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Ein Gymnasiallehrer erlebt mit seinem Mathematik-Leistungskurs in einer norddeutschen Jugendherberge seltsame Dinge. Dort erzählt er seinen Schülerinnen und Schülern die Geschichte eines Kilometerfressers. Es geht um eine Fahrradtour nach England und Holland mit abenteuerlichen Erleb-nissen. Die ganze Zeit über schweift er mit seinen Gedanken ab zu der Sängerin Manuela, mit der er immer öfter zusammen ist, die ihn nicht mehr los-lässt. Schuld war nur der Bossa Nova. Ein Mann mittleren Alters befindet sich auf einer Fahrradtour in Norwegen. Seine auf mehr als 120 Kilometer angelegte Tour endet nach nur eins Komma sechs Kilometern urplötzlich beim Zusammenstoß mit einem Auto. Bleiben als Erinnerung an diesen Ausflug nur Röntgenbilder anstelle von Urlaubsfotos? Zwei Männer und eine Frau mittleren Alters be-finden sich auf einer 140 Kilometer langen Fahrradtour in Schweden. Ihr Ziel ist Karlstad am Vänersee. Einer der Männer verliert erst seinen Autoschlüssel, dann den Fahrradschlüssel. Er will den Schlüssel zurückhaben. Seine Freunde verhalten sich bei der Suche nicht, wie er sich das wünscht. Er lernt sie von einer ungewohnten Seite kennen.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Kilometerfresser
Sykkelfantom
Schlüsselerlebnis
Dank
Autoren-Vita
Bücher des Autors
„Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Wir dürfen doch gleich Mädchen mit aufs Zimmer nehmen, oder?“ Einer meiner Schüler im Reisebus beugte sich zu mir, als er mich das wenige Kilometer vor unserem Ziel fragte. Das war die Jugendherberge in Albersdorf am Nord-Ostsee-Kanal.
Meine beiden Lehrerkollegen, die eine Reihe vor mir saßen und mitgehört hatten, drehten sich vor Schreck um, sahen mich mit entsetztem Blick an und schüttelten den Kopf. „Nicht mit uns!“
Ich wollte es genauer wissen. „Meinst du, Jungen und Mädchen im selben Zimmer übernachten?“
„Ja, natürlich!“
„Schlag dir das aus dem Kopf, Bernd! Wir dürfen es als Lehrer nicht zulassen, auch wenn heute nur noch knapp vier Jahre bis zum Orwellschen 1984 sind.“
Bernd ließ nicht locker. „Und wenn der Herbergsvater es erlaubt, wenn es ihm egal ist.“
Ich schüttelte den Kopf und sah den Jungen an. „Wir haben die Verantwortung für euch und somit das letzte Wort. Es tut mir leid, es geht nicht.“
Enttäuscht wandte sich Bernd seinen Schulkameraden zu und diskutierte mit ihnen. Ich versuchte nicht zuzuhören, konnte mir aber denken, worüber sie sprachen. Einer nach dem anderen zuckte schließlich mit den Achseln und zog eine bittere Miene. Schließlich verstummten sie und sahen nur noch nach vorne.
Im Bus saßen rund fünfzig Schülerinnen und Schüler, die von ihren drei Kurslehrern auf der fünftägigen Studienfahrt begleitet wurden. Sie waren zwischen siebzehn und neunzehn Jahre alt und im zwölften Schuljahr. Alle hatten etwas gemeinsam, den Leistungskurs Mathematik, den sie vor einem halben Jahr gewählt hatten. Sie stammten aus drei Parallelkursen. Ich war der Fachlehrer der größten Schülergruppe mit neun Mädchen und neun Jungen. Es war Zufall, dass in fast allen meinen Mathematikkursen die Anzahl der Mädchen hoch war. Das hatte es öfter gegeben. Einmal hatte ich einen Grundkurs mit 28 Schülerinnen und nur drei Jungen.
Da ich Busfahrten seit ewigen Zeiten schlecht vertrug, saß ich weit vorne und war auf der ganzen Fahrt von Düsseldorf nach Schleswig-Holstein nicht sehr gesprächig. Aus diesem Grund verfolgte ich die Unterhaltung zwischen den Schülern nicht weiter. Das leidige Thema Mädchen und Jungen im gleichen Schlafsaal war für mich erledigt.
