Kerben im Holz - Irmintraud Schönfelder - E-Book

Kerben im Holz E-Book

Irmintraud Schönfelder

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Beschreibung

… Alles war knapp. Wenn wir ein Brot kauften, machte meine Mutter mit dem Messer Kerben in die Kruste genau für dreißig Schnitten. Da fiel die einzelne Schnitte schon recht dünn aus. An meinem neunten Geburtstag schenkte mir Bäcker Friedrich ein ganzes Brot nur für mich allein ohne Marken!!! Es war himmlisch.

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KERBEN IM HOLZ

Irmintraud Schönfelder

Kerben im Holz

Erinnerungen an meine Kindheitin der Vorkriegs- und Kriegszeitund meine Jugendin der DDR und BRD

Karin Fischer Verlag

Wir glauben,Erfahrungen zu machen,aber die Erfahrungenmachen uns.

Für meine drei Schätze

Teil I

Frühe KindheitFriedenszeit1935–1940

Start ins Leben

Früher nannte man nicht den genauen voraussichtlichen Geburtstermin einfach so, sondern fragte höflich: »Wann ist das freudige Ereignis zu erwarten?«

Mein Start ins Leben war – wie mir erzählt wurde – weniger »freudig«, dafür ziemlich problematisch und auch kostspielig. Ich hatte von Geburt an Magenpförtnerkrampf, dafür, beziehungsweise dagegen, gab es damals kein Medikament. Meine Großmutter nahm das bedauernde Kopfschütteln und Schulterzucken der Ärzte nicht hin. Sie selbst hatte zehn Kinder geboren und beobachtete mich genau. Allen Unkenrufen zum Trotz sagte sie: » … die hat so blanke blaue Augen und bewegt sich so stark, da steckt viel Lebenswille drin!«

Resolut, wie sie war, wurden von ihr zwei Leute engagiert: unsere Waschfrau und eine junge kräftige Schulabgängerin, Grete. Mit vereinten Kräften, zusammen mit meiner Großmutter (und meiner Mutter?), trugen sie mich Tag und Nacht durch die Wohnung, und zwar »hochkant«, damit das Erbrechen schwieriger wäre, und flößten mir teelöffelchenweise erst Tee und später Muttermilch von einer Amme ein.

Diese Zitterpartie dauerte etwa zwei Monate, dann beruhigte sich mein Magenpförtner und ich holte alles, was mir an Nahrung entgangen war, nach. Mit einem Jahr war ich dann gesund und altersgemäß proportioniert – meiner Großmutter, die mich nie aufgegeben hatte, sei auf immer Dank!

Die Waschfrau kam nun wieder nur zu Waschtagen ins Haus, aber Große Grete, die unterdessen fünfzehn Jahre alt war, blieb bei uns. Große Grete war Glück und Anker in allen Lebenslagen für mich. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie noch so jung an Jahren war und einem schwierigen Milieu entstammte – aber darüber berichte ich später noch ausführlicher.

Grete strahlte Lebensfreude aus, sie liebte mich »ohne Wenn und Aber«. Sie war mein Lebensmittelpunkt. Wenn es so etwas gibt wie die Vermittlung von Urvertrauen – und daran glaube ich –, geschah es durch sie. Bei allen für mich schwierigen Ereignissen bestand für mich die Lösung in dem Satz: » … dann gehe ich eben zu meiner Dete.«

Und Grete hatte es wirklich »psychologisch« drauf. Hier ein Beispiel: Wenn ich mich beim Toben gestoßen hatte, und ich tobte gern und heftig, musste ich bei Grete die Hand ausstrecken und bekam auf den Handrücken ein kleines Stück Schokolade aus ihrem persönlichen Bestand gelegt. Nun galt: » … wenn die Stelle, wo du dich gestoßen hast, nicht mehr wehtut, kannst du die Schokolade essen.« Das führte zu erstaunlich schnellen Wunderheilungen.

Natürlich wird man fragen, wieso eigentlich Grete – da gab es doch die richtige Mutter … Meine Mutter hatte es nicht gerade einfach im Leben; als junge Frau bekam sie Lungentuberkulose und verbrachte längere Zeit in Sanatorien.

