte sich bei den Frauen und Kindern in Sicherheit gebracht. Entgeistert schnappte sein Mund auf und zu. Als die Männer sich nur noch schmerzgeplagt am Boden wälzten und kein Angriff mehr zu erwarten war, ließ sie den Besen fallen.
„Sieben auf einem Streich, wie das tapfere Schneiderlein. Na ja, mithilfe eines Pferdes, statt einer Fliegenklatsche. Hätte nie gedacht, dass mein Training sich mal in Ernstfällen bewähren muss.“
Um sie herum war es mucksmäuschenstill. Nicht mal eines der Kinder greinte. Sie wischte flüchtig Schmutz und Blut von ihrem aufgeschürften Ellenbogen und sah in die Runde. Alle starrten sie an, als stünde der Leibhaftige vor ihnen. Auch die Unglücksraben, die vom Pferd niedergestreckt wurden. Sie hielten sich die malträtierten Stellen, schienen aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Das erschrockene Tier hatte Schutz bei einigen Frauen am Waldrand gesucht. Ellen ging langsam darauf zu. Die Frauen waren wie erstarrt, ihre Augen so panisch weit aufgerissen, wie die des Pferdes. Sie nahm das Tier beim Zügel, sah die Frauen aus schmalen Augen an und machte dann einmal laut: „Buuh!“
Kreischend stoben sie davon. Normalerweise hätte Ellen darüber laut gelacht, sie hatte so eine Szene oft genug in Filmen witzig gefunden. Heute war ihr absolut nicht zum Lachen zumute. Sie schwang sich in den Sattel und wandte sich dem Pfaffen zu.
„Du, in welche Richtung liegt Lübeck?“
Zögernd deutete er auf den Wald hinter ihr.
„D… da … glaube ich.“
Grußlos machte sie sich in die Richtung auf und stieß dabei unzählige Verwünschungen gegen Schauspieler aus, bis ihr keine mehr einfielen.
Die Sonne neigte sich schon beängstigend dem Horizont entgegen. Es war doch einfach unfassbar, nein, geradezu beängstigend, dass sie bis jetzt noch nicht in die Zivilisation zurückgefunden hatte. Nicht mal auf einen simplen Weg war sie gestoßen. Sie trottete nur auf Wildwechseln daher oder wahllos zwischen den Bäumen durch.
Vor Erleichterung atmete sie auf, als es so aussah, als würde sie endlich den Waldrand erreichen. Tatsächlich taten sich wenige Schritte später vor ihr Wiesen und Felder auf. Merkwürdig kleine Felder. Und was waren das für altertümliche Hütten? Es konnte sich auch um Viehunterstände handeln, da war sie sich nicht sicher. Zunächst standen sie nur vereinzelt, Richtung Süden immer dichter beisammen. Dahinter deutete sich eine Stadt an, die aber weiß Gott nicht nach Lübeck aussah. Wo zur Hölle war sie aus dem Busch gekommen?
Das sah alles immer noch fürchterlich mittelalterlich aus. Wie eine riesige Kulisse ohne absehbares Ende. Auf ihren Ausflügen, einige Tage zuvor, hatte sie so etwas nicht gesehen. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, bei ihren Rundfahrten auf Schilder gestoßen zu sein, die ein Gebiet wegen Filmaufnahmen oder so etwas sperrten. Ein äußerst mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, aber ihr Verstand weigerte sich, den aufkeimenden Verdacht zu akzeptieren.
Sie ritt auf den am nächsten stehenden Holzverschlag zu, der sich beim Näherkommen tatsächlich als Wohnstatt entpuppte. Außer einem kleinen schwarz-rosa gefleckten Schwein und einigen Hühnern regte sich dort zunächst nichts. Dann hörte sie ein leises Babywimmern aus dem Innern der Hütte. Sie stieg vom Pferd und drückte vorsichtig eine Lederhaut vor dem Fenster zur Seite. Eine Frau beugte sich zu etwas hinunter und das Wimmern verstummte augenblicklich.
