Kemal Atatürk - Bernd Rill - E-Book

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Bernd Rill

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Beschreibung

Mustafa Kemal (1881–1938), der 1934 den Beinamen «Atatürk» (Vater der Türken) erhielt, war der Gründer des modernen türkischen Staates. Er zwang den Sultan zur Abdankung und vollzog als erster Präsident der von ihm ausgerufenen Republik die Trennung von Kirche und Staat. Sein Erbe prägt das Leben der Türkei noch heute, bis zum umstrittenen Präsidenten Recep Erdogan, der manche von Atatürks umfassenden Reformen wieder rückgängig machte. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Bernd Rill

Kemal Atatürk

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Über dieses Buch

Mustafa Kemal (1881–1938), der 1934 den Beinamen «Atatürk» (Vater der Türken) erhielt, war der Gründer des modernen türkischen Staates. Er zwang den Sultan zur Abdankung und vollzog als erster Präsident der von ihm ausgerufenen Republik die Trennung von Kirche und Staat. Sein Erbe prägt das Leben der Türkei noch heute, bis zum umstrittenen Präsidenten Recep Erdogan, der manche von Atatürks umfassenden Reformen wieder rückgängig machte.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Bernd Rill

Bernd Rill, Jahrgang 1948, Jurist und Historiker, hat viele Buchveröffentlichungen vorgelegt, darunter: «Deutsche und Polen, die schwierige Nachbarschaft», «Die Inquisition und ihre Ketzer», beide im Idea-Verlag, Puchheim; «Tilly – Feldherr für Kaiser und Reich», Universitas-Verlag, München, «Chomeini und die Islamische Republik Iran», Köster-Verlag, Berlin; «Geschichte des Osmanischen Reiches» (zusammen mit Ferenc Majoros), Pustet-Verlag, Regensburg; Biographien der Kaiser Friedrich III. (von Habsburg), Matthias, Karl VI., alle Styria-Verlag, Wien; «Böhmen und Mähren – Geschichte im Herzen Europas», «Der Bodensee – Geschichte einer trinationalen Region», beide im Casimir-Katz-Verlag, Gernsbach; «Von Vergil bis Berlusconi – 15 ausgewählte Kapitel zur Geschichte und Kultur Italiens», Verlag Ars Una, München; zuletzt «Was Luther angerichtet hat – Die Reformation und ihre Folgen», Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer. Zwei Bände mit Aphorismen: «Neues aus der Tonne des Diogenes», Idea-Verlag, Puchheim, und «Aktuelles aus der Tonne des Diogenes», Forum-Verlag Dr. Wolfgang Otto, Regensburg. Zahlreiche Artikel in der Zeitschrift «G – Geschichte» (ehemals «G – Geschichte mit Pfiff»), Bayard Media GmbH & Co. KG, Augsburg. Umfangreiche Herausgeberschaft von Sammelbänden mit rechtspolitischer, aktuell außenpolitischer und historisch grundierter Thematik für die Hanns-Seidel-Stiftung, München. Er ist der Autor vieler Kurzgeschichten.

Vorwort

Nicht nur in den Amtsstuben und im Mittelpunkt öffentlicher Plätze, in so ziemlich allen Werkstätten, Läden, Wirtshäusern und auch in sehr vielen guten Stuben der Türkei ist Kemal Atatürk auch heute noch anwesend, mehr als eine Generation nach seinem Tode: in Bildern, auf Wandteppichen, wie sie die Türken besonders lieben, gar noch auf allerlei Nippsachen. Es ist, als ob er noch lebte. In der Tat lebt er weiter in der Innen- und Außenpolitik seines Landes, ja, eine fundierte Aussage über türkische Politik ist ohne Kenntnis von Werk und Vermächtnis dieses Vaters der Türken, wie er sich selbst nannte, nicht möglich. Kein Staatsmann aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ist so gleichbleibend aktuell geblieben wie Mustafa Kemal Atatürk.