Die Ehe meiner Eltern blieb zehn Jahre kinderlos; erst mit siebenunddreißig Jahren bekamen sie ihr erstes Kind, meine Schwester Rosemarie, und mit vierzig Jahren mich. Siebenunddreißig Jahre waren damals ein stattliches Alter, um das erste Kind zu bekommen. So war die Freude bei der Geburt meiner Schwester riesengroß.

Als ich zur Welt kam, hatten alle auf einen Jungen gehofft, der unseren Namen an zukünftige Generationen weitergeben würde. Unser Stammbaum begann nachweislich 1711. Bei meiner Geburt saß die Enttäuschung in meiner Mutter also tief: statt eines Stammhalters, der den Namen vererben würde, ein krankes Mädchen!

So ging der Stress für sie noch einmal los, bis endlich, eineinhalb Jahre später, mein Bruder Hubert-Volker das Licht der Welt erblickte. Nun war das Glück vollkommen.

Das Glück dauerte zwei Jahre oder, wenn man genauer hinsieht, eigentlich nur eineinhalb Jahre, dann wurde es brüchig. Meine Schwester war ein typischer Frühentwickler, mit fünf Jahren konnte sie unsere Zeitung, den »Zörbiger Bote«, lesen, kleine Musikstücke spielen, Gedichte aufsagen und hübsche Bildchen malen. Sie tat das mit Leichtigkeit und auch gern vor Publikum. Daher beschloss man, sie schon mit Fünf einzuschulen. Und nun begann das Elend. Da wir abseits vom Ort, sozusagen am Ortsrand ziemlich exponiert wohnten – Schloss Zörbig war unser Zuhause –, hatten wir bis zu der Einschulung meiner Schwester eigentlich nur mit unseren zahlreichen Cousins und Cousinen gespielt und keine Kontakte zu anderen Kindern gehabt. So hatten wir auch die üblichen Kinderkrankheiten nicht bekommen. Das holten wir nun alles nach. Wir bekamen in rascher Folge Keuchhusten, Scharlach, heftige Mandelentzündungen, Windpocken und Masern. Wir: das bedeutete meine Schwester, ich, mein kleiner Bruder und oft auch noch mein Vater.

Bübchen, mein kleiner Bruder, war erst eineinhalb Jahre alt, als die Krankheitsserie begann. Bei ihm dauerten die Krankheiten immer länger und schließlich starb er an Herzversagen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Meine Erinnerung beginnt mit dem Bild, dass meine Mutter ganz in Schwarz an Bübchens Grab sitzt und leise wimmernd weint.

Wahrscheinlich fand das immer und immer wieder statt, sodass es sich in meiner Erinnerung festgehakt hat. Ich weiß nicht, wie lange sie jeden Tag dort saß, ich war dann ganz mir selbst überlassen. Meine Schwester war in der Schule. Wahrscheinlich hatte meine Mutter ab und zu überhaupt vergessen, dass sie mich mitgenommen hatte.

Kein Wunder, dass Große Grete mein Lebensmittelpunkt wurde. Auf die Frage: »Bist du nicht Amtsrichters Kleine vom Schloss?«, antwortete ich stets: »Ich bin Gretes Kind.«

Natürlich führte das zu allgemeinem Schmunzeln – Grete war inzwischen fast achtzehn Jahre alt und ein hübsches Mädchen. Irgendwer fühlte sich dann bemüßigt, es meiner Mutter zu erzählen. Die war wenig begeistert und betrachtete mich mit noch mehr Abstand. Ich muss zugeben, ich war tatsächlich ein bisschen aus der Art geschlagen. Ich war nämlich ein »Spätentwickler hoch drei«, hatte zwar ordentliche Körperkräfte, aber sprach wenig – neben dieser Schwester brauchte ich das auch nicht. Auf Fragen war – nach dem Statement meiner Schwester – meine Antwort nur: »Utte auch.«

Als ich klein war, nannten mich alle Uttchen. Dazu hielt meine Mutter mich für auffallend ungeschickt. Sollte ich ein Glas aus dem Keller holen – ein einfacher Auftrag – und rief jemand: »Lass es aber ja nicht fallen!«, rutschte es mir bestimmt im nächsten Augenblick aus den Händen. So bekam ich sehr oft: » … aber nicht du, es geht sonst schief« zu hören, was mein Selbstvertrauen nicht gerade stärkte.