Dafür schweifte ich mit meinen Gedanken zurück in die Zeit Anfang der Siebzigerjahre, als ich mich entschlossen hatte, Lehrer zu werden. Warum eigentlich? Zunächst war es die Mathematik, die ich über alles liebte. Ich wollte Diplommathematiker werden. Dann folgte jedoch mein erfolgreicher Nachhilfeunterricht. Einmal hatte ich eine Schülerin, die an einer anderen Schule im dreizehnten Schuljahr in ihren ersten Klausuren nur Sechsen fabriziert hatte, so trainiert, dass sie im Abitur die beste Mathe-Arbeit mit der Note Gut schrieb. Nicht zuletzt hatte mein mehrjähriger Unterricht als Student an einem Gymnasium den Ausschlag gegeben, dass ich den Lehrerberuf wählte.
Die Schule, in der meine Laufbahn nach dem Zweiten Staatsexamen begonnen hatte, war noch im Aufbau und hatte ein Lehrerkollegium mit jungen Leuten. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl und freute mich jeden Morgen, wenn einige humorvolle Kolleginnen und Kollegen mit einem fröhlichen Spruch auf den Lippen das Lehrerzimmer betraten. Da machte ich mit, konnte meine Scherze aus der eigenen Schülerzeit unterbringen. Tomorrow together! war eine meiner Begrüßungsformeln, die an Heinrich Lübkes Equal goes it loose erinnern sollte, bei den Englischlehrern aber nicht gut ankam. Detlef, ein ehemaliger Klassenkamerad und jetzt Kollege von mir, hatte meinen Spruch ernst genommen. Sein Kommentar lautete, ich hätte noch nie richtig Englisch gekonnt. Als mir mal statt Grüß Gott! der Ausspruch Grüß den Sohn des Großvaters von Jesus! herausrutschte, reagierte ein Religionslehrer beleidigt. Er verdrehte den Hals, schloss die Augen und stammelte, man könne doch nicht sagen, dass Gott einen Vater gehabt hätte. Das wollte ich auch nicht behauptet haben, wie jemand nicht sagen will, dass minus zwei Personen in einem Raum sein können, wenn er den Spruch loslässt: In einem Zimmer sind drei Personen. Wie viele müssen wieder hereinkommen, damit das Zimmer leer ist, wenn fünf hinausgehen?
Mitten in meinen Tagtraum hinein bremste der Busfahrer und hielt an. Wir hatten unser Ziel erreicht. Er schaltete die Musikanlage aus und gab die Musikkassetten an den Schüler zurück, von dem er sie zu Beginn der Fahrt bekommen hatte. Die ganze Tour über waren wir mit Popmusik berieselt worden. Zuletzt liefen die Titel The Winner Takes It All von ABBA und The Ballad Of Lucy Jordan von Marianne Faithfull, die in den Charts ganz oben standen. Meine beiden Kollegen hatten nichts gegen die Geräuschkulisse. Mir war es auch egal, obwohl ich das Hören Müssen von Popmusik oder deutschen Schlagern seit 1971 als eine Art Körperverletzung empfand. Den Ausschlag hatte damals eine Fernsehaffäre gegeben. Die mit mir befreundete Sängerin Manuela hatte mir zuvor erzählt, dass sie von einem Fernsehredakteur gezwungen worden sei, Tausende von Mark an ihn zu zahlen, damit sie weiter im Fernsehen singen dürfte.
Zu meiner Schulzeit hörte ich diese Musik noch gern. Ich erinnere mich noch an meine letzte Klassenfahrt als Schüler ins Karwendelgebirge, als unser Lehrer mit uns Wanderlieder anstimmen wollte, wir aber unterwegs lautstark Satisfaction von den Rolling Stones und Mr. Tambourine Man von den Byrds sangen. Das war fast auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren.
Der Fahrer lehnte sich entspannt zurück und fragte mich, ob er in die schmale Gasse bis zum Haupteingang fahren solle, damit wir unser Gepäck dort ausladen könnten. Er müsste aber anschließend einen Parkplatz für den Bus suchen.
