Kierkegaard und das Meer - Dorothea Glöckner - E-Book

Kierkegaard und das Meer E-Book

Dorothea Glöckner

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Beschreibung

Sören Kierkegaard, der "Sokrates des Nordens", schreibt von Wahl, Entscheidung, Augenblick, Leidenschaft und Glauben. Das ausgefeilte Spektrum seiner Existenzanalysen umfasst ästhetische, ethische und religiöse Daseinsdeutungen. Oftmals lässt er sich dabei von Meeresblicken inspirieren. Das Meer, mal tosend und wütend, mal still und tief, wird ihm zum Sinnbild der Seele, der er eine eigene Tiefe zuspricht. In unserem Innersten erblickt er eine Ewigkeitshoffnung, die zwar für gewöhnlich schlummert. Doch auch wir haben "Flügel", die wir entdecken und gebrauchen können. Mit prophetischem Blick schaut Kierkegaard auf den Horizont der Zeit. Er erblickt Gefahren, sieht Existenzen von Verzweiflung bedroht und hält die Hoffnung hoch. Sein Blick aufs Meer ermutigt.

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Seitenzahl: 201

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Kierkegaard und das Meer
Maritime Metaphern undMeeresreflexionen in SörenKierkegaards Verfasserschaft

ausgewählt und mit Begleittexten versehen von Dorothea Glöckner

© 2024 Dorothea Glöckner Lektorat: Hartmut Fanger, fanger & fanger, schreibfertig.com Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net Titelbild: Caspar David Friedrich; Ansicht eines Hafens (um 1815/16), Schloss Charlottenhof Potsdam (Aus-schnitt)

Verantwortlich für den Inhalt: Dorothea Glöckner Lille Kaalundsvej 4 3520 Farum Dänemark

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Inhalt

Einleitung

1 Kierkegaards eigener Blick aufs Meer

1.1 „Vom Meer erfrischtes Kopenhagen“

1.2 „Hier ist gut sein“

1.3 „Befreit von der oft üblen Luft des Lebens“

1.4 „Heiserer Möwenschrei“ und liebe Verstorbene

1.5 Stolz und Demut

1.6 Wahrheitssuche

1.7 „Weißer Punkt am Horizont“

1.8 Das Dasein selbst wird aufmerksam

2 Maritime Sinnbilder in Kierkegaards Werk

2.1 Musikalität des Meeres

Aufs Meer hören

Sinnliche Genialität

Eintöniger Wiegengesang

Verschmelzen der Sinne

Meeres–Stille

2.2 Augenblicke – Meeresblicke

Blicke der Sehnsucht

Am Meeresufer, wenn das Schiff sich naht

Augenblicke der Entscheidung

Jagen nach dem Augenblick

Aber wer schaut so?

2.3 Leben heißt heute da sein

Der Enterhaken

Rückwärts rudern

Flug übers Weltmeer

2.4 Auf offener See

Auf siebzigtausend Klaftern Meerestiefe

Im Flachen zu waten ist nicht das Religiöse

Mutiger Schwimmer

Umsegelung des Daseins

Obstschute und Kriegsschiff

Fahrtwind und Gegenwind

Verlässliches Seezeichen

2.5 In Seenot

Träger Nebel

Auf schlammigem Grund

Ein Wrack

Schiffbrüchig

Die Hoffnung nicht über Bord werfen

Im Sturm

Hinaus aufs Meer und seinen Schrei erheben

2.6 Das Meer als Bild der Seele

Tiefer Grund

Vernebeltes Meer – verwirrte Seele

Unruhiges Meer – entfremdete Seele

Blick-Stille

Meerestiefe – Seelentiefe

Erfrischendes Meer

Epilog

Anhang

Abkürzungen

Erwähnte Pseudonyme

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Es ist doch wohltuend, zwischendurch einmal zu fühlen, dass man in Gottes Hand ist, und nicht immer und ewig sich durch die Winkel einer wohlbekannten Stadt zu schleichen, wo man immer einen Ausweg weiß. [1]