Das änderte sich mit dem Erscheinen von Onkel Werner.

Onkel Werner

Onkel Werner wurde der Verlobte von meiner Tante Maria, der jüngsten Schwester meiner Mutter, und kam so neu in die Familie. Er erkannte meine Schwierigkeiten und spielte mit mir ein ganz besonderes Spiel. Am Schlossturm gab es eine Außentreppe, die etwa in Geschosshöhe einen Absatz hatte. Wenn ich mich dort an den Rand stellte, war mein Onkel, der am Boden geblieben war, ein deutliches Stück unter mir. Nun rief er: »Trau dich!«, und ich sprang in seine Arme. Er lobte meinen Mut – und wir vergrößerten nach und nach meinen Abstand zur vorderen Kante. So bekam ich Platz für einen Anlauf und mein Sprung verlief in einem immer größeren Bogen. Es war ein herrliches Gefühl! Ich wusste ganz sicher, er fängt mich auf.

Er meinte: »Du hast so viel Mut – ich nenne dich Traudi, weil du dich so viel traust.«

Ich war ungeheuer stolz, und als wir den Sprung meiner Schwester zeigten, sagte sie: »Nie springe ich dort runter!« Da war ich mit der Welt zufrieden.

Mein kompletter, etwas langatmiger Vorname lautet Erika-Irmintraud. Erika nach meiner Patentante und Irmintraud nach einer Vorfahrin. So fanden alle die Benennung aus der letzten Silbe, also Traudi, in Ordnung. Mit der Zeit bürgerte sich nun dieser Name für mich ein. Nur Onkel Werner und ich kannten die wirkliche Bedeutung der Namensgebung. Später arbeiteten wir weiter an dem Sprung, bis ich schließlich mit etwa sieben Jahren direkt mit dem Rücken an der Mauer des Schlossturms stand und so meinen Onkel unten nicht mehr sehen konnte. Er rief: »Jetzt!«, und ich rannte nach vorn und sprang ohne zu zögern im Rennen mit vollem Schwung los – und er hat mich immer sicher aufgefangen.

Leider ist dieser für mich so bedeutsame Mann, nachdem meine Tante bei einem Bombenabwurf im Krieg verschüttet wurde und ums Leben kam, bei einem Einsatz in der Sahara verschollen.

Aber nun zurück in die Vorkriegszeit zu meinen Großeltern.

Meine Großeltern

Meine Großeltern waren unterschiedlich – unterschiedlicher kann man gar nicht sein! Da fange ich natürlich mit den Großeltern Kaltwasser an, da sie mir die liebsten waren. Der Vater meiner Mutter, mein Rudirallala-Opa, war früher, als er noch im Berufsleben stand, Lokomotivbauer. Er war mittelgroß und sportlich durchtrainiert bis ins hohe Alter. Seine Haare waren dunkelblond, leicht gelockt. Er trug einen Schnurrbart, den er beim Sprechen oft nachdenklich zwirbelte, besonders wenn er Erlebnisse vom Ersten Weltkrieg erzählte. Er war Zeit seines Lebens ein überzeugter Anhänger der Turnvater-Jahn-Bewegung: »frisch, fromm, fröhlich, frei.« Er entsprach diesem Spruch vollkommen, er war wirklich frisch, sehr fromm, fröhlich und frei!