Ich nickte, und er fuhr so weit wie möglich vor. Es war sehr eng. Aber zum Aussteigen und Ausladen würde der Platz reichen.
Meine beiden Kollegen Albert und Hermann verließen mit mir zusammen als erste den Bus. Wir sagten den Schülern, sie müssten warten, bis wir den Herbergsvater gesprochen hätten. Der Fahrer blieb auf seinem Sitz und beschäftigte sich mit den Reisepapieren. Dann stieg er aus und öffnete die Gepäckfächer.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Eingangstür öffnete und ein Mann um die Fünfzig erschien. Sein Gesicht war knallrot wie sein Hemd. Sein Haar war schütter. Er trug eine lange schwarze Hose, schwarze Socken und Sandalen. Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und rief in meine Richtung: „Der Bus kann hier nicht bleiben. Der muss weg.“ Das war seine Begrüßung.
Einige Mädchen kicherten. Sie amüsierten sich offensichtlich über den Mann.
Hermann versuchte, ihn zu beschwichtigen: „Wir wollen nur aussteigen und …“
„Sei still, wenn ich mit deinem Lehrer spreche!“, kanzelte der Mann, der sich noch nicht als Herbergsvater vorgestellt hatte, meinen Kollegen mit erhobenem Zeigefinger ab.
Er muss ihn für einen Schüler gehalten haben. Hermann war mit Mitte Zwanzig der jüngste von uns drei Mathematikern. Albert und ich waren Anfang Dreißig.
Jetzt fingen die Mädchen an zu lachen.
„Fahren Sie den Bus weg!“, fuhr der Mann unbeirrt meinen Kollegen Albert an.
Er muss ihn für den Busfahrer gehalten haben, vielleicht weil er eine braune Lederjacke trug.
Albert schüttelte den Kopf und sagte nichts.
„Das ist ja eine nette Begrüßung!“, meldete ich mich schließlich zu Wort, ging auf den Herrn mit rotem Hemd zu, zwinkerte mit den Augen, stellte mich vor und drückte ihm die Hand. „Sie sind, wenn mich nicht alles täuscht, der Herbergsvater?“
Er versuchte, sich bei mir zu entschuldigen und stotterte: „Ja. Ich habe im Moment viel Stress mit der Leitung des Hauses, weiß nicht wo mir der Kopf steht. Kommt alle rein!“
Der Herbergsvater zeigte uns den Weg in den großen Aufenthaltsraum, wo sich alle nach und nach mit dem Gepäck einfanden.
Als ein wenig Ruhe eingetreten war, verkündete der Herbergsleiter: „Eure Räume sind alle im zweiten Stock.“
Wie ich es erwartet hatte, meldete sich Bernd zu Wort: „Können wir uns die Schlafräume selbst aussuchen?“
Wir trauten unseren Ohren nicht, als wir die Antwort hörten. „Ja! Egal ob Junge oder Mädchen. Das nehmen wir hier nicht so genau.“
„Halt!“, rief Albert, „So geht das nicht! Jungen und Mädchen schlafen in getrennten Räumen.“ Hermann und ich nickten.
„Der hat wohl nicht alle Tassen im Schrank“, flüsterte mir Hermann zu. „Der scheint betrunken zu sein, der Herr Herbergsvater.“
Ich nickte und grinste.
Einige Schüler taten durch Pfeifen ihren Unmut kund. Sie waren mit der Entscheidung ihrer Lehrer nicht einverstanden, fügten sich aber schließlich, als wir sie scharf ansahen.
Nachdem die Anmeldeformalitäten erledigt und das Gepäck in den Schlafsälen verstaut war, trafen sich alle im Aufenthaltsraum. Die meisten aßen jetzt ihre mitgebrachten Brote und tranken Limo oder Cola aus dem Automaten.
Ich meldete mich zu Wort: „Unser Plan sieht so aus: Morgen um Neun fahren wir mit unserem Bus nach Brunsbüttel und besichtigen das Atomkraftwerk. – Übermorgen fahren wir mit dem Bus zum Eiderstaudamm und von da aus mit der Fähre nach Helgoland. – Am Donnerstag machen wir Landvermessung im Raum Albersdorf mit anschließender schriftlicher Auswertung. – Freitag geht’s zurück nach Hause.“
„Wie ist es mit dem Essen?“, rief eine der Schülerinnen mit erhobener Hand.