Was sollte sie tun? Die Frau ansprechen und um Hilfe bitten? Nach ihren letzten Begegnungen stand eher zu befürchten, dass diese Frau ebenso aus der Fassung geriet wie die anderen. Ihr Blick schweifte über den mickrigen Hof. Wo Frau und Kind waren, konnte auch ein dazugehöriger Mann nicht weit sein. Dabei fiel ihr eine fadenscheinige Decke an einer Wäscheleine auf. Ein kleines Messer, das in einem runden Brotlaib direkt vor ihrer Nase auf dem Fenstersims steckte, fand ebenfalls ihr Interesse. Die Frau war mit dem Baby beschäftigt, sonst war niemand zu sehen. Schnell brachte sie das Messer an sich, um damit die Schnur an einem primitiven Besen zu zerschneiden, der an der Hauswand lehnte. Das Reisig an dem unregelmäßigen, aber kräftigen Stiel fiel lose zur Seite. So ein Stock war immer nützlich. Sei es, um sich darauf abzustützen oder die nächsten Mittelalterfreaks auf Abstand zu halten. Das Messer stieß sie wieder in den Brotlaib und fasste die Decke ins Auge. Sie brauchte etwas, um ihre Kleidung fürs Erste ausreichend zu bedecken. Zumindest so lange, bis sie herausgefunden hatte, was sich hier abspielte.
Und was sollte sie mit dem Pferd machen? Möglicherweise erkannten noch mehr Leute das Tier und bezichtigten sie des Diebstahls. Sanft strich sie ihm über die Nase, dann band sie es an den maroden Pferch, aus dem das Schwein sie aufmerksam beobachtete. Den Schwertgurt hängte sie sich über die Schulter. Wenn ihre unlogischste Befürchtung zutraf, würde sie das Ding vielleicht noch brauchen. Wenn sich alles logisch klärte, konnte sie es einfach der Requisite übergeben. Sie zog die Decke von der Leine. Zu Tode erschreckt sah sie sich einem sie böse anfunkelnden Mann gegenüber.
„Was zum …?“, weiter kam er nicht. Der Besenstiel traf ihn hart an der Schläfe.
Es war rein im Reflex geschehen. Himmel, Ellen! Was ist nur los mit dir? Bekomm endlich wieder deine Nerven in den Griff, mahnte sie sich bestürzt. Sie legte zwei Finger an seine Halsschlagader. Zu ihrer Erleichterung schlug der Puls regelmäßig. Der Mann würde nur unter einer Beule und Kopfschmerzen leiden, wenn er wieder erwachte. Sie zog es vor, dann nicht mehr in der Nähe zu sein. Sie hängte sich die Decke über. Das Ding war groß genug, dass sie damit auch ihren Kopf einhüllen konnte. Dann nahm sie den Besenstiel wie einen Wanderstab und machte sich auf den Weg Richtung Stadt … Siedlung … oder was immer das sein sollte.
Seit zwei Tagen streifte Mikael nun schon durch Lübeck und suchte nach diesem merkwürdigen Weibsbild. Wäre es Sofie auf dem Rückweg zum Lager nicht doch noch gelungen seine Sinne übermäßig zu reizen, hätte er sie in seinem eigenen Lager erwischen können. Verdammt! Nein, nicht Sofie hatte seine Sinne erregt. Er hatte immer wieder diese grünäugige Frau vor sich gesehen. Sich nicht nur ständig ihres faszinierenden Aussehens erinnert, auch wie sie sich über die Lippen leckte, als sie seinen Körper betrachtet hatte. Da hatte Sofie leichtes Spiel gehabt, ihn von seinem Vorhaben abzulenken.
Ob dem Weibsbild wirklich ein Dämon innewohnte, wie Bruder Gerhardus schwor? Sie war tatsächlich flink für eine Frau mit seinem Schwert umgegangen und hatte ihn außergewöhnlich kräftig getreten. Auch, dass ihr Anblick seinen Verstand gelähmt hatte, konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.
Jetzt hatte er sie endlich entdeckt. Einem flüchtigen Betrachter mochte die gebeugte, in eine lumpige Decke gehüllte Gestalt wie einer der vielen Bettler erscheinen. Sie verschwand gerade in einer Seitengasse. Aber ihr Schuhwerk hatte sie verraten. Er würde diese fremd aussehenden Dinger bestimmt nie vergessen, nachdem er davon so hart getroffen wurde. Unauffällig folgte er ihr. Er war geübt darin, trotz seiner Statur, welche die anderer Männer oft um Haupteslänge überragte, in der Masse nicht aufzufallen. Er zog die Schultern hoch, ging gebeugt. Seine Kleidung war stets ärmlich. Sein auffälliges Haar versteckte er zudem unter einer Gugel. Und der Tragkorb mit Brennholz aus Astwerk auf seinem Rücken vervollständigte den Anschein eines armen Waldbauern.