An seinem achtzigsten Geburtstag machte er an der Teppichstange, die so hoch hing, dass man hinaufspringen musste, einen Felg-Aufschwung erster Klasse. Er war sehr, sehr katholisch, ging jeden Tag in der Frühe in die Kirche zur Morgenmesse, selbst wenn er krank war. Er grämte sich sehr, dass wir, meine Schwester und ich, evangelisch getauft waren und dass meine Mutter, wie es damals von der katholischen Kirche praktiziert wurde, dementsprechend exkommuniziert wurde. Immer wenn wir nach einem Besuch wieder abreisten, legte er die Hand auf unseren Kopf und sagte: »Leni, denk doch an die armen Heidenkinder.«

Ich hatte kein Problem, an die armen Heidenkinder zu denken, weil es in der Kirche – und wir gingen oft zusammen mit dem Opa in die Kirche – eine Figur von einem schwarzen Jungen gab, an der stand: »Für die Heidenkinder.« Immer wenn man einen Groschen – ein Groschen war damals noch eine Menge Geld für uns Kinder – in einen Schlitz am Bauch der Figur steckte, wackelte der kleine Junge mit dem Kopf. Natürlich fütterten wir die Figur begeistert mit Groschen. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich verstand, dass mein Opa uns, meine Schwester und mich, mit den armen Heidenkindern meinte.

Dieser Opa hatte viele Fähigkeiten, die mich begeisterten. Er schlug die Beine übereinander und ich durfte auf dem oberen freien Bein stehen. Er wippte mit dem Bein auf und ab und sang dabei »Rudirudirallala« aus Leibeskräften. Er sang mit uns auf dem Weg, wenn wir zu seinem Schrebergarten gingen, aus Vorfreude. Übrigens sang er auch noch mit einundneunzig Jahren lauthals: »Morgenrot, Morgenrot leuchtest mir zum frühen Tod, dann wird die Trompete blasen, dann muss ich mein Leben lassen als ein tapferer Soldat …« Er war klug, und er hat bis zu diesem Alter sicherlich seinen Spaß an dem Text gehabt.

Zum Schrebergarten war es ein ordentliches Stück Weg, aber wir konnten es kaum erwarten hinzukommen. Eigentlich gab es immer irgendetwas zum Naschen, besonders natürlich in der Erdbeerzeit. Opas Gartennachbar war der »Opa Sorgenfrei«. Er hieß wirklich so. Die beiden älteren Männer hatten meist viel zu besprechen, sie verglichen zum Beispiel die Erbsen- und Bohnenernte mit der des Vorjahres; jedes geerntete Spankörbchen voll wurde an der Gartenlaube mit Kreide notiert. Sie machten auch immer einen gemeinsamen Rundgang durch die Schrebergartenanlage. Das war dann unser Startsignal. Den Draht zum Garten von Opa Sorgenfrei konnte man an einer Stelle bequem hochbiegen.

So konnten wir auch auf dem Nachbargrundstück reichlich Erdbeeren stiebitzen. Wenn die beiden zurückkamen, unterhielten sie sich meist lautstark, sodass genug Zeit blieb, um unter dem Zaun zurückzukriechen und den Draht wieder zurechtzubiegen. Erst Jahre später beim Tod Opa Sorgenfreis, als ich zum ersten Mal offiziell auf der Nachbarparzelle stand, sah ich, dass die beiden das alles für uns Kinder extra so arrangiert hatten. Schade, dass es für ein Dankeschön zu spät war …

Auch der Rückweg vom Schrebergarten war für uns nie langweilig. An der großen Railstraße gab es eine Eisdiele mit Eissorten, wie es sie bei uns im kleinen Zörbig nicht gab: Aprikose, Maracuja, Vanille-Krokant … da schmeckte schon der Name verlockend. Opa kaufte geduldig für jeden Enkel nach seinen Wünschen eine Portion. Die gab es in einem runden Becher aus gewachstem Papier. Auf dem Rückweg kamen wir durch ein edles Villenviertel mit ausladenden Gärten, die meist von schmiedeeisernen Zäunen begrenzt wurden. Opa beschleunigte dann seinen Schritt, und wir nutzten den Abstand und spießten unsere leeren Eisbecher auf einen der edlen Zäune und kümmerten uns nicht darum, wenn uns hinterhergewettert wurde.

Dieser Opa hatte noch eine besondere Fähigkeit, die nur an Feiertagen oder wenn wir krank waren zum Einsatz kam. Er konnte wundervoll schnitzen. So entstanden vor unseren Augen aus hellem weichen Lindenholz je nach Wunsch Bauernhof- oder Zootiere.