Damit geht er uns Europäer unmittelbar an, denn die Türkei ist schon immer das Verbindungsland zwischen Europa und Asien gewesen, sowohl geistig als auch politisch. Atatürk hat die entschiedene Hinwendung seines Landes zum Westen dauerhaft begründet, und dies setzt sich fort in der türkischen NATO-Mitgliedschaft seit 1955. Wenn die westlichen Politiker mit Türken sprechen, dann haben sie es mit Beamten, Diplomaten, Militärs und Wirtschaftsführern zu tun, die durch die Schule des «Kemalismus» gegangen sind und den Lehren Atatürks nach wie vor grundsätzlich anhängen. Kein Staatsmann außerhalb der europäisch-nordamerikanischen und kommunistischen Welt hat im 20. Jahrhundert sein Land bis heute so geprägt wie Atatürk. Die Leistungen eines Nkrumah, Sukarno, Nehru reichen an den festen Bau nicht heran, den Atatürk in seiner türkischen Republik hinterlassen hat, höchstens Mao Tse-tung könnte als gleichrangig erwähnt werden.

Die zeitgeschichtliche Aktualität verweist bereits auf den Rang Atatürks in historischen Dimensionen: Nur einige frühere Sultane, die harte Krieger und weitblickende Organisatoren waren, haben für die Türken ebenso viel getan wie er. Denn während sie das Reich der Osmanen zur Weltmacht zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean machten, hat Atatürk das Erbe ihrer unfähigen Nachfolger umgeformt zu einem modernen Staat, der eine ungebrochene Vitalität zeigt.

Deshalb kann seine Bedeutung nur vor dem Hintergrund einer kurzen Skizze der osmanischen Entwicklung deutlich werden, des Aufstiegs und Niedergangs eines kriegerischen islamischen Staates zwischen Europa und Asien.

Mustafa Kemals Jugend

Im Laufe des 13. Jahrhunderts waren Turk-Stämme vom Osten her in Kleinasien eingewandert und hatten zusammen mit anderen Turk-Stämmen dieser Halbinsel, die dort schon seit Ende des 11. Jahrhunderts eingedrungen waren, das Volk der nachmaligen «Türken» zu bilden begonnen. Rund um das Marmara-Meer konsolidierte sich ab etwa 1300 der Herrschaftsbereich der «Osmanen», so benannt nach ihrer herrschenden Dynastie, dem Haus Osman. Ihrer kriegerischen Tüchtigkeit gelang, was Arabern, Awaren, Slawen, Persern, Warägern, Normannen und Kreuzfahrern vor ihnen nicht gelungen war: Sie beerbten das byzantinische Reich, und das auf Dauer. 1453 eroberte ihr Sultan Mehmed II. Konstantinopel und pflanzte den Halbmond des Islam auf die Kirche der «Heiligen Weisheit», dieses Wunderwerk byzantinischer Baukunst.

Die Feinde, die den Machtverfall des osmanischen Reiches einleiteten, kamen nicht aus der islamischen Welt, sondern von außen: nach dem zweiten Zurückweichen vor Wien (1683) Österreicher und Venezianer, bald darauf auch das zaristische Russland. Kaufleute der wichtigsten christlichen Staaten fanden die Möglichkeit, sich im Reich einzunisten, sich Handelsprivilegien zuerkennen zu lassen und mit ihrer billigeren und von Zollschranken kaum behinderten Produktion das einheimische Gewerbe schwer zu schädigen. Das Steueraufkommen des Reiches sank, die Armee wurde von den Europäern fast regelmäßig geschlagen.