Es dämmerte bereits. Die anständigen Bürger in diesem Teil der Stadt verschwanden immer rascher in die Sicherheit ihrer Behausungen. Bald würden sich die Straßen und Gassen mit zwielichtigem Gesindel füllen. Verbrecher und Huren, die Ausschau nach Beute jeglicher Art hielten und nicht davor zurückschreckten, über Leichen zu gehen. Selbst für ihn konnte es dann unangenehm werden. Vor allem ohne sein geliebtes Schwert. Aber genau das würde er sich nun zurückholen und das merkwürdige Weib zur Rechenschaft ziehen. Niemand bestahl ihn ungestraft.
Wollte sie zu den Schlafplätzen der Bettler, an der inneren Stadtmauer? Als sie nach rechts in eine weitere Gasse verschwand, bestätigte das seinen Verdacht. Er beschleunigte seine Schritte.
*
Glaubte dieser vermummte Kerl etwa, sie hätte nicht gemerkt, dass er ihr folgte? Verdammtes Gesindel. Diese Halsabschneider klebten schlimmer an ihr als ein Rudel Hunde, die eine Bratwurst witterten. Sie war sie so leid wie die gesamten primitiven Umstände um sich herum. Ständig war sie gezwungen sich ihrer Haut zu wehren, auf schmutzigem Boden zu schlafen und ihre Bedürfnisse hinter Holzstapeln zu erledigen. Das konnte doch unmöglich Realität sein. Was zur Hölle hatte der Sturz in die Trave mit ihr angerichtet? Bisher hatte sie immer noch gehofft, dass sie sich nur in einem abgesperrten Areal befand. Einem Filmset oder einem Ort, wo Mittelalterfreaks das damalige Leben realistisch nachlebten. Aber durften die dabei so verrohen? Ihre Mitmenschen mit Waffen und Vergewaltigung bedrohen? So ein riesiges mittelalterliches Areal in Deutschland wäre durch alle Medien bekannt geworden. Dass sie bisher noch keinen Ausgang zur Zivilisation gefunden hatte, sprach auch dagegen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Sie mochte den Gedanken, der sie immer wieder befiel, nicht weiter verfolgen. Weigerte sich strikt zu glauben, … schaudernd zog sie die Schultern hoch. Nein! Sie konnte sich unmöglich bei dem Sturz ins Wasser dermaßen verletzt haben, dass sie im Koma lag und ihr Hirn einen Albtraum durchlebte.
Ein Ruck an ihrer Decke riss sie rüde aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum. Den finsteren Kerl hinter sich hatte sie ganz vergessen. Der Schreck aktivierte ihre Reflexe. Sie ließ den Stock auf sein Handgelenk sausen, bevor sie überhaupt darüber nachdachte. Mit einem überraschten „Autsch“ ließ er die Decke fahren.
Im fahler werdenden Licht erkannte sie überrascht den hübschen Blondling aus dem Wald. Mochte die bizarre Mütze auch sein Haar verdecken und sein Körper unter schäbigem Sackleinen verborgen sein, diese Augen, dieses Gesicht konnte es kein zweites Mal geben.
„Sieh an, der Flitzer aus dem Wald.“
Finster schaute er sie an. Was hatte er denn geglaubt? Dass sie sich einfach so herumzergeln lassen würde?
„Was zum Teufel ist ein Flitzer, Waldfurie?“
Musste sie ihn wirklich daran erinnern?
„Ein splitternackter Kerl, der durch die Gegend rennt?“
Rote Flecken bildeten sich auf seinen Wangen.
„Nur, wenn man ihn bestiehlt, nichtsnutziges Weib und außerdem gerade um seinen Spaß gebracht hat.“
Gab es auch mal einen Satz, in dem sie nicht umgehend beleidigt wurde? Was war nur los, mit den Menschen in diesem Albtraum? Aber ihr schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Sie hatte ihm weder das eine noch das andere antun wollen. Obwohl sie für die Störung an sich nichts konnte. Dass sie Pferd und Schwert mitgenommen hatte, war aus dem Stress heraus geschehen und bis jetzt hatte sie noch immer das Gefühl, es wäre ein guter Entschluss gewesen, möglichst schnell von den Soldaten fortzukommen.
