Setzen Fünf - Joachim Kuhrig - E-Book

Setzen Fünf E-Book

Joachim Kuhrig

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Beschreibung

Sämtliche aus der Erinnerung geschilderten Begebenheiten sind authentisch. Lediglich die meisten Personen- und teilweise Firmennamen sind verfremdet, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Die Schulzeit am Gymnasium erscheint mir im Nachhinein wie eine neunjährige Kabarettveranstaltung, wobei die Lehrer Opfer ihres unfreiwilligen Humors sind. Einer der Englischlehrer wirkt wie ein Zyniker mit dem Aussehen und der Stimme des ehemaligen Fernsehmoderators Dieter Thomas Heck. Die Religionslehrer scheinen sich, ohne es zu merken, wie Komiker aufzuführen. Einem Mathematiklehrer wird nicht bewusst, dass er in einer Klassenarbeit Stoff abfragt, den er gar nicht unterrichtete hat. Ein langjähriger Deutschlehrer lässt drei Klassenarbeiten an einem Tag schreiben und gibt sie am gleichen Tag mittags benotet zurück. Ein Chemielehrer verursacht bei einem Experiment mit einer Natriumstange eine Panik. Eine Wette auf dem Pausenhof führt zu einem Freizeitabenteuer der außerschulischen Art.

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Seitenzahl: 104

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Setzen Fünf – Englisch

Wenn du hier den Hampelmann markieren willst, dann fliegst du raus – Religion

Wääch jetzt noch einmol locht, dääch fliegt raus – Latein

Es gibt kein Ende, es geht nicht weiter – Mathematik

Haben wir jetzt Geschichte oder Deutsch oder Philosophie – Deutsch

Wir fahren nach Blankenheim – Chemie

Gefährliche Münzen – Wette in der Schulpause

Danksagung –

Autoren-Vita

Weitere Bücher des Autors

Vorwort

Sämtliche aus der Erinnerung geschilderten Begebenheiten sind authentisch. Lediglich die meisten Personen- und teilweise Firmennamen sind verfremdet, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen.

Die Schulzeit am Gymnasium erscheint mir im Nachhinein wie eine neunjährige Kabarettveranstaltung, wobei die Lehrer Opfer ihres unfreiwilligen Humors sind.

Einer der Englischlehrer wirkt wie ein Zyniker mit dem Aussehen und der Stimme des ehemaligen Fernsehmoderators Dieter Thomas Heck.

Die Religionslehrer scheinen sich, ohne es zu merken, wie Komiker aufzuführen.

Einem Mathematiklehrer wird nicht bewusst, dass er in einer Klassenarbeit Stoff abfragt, den er gar nicht unterrichtet hat.

Ein langjähriger Deutschlehrer lässt drei Klassenarbeiten an einem Tag schreiben und gibt sie am gleichen Tag mittags benotet zurück.

Ein Chemielehrer verursacht bei einem Experiment mit einer Natriumstange eine Panik.

Eine Wette auf dem Pausenhof führt zu einem Freizeitabenteuer der außerschulischen Art.

Setzen Fünf

Englisch

„Junge, du musst erst Latein lernen, später dann Englisch“, höre ich sie noch sagen, die Eltern, die Verwandten. „Wer Latein kann, kann auch Italienisch, Spanisch, Rumänisch …“

Verwechsle ich das jetzt mit den Sprüchen aus Hanns Dieter Hüschs Kabarettveranstaltungen?

Jedenfalls erlebte ich im siebten Schuljahr am Gymnasium meinen ersten Englischunterricht. Und den werde ich zeit meines Lebens nicht vergessen. Ich träume noch heute davon. Manche Episode erinnert an Spoerls Feuerzangenbowle oder Heinrich Manns Professor Unrat. Die Romane hatte ich später gelesen, die Filme mehrfach gesehen. Vieles kann man dadurch erklären, dass meine Schulerlebnisse aus einer anderen Zeit stammen als die darauf folgende, in der ich selbst unterrichtete. Das Schulwesen hatte sich nach den Sechzigerjahren stark verändert. Dazu gehören vor allem die Unterrichtsmethoden und die Notenfindung.

Für mich begann Englisch mit einer Katastrophe. Das rechtzeitig bestellte Lehrbuch war wochenlang nicht im Buchhandel zu bekommen, damals, als Adenauer gerade zum zweiten Mal Bundeskanzler geworden war. Das Buch wäre vergriffen, sagte man mir im Laden.

Ich hatte einen sehr sympathischen Lehrer. Er hieß Lückendorf und war Anfang dreißig. Seine Figur, sein Auftreten, seine Aussprache erinnerten mich an den Schlagersänger Bill Ramsey, der damals mit komischen Nummern wie Pigalle, Pigalle, der Speck in dieser Mausefalle schmeckt so zuckersüß … sehr populär war. Seine humorvolle Art faszinierte uns. Wenn er zum Beispiel lateinische Texte mit amerikanischem Akzent vortrug oder Deutsch mit englischem Akzent sprach wie der schon damals sehr bekannte und beliebte Rundfunk-Plattenplauderer Chris Howland, „Eue aalte Frreund Hainrich Pumpenickll is wiede daa“, kamen wir aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Während meine Mitschüler die amerikanische Aussprache des Englischen wie einen Dialekt verstanden und so hinnahmen, konnte ich mich darüber köstlich amüsieren. Unter einem sprechenden Amerikaner stellte ich mir einen Menschen vor, der mit einer heißen Kartoffel im Mund zu rülpsen versuchte. Mit meinen Ideen, dass Holländer röchelten, Österreicher jammerten und knatschten, Russen lallten, wie totalbetrunken klängen und Hessen babbelten, kam ich bei meinen Klassenkameraden nicht an. Sie sagten, wenn ich darauf zu sprechen kam: „Du spinnst!“

Ich musste hieran denken, als ich vor ein paar Jahren von einem Schweden-Urlaub zurückkam und an der Autobahnraststätte in der Nähe von Flensburg Pause machte. Da rülpste mich ein Amerikaner an und fragte auf breitem Amerikanisch, ob ich ihm Geld geben könnte. Noch ganz in Urlaubsstimmung antwortete ich auf Schwedisch, dass ich kein Englisch verstünde und ihm nicht helfen könnte. Irritiert trottete er von dannen.