Im Oktober 1841, zwei Wochen nach seinem Verlobungsbruch, war Sören Kierkegaard auf dem Weg nach Berlin. Er begann die Reise mit einer Schiffsfahrt über die Ostsee, von Kopenhagen nach Stralsund. Die obenstehenden Zeilen schrieb der Achtundzwanzigjährige auf dem offenen Meer. Dabei mag er zugleich seine eigene, erneut ungewisse Zukunft im Blick gehabt haben. Er formuliert nicht nur ein Gefühl, sondern zugleich ein Bild, in dem er darauf vertraut, dass das Leben sich fügen wird, auch wenn er nicht weiß, wohin der Weg ihn gerade führt. Auf der Weite des Wassers ist kein Herumschleichen und Versteckspielen möglich. Buchstäblich gilt dies für den Segler, im übertragenen Sinn für einen jeden. Wer im Dasein herumschleicht und sich vor sich selbst versteckt, mag gut daran tun, ab und zu einen Blick aufs Meer zu werfen.

Kierkegaard hat dies immer wieder getan. In seiner Jugend besuchte er Nordseeland und hielt in seinen Tagebüchern sensible Beschreibungen von Meeresblicken fest, die eine hochgradige Empfänglichkeit für Transzendentes bezeugen. Die Dinge, die er in der Natur vor sich sah, übersetzte er in Sinnbilder menschlicher Existenz, in denen Natur und Innerlichkeit eine Einheit bilden. Letztlich werden so auch für den Leser inneres und äußeres Sehen unlöslich ineinander verflochten. Kierkegaards Sinnbilder verhalten sich zu der Einsicht, dass wesentlich Zu-Sagendes sich nicht direkt mitteilen lässt. Es bedarf des Bildes, um die Gleichzeitigkeit von innerer und äußerer Wirklichkeit heraufzubeschwören, und es bedarf eines besonderen Blicks, um sich den verborgen bleibenden Bildgehalt gleichwohl vor Augen stellen zu können. Dies tut Kierkegaard in vielfältiger Weise. Er stellt seine Metaphern und Gleichnisse in den Dienst sowohl ästhetischer, ethischer als auch religiöser Daseinsdeutungen. In dieser Vielfalt scheint dabei den maritimen Sinnbildern eine Sonderstellung zuzukommen. Wer sich dem Meer stellt, ist zugleich herausgefordert, sich zu jenen Mächten zu verhalten, die das menschliche Dasein tragen, bedrohen, vernichten und erneuern können. Wie kann der Mensch sich im Gegenüber zum Ungewissen dennoch vergewissern? Die scheinbare Unendlichkeit des Meeres lässt fragen, wieweit Ewigkeit im Hier und Jetzt erfahrbar ist. Der Blick zum Horizont wendet sich Zukünftigem zu, das fortwährende Rauschen des Meers erinnert uns an unsere Endlichkeit.

Kierkegaards maritime Sinnbilder wollen veranlassen, dass wir mit dem Herzen sehen, was die Natur verkündet. Befreit von der oft üblen Luft des Lebens lässt es sich freier atmen, die Seele öffnet sich. Aus diesem Geist heraus ermutigen Kierkegaards Bilder dazu, das Geschaute auf sich selbst zu beziehen. Es geht um individuelle Aneignung, die recht eigentlich versteht, wer um sich selbst bekümmert ist. Seine Bilder stellen sich in den Dienst tieferer und innerer Selbsterkenntnis und wollen dazu anleiten, dass ein jeder sich „seiner ewigen Gültigkeit“ bewusst und es ihm darin möglich werde, das Potential des eigenen Daseins voll auszuschöpfen.

Zugleich entfalten sich diese Bilder auf mehrfachen Ebenen. So lässt sich zum Beispiel die Bemerkung, wie wohltuend es doch sei, sich hin und wieder in Gottes Hand zu fühlen und nicht immer und ewig in den Winkeln einer wohlbekannten Stadt herumzuschleichen, zunächst von Kierkegaards Biografie her verstehen. Dem Kenner mag diese Bemerkung die Innenstadt Kopenhagens vor Augen führen. Darüber hinaus aber lässt sich derselbe Satz allgemeingültig auch so verstehen, dass das Wohlbekannte, die immer und ewig gleichbleibenden Winkelzüge unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung, sich aufbrechen lassen.