„Tut mir leid, wenn du wegen mir nicht zum Schuss gekommen bist, Blondi. Aber du warst zu nackt und auch nicht gewillt mir bei der Flucht zu helfen, also musste ich mich eben bedienen.“
Mehrstimmiges Gekicher der Bettler scholl von der dunklen Mauer herüber. Das Gesicht ihres Gegners lief noch roter an.
Eine krächzende Stimme fistelte fröhlich: „Pass auf, Mädel, das is der geächtete Däne.“
Eine andere Stimme schlug sich auf die Seite des Kerls.
„Lass die lieber ziehen, Däne, in der hübschen Hülle steckt ein böser Dämon.“
Nachdenklich schaute er zu den Bettlern, versuchte wohl einzuschätzen, ob sie ihr zu Hilfe eilen würden. Die Decke war ihr von den Schultern gerutscht und bauschte sich zu ihren Füßen. Er deutete auf ihre Schulter, wo seine Waffe hing.
„Gib mein Schwert zurück!“
Was für ein flegelhafter Ton.
„Und wenn nicht?“
„Leg nicht darauf an, dass ich es mir holen muss. Mich überrumpelst du nicht so leicht, wie meine Männer.“
In Erinnerung an den Haufen Rüpel stieß sie ein geringschätziges Schnauben aus.
„Mit Männern meinst du wohl diese Horde schwerfälliger Ochsen im Wald?“
Ein widerwilliges Schmunzeln huschte über sein Gesicht.
„Schwerfällige Ochsen? Eirik wäre sehr gekränkt, das zu hören. Er ist einer der besten Kämpfer dieser Gegend.“
„Und vermutlich auch Däne? Kein Wunder, dass ihr die Schlacht von Bornhöved verloren habt.“
Die flapsige Bemerkung tat ihr schon im selben Moment leid, aber das Kind war in den Brunnen gefallen. Worte waren eben wie abgeschossene Pfeile. Man konnte sie nicht zurücknehmen.
Noch grantiger als zuvor fuhr er sie an: „Schluss jetzt mit diesem Geplänkel, freches Weibsbild! Her mit meinem Schwert oder ich lege dich übers Knie!“
Ja, schon klar. Ein Anfall von eingebildeter männlicher Überlegenheit, wenn ein Befehlston nicht fruchtete. Dinosaurier!
„Sehr witzig, Blondi. Das Zauberwort ist nicht Gewalt, sondern Bitte.“
Sie warf ihm das Schwert samt Gehänge vor die Füße.
„Zufrieden?“
„Du hast ja tatsächlich ein gewisses Maß Verstand unter den Haaren.“
Oh, wie arrogant.
„Warum sollte ich das Ding behalten, wenn es mir sowieso zu schwer ist.“
In der Annahme, dass er jetzt Ruhe gab, drehte sie ihm den Rücken zu und bückte sich nach ihrer Decke.
„Ach … dummes Frauenzimmer“, krächzte es enttäuscht aus der Dunkelheit. „Wie kann man einem hinterhältigen Mörder und Strauchdieb auch noch ’ne Klinge für den eigenen Tod reichen? Jetzt schlitzt er dich doch auf wie ’nen Brotlaib.“
„Na und?“, warf ein anderer ein. „Dieser fiese Satansbraten hat’s nich anders verdient. Schon vergessen, wie sie uns zugesetzt hat, als wir sie nur ein bisschen schäkern wollten?“
Eine wilde Diskussion entbrannte in der Dunkelheit. Währenddessen trat der Blondling so dicht hinter sie, dass sie seine Wärme an ihrem Hintern durch die Kleidung spüren konnte. Sofort durchrieselte sie wieder dieses elektrisierende Prickeln. Sie versuchte es zu ignorieren, schließlich war sie mit Peter verheiratet und sollte einem anderen Mann gegenüber nicht so empfänglich sein. Außerdem … hatten sie ihn nicht gerade einen Mörder und Strauchdieb genannt? So verdorben war er ihr zwar nicht vorgekommen, aber sie hatte ihm schließlich nur kurz im Wald gegenübergestanden und nackt wirkte kaum einer gefährlich. Sie sah sich gezwungen, diesen hübschen Kerl genauso als Bedrohung wahrzunehmen, wie alle bisherigen Begegnungen.