Der Zoo spielte bei unseren Besuchen bei diesen Großeltern eine wichtige Rolle. Das war kein Wunder. Das Haus der Großeltern lag gegenüber vom Halleschen Zoo, der auf einem Naturfelsen angelegt ist. So konnten wir vom Balkon direkt bis in den Geierkäfig gucken und hörten, wenn wir bei den Großeltern übernachten durften, die Löwen brüllen und die durchdringenden Schreie der Papageien und der Brüllaffen.

Opa verband mit dem Zoodirektor eine langjährige Freundschaft, sodass wir, die Enkelkinder, zur abendlichen Fütterungszeit schnell mal hinüberlaufen durften. Wir hatten so unsere Lieblinge. Meine Schwester zog es zu den Geparden, ich fand die Antilopen und Steinböcke toll, wie sie so in den steinigen Felsabhängen auf- und abkletterten – echte Bergsteiger. Auch den Affen schaute ich begeistert bei der Fütterung zu.

Die dazugehörige Oma ist die, der ich mein Leben verdanke. Sie war eine für damalige Verhältnisse erstaunlich selbstständige Persönlichkeit. Sie war evangelisch und blieb es auch. Klein und rundlich trug sie oft Kleider, die am Halsausschnitt mit vielen kleinen Knöpfen begannen, sich ihren verschiedenen Wölbungen – Busen, Bauch und Oberschenkel – vollkommen anpassten und erst ganz unten bei der halben Wade endeten.

Sie konnte wundervolle Kuchen backen und backte auch, wenn Besuch da war, selbst Brot. Beim Brotbacken sagte sie stets Gedichte auf, so als ob sie dabei vor sich hinspräche. Das waren meist Balladen, aber auch von Schillers »Glocke« konnte ich, als ich zur Schule kam, bereits große Teile auswendig, dazu den »Zauberlehrling«, den »Erlkönig« und »Archibald Douglas«. Ehe sie die Brote in den Ofen schob, fuhr sie mit dem Unterarm und der dabei ausgestreckten Hand zack zack zack über sie. Erst später erkannte ich, dass sie so über jedes Brot ein Kreuz schlug; sie war eben nicht für große Worte und große Gesten.

Von ihren zehn Kindern waren Elisabeth und Hans schon jung gestorben. Tante Tilly starb als junge Frau und Onkel Franz fiel im Ersten Weltkrieg. So gab es neben meiner Mutter also vier Onkel und eine Tante, die Tante Maria. Für jeden hatte die Oma Kaltwasser eine Kiste mit seinen beziehungsweise ihren Lieblingsspielsachen gepackt. Die Kisten standen in einer Abstellkammer. Wenn wir zu Besuch waren und das Wetter gab nicht viel her, konnte ich sagen: »Ich möchte heute mit Onkel Heinz spielen.« Meine Schwester entschied sich zum Beispiel für Onkel Paul. Die entsprechenden Kisten wurden geholt, und es gab nur eine Bedingung: Die Spielsachen mussten in die richtige Kiste zurückgelegt werden. Wir liebten den Geruch der alten Sachen! Es gab altes Geld, Blechspielzeug, Puppen, noch mit ledernem Körper und Rüschenkleidern, alte Quartettspiele, Kasperlepuppen, die mein Opa für seine Kinder selbst geschnitzt hatte – einfach richtige Schätze!

Kein Wunder, dass wir begeistert waren, wenn wir diese Großeltern besuchen durften. Da sie in Halle/Saale wohnten, kam auch noch die Fahrt mit der Eisenbahn und der Straßenbahn als Erlebnis dazu.

»Einkaufen« mit Grete

Am Vormittag, wenn meine Schwester in der Schule war und die üblichen morgendlichen Arbeiten wie Frühstückstisch abräumen, Betten machen und so weiter erledigt waren, gingen Grete und ich ungefähr ein- bis zweimal pro Woche einkaufen. Wurden wir damit zügig fertig – und das klappte meist –, machte Grete noch einen Abstecher zu ihren Eltern.