Die Lenker des Osmanischen Reiches und vor allem die meist degenerierten Sultane standen der Entwicklung hilflos gegenüber. Süleyman der Prächtige (1520–66), die Türken nannten ihn den «Gesetzgeber», hatte den Verfall eingeleitet, als er seinem Großwesir alle Regierungsaufgaben übertragen hatte, um selber die Freuden eines luxuriösen Sultanslebens unbefangener genießen zu können. Damit verloren die Untertanen die gewisse heilige Ehrfurcht vor ihrer Regierungsspitze, denn nicht mehr der Herr aller Gläubigen, der «Schatten Allahs auf Erden» selbst trat ihnen entgegen, sondern irgendein Beamter. Die Günstlingsherrschaft begann in Abwesenheit eines starken Herrschers dementsprechend zu wuchern, mit allen Konsequenzen für Korruption und nachlässige Führung der Verwaltungsgeschäfte. Der ganze riesige Staat von der marokkanischen Grenze bis zum Persischen Golf, vom Nil bis zum Kaukasus wurde zum Selbstbedienungsladen für eine habgierige Oberschicht und die Palastkamarilla. Die bekam sogar die Auswahl der Sultane – Kalifen aus dem Hause Osman – in die Hand: Sie wurden nicht nach Fähigkeit, sondern nach ihrer Willfährigkeit auf den Thron gesetzt und dementsprechend nicht in der Verwaltungspraxis und auf dem Schlachtfeld erprobt und erzogen, sondern im Dämmer des Serails möglichst unwissend gehalten. Das Reich hatte keinen Kopf mehr, und die Glieder taten, was sie wollten.

Manchmal griffen die Sultane durch und versuchten sich mit Hinrichtungen und Machtworten die alte Geltung zurückzuholen, oder noch besser und der Gemeinheit entsprechend, die in der Serail-Atmosphäre so gut gedieh, sie spielten die einzelnen Machtträger, Provinzgouverneure und Armeekommandanten gegeneinander aus. Denn auch die Armee, allen voran das Elitekorps der Janitscharen, war auf den persönlichen Vorteil bei der Vergabe der Pfründen des Reiches mehr aus als auf kriegerische Tüchtigkeit, Organisation, Nachschub und Bewaffnung verkamen, die Elitetruppe entwickelte sich zum militärischen Krebsübel.

Schon im 18. Jahrhundert erwogen die europäischen Kabinette die Möglichkeit, den Körper des riesigen Reiches unter sich aufzuteilen. Nur die gegenseitige Eifersucht, zum Beispiel zwischen Österreich und Russland, verhinderte einen Zusammenbruch der Osmanenherrschaft, der schon damals möglich gewesen wäre. Man lernte in Istanbul – dies der türkische Name des alten Konstantinopel –, die Europäer gegeneinander auszuspielen, um die eigene Haut zu retten: Eigentlich war das eine Regierungsmaxime, die Schwäche verriet, sofern man nämlich keine andere Maxime hatte, um das Reich zusammenzuhalten.

Erst zögernd entwickelte sich ein Gesandtschaftswesen; von vielen wichtigen Entwicklungen Europas in Technologie und Militär hatte der Sultanshof schlicht keine Ahnung. Das war die verderbliche Folge der Verachtung der Christenheit durch die islamischen Staatsmänner, des hartnäckigen Glaubens an die moralische und soziale Überlegenheit der islamischen öffentlichen Ordnung.

Doch diese exponierte Lage Europa gegenüber bot auch die Möglichkeiten der Rettung: Übernahme europäischer Technologie, militärischen Wissens und administrativer Effizienz. Wir müssen ergänzen: auch den Anschluss an die europäische geistige Entwicklung, sofern sie die politische Ideologie betraf. Es lag in der Natur der Dinge, dass man zunächst glaubte, man könne die Technologie Europas kopieren, und das würde genügen, das Reich zu retten. Auf den Import der Ideen der Demokratie, des Nationalismus und Liberalismus glaubten die Sultane verzichten zu können, denn diese Ideen wären ja auch Sprengsätze gewesen gegen die absolute Machtvollkommenheit des Sultan-Kalifen und gegen den Zusammenhalt des Reiches, das aus osmanischer Verwaltungspraxis ebenso wie aus der übernationalen Idee des Kalifats heraus seine einzelnen Nationen unter einem Dach zusammenband. Doch diese Sprengsätze zündeten erst um die Wende zum 20. Jahrhundert, und man konnte den Reformern, die im Reich auftraten, allen voran dem Sultan Selim III. (1789–1807), einen derartigen schon geschichtsdenkerisch zu nennenden Weitblick noch nicht zumuten.