„Bleibt es so, wie im Kurs besprochen? Wir bekommen doch Geld von Ihnen?“ Ein Junge aus meinem Kurs wollte sicher gehen.
Lachend zeigte ich meine große Geldtasche. „Hier sind ein paar Hundert Fünfmarkscheine drin. Fürs Abendessen erhält jeder von euch einen Schein, mittags gibt es zwei. Das Frühstück bekommen wir in der Jugendherberge.“
Um unseren Aufenthalt flexibler gestalten zu können, hatten wir uns zuvor darauf geeinigt, kein Mittags- oder Abendessen in der Herberge zu buchen, sondern individuell unterwegs zu kaufen. Das dafür benötigte Geld hatte ich bei der Bank in Fünfmarkscheine gewechselt.
Punkt Zehn am Abend hieß es Licht aus. Jugendherberge. Herman, Albert und ich suchten vor dem Schlafengehen unsere Schülerinnen und Schüler in ihren Zimmern auf, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Mädchen und Jungen hatten sich, wie verlangt, getrennte Räume ausgesucht. Alles Vierbettzimmer. Ob das die ganze Nacht so bliebe, konnten und wollten wir nicht kontrollieren.
Aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig fahrlässig von uns.
Erfahrungsgemäß hatten siebzehnjährige Mädchen ältere Freunde und interessierten sich meistens nicht für gleichaltrige Jungen. Von intimen Freundschaften innerhalb der großen Schülergruppe wussten wir nichts. Sie gingen uns auch nichts an.
Am nächsten Morgen wurde am Frühstückstisch eine Änderung unserer Reisepläne verkündet. Albert hatte durch ein Telefonat erfahren, dass der Besuch im Kernkraftwerk ausfallen musste. Da die meisten in unserer Schülergruppe, wie wir bereits wussten, Kernkraftgegner waren, hielt sich die Enttäuschung in Grenzen.
Ich hatte spontan eine Idee: „Leute, wir sind am Nord-Ostsee-Kanal. Ihr wisst, dass die Meereshöhen zwischen Nord- und Ostsee unterschiedlich sind. Damit Schiffe den Kanal durchqueren können, gibt es ein Schiffshebewerk in Brunsbüttel. Ich schlage vor, dass wir das übermorgen besuchen und dafür heute die Landvermessung in Albersdorf machen. Die Helgolandfahrt ist für Mittwoch gebucht. Dabei soll es auch bleiben.“
Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hatte als zweiten Leistungskurs Physik gewählt, die übrigen alle den Grundkurs. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass sie sich für technische Dinge interessierten und sich auf das Schiffshebewerk freuten, was der zustimmende Beifall vermuten ließ.
Die Landvermessung musste dafür herhalten, dass unsere Studienfahrt zumindest ein mathematisches Thema vorzuweisen hatte. Ausschließliche Aktivitäten wie Besuche von Kunstausstellungen hätten nicht gereicht, um eine Genehmigung für die Fahrt zu bekommen. Schirmherrin unserer Landvermessung sollte die Trigonometrische Eins sein: Sinus Quadrat Alpha plus Kosinus Quadrat Alpha gleich Eins. Immerhin war die Trigonometrie eines der Hauptthemen im ersten Halbjahr des elften Schuljahres gewesen. Bei der Durchführung unseres Plans sollten für die Winkelmessung ein klobiger, alter Theodolit auf einem Holzstativ und für die Längenmessung diverse Bandmaße aus der Sportsammlung sein. Natürlich durften für die Auswertung der Messergebnisse Taschenrechner aus der Mathematik-Sammlung nicht fehlen, denn wer sollte schon wissen, welche Zahl zum Beispiel Sinus von 13 Grad ist.
Zur damaligen Zeit gab es bereits wissenschaftliche Taschenrechner zu erschwinglichen Preisen. Ein Jahrzehnt zuvor hätte man bei der Auswertung noch umständlich mit Logarithmentafeln arbeiten müssen.