Kierkegaard hat ein Gespür dafür, dass man beim Gebrauch eines Wortes oder Ausdrucks mitunter „wie durch eine geheime Tür, ja, wie mit einem plötzlichen Zauberschlag, vom Alleralltäglichsten her mitten in den höchsten Vorstellungen steht, so dass man, indes von den einfachen alltäglichen Anliegen die Rede ist, plötzlich entdeckt, dass man zugleich vom Allerhöchsten spricht.“ [2]

Ein solcher Zauberschlag lässt sich sogar trainieren. Man kann gewiefter darin werden, vom Alltäglichen zu sprechen und auf einmal zu entdecken, dass man zugleich noch etwas ganz anderes sagt. Oder man kann sich darin üben, diese übertragene Bedeutung aus den Worten anderer herauszuhören. In jedem Fall aber muss sich die verborgene Dimension des Gesagten und Zu-Sagenden dem Verstehenden von innen her auftun. Wenn dies gelingt, geht er wie durch eine geheime Tür von einem Verständnis in das andere hinüber. Kierkegaard selbst ist ein Meister darin. Immer wieder nutzt er alltägliche Beobachtungen, um einen Zugang zum Verständnis des Allerhöchsten zu erschließen. Auch zahlreiche Blicke über das Meer zieht er dazu heran. So führt er uns das Meer als Bild der Seele vor Augen und lässt äußere und innere Wirklichkeit einander durchdringen.

Der Däne Sören Kierkegaard, der von 1813 bis 1855 lebte, stammt aus einem Land, das vom Meer umgeben ist. Das Wasser gehörte ebenso zu seiner Lebenswirklichkeit hinzu, wie die langen hellen Nächte im Sommer und die Dunkelheit und Kälte im Winter. Er war schwermütig und hochsensibel. Von unendlicher Reflexion unermüdlich angetrieben, liebte er es, auf die Straße zu gehen und dort mit den Menschen zu sprechen. In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1854 schrieb er, dass er niemals unter jenen hochmütigen Geistern gewesen sei, die andere Menschen übersehen haben. Nein, in mitfühlender Schwermut liebte er die Menschen, die er sah, das Dienstmädchen und den Dienstmann und den Wächter und den Droschkenkutscher. Es machte ihm Freude, mit ihnen zu sprechen und sie zu grüßen. [3]

Auch die vorliegende Auswahl von Kierkegaards maritimen Sinnbildern versteht sich als Angebot für ein Gespräch eigener Art. Mit diesen Bildern lässt sich gedanklich ein Dialog beginnen, der dann auch mit anderen Menschen neu ins Gespräch bringen kann.

Sören Kierkegaard hat empfohlen, wie man seine Werke lesen könne. Man solle sich Zeit dafür nehmen, abwechselnd immer mal wieder einen Abschnitt zu lesen und dann wieder aus dem Fenster zu schauen oder in den Spion. Auf diese Weise könne man das Gelesene mit dem Gesehenen zusammenhalten und zugleich sich selbst in das Dargebotene hineinreflektieren. Im Blick auf seine maritimen Bilder mag es sich sogar anbieten, die vorliegende Sammlung mit ans Wasser zu nehmen, an den Strand, zu windgeschützten Plätzen in den Dünen. Der ideale Ort wäre sicher einer, an dem man auch in sich selbst hineinhören kann, wo auch immer das sei.

Im ersten Kapitel dieser Auswahl sind Zitate aus Kierkegaards Tagebüchern und Schriften zusammengestellt, die sich Beobachtungen am Wasser verdanken und zugleich auf Daten in Kierkegaards eigener Biografie bezogen werden können. Eine zusammenhängende Darstellung seiner Biografie bietet diese Sammlung dagegen nicht. Wer mehr über Kierkegaards Leben erfahren möchte, findet Lektürevorschläge dazu im Literaturverzeichnis.

Im zweiten Kapitel dienen die Meeresblicke ästhetischen, ethischen und religiösen Daseinsdeutungen. Zahlreiche dieser Sinnbilder zielen auf die biblische Frage, was es dem Menschen nützte, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden nähme an seiner Seele?