Zuerst sollte, ganz handfest, die Armee und ihr Personal auf westlichen Standard gebracht werden. Militärschulen wurden gegründet, europäische Instruktoren ins Land geholt, deren bekanntester der junge Helmuth von Moltke war – während etwas früher ein junger korsischer Leutnant namens Napoleone Buonaparte in noch unbefriedigter Abenteuerlust darauf gebrannt hatte, die osmanische Artillerie zu reorganisieren. Selbstverständlich argwöhnten die Janitscharen im Heraufkommen eines westlich ausgebildeten Offizierskorps eine Konkurrenz für ihre privilegierte Stellung; Sultan Mahmud II. (1808–39) befreite sich auf brutalste Art von diesen egoistischen Prätorianern, indem er sie zu Zehntausenden in Istanbul abschlachten ließ.

Verwaltungsvorschriften für die Staatsbeamten sorgten nicht immer nur auf dem Papier dafür, dass in die Organisation des Reiches ein kräftiger Hauch abendländischen Rationalismus und europäischer Effizienz hineinwehte. Zusammenzufassen sind all diese Modernisierungsmaßnahmen unter dem Schlagwort «Tanzimat-i-hayriyye», einem arabischen Plural-Ausdruck, zu Deutsch: «wohlwollende Anordnungen», wohlgemerkt: von oben, nicht von Selbständigkeitsbestrebungen der Untertanen ausgehend. In Frankreich leitete der Dritte Stand des unterprivilegierten Bürgertums die Revolution von 1789 ein; die Sultane-Kalifen bevorzugten die «Revolution von oben».

Es ließ sich allerdings nach einigen Jahrzehnten dieser Anpassungspolitik an den Westen nicht vermeiden, dass die neu herangezogene intellektuelle Elite auch ihrerseits nach politischen Rechten strebte. Wie vielfältig zu beobachten, muss es ein Autokrat regelmäßig bereuen, wenn er unter seinen Untertanen das Denken fördert: Eines Tages fragen sie ihn nach der Legitimation für seine Herrschaft. Das Parlament, das 1876 erstmalig in Istanbul zusammentrat, hatte zwar infolge der zähen Obstruktionstaktik des tyrannisch veranlagten Sultans Abdul Hamid II. kaum Machtvollkommenheiten und war sowieso nur als Konzession an die Europäer gedacht gewesen, und außerdem löste es der Sultan 1877 wieder auf. Doch der demokratische Gedanke der Volksvertretung hatte endgültig in der osmanischen Innenpolitik Fuß gefasst. Das Volk des Reiches sollte der Souverän sein, nicht der Sultan-Kalif.

Kurz: Im gängigen europäischen Geschichtsbild siecht der «kranke Mann am Bosporus» während des ganzen 19. Jahrhunderts unausgesetzt dahin, bietet er den undifferenzierten Anblick orientalischer Willkür und Ineffizienz, das alles mit anachronistischem Anspruch auf Weltgeltung aus dem Islam heraus. Und in der Tat verlor das Reich auf dem Balkan eine Provinz nach der andern und drohte, der Macht Russlands zu erliegen, wenn nicht England, Österreich und Frankreich ihre schützende Hand darüber gehalten hätten. Bei ihrer nach wie vor respektgebietenden militärischen Tüchtigkeit (man verfolge einmal den Verlauf des russischen Balkanfeldzugs 1877/78!), die die Osmanen von ca. 1880 als die Nachfolger der überwältigenden Eroberer von vier Jahrhunderten früher auswies, taten sie sich doch schwer, den Standard moderner europäischer Staatlichkeit zu erreichen. Japan, am anderen Ende Asiens gelegen, trat in jener Zeit weitaus energischer ins Industriezeitalter ein, als die Osmanen insgesamt sich dazu fähig zeigten.

Der junge Moltke bemerkte in seinen «Briefen aus der Türkei» bereits 1835/36, dass die Reformen Mahmuds II. denen Peters des Großen in Russland zu vergleichen seien. Nur wiesen die äußeren Bedingungen einen sehr wesentlichen Unterschied auf: Peter der Große hatte keinen europäischen Einfluss zurückzudrängen, während dem Sultan-Kalifen beständig England, Frankreich, Österreich und Russland über die Schulter schauten. Insgesamt zeigte das Reformwerk des «Tanzimat-i-hayriyye» jedoch, dass im Körper dieses Reiches noch Leben pulste und dass es nur fehlte an einem fest zupackenden Willen zur tieferen Umgestaltung, als sie schon erreicht war.