Vorher schärfte sie mir ein: »Darüber darfst du nie sprechen! Es darf dir niemals herausrutschen, wo du warst, auch nicht bei deiner Schwester, verstehst du? Sonst dürfen wir nie wieder dorthin, vielleicht muss ich euch dann sogar verlassen. Versprich es!« Grete wusste von anderen nicht erlaubten Unternehmungen her – wir hatten schon einiges zusammen erlebt, was meine Mutter nicht gebilligt hätte –, dass auf mich unbedingt Verlass war. Ein Versprechen war auch schon damals – obwohl ich noch so klein war – heilig.

»Versprochen ist versprochen und wird auch nie gebrochen!«

Wir gingen am Marktplatz auf ein großes Holztor zu, so groß, dass ein Pferdefuhrwerk hätte in den Hof fahren können. In diesem Tor gab es eine kleine Tür, sie fiel gar nicht auf, die zum gepflasterten Innenhof führte. Dort saß, soweit ich mich erinnern kann, eigentlich immer Gretes Vater. Nur wenn das Wetter sehr regnerisch und windig war, rückte er seinen Korbstuhl ein Stück in den Flur. Gretes Vater war – glaube ich – ein schöner Mann. Er hatte lange schwarze Haare, die bis in den Nacken reichten. Im Normalfall begrüßte Grete ihn kurz und wir stiegen gleich die Treppe herauf. Es kam aber auch vor, dass Grete sich zu mir drehte und sagte: »Du musst noch ein bisschen hier warten, ich hol dich dann ab.« Mir war das sehr recht. Gretes Vater war reizend zu mir. Er zog geheimnisvoll eine runde Dose aus Metall aus der Tasche, auf der lila Veilchen abgebildet waren. Er öffnete sie, drinnen war eine grünlich schimmernde, duftende Paste, eine Art Gel.

»Schau, das ist Veilchenpomade, du darfst meine Haare damit einreiben.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

War sein Haar tüchtig vollgegelt, zog er einen Kamm aus der Tasche. Nun durfte ich ihn frisieren: Seitenscheitel rechts oder links, Mittelscheitel, in Wellen oder ganz glatt und strähnig. Ich hatte viele Ideen … Er zauberte einen kleinen Spiegel aus seiner Tasche hervor und betrachtete die »Kunstwerke«. Dazu zog er fröhliche und bedrohliche Grimassen. Er gab mir auch Gestaltungs-Tipps, so verging die Wartezeit meist viel zu schnell für mich.

Wenn Grete mich rief, erwartete mich oben eine verzauberte Welt: Hellrosa oder helloranger Lichtschimmer – durchscheinende Tücher waren über die Lampen gehängt –, dazu ein himmlischer Parfümduft. Gretes Schwester herzte und küsste mich, ich war Derartiges von zu Hause nicht gewöhnt, es gefiel mir sehr. Überhaupt: Sie gefiel mir sehr. Sie hatte hellblonde lockige Haare, eine Pfirsichhaut und sehr rote Lippen. Sie war mit einer Corsage bekleidet, da guckten oben ihre wohlgeformten üppigen Brüste heraus. Das hatte ich so noch nicht gesehen. Meine Mutter war als Jugendliche bei Nonnen aufgewachsen und hatte grundsätzlich etwas »gegen Busen«. Wahrscheinlich bedeutete ein Busen – selbst ein bedeckter!!! – für sie etwas wie eine Einladung zur Sünde. Sie selbst war in dieser Hinsicht von der Natur ziemlich dürftig ausgestattet, und das wenige band sie mit seltsamen BHs straff an den Körper. Ich bekam als Jugendliche diesbezüglich noch manches schlimme Wort von ihr zu hören.

An die weitere Kleidung von Gretes Schwester kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Wir setzten uns zusammen in die Küche zu Gretes Mutter. Dort stand bereits ein Körbchen mit geschnittenem Brot auf dem Tisch, dazu ein Glas dunkelbrauner Rübensaft sowie Quark, Käse und Schmalz. Abgesehen vom Brot waren das alles für mich ungewohnte Köstlichkeiten.

»Na, meene Kleene, was für ne Bemme willste denne?« Auf diese Frage hatte ich schon gewartet. Am liebsten aß ich Rübensaft, den gab es zu Hause nicht, aber auch wilde Wunschkombinationen wie zum Beispiel Quark mit Käse und Rübensaft wurden erfüllt. Leider war Gretes Zeit stets begrenzt, ich wäre liebend gern jedes Mal länger dort geblieben.