Der gemeinsame Nenner dieser Sammlung sind Kierkegaards Beobachtungen an Wasser und Meer, von denen her er die Existenz des Menschen erhellt.

Zitiert wird mit einzelnen Ausnahmen, auf die eigens hingewiesen wird, die von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans besorgte Ausgabe der Gesammelten Werke (GW) unter Angabe der Bandzahl, jedoch nicht der Abteilungszahl. Im Anhang findet sich eine Übersicht der zitierten Bände der Gesammelten Werkausgabe sowie eine Übersicht der erwähnten Pseudonyme. Eine eigene Herausforderung stellen die Zitate aus den Tagebüchern und Journalen dar. Im Jahr 2005 wurde eine vollständige Übersetzung von Kierkegaards Tagebüchern ins Deutsche begonnen, von der bis 2021 die Bände 1–7 fertiggestellt wurden (DSKE). Soweit die jeweilige Tagebuchaufzeichnung darin aufgenommen ist, wird die Aufzeichnung nach dieser neuesten Übersetzung zitiert. Wenn die Aufzeichnung in Band 1–7 von DSKE nicht enthalten ist, wird sie entweder gemäß der fünfbändigen Auswahl von Hayo Gerdes (TB) oder in eigener Übersetzung (Ü) zitiert. Die Zitate aus Kierkegaards Gesammelten Werken, Papieren und Journalen folgen der jeweiligen Rechtschreibung des Übersetzers. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf das Gendern verzichtet. Die verwendeten Personbezeichnungen in den Begleittexten gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

1 Kierkegaards eigener Blick aufs Meer

Sören Kierkegaard hat wiederholt Beschreibungen von Meeresblicken mit Reflexionen über sein eigenes Leben verbunden. Besondere Bedeutung kommen dabei den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Sommer 1835 zu, in denen er über seine Wanderungen auf Nordseeland schreibt. Hier sind Themen vorweggenommen, an die er zeitlebens immer wieder anknüpft. Vor allem seine Aufzeichnungen aus Gilleleje, einem kleinen Fischerort, lassen sich als wegweisend für die gesamte Verfasserschaft verstehen. Ob es etwas zu bedeuten hat, dass ihm diese Gedanken ausgerechnet beim Blick übers Meer durch den Kopf fuhren? So zumindest hat er es selbst dargestellt. Vielleicht ist ihm Einiges auch erst bei der nachträglichen Niederschrift in die Feder geflossen. Hier soll es nicht darum gehen, dies zu entscheiden. Doch wir können uns von ihm anregen lassen, ähnliche Fragen im Blick auf uns selbst zu stellen.

Seine Existenzanalysen kreisen häufig um die Verfehlungen unseres Seins. Auf der anderen Seite aber interessiert ihn, wie wir zu einer Ursprünglichkeit zurückfinden können, die einen Neubeginn ermöglicht. Ob ein Blick übers Meer – und sei es auch nur in Gedanken – den Weg dazu öffnet? Dieses Kapitel zeigt verschiedene Zugänge für eine solche Suche an.

1.1 „Vom Meer erfrischtes Kopenhagen“

Sören Aabye Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren. In dieser Stadt hat er sein kurzes 42jähriges Leben verbracht. Die wenigen Ausflüge, die er unternommen hat, führten ihn nach Jütland und Nordseeland, viermal reiste er nach Berlin. Doch sonst blieb er in Kopenhagen. In den Straßen dieser Stadt nahm er sein „Menschenbad“, er beobachtete, suchte Kontakt und Gespräche. Hier verlobte und entlobte er sich, schrieb seine Werke, ärgerte sich über die öffentlichen Verhöhnungen, die ihn zur Zeit des Korsarenstreites zum Gespött machten, kämpfte gegen die dänische Staatskirche und wurde letztlich gegen seinen Willen kirchlich bestattet. Er starb am 11. November 1855.