„Glaubst du wirklich, Weibsbild, du kommst mit dem Diebstahl so simpel davon?“, fragte er auch schon rau.
Angespannt richtete sie sich ohne die Decke auf.
„Du hast dein Schwert doch wieder. Hätte ich das mit dem Mörder und Strauchdieb eher gewusst …“
„Hättest du mir das Schwert wohl in den Leib gestoßen, statt es mir vor die Füße zu werfen“, beendete er ihren Satz. „Aber keine Sorge, in deinem Fall werde ich mich damit begnügen, dir den Hintern zu versohlen. Dadurch sollte dir für einige Tage der Gedanke vergehen, dich auf ein fremdes Pferd zu setzen.“
Umgehend spürte sie seine Hand an ihrem rechten Arm. Ansatzlos rammte sie ihm den linken Ellenbogen in den Magen. Keuchend schnappte er nach Luft, da traf ihn ihr nächster Schlag so heftig am Kinn, dass sein Kiefer in den Angeln knirschte. Benommen taumelte er zurück.
„Nein, du Trottel, ich hätte es in den Fluss geworfen, damit du keinen Unsinn mehr damit anstellen kannst.“
Mit zum Reißen gespannten Nerven ließ sie den Stock in ihrer Hand wirbeln. Ihre momentanen Emotionen mit gereizt wie eine Viper zu umschreiben, wäre noch diplomatisch ausgedrückt.
„Du tötest und stiehlst also und wagst es mir Vorwürfe zu machen? Und in deiner Arroganz glaubst du auch noch, ich hätte Lust mich von dir dahergelaufenen Einfaltspinsel verprügeln zu lassen? Ich leide seit zwei Tagen unter dem schlimmsten Kulturschock meines Lebens, von den beschissenen Hygienemöglichkeiten will ich gar nicht erst anfangen! Ich habe Hunger und zwischen all dem Dreck und Ratten kaum ein Auge zugetan! Nein, das ist wirklich kein guter Zeitpunkt, um mir auf den Senkel zu gehen!“
Er wischte mit der Hand über seine aufgeplatzte Lippe, schaute einen Moment auf das Blut darauf und spuckte dann noch einiges aus.
„Ist Kulturschock eine Krankheit, unter der Dämonen leiden? Ich wollte annehmen, du wärst nur ein ausgesprochen freches Frauenzimmer. Aber bei der Kraft und Wendigkeit möchte ich Bruder Gerhardus fast glauben, dass dir gleich auch noch Reißzähne wachsen.“
Müsste sie sich noch wundern, dass er das Wort nicht kannte? Nach allem, was sie bisher erlebte … nein. Alle Leute hier schienen nur mit mittelalterlicher mehr oder weniger Bildung aufgewachsen zu sein.
„Nicht gerade schmeichelhaft, Dummkopf.“
„Ich bin weit davon entfernt, dir schmeicheln zu wollen. Gibst du dich als Dämon zu erkennen? Dein Haar weht schon wie Rabenschwingen im Wind und mit den giftig blitzenden grünen Augen gleichst du einer schwarzen Katze der Hölle.“
Dämon! Schwarze Katze der Hölle. Wieso wurden Kerle immer so ausfallend, wenn sie verloren?
„Hast du sonst noch Freundlichkeiten auf Lager? Nackt und sprachlos warst du mir lieber.“
„Wenn sich herausstellt, dass du trotz allem ein gewöhnliches Weib bist, können wir gern deiner Vorliebe frönen.“
„Ich bin nicht gewöhnlich. Du wirst dir dein Vergnügen woanders suchen müssen.“
„Also gibst du zu nicht menschlich zu sein.“ Mit dem Kinn deutete er auf ihren goldenen Drachen am Arm. „Wieso hungerst du? Oder bekommst du dafür nicht, was du benötigst? Was brauchen Höllenkatzen um sich zu nähren? Menschenblut?“
Wer so dummes Zeug von sich gab, hatte verdient auf die Schippe genommen zu werden.