Punkt Zehn ging es, mit Schreibblock und Stift bewaffnet, per Bus hinaus aufs Land. Wir fanden nach einer Weile ein geeignetes Gelände, eine große Wiese mit angrenzendem Bach. Ein nahegelegener hoher Schornstein und eine wuchtige Scheune passten ebenfalls in unser Konzept. So konnten wir die Längen unzugänglicher Strecken berechnen. Die dazu benötigten Winkelgrößen wurden mit Hilfe des Theodoliten gemessen.
Während die jungen Leute zwei Stunden lang intensiv arbeiteten und Ergebnisse notierten, bekamen wir unerwartete Zuschauer. Etwa zehn Kühe hatten sich auf der angrenzenden Weide eingefunden und glotzten unentwegt über den Drahtzaun zu uns herüber. So etwas Verrücktes hatten sie wohl noch nie gesehen: Landvermessung auf einer Wiese. Mit so vielen Leuten.
Nachdem die Messgeräte im Bus verstaut und alle wieder mit ihren Unterlagen in den Bus gestiegen waren, ging die Fahrt zurück ins Zentrum von Albersdorf, wo sich die drei Kurse mit ihren Lehrern trennten, um Mittag zu essen.
Ich fand mit meiner Gruppe ein Gartenlokal, wo wir es uns draußen an drei zusammengestellten Tischen in einer windgeschützten Ecke gemütlich machten, zu Mittag aßen und anschließend die Messergebnisse auswerteten und die selbst gestellten Aufgaben lösten.
Als alle fertig waren, fragte mich Susanne, eine meiner Schülerinnen, was wir mit der restlichen Zeit bis abends machen sollten. Dann auf einmal: „Sie haben uns doch letzte Woche versprochen, einen Schwank aus Ihrem Leben zu erzählen. Jetzt wäre doch eine Gelegenheit dazu.“
Obwohl ich darauf vorbereitet war, war mir die Sache peinlich. Zunächst sträubte ich mich.
Markus hielt mir entgegen: „Sie können sich jetzt nicht drücken. Haben Sie uns nicht erzählt, dass Sie im vergangenen Jahr sogar im Matheunterricht einen Humphrey-Bogart-Film gezeigt haben? War es nicht Casablanca oder Tote schlafen fest? Dann können Sie uns auch mal etwas Persönliches aus Ihrer Jugend erzählen.“
Ich verstand zwar den Zusammenhang nicht ganz, nickte aber trotzdem.
Daniel meinte: „Sie sind doch sonst nicht so. Vor kurzem haben Sie uns im Matheunterricht Kabarettgeschichten mit Hanns Dieter Hüsch vorgespielt.“
Ich war überredet und schlug vor, dass sie sich alle auf meine Kosten ein Getränk bestellten, während ich ein wenig Zeit bräuchte, um über eine geeignete Geschichte nachzudenken.
Dass ich längst wusste, welche Story ich notfalls zum Besten geben würde, verschwieg ich. Alles war für den Fall, der jetzt eingetreten war, vorbereitet. Ich zog einen Umschlag aus meiner Jackentasche und öffnete ihn. Zum Vorschein kam ein Stapel Blätter, mit einem Text, den ich mit der Schreibmaschine getippt hatte.
„In eurem Alter war ich ein begeisterter Radfahrer. Ich erinnere mich noch an eine abenteuerliche Tour, die euch vielleicht interessieren könnte. Die Geschichte ist aber lang.“
Wie im Chor: „Das macht nichts!“
Eines der Mädchen neugierig: „Haben Sie das extra für uns aufgeschrieben?“
Ich, etwas verlegen: „Nein. Das ist eine Geschichte für sich. Ich habe den Text für Manuela geschrieben …“
Marion wollte es genau wissen. „Ist das die Sängerin, von der Sie mal gesagt haben, dass Sie sie kennen. Ich habe es meiner Mutter erzählt. Sie fing daraufhin an zu singen: Schuld war nur der Bossa Nova. Was kann ich dafür?“
Alle lachten.