Am Ende seines Werkes Stadien auf des Lebens Weg lässt Kierkegaard das Pseudonym Frater Taciturnus [4] seine Heimatstadt preisen. Gleich zu Beginn wird betont, dass diese Stadt am Meer liegt und vom Meer erfrischt wird. Ebenso wie Kopenhagen gehört auch das Wasser zu Kierkegaards unmittelbarer und alltäglicher Umgebung dazu. Nirgendwo in Dänemark ist das Meer weiter als fünfzig Kilometer entfernt. Die Nähe des Wassers prägt das Lebensgefühl. So hat für Kierkegaard die maritime Welt dieselbe Fähigkeit zur „Unterweisung“, die er im Lobpreis seiner Stadt einem jedem Menschen, dem man im Vorübergehen begegnet, einem Unbekannten in der Unterhaltung, ja, einem jedem, der einen zufällig berührt, zuspricht. Sein Pseudonym Frater Taciturnus schreibt:

Einige meiner Landsleute meinen freilich, Kopenhagen sei eine langweilige Stadt und eine kleine Stadt. Mir erscheint Kopenhagen vielmehr, so wie es von dem Meere, an dem es liegt, erfrischt wird und selbst im Winter die Erinnerung an den Buchenwald nicht zu vergessen vermag, der glücklichste Aufenthaltsort zu sein, den ich mir wünschen könnte. Es ist groß genug, um eine größere Stadt zu sein und klein genug, dass es keinen Marktpreis für Menschen gibt […]. Einige meiner Landsleute finden die Menschen, welche in dieser Stadt wohnen, nicht lebhaft genug, nicht rasch genug bewegt. Mir scheint dies nicht so. […] Der Fehler ist hier vielleicht eher, dass ein Einzelner von fremden Orten träumt, ein andrer Einzelner in sich selbst verloren ist, ein dritter Einzelner engherzig und separatistisch usw., mithin dass alle diese Einzelnen sich selber daran hindern, zu empfangen, was so reichlich geboten wird, zu finden, was im Überfluß vorhanden ist, wenn es gesucht wird. Wer etwa ganz und gar nichts unternehmen wollte, könnte gleichwohl, falls er ein offenes Auge hätte, ein genussreiches Leben führen, indem er nichts tut als auf andre zu achten; und wer auch seine eigene Arbeit hat, tut wohl daran, darauf zu achten, dass er nicht zu sehr gefesselt werde. Wie traurig aber, wenn es ihrer viel würden, die sich entgehen ließen, was nichts kostet, kein Eintrittsgeld, keine Ausgaben für ein Gastmahl, keinen Beitrag zum geselligen Leben, keine Ungelegenheit und Schererei, was den Reichen und den Armen gleich wenig kostet und dennoch der reichste Genuss ist, die sich also eine Unterweisung entgehen ließen, wie sie nicht von einem bestimmten Lehrer empfangen wird, sondern von einem beliebigen Menschen im Vorübergehen, von einem Unbekannten in der Unterhaltung, von jedermann in der zufälligen Berührung. [5]

An dieser Stelle setzt der Frater fort mit einem Lobpreis seiner Muttersprache. Vom Meer ist nicht weiter die Rede, jedenfalls nicht hier. Dennoch lässt sich vieles von dem, was über Kopenhagen als Stadt gesagt ist, auch auf einen Gang am Wasser übertragen. Strand und Meer bieten Unterweisung an, die nichts kostet, aber reich beschenken kann.

1.2 „Hier ist gut sein“

Als junger Theologiestudent, zweiundzwanzigjährig, verbrachte Kierkegaard einige Sommerwochen auf Nordseeland. In seinen Tagebüchern aus dieser Zeit beschrieb er, was ihm in dieser Landschaft vor Augen kam und in welche Stimmungen ihn das Erlebte versetzte. Am 5. Juli 1835 besuchte er das Schloss Gurre und den Gurre-See. Die binsenbewachsenen und von Wäldern umgebenen Ufer des Sees sah er in der Nachmittagsbeleuchtung von derart scharfen Konturen gezeichnet, dass ihm diese fast wie eine melodische Stimme zuzuflüstern schienen: „Hier ist gut sein.“ Doch gleich im Anschluss daran denkt er ans Meer, das auf ihn keineswegs den gleichen vertrauten Eindruck macht. Das Meer dagegen vergleicht er mit einem kräftigen Geist, der „immer in Bewegung ist und noch in seiner größten Stille heftige Gemütsleiden ankündigt.“ [6]