Rückblickend muss ich sagen: Es ist schon erstaunlich, dass ich mich bei meiner Begeisterung nie verplappert habe, aber unser Geheimnis blieb auf immer gewahrt.

»Mamachen« und das Cézanne-Äpfelchen

So erfreulich, liebenswert und interessant meine Großeltern mütterlicherseits waren, so mies war es um die Großeltern väterlicherseits bestellt! Allen voran »Mamachen«. Wurde ein Besuch angekündigt – er ließ sich nicht vermeiden –, gerieten alle zuerst in Aufregung und danach in wilde Hektik. Das Haus wurde extra gründlich geputzt, Gardinen abgenommen und gewaschen, Speisepläne aufgestellt, verworfen und erneut aufgestellt, der Hof gefegt und Hütchen für meine Schwester und mich gekauft. Wahrscheinlich geschah noch etliches mehr, was ich aber als Kind nicht mitkriegte.

Mein Vater war zusammen mit seinem älteren Bruder bei seinen Großeltern aufgewachsen, weil sich seine Mutter stets in irgendwelchen mondänen Kurbädern aufhielt. Es hieß, sie hätte so zwei Gutshöfe der Familie »durchgebracht«, also in den Ruin getrieben. Daher hatte mein Vater kein normales Verhältnis zu seiner Mutter, die er »Mamachen« nannte. »Mamachen« mit Betonung auf der zweiten langgezogenen Silbe. Er vermied jede Begegnung und verdrückte sich, wann immer es möglich war. So war meine Mutter, ganz allein auf sich gestellt, dieser Schwiegermutter ausgeliefert; sie war ihr nicht gewachsen, hatte regelrecht Angst vor ihr. Bei jeder Gelegenheit wurden ihr ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu und der fehlende Stammbaum vorgeworfen.

Wenn sie uns besuchte, sie kam mit der Eisenbahn, mussten wir sie vom Bahnhof abholen. Das war eine erstaunliche Prozedur: Vorweg meine Schwester und ich mit den verhassten neuen Hütchen, die wir garantiert nur für diesen Auftritt bekommen hatten, danach Mamachen am Arm ihres Sohnes, also meines Vaters, beredt wie ein plätschernder Wasserfall. Mamachen trug stets einen pompösen Hut und die Kleidung nach der aktuellen Mode.

Es folgten meine Mutter – auch mit Hut! – neben dem Großvater. Sie hatten sich absolut nichts zu sagen. Nun – mit gebührendem Abstand – Große Grete und hinter ihr Marjahn, der Sohn unserer Waschfrau, der bei uns für kleinere Arbeiten zuständig war, mit dem Bollerwagen, darin Mamachens Koffer und Hutschachtel. Es handelte sich um einen Besuch mit einer Übernachtung!!!

Aus meiner heutigen Sicht als Erwachsene glaube ich, dass diese Großmutter von Natur aus herrschsüchtig war. Auch ihr Mann hatte bei ihr nichts zu lachen; aber er verehrte sie und versuchte in allen Stücken ihren Wünschen zu entsprechen. Er war von Beruf Oberzollinspektor und sollte wohl ein Abbild von Wilhelm II sein. Er war ein dünnhäutiger heller Typ, großgewachsen mit leicht rötlichen Haaren. Jede Nacht schlief er mit einer Bartbinde, um die typische Bartform mit den hochgezwirbelten Ecken, also dem »Es-ist-erreicht-Stil« des ehemaligen Kaisers zu entsprechen. Als ich klein war, trug der Großvater manchmal sein Monokel. Damit das festhielt, verzog er sein ganzes Gesicht – auf der Monokelseite nach oben und auf der anderen nach unten – grässlich! Später »durfte« er Brille tragen …

Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass er Freimaurer und eine wichtige Persönlichkeit in der Halleschen Loge war. Er war überzeugter Weltbürger, aber von dieser interessanten Seite wurde nie gesprochen, solange er noch lebte.