Im Jahre 1881 stand in Europa nur noch ein schmaler Streifen von griechisch und slawisch besiedeltem Territorium unter direkter osmanischer Herrschaft: Albanien, Epirus, ferner das heutige griechische und jugoslawische Mazedonien, welches zusammen mit der Region des Rhodope-Gebirges und Thrazien bis vor die Tore Istanbuls «Rumelien» genannt wurde. Größter Ort und wichtigster Hafen dieser Region war Saloniki (türkisch: Selanik), mit einem starken türkischen Bevölkerungsanteil.

Bewusst wird hier zum ersten Mal die Benennung «türkisch» anstatt «osmanisch» verwendet, um die Völkermischung in Saloniki zu beschreiben. Die Türken siedelten im Laufe der Eroberung auch an der unteren Donau, in Mazedonien und entlang der nördlichen Küste der Ägäis.

Sie waren niemals Staatsvolk des Reiches in dem Sinne gewesen, wie es der moderne europäische Nationalismus betrachten würde: dass sie, unter sich durch gemeinsame Sprache und kulturelle Erbschaft verbunden, die herrschende Schicht des Reiches stellten. Der Staat in seiner riesigen Ausdehnung hätte nicht lange existiert, ja hätte wohl kaum begründet werden können, wenn die Dynastie Osman nicht ein System entwickelt hätte, einerseits Vertreter aller Nationalitäten unterschiedslos zum Staatsdienst heranzuziehen, andererseits den einzelnen unterworfenen Völkern so viel an Autonomie zu belassen, als sich mit der Aufrechterhaltung der osmanischen Oberherrschaft überhaupt vereinbaren ließ. Ein Beispiel ist das oben angeführte, im 19. Jahrhundert allmählich beseitigte «millet»-System.

Die Folge war, dass im Laufe der Jahrhunderte die Sultane das Volk ihrer Herkunft als eines unter vielen betrachteten und keinerlei Anstrengungen machten, die Türken im Verhältnis zu Armeniern, Kurden, Griechen, Juden, Arabern usw. besonders zu fördern. «Türke» war in vornehmer Gesellschaft sogar ein etwas despektierlicher Ausdruck. Man assoziierte dabei das stammverwandte halbbarbarische Volk der «Turkmenen» (das heute an der sowjetisch-iranischen Grenze eine eigene Sowjetrepublik hat und früher räuberische Banden auf das iranische Hochland und nach Kleinasien schickte) oder meinte mit «Türke» synonym «ungehobelter Bauer aus dem inneren Anatolien». Dagegen war es unbedenklich, «Türkisch» zu sprechen. Es war also jenseits des Bosporus ähnlich wie auf dem Balkan: Die Völker, deren Existenz uns heute selbstverständlich ist, fanden im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erst allmählich zu ihrem genauer definierten Selbstbewusstsein. Die Supranationalität des Osmanischen Reiches erdrückte gewissermaßen die türkische Nationalität.

Es half dem regierenden Sultan Abdul Hamid II. (1876–1909) nicht viel, dass er gegen die nationalistischen Quertreibereien, die damals begannen, den Bestand seines Reiches zu bedrohen, den «Osmanismus» propagierte, also das Bewusstsein, erst in zweiter Linie von einer spezifischen Nationalität zu sein, in erster aber dem Gesamtverband des Reiches anzugehören. Dem Osmanischen Reich sollte der moderne Nationalismus dennoch ebenso zum Verderben gereichen wie dem anderen großen supranationalen Kaiserstaat der damaligen Zeit, der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.