„Hier ist gut sein.“ Ungefähr vier Jahre später, im Februar 1839, erscheint dieser Satz ein weiteres Mal in den Tagebüchern. Diesmal ist nicht von einem Waldsee die Rede, sondern von dem Gefühl, der Geliebten nahe zu sein. Im September 1840 verlobte Kierkegaard sich mit der achtzehnjährigen Regine Olsen. Er heiratete sie jedoch nicht, sie wurde ihm zur Muse. Durch sein gesamtes Werk hindurch klingt diese unerlöste Liebe als Hintergrund seines Schaffens mit an. Vor allem in den Schriften Die Wiederholung sowie Stadien auf des Lebens Weg schwingt eine unablässige Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte mit. Zahlreiche seiner Reden wenden sich an M. T. Dies ist eine Abkürzung, die für „Min Tilhører“, „Mein Zuhörer“ oder richtiger: „Meine Zuhörerin“ steht. Dass ihn das Durchdenken dieser unglücklichen Liebe zum Dichter gemacht hat, ist dabei ebenso wahrscheinlich wie die umgekehrte Annahme, dass seine Veranlagung zum Dichter und religiösen Verfasser der Verwirklichung seiner Liebe im Weg stand. Anderthalb Jahre bevor er die Verlobung aufhob, schrieb Kierkegaard im Gedanken an Regine in sein Tagebuch, dass er überall, in jedem Mädchengesicht Züge ihrer Schönheit sehe. Trotzdem kommt es ihm so vor, als müsse er aus allen Mädchen die Schönheit Regines gleichsam herausdestillieren. Ihm ist, als müsse er die ganze Welt umsegeln, um den einen Erdteil zu finden, nach dem es ihn verlangt. Dennoch, im nächsten Augenblick ist sie ihm so nahe, erfüllt sie so mächtig seinen Geist, dass er vor sich selbst verklärt wird und fühlt, „dass hier gut sein ist.“ [7]

Dieses Gefühl aber lässt er nicht ungebrochen zu. Dem Empfinden gegenwärtiger Nähe tritt das Verlangen nach einer allumfassenden Suche entgegen. Im Hintergrund seiner Gegenüberstellung von Nähe und Ferne lässt sich die frühe Aufzeichnung vom Gurre-See im Gegenüber zum Meer erahnen. Die heimische Vertrautheit, die Kierkegaard bei der Geliebten findet, hat sich ihm bereits an dem von Binsen und Wäldern umwachsenen See offenbart. Was er jetzt bei Regine empfindet, hat ihm die Stimme der Natur längst zugeflüstert. Er kennt auch bereits die Alternative. Das Meer hat heftigere Leiden zu bieten. Vor die Wahl gestellt, es sich gut sein zu lassen oder aber die Leiden des Lebens auszuschöpfen, entscheidet Kierkegaard sich für das Letztere.

1.3 „Befreit von der oft üblen Luft des Lebens“

Von Gurre aus führte ihn sein Weg weiter nach Hellebaek, und am 8. Juli 1835 machte er einen Ausflug zum See bei Esrom. Ein aufziehendes Gewitter ließ ihn auch in dieser Umgebung wieder ans Meer denken. Bei ähnlicher Gelegenheit hatte er gesehen, wie das Meer sich verdunkelte. Nun freute er sich darauf, ein solches Unwetter über dem See beobachten zu können. Nachträglich schrieb er ins Tagebuch:

Ich habe wohl das Meer bei einer solchen Gelegenheit sich in spitzen Kräuseln blaugrau färben sehen, und ich habe wohl bemerkt, wie die Windstöße, die das Herannahen des Sturmes ankündigen, das Gras und den Sand die Küste entlang in die Luft wirbeln; aber ich habe bisher nicht gesehen, wie eine solche Landschaft aussieht, wenn es nicht bloß Gras, sondern ein ganzer Wald ist, den diese Windstöße (diese Posaunenstöße, die das Gericht ankündigen) in Bewegung setzen müssen. [8]