„Ja. Ich habe Manuela im letzten Jahr ein paar Mal auf ihrem Berghof in Seeg im Allgäu besucht. Sie wollte unbedingt, dass ich ihre Biografie schreibe. Ich habe ihr zwar gesagt, dass ich das nicht könnte, weil der Text dann zu sachlich ausfiele. Ich bin doch Mathematiker, kein Romanschreiber. Dann hat sie mich nach langem Hin und Her schließlich überredet, wenigstens mal einen Probetext zu schreiben. Den halte ich hier in Händen und lese ihn ihr vor, wenn ich sie im nächsten Monat in den Herbstferien besuche.“
Marion, etwas erstaunt: „Die Radtour hat aber nichts mit der Biografie zu tun, oder?“
„Nein, es geht nur um den Schreibstil.
Noch heute erinnere ich mich an die Einzelheiten von 1963, die ich den jungen Leuten 1980 im Gartenlokal vorgetragen habe. Die Geschichte ging folgendermaßen …
>> „Die machen dich nackig! Fahr nicht mit dem Rad nach England! Hörst du, Achim! Fahr bloß nicht! Die machen dich nackig! Glaub mir!“
Dieser bedrohliche Ratschlag stammte von meiner Tante aus Schwalbach an der Saar, die ich im Juni 1963 von Düsseldorf aus mit dem Fahrrad besucht und der ich erzählt hatte, dass ich in den Sommerferien mit meinem Rad nach England fahren wollte. Wir hatten am Küchentisch gesessen, während sie Brote für mich schmierte. Dabei hatte sie mich immer wieder mit ängstlichen Blicken angesehen und offensichtlich darauf gewartet, dass ich meine Reisepläne überdächte und änderte.
Erst hatte ich die Warnung verdrängt, dann aber am Morgen, als die Fahrradtour beginnen sollte, erinnerte ich mich wieder an die Worte meiner Tante. Was wollte sie einem Sechzehnjährigen mit „Die machen dich nackig“ eigentlich sagen? Hatte sie Angst, dass ich auf der großen Fahrt überfallen werden könnte? Eine andere Erklärung kam mir nicht in den Sinn.
Heute könnte ich mir vorstellen, dass sie damals, zur Zeit des Kalten Krieges, als Konrad Adenauer nach vierzehnjähriger Amtszeit immer noch Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war, jedoch im Oktober von Ludwig Erhard abgelöst wurde, die Berliner Mauer erst zwei Jahre stand, an die Engländer aus dem Zweiten Weltkrieg dachte, die sich für die deutsche Bombardierung rächen könnten. Ein solcher Gedanke wäre mir damals als Nachkriegsgeborener nicht in den Sinn gekommen. Ich wusste auch zu wenig darüber. Die Eltern sprachen kaum davon, im Geschichtsunterricht der Schule war das Thema Drittes Reich ausgelassen worden. Viele Erwachsene in der Bundesrepublik sprachen wegen des verlorenen Krieges oft abfällig über die Kriegsgewinnler, wie sie sie manchmal nannten, gaben ihnen Spitznamen. Der Engländer wurde Tommy genannt, der Russe, vor dem sie Angst hatten, dass er plötzlich vor der Tür stehen könnte, Iwan, der US-Amerikaner Ami, der Italiener Itaker, der Franzose Froschschenkelfresser - im Saarland Saufranzose - und so weiter.
Angst hatte ich jedenfalls keine. Mein Schulklassenkamerad Alfons war schließlich bei mir. Ich war doch nicht allein unterwegs. Wir wüssten uns schon zu wehren.
Meine Eltern betrachteten das Vorhaben ebenfalls mit gemischten Gefühlen, jedoch aus anderen Gründen. „Das ist viel zu weit bis zum Lake District“, meinten sie, nachdem sie unser Reiseziel auf der Landkarte gefunden hatten, gaben aber ihre Zustimmung, als sie von mir einen Tourplan mit Adressen von Jugendherbergen bekamen, die wir aufsuchen wollten.
Ein wichtiges Argument überzeugte sie endgültig: „Erst vor wenigen Wochen bin ich allein mit meinem überladenen Fahrrad morgens um sieben Uhr hier in Düsseldorf gestartet und um Mitternacht in Saarbrücken angekommen. Dreihundert Kilometer am Stück und nix ist passiert!“
Das hat sie überzeugt.