In diese Zusammenhänge wurde der Gründer des modernen türkischen Staates hineingeboren, 1881 (das genaue Geburtsdatum steht nicht fest) in Saloniki als Sohn zweier Türken, des Zollbeamten Ali Riza Efendi und der Bauerntochter Zubeyde Hanim. Der Knabe wurde Mustafa genannt. Seine Kindheit war in keiner Weise glänzend, dazu waren seine Eltern zu arm. Vater Ali hatte den Staatsdienst quittiert, weil der Sultan seine Beamten nur sehr mäßig besoldete, und gedacht, im Holzhandel besser verdienen zu können. Aber er scheiterte darin. Damit war auch sein Plan zunichte, Mustafa zum Kaufmann auszubilden. Jedenfalls zeigte er Initiative und war der modernen, nicht islamischen Zeit gegenüber aufgeschlossener als die Mutter, die ihren Sohn für den geistlichen Stand bestimmte.

Während sie den kleinen Mustafa in die Koranschule schicken wollte, die von einem Geistlichen geleitet wurde und wo das Hauptfach im Auswendiglernen der Suren des Koran bestand, setzte der Vater den Besuch der weltlichen Schule des Schemsi Efendi durch. Mein Vater regelte diese Frage auf sehr geschickte Weise. Zuerst trat ich mit den üblichen Feierlichkeiten in die Schule des Viertels ein. Dadurch wurde meine Mutter freundlich gestimmt. Nach einigen Tagen verließ ich diese Schule wieder und wurde in der des Schemsi Efendi eingeschrieben.[1]

Der Schulbesuch musste abgebrochen werden, da der Vater bald darauf starb (1890) und die Mutter, die nun allein für Mustafas Erziehung zuständig war, in ihrer Mittellosigkeit aufs Land zog, zu ihrem Bruder nach Lazasan, in der Nähe von Saloniki. Dort bestand Mustafas Aufgabe nun darin, als Hüterjunge die Krähen zu verscheuchen und das Vieh zu hüten. Das tat seiner Gesundheit gut, half aber nicht, sein Temperament geselliger und weniger jähzornig zu machen. Seine intellektuelle Entwicklung wurde dabei auch nicht gefördert, und so bat Zubeyde nach zwei Jahren des Landlebens ihre Schwester, ihm den Weiterbesuch der Schule des Schemsi Efendi zu ermöglichen. Dort hielt er es wie auf dem Feld: Er begann eine herzhafte Rauferei im Klassenzimmer, aus der ihn der Arabisch-Lehrer herauszog und in Angriff und Gegenwehr blutig prügelte. Schäumend vor Wut rannte Mustafa in einem Stück nach Lazasan hinaus, und mit dem Schulbesuch bei Schemsi Efendi war es aus.

Das ist noch nicht die Mär vom Schulversager, dem hässlichen Entlein, das sich nachher im Lichte der Geschichte zum schönen Schwan mausert, denn der Geist Mustafas war zu dieser Zeit noch gar nicht geweckt, erst mal versteckt hinter einem fast schon monströsen Eigenwillen. Der gab Mustafa auch den nächsten Schritt ein, eine richtige Intrige, mit der er seine fromme Mutter ausspielte und mit traumwandlerischer Sicherheit auf seinen Lebensberuf zusteuerte, den des Soldaten: Bei unserem Nachbarn wohnte ein Major namens Kadri Bey. Sein Sohn Ahmet Bey besuchte die Militärschule und trug die Schuluniform. Sooft ich ihn sah, sehnte ich mich danach, auch solche Kleider anzuziehen. Dann sah ich auf der Straße Offiziere, und es wurde mir klar, daß ich die Militärschule besuchen müsse, um den Weg einzuschlagen, der mich zu diesem Rang führen würde. Damals kam meine Mutter nach Saloniki. Ich sagte ihr, daß ich in die Militärschule eintreten wolle. Meine Mutter jedoch hielt nichts vom Soldatenleben und verbot mir streng, Soldat zu werden. Ich verheimlichte ihr den Termin der Aufnahmeprüfung und ging von mir aus zur Prüfung in die Militärschule. Auf diese Art wurde die Mutter vor vollendete Tatsachen gestellt.[2]