Kierkegaard geht am See entlang und denkt ans Meer. Er stellt sich die Auswirkungen eines Unwetters vor, das noch nicht eingetroffen ist und zu dem es dann auch gar nicht kommt. Innerlich entfernt er sich sowohl räumlich als auch zeitlich von dem Ort, an dem er sich befindet. Doch damit nicht genug. Auch von seinem Erlebnis in der Natur entfernt er sich in Gedanken. Er assoziiert das Gehörte, beziehungsweise das, was er zu hören erwartet, mit biblischen Vorstellungen des Gerichts und dazu angekündigten Posaunenklängen. Als käme der äußeren Welt kein eigenes Recht zu, zieht er sich in die Imagination zurück. Schreibend distanziert er sich von der aktuellen Erfahrung. Fast scheint es, als wäre ein unmittelbares Erleben der Gegenwart zu überwältigend für ihn, so dass er nur durch Einfügung einer Brechung und Distanz sich der Übermacht des sinnlich Erlebten stellen kann.

Hayo Gerdes, der eine fünfbändige Auswahl von Kierkegaards Tagebucheintragungen in deutscher Sprache herausgegeben hat, schreibt in seiner Einleitung zum ersten Band, dass es „kaum einen Schriftsteller der Weltliteratur [gibt], welcher uns einen so tiefen Einblick in seine Innerlichkeit gibt, andererseits aber auch niemanden, der mit ähnlicher Entschiedenheit die äußere Tatsächlichkeit in die innere Wahrheit auflöst.“ [9] Zudem sei nicht auszuschließen, dass Kierkegaard Situationen aus seinem eigenen Erleben dichterisch nutze, um daran anschließend Seelenstimmungen darzustellen, die mit diesen bestimmten Situationen nichts zu tun hätten.

Andererseits ist nicht abzuweisen, dass Kierkegaard häufig Naturbeobachtungen heranzieht, um seelische Vorgänge zu erhellen. Er ermahnt uns, achtzugeben auf die Natur. Da alles in ihr Gehorsam sei, könne man diesen Gehorsam auch von ihr lernen. [10] Sehr wohl läßt sich äußere Umgebung in innere Stimmung auflösen, sehr wohl können äußere Tatsachen in innere Wahrheiten übersetzt werden, und doch ist es nicht gleichgültig, in welcher Umgebung nach Wahrheit gesucht wird.

Aber mitten in der Natur, wo der Mensch, befreit von der oft üblen Luft des Lebens, freier atmet, da öffnet sich die Seele bereitwillig jedem edlen Eindruck. Hier tritt der Mensch heraus als Herr der Natur, aber er fühlt auch, dass sich in ihr etwas Höheres zeigt, etwas, dem er sich beugen muss; er fühlt eine Notwendigkeit, sich der Macht hinzugeben, die das Ganze lenkt. [11]

So schreibt Kierkegaard, zweiundzwanzigjährig. Der Blick aufs Meer, der Spaziergang am See, das Lauschen auf Vogelgezwitscher und flüsterndes Gras sind ihm ein unerlässlicher Anlass dafür, Wesentliches über sich selbst zu erfahren. Im Blick auf Himmel, Erde und Meer fragt er nach Gottes Willen und stellt dabei seinen eigenen Willen in Frage. „Auf die Natur zu horchen“ und „zu gehorchen“ sind für ihn wesensverwandte Verhaltensweisen. Im Dänischen wird das Wort „gehorchen“ als „adlyde“ übersetzt, und „zuhören“, „horchen“ als „lytte“. Schon die Sprache macht aufmerksam auf den Zusammenhang zwischen einem wachen „Auf-etwas-Hören“ und einem gehorchenden Sinn. Wer der Natur lauscht, wird dadurch von sich und zu sich befreit, die oft üblen Gerüche des Lebens treten in den Hintergrund. Dabei ist die Rede von der befreienden Meeresluft sowohl eine Metapher als auch wörtlich gemeint.