„Klar. Und gleich direkt von der Quelle, schön warm und flüssig.“
Wie gebissen riss er sein Schwert aus der Scheide am Boden und entledigte sich rasch seines Tragekorbes. Sie sollte wohl besser nicht mehr gleich ausplappern, was sie dachte, wenn sie zusätzlichen Stress vermeiden wollte.
„Meines bekommst du bestimmt nicht, denn ich schicke dich jetzt woher du gekommen bist. In die Hölle.“
Da befand sie sich doch anscheinend schon. Schade, dass dieser hübsche Ausbund an Männlichkeit sich erschreckend abergläubisch zeigte und zudem ein Verbrecher war. Ein ziemlich Gefährlicher, wie es aussah. Womöglich war das hier eine riesige Anstalt für völlig durchgedrehte Gesetzesbrecher, die sich alle gegenseitig umbringen sollten, damit sie dem Staat nicht mehr auf der Tasche lagen. Aber nein, auch das wäre den Medien nicht verborgen geblieben.
Sie versuchte sein gutes Aussehen zu ignorieren und sich auf die Merkmale seines Körpers zu konzentrieren, die für einen Kampf entscheidend waren. Zum Glück hatte sie das Kämpfen mit und gegen scharfe Klingen unzählige Male geübt, wenn auch stets nur aus sportlichen Gründen. Aus Spaß an der Sache.
Er war größer als die meisten Männer, die ihr hier bisher begegneten. Sie selbst maß nur eins fünfundsechzig, trotzdem war sie mit vielen auf Augenhöhe. Dieser Mann war circa anderthalb Köpfe größer. Ein muskulöser Körper verbarg sich unter dem schlabberigen Kittel, das hatte sie im Wald gesehen. Sie schätzte, dass er gut durchtrainiert war. Nicht wie Peter, der seine Muskeln mit Krafttraining und Steroide auf unnatürliche Größe anwachsen ließ. Dieser hier war sicherlich durch Arbeit und Kampftraining gestählt, wie viele ihrer Trainingspartner in der Kampfsportschule.
Er hatte ein schönes, männlich markantes Gesicht, die Augen etwas Vertrauenerweckendes. Kaum zu glauben, dass er ein Mörder sein sollte, aber so mancher Psychopath verbarg sich hinter einer netten Fassade. Sie würde sich bemühen, sie nicht dauerhaft zu verunstalten. Sollten ihn andere für sein Tun zur Rechenschaft ziehen. Sie war nur als unfreiwilliger Zaungast hier und würde sich nicht in die hiesigen Angelegenheiten einmischen. Auch seine makellosen Zahnreihen, die eben bei seinem Grinsen kurz aufgeblitzt waren, wollte sie tunlichst verschonen.
Dieses Gesicht war es wert gemalt zu werden. Mal sehen, wenn sie wieder in ihrem gewohnten Bett erwachte, würde sie es vielleicht tun und einrahmen.
„Jetzt sag mir, was bist du wirklich?“
Seine Frage holte sie aus ihrer Betrachtung.
„Mensch oder Dämon? Überleg dir die Antwort gut, dein Schicksal hängt davon ab.“
Hm, okay?
„Der Albtraum jedes männliches Stolzes, Blondi.“
Er zeigte mit der Schwertspitze auf ihren Hals.
„Glaubst du nicht, dass du den Mund etwas zu voll nimmst, Rabenkatze?“
Langsam leckte sie ihren linken Daumen, streckte den Arm aus und peilte provokant erst senkrecht, dann waagerecht sein Gesicht damit an. „Nein.“
Ein wütendes Aufblitzen seiner Augen ging seinem Angriff voraus. Sie wich aus, schlug seinen Schwertarm mit dem Stock zur Seite und traf ihn gleich darauf damit hart in die Rippen. Er steckte den Schlag ohne mit der Wimper zu zucken weg, was ihre Vermutung über den Zustand seiner Muskeln bestätigte. Kaum davon berührt wirbelte er herum und attackierte sie in schneller Folge mit seinem Schwert. Wieder und wieder parierte sie, fing die Schläge mit ihrem Stock ab und lenkte sie ins Leere. Er kämpfte gut, aber gegen die Wendigkeit und Vielfalt asiatischer Kampftechniken war sein Stil zu schwerfällig. Bisher ließ sie ihn sich nur austoben, ohne selbst anzugreifen. Das gab ihr Gelegenheit ihn zu studieren. Trotz seiner kraftvollen Hiebe entging ihr nicht eine gewisse Zurückhaltung darin. Scheute er doch davor zurück eine Frau zu verletzen? Tötete er für gewöhnlich nur Männer? Oder hatte er ein Faible für ungewöhnliche Katzen? Bald merkte sie, dass Schlaf- und Essensmangel ihren Tribut forderten und sie zu schnell ermüdete.