Er hatte fast wie sein Vater gehandelt, als er ihn aus der Koranschule genommen hatte. Die Mutter hatte übrigens ihre guten Gründe, warum sie Mustafa nicht zum Militär lassen wollte: denn wenn das Leben auch in allen Armeen der Welt hart und grausam sein kann, so ist das doch in der osmanischen Armee der Jahrhundertwende in besonders berüchtigtem Ausmaße der Fall gewesen. Die Rekruten wurden wie Vieh behandelt, Unterkünfte, Besoldung, Materialorganisation, Bewaffnung und medizinische Versorgung spotteten oft jeder Beschreibung. Die Modernisierung der Ausbildung, Kriegsschulen und Generalstabsakademien war zwar im Laufe der «Tanzimat»-Politik eingeführt worden, doch musste sie im Alltag unter der Hypothek eines lethargischen und organisationsunwilligen Schlendrians leiden.

Es scheint, dass Mustafa in seinem cholerischen Temperament gerade eine eiserne militärische Disziplin brauchte, um im Leben nicht aus dem Tritt zu kommen, und dass der Beruf eines Offiziers, den er ansteuerte, zur Entfaltung seiner herrischen und willensstarken Persönlichkeit die beste Möglichkeit bot. Auch um die positiven Seiten zu entfalten, die in seinem Charakter angelegt waren: Führungsqualität, Blick für das Wesentliche, die Fähigkeit, Verantwortung zu fühlen und sie dann auch zu übernehmen.

1893 also begann er ganz unten, mit dem Eintritt in die Militärschule Saloniki. Wie beim kleinen Bonaparte war sein Hauptinteresse zunächst die Mathematik. Sein Lehrer hieß ebenfalls Mustafa – die unterscheidenden Familiennamen einzuführen blieb ja erst dem Mustafa als Sieger der türkischen Revolution vorbehalten. Daher musste ein Beiname her, der notfalls auch poetisch übersteigert sein durfte: Der Schüler wurde vom Lehrer, der dessen das unmittelbare militärische Fach überschreitende Begabung erkannte, zusätzlich «Kemal» genannt, das ist arabisch und heißt: Vollendung. 1895 hatte Mustafa Kemal die Militärschule von Saloniki abgeschlossen und wurde daraufhin in die sogenannte «Höhere Militärschule» eingeschrieben, die sich in Monastir befand (heute: Bitola), der Hauptstadt der osmanischen Provinz West-Mazedonien. Dieses Provinznest mit damals 20000 Einwohnern, verschlafen-pittoresk, konnte allein durch seine malerischen Reize einem jungen Offiziersschüler mit martialischen Neigungen nichts bieten, außer dass er 1899 auch diese Station als Sprosse auf der Leiter der militärischen Hierarchie absolvierte. Weiterhin erweckte die Mathematik sein Hauptinteresse, während er sich zwar einerseits mit Literatur beschäftigt haben soll, was dem Standard einer höheren Militärschule nicht entsprechen würde, andererseits aber große Nachlässigkeit im Erlernen der damaligen Weltsprache Französisch zeigte. Die offiziöse Biographie (diejenige von Anm. 1) vermerkt zur Ehrenrettung, dass Mustafa Kemal «bei seinem ersten Heimaturlaub einen Weg suchte, wie er sein Französisch verbessern könnte. Er besuchte zwei bis drei Monate lang heimlich die französische Klosterschule in Saloniki und vervollkommnete dadurch sein Französisch.» Nächste Station ab 1899: Infanterieklasse der Kriegsschule in Istanbul.

In der ersten Klasse gab ich mich nur meinen Jugendidealen hin. Ich vernachlässigte meine Aufgaben. Ich hatte keine Ahnung, wie das Jahr verging.[3] So heißt es in seinen Lebenserinnerungen. Man kann es auch weniger schonend beschreiben: Da er in der Weltstadt Istanbul genügend Geld besaß (über seinen Sold hinaus schickte ihm die Mutter regelmäßig etwas zu), robust und sinnlich veranlagt war, begann er, dem Raki zu frönen, dem türkischen Anisschnaps mit bis zu 50 Prozent Alkohol, was eines seiner hauptsächlichen Laster bleiben sollte (und ihn 1938 auch etliche Jahre zu früh ins Grab brachte). Auch trieb er sich mit allerlei Gesindel herum und verschmähte die käufliche Liebe nicht.