1.4 „Heiserer Möwenschrei“ und liebe Verstorbene

Während seiner Wanderungen durch Nordseeland im Sommer 1835 besuchte Kierkegaard auch Gilbjerghoved auf der Steilküste nahe des Fischerortes Gilleleje. Diesen Ort, von dem aus er einen freien Blick über den Meeresstreifen zwischen Dänemark und Schweden hatte, liebte er sehr. Beim Lesen seiner Aufzeichnung vom 29. Juli 1835 kann man ihn fast dort stehen sehen:

Dieser Punkt ist stets schon einer meiner Lieblingsplätze gewesen. Und wenn ich nun hier eines stillen Abends stand, wenn das Meer mit tiefem, aber stillem Ernst seinen Gesang anstimmte; wenn mein Auge keinem einzigen Segler auf der ungeheuren Fläche begegnete, sondern das Meer den Himmel begrenzte und der Himmel das Meer; wenn andererseits die emsige Geschäftigkeit des Lebens verstummte und die Vögel ihr Abendgebet sangen – dann entstiegen mir oft die wenigen lieben Verstorbenen dem Grabe oder richtiger gesagt, es kam mir so vor, als wären sie nicht gestorben. Ich fühlte mich so wohl in ihrer Mitte, ich ruhte mich in ihrer Umarmung aus, und es war mir, als sei ich außerhalb des Leibes und schwebte mit ihnen in einem höheren Äther umher – doch der heisere Schrei der Möwe erinnerte mich daran, dass ich alleine stand, und alles entschwand vor meinem Auge, und ich kehrte mit wehmutsvollem Herzen zurück, um mich in das Getümmel der Welt zu mischen, ohne jedoch solche seligen Augenblicke zu vergessen. [12]

Dieser Abend auf Gilbjerghoved hat ihm etwas zu erinnern gegeben. Doch etwas zu erinnern bedeutet ihm zufolge noch etwas anderes als eine Sache lediglich nicht zu vergessen, sie im Gedächtnis zu behalten. In der Erinnerung verhält sich der Mensch zum Ewigen. Um dies zu zeigen, lässt Kierkegaard im Werk Stadien auf des Lebens Weg sein Pseudonym William Afham eine Erinnerung nacherzählen. William allerdings führt an dieser Stelle zunächst den Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis aus. So könne man zwar eine Begebenheit sehr gut bis in die kleinste Einzelheit im Gedächtnis haben, doch dies bedeute noch lange nicht, dass man sich an diese Begebenheit auch tatsächlich erinnert. Das Gedächtnis stellt das Gelebte lediglich bereit, damit es die Weihe der Erinnerung empfangen kann. Doch erst die Erinnerung kann einem Menschen den ewigen Zusammenhang im Leben bewahren und ihm sicherstellen, dass sein irdisches Dasein „uno tenore“ wird, ein einziger Atemzug, und aussagbar in einem einzigen Atemzug. [13]

Die Tagebuchaufzeichnung von Gilbjerghoved hält eine derartige Stimmung fest. Kierkegaard beschreibt sich gleichsam als verklärt, sich selbst entrückt. Die innere und äußere Harmonie, in welcher der Gesang des Meeres zusammen mit dem Abendlied der Vögel die einwiegende Geräuschkulisse bildet, aber wird durchrissen vom heiseren Schrei der Möwe. Die Entrückung ist vorbei. Gleichwohl sucht Kierkegaard diesen Blick übers Meer immer wieder auf. Er übt ein, aus der Selbstvergessenheit wieder auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Jeder dieser Übergänge bietet ihm an, die schauend gewonnene innere Weite zurückwirken zu lassen auf alles das, was ihn im Alltag einengt, ängstigt, kleinhält. Auch davon schreibt der Zweiundzwanzigjährige:

Oft stand ich dort und überschaute mein vergangenes Leben und die verschiedenen Lebensumstände, die Macht über mich ausgeübt hatten, und das Kleinliche, woran man sich so oft im Leben stößt, die vielen Missverständnisse, die so oft Gemüter voneinander trennen, die, wenn sie einander richtig verstünden, sich in unauflöslichen Banden zusammenknüpften, all dies zog an meinem betrachtenden Blick vorüber. [14]