Alfons und ich hatten uns Folgendes überlegt. Wir wollten über Aachen nach Belgien und weiter über Antwerpen nach Oostende, um dort mit einer Fähre nach Dover in England überzusetzen. Von da aus sollte es durch die Grafschaft Kent weiter nach London gehen. Dort wollten wir ein paar Tage bleiben. Anschließend sollte es über Southampton durch Cornwall und Wales nach Norden hoch über Liverpool zum Lake District, fast bis Schottland gehen. Von da aus würden wir dann quer durch England einen kürzeren Weg zurück nach Dover finden und wieder den Ärmelkanal überqueren. Von Oostende aus wollten wir Richtung Rotterdam fahren und ein Mädchen in Holland besuchen. Tineke hatten wir ein paar Wochen zuvor auf einer Klassenfahrt in der Jugendherberge in Blankenheim kennengelernt.
Ein naiver Plan, aus heutiger Sicht vielleicht. Mir war damals wahrscheinlich nicht bewusst, dass die englische Landschaft sehr hügelig sein könnte. Wenn doch, dann hatte ich wohl gedacht, dass ich als Bezwinger von Eifel, Hunsrück und Schwarzwald nichts zu befürchten hätte. War ich nicht ein Jahr vor der England-Tour die zehn Kilometer lange Steigung vom Titisee bis zur Jugendherberge auf dem Feldberg an einem Stück, ohne anzuhalten oder abzusteigen, hochgefahren? Doch, war ich, und hatte es jedem, auch wer es nicht hören wollte, stolz erzählt. Es war eine Manie von mir, alle Steigungen, ohne vom Fahrrad abzusteigen, zu bezwingen. Natürlich war es verrückt, um nicht zu sagen eine mörderische Quälerei, mit einer Dreigang-Nabenschaltung beispielsweise auf der damaligen B 51 den Mettlacher, den Trierer oder den Prümer Berg ohne Unterbrechung hochzufahren.
Nachdem ich am Morgen des 23. Juli vor Fahrtbeginn mein rotes Sportfahrrad beladen hatte, stellte ich das fest, was ich zuvor befürchtet hatte. Es war eigentlich für eine so große Tour zu schwer. Neben Kleidung und Proviant hatte ich noch eine halbe Zeltausrüstung mit Aluminiumgeschirr und Kocher an Bord. Sogar eine große Glasflasche mit Brennspiritus war dabei. Die zum Zelt gehörigen schweren Metallstangen hatte ich schon am Vortag auf meinem Rad befestigt, Alfons die Zeltplane. Dass diese Aufteilung später für uns ein Nachteil sein könnte, auf die Idee waren wir nicht gekommen.
Als Alfons, der in der Nachbarschaft wohnte, bei mir erschien, prüften wir noch einmal die Fahrzeuge, bevor es losging. Beide Räder waren überladen. Da das ganze Gepäck auf den Ständern über den Hinterrädern befestigt war, gingen die Vorderräder im Stand immer hoch. Nur beim Fahren berührten beide Räder gleichzeitig den Boden, weil das Körpergewicht des Radlers einen Ausgleich schaffte. Eine wackelige Angelegenheit. Jung wie wir waren, dachten wir aber nicht weiter darüber nach.
„Hast du deinen Ausweis, die Landkarten und Geld dabei?“, fragte Alfons, während er seine Papiere noch einmal überprüfte. „Denk auch an den Jugendherbergsausweis. Wir können vielleicht nicht immer das Zelt aufbauen.“
Er hatte recht. Immerhin ging es ins Ausland: Belgien, England, Holland. Vielleicht sogar noch Dänemark, wenn die Zeit und das Geld reichten. Da brauchten wir zumindest unseren Personalausweis und eine Visiter’s Card für die Einreise nach England. Diese sollten wir, wie wir im Reisebüro erfahren hatten, am Grenzübergang nach England erhalten.
„Wie geht es deinem Bein? Hast du immer noch Schmerzen?“, erkundigte ich mich, da er mir ein paar Tage zuvor erzählt hatte, dass er Probleme mit der Wade hätte.