Bevor ihm das einen Vorteil verschaffte und das verdammte Schwert vielleicht doch noch ein paar ihrer Glieder abtrennte, musste sie den Kampf beenden. In einem geeigneten Moment gab sie die Passivität auf und tickte ihm zweimal sanft mit der Ferse gegen die Stirn. Es war als Warnung gedacht. Verblüfft flog sein Blick zu ihren Füßen, die längst wieder beide am Boden standen.
„Geh jetzt besser, Blondi. Dieser Kampf ist keinem von Nutzen.“
„Warum sollte ich, Weib? Glaubst du, ich zöge sofort den Schwanz ein, nur weil du mich gerade etwas überrascht hast? Meine Rechnung mit dir ist noch nicht beglichen.“
„Ich wollte nie Streit mit dir. Also nimm deinen Stolz samt deinem Schwanz und geh, bevor beides hier im Dreck liegt.“
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Du hättest einen großen Bogen um mein Eigentum und Lübeck machen sollen, Satansbraten, jetzt wirst du die Folgen deiner Dummheit zu spüren bekommen.“
„Wie kleinlich. Na dann beklag dich anschließend nicht über Kopfschmerzen.“
Um dem Ganzen ein schnelles Ende zu bereiten, traktierte sie ihn mit einer schnellen Folge gezielter harter Stockschläge und hielt ihn in der Position des Verteidigers gefangen, bis es ihm gelang, ihren Stock mit einem wuchtigen Hieb seines Schwertes entzweizuschlagen. Selbstgefällig grinste er sie an. Sie zögerte nicht lange. Den rechten Stock zog sie ihm über den Scheitel, der linke krachte unter sein Kinn. Dann sprang sie aus dem Stand hoch und legte all ihre Kraft in den Tritt gegen seine Brust. Sein Körper flog drei Schritte nach hinten und fiel gegen die Mauer. Sie ging zu ihm und beugte sich über seinen erschlafften Körper. Es bedurfte nur weniger Augenblicke, um sich davon zu überzeugen, dass er zwar bewusstlos war, ihm sonst aber nichts fehlte. Schnell sammelte sie ihre Decke auf.
„Sorgt für ihn“, befahl sie den verstummten Bettlern über die Schulter. „Höre ich, dass er unter eurer Obhut stirbt oder auch nur beraubt wird, werde ich Lübeck mit euren Eingeweiden pflastern. Gevatter Tod hat noch keine Verwendung für ihn, aber euch räumt er jederzeit einen Platz ein.“
Wenn sie sowieso schon für eine Höllenkatze oder einen Dämon gehalten wurde, konnte sie Angst und Aberglauben auch für einen guten Zweck nutzen. Diese Strauchdiebe würden sonst nicht zögern dem Kerl den Hals durchzuschneiden und ihn auszuplündern. Ihn so einem Tod zu überlassen, war nicht besser, als ihm selbst den Schädel einzuschlagen.
Mikael erwachte mit einem fürchterlichen Brummschädel.
„Bei Thors Eiern.“
Zischend sog er die Luft durch die Zähne, als seine Finger eine dicke Beule an seinem Kopf fanden. Dieses Weib schien wirklich über so unnatürliche Kräfte zu verfügen, wie Bruder Gerhardus erzählte. Sie musste der Hölle selbst entstiegen sein. Sie hatte es auch nicht bestritten. Dennoch hatte er sich von ihrer zarten schönen Erscheinung blenden lassen. Hatte auf seinen Instinkt vertraut, der ihn für gewöhnlich vor der Gefährlichkeit seiner Gegner warnte und ihn diesmal schmählich im Stich ließ. Da ihr Antlitz sich nicht in eine Dämonenfratze verwandelte, hatte er zu lange gezögert, ihr den Kopf von den Schultern zu trennen. Seine Schmerzen waren nun der Tribut dieses Zögerns.