Man würde ihm indessen zu nahetreten, wenn man daraus schließen wollte, er hätte wie so mancher andere Militär in Friedenszeiten mit seiner Freiheit eben nichts anzufangen gewusst. Er war wohl eher überwältigt von dem Trubel der Metropole, die darüber hinaus, dass sie das Zentrum eines bedeutenden Reiches war, als die größte Stadt des östlichen Mittelmeeres, durch ihre Lage nach allen vier Himmelsrichtungen hin offen, eine ganze Welt in sich als Brennpunkt vereinigte.

Es ist anzunehmen, dass schon zu jener Zeit in Mustafa Kemal das Interesse an Politik und Geschichte erwacht war und dass er trotz seines bewegten Lebenswandels nicht unempfänglich war für die Traditionen, die sich rund um Goldenes Horn und Galata-Brücke ein Stelldichein gaben. Wenn er später als Chef der türkischen Revolution den Regierungssitz in das karge Angora verlegte, fern auf der anatolischen Hochfläche, dann muss jedoch dabei ein Widerwillen gegen das prächtige, prunkende Istanbul im Spiel gewesen sein, der auf seine Jugenderinnerungen zurückzuführen ist, vielleicht ein Widerwillen, der über den des türkischen Nationalisten gegen den kosmopolitischen Charakter der alten Hauptstadt hinausgeht und auch Wurzeln im Persönlich-Psychologischen hat. Es ist wohl nicht unähnlich der Abneigung des jungen Adolf Hitler gegen das kosmopolitische Wien, nur hat diese Parallele auch ihre Grenzen: Mustafa Kemal scheiterte nicht in Istanbul, während Hitler in Wien auf keinen grünen Zweig kam. Daher hat die Reaktion des Ersteren auf das Sündenbabel Istanbul einen nüchterneren, politisch-sachlicheren Charakter und ist nicht genötigt, persönliche üble Erfahrungen und politische Ressentiments in eins zu setzen, wie es Hitler mit seinen Wiener Jahren tat.

Im Jahre 1902 hatte Mustafa Kemal die Infanterieklasse der Kriegsschule absolviert und seine intellektuellen Fähigkeiten dabei hinreichend erkennen lassen. Ein schwieriger Charakter, den man am liebsten in Ruhe ließ, war er immer noch. «Sehr pflichteifrig, aber es ist unmöglich, mit ihm engere Beziehungen aufzunehmen», schrieb ihm der Schuldirektor ins Abgangszeugnis.

Seine Vorgesetzten hielten ihn einer höheren Ausbildung für würdig und ließen ihn die Generalstabsakademie beziehen, ebenfalls in Istanbul. Dort bekam er zum ersten Mal die Politik seiner Zeit am eigenen Leibe zu spüren, nachdem ihm schon seit seinem Aufenthalt in Monastir laufend hatte auffallen müssen, dass etwas faul war in dem Staate, zu dessen Bewahrung er gerade ausgebildet wurde. Denn bereits in Monastir war er in ersten Kontakt gekommen mit den Gruppen und Grüppchen von unzufriedenen Offizieren, die darum rangen, das zum Ausdruck zu bringen, was die politisch Bewussten unter den Türken seit einigen Jahrzehnten bewegte: Die «Tanzimat»-Politik seit Mahmud II. hatte mit der Modernisierung der Strukturen des Reiches begonnen und dabei zur Zentralisierung der politischen Macht in den Händen des Sultans geführt. Das war zwar erforderlich, aber der Schicht von einheimischen Intellektuellen nicht mehr zumutbar.

Mit der Thronbesteigung Abdul Hamids II. und der Auflösung des Parlaments, die von einem erdrückenden Polizeiregime gefolgt wurde, begann die Unzufriedenheit dieser Intellektuellen sich unterirdisch allmählich zur revolutionären Leidenschaft zu steigern.

Nun, am Ende des 19. Jahrhunderts, brach die Problematik auf, die sich der Reformwillen der Sultane seit Selim III