Zur komischen Unterrichtssituation passte das Ambiente vorzüglich. Die Schule war im Seitengebäude eines Schlosses im Rheinland untergebracht. Damit alle einen Sitzplatz bekommen konnten, wurde jeder noch so kleine Raum ausgenutzt. Zusätzlich hatte man fünf Pavillons auf dem Schulhof aufgestellt. Die grau gestrichenen Holzhäuser, die wir Baracken nannten, konnten jeweils über fünfzig Schüler beherbergen. In einem dieser Häuser war unser Unterrichtsraum. Meine Klasse hatte zweiundfünfzig Jungen, keine Mädchen. Es herrschte Geschlechtertrennung, obwohl alle zur selben Schule gehörten. Der Unterricht verlief im Schichtverfahren, eine Woche wurden im Wechsel vormittags die Jungen und nachmittags die Mädchen unterrichtet. Das ging zu meiner Zeit noch drei Jahre lang, ehe die Mädchen außerhalb des Schlossparks eine eigene, neu erbaute Schule bekamen. Acht Millionen Mark soll sie gekostet haben. Vor meiner Zeit, als die Schülerzahl am Gymnasium viel geringer war, hatten alle zur gleichen Zeit Schule, getrennt durch eine Mauer auf dem Schulhof.

Unser Englischlehrer gab sich viel Mühe mit mir, hatte aber keinen Erfolg, weil ich irrigerweise überzeugt war, nicht ohne Buch lernen zu können. Ich brauchte das Englischbuch, um mir zu Hause den Schulstoff selbst beizubringen. Das galt für alle Fächer. Ohne Lehrbuch, glaubte ich, lief nichts. Zur Schule und später zur Universität ging ich nur, um mich zu erkundigen, was ich lernen sollte. Den Rest erledigte ich allein zu Hause.

An meiner Aussprache hatte Lückendorf nichts auszusetzen. Die fehlenden Vokabeln und die Schwächen in der Grammatik brachen mir jedoch das Genick.

Ich schrieb in den Klassenarbeiten zunächst eine Sechs nach der anderen. Erst als es um die Versetzung ging, arbeitete ich mich mit dem Buch Learning English, das ich schließlich bekommen hatte, auf eine Fünf hoch, die einzige Fünf auf dem Zeugnis. Dem Lehrer gab ich keine Schuld für mein Versagen. Er konnte ja nichts dafür, dass ich in den ersten Monaten kein Lehrbuch hatte.

Trotz meines Misserfolges in Englisch ging ich gern zur Schule. Fast jeglicher Unterricht war für mich wie eine Kabarettveranstaltung. Ich hätte permanent lachen können, so sehr amüsierte ich mich über die meisten Lehrer, allen voran unseren Lateinlehrer Müller. Als der zum ersten Mal unseren Klassenraum betrat, rief er, nein röchelte er: „Locht nicht so blöde! Wer jetzt noch einmal locht, der fliegt raus.“ Niemand hatte zuvor gelacht. Wir sahen uns alle verdutzt an und schmunzelten. Am komischsten wirkte sein eigenes Lachen. Wir hörten es gleich in der ersten Lateinstunde, als ein Schüler Ich bin 54 Jahre alt ins Lateinische übersetzen sollte, und sinngemäß Ich bin 1954 geboren sagte. „Uah, uah, uah! Dann wäch ich ja erst fiech Johre alt. Uah, uah, uah!“, röchelte er und klopfte mit den flachen Händen aufs Pult. Dabei hingen sein Oberkörper und die ausgebreiteten Arme auf der Tischplatte. Die Krawatte, die mit einer Nadel am beigefarbenen Hemd befestigt und unter dem Kinn hervorgerutscht war, passte nicht zu seinem altmodischen dunkelbraunen Anzug mit Hosenträgern. Wir trauten uns nicht, laut zu lachen, kicherten aber alle. Anschließend sprang Müller auf, dass sein Stuhl am Lehrerpult fast umfiel, rannte wie von der Tarantel gestochen durch die Gänge, stellte dabei die gleiche Übersetzungsaufgabe, stürzte auf einen Schüler zu, um sich im gleichen Moment auf dem Absatz umzudrehen und den Namen eines anderen Jungen zu rufen, der ganz woanders saß. Dieser war, völlig überrumpelt, nicht in der Lage zu antworten. „Schlof waitech, Johanna!“, röchelte Müller verschmitzt. Jetzt trauten sich einige Klassenkameraden laut loszuprusten. Ob seine Frau wohl Johanna hieß?, ging es mir durch den Kopf.

Dass einige Lehrer auf uns wie Komiker wirkten, erkläre ich mir heute so: Sie haben im Zweiten Weltkrieg vielleicht traumatische Erlebnisse gehabt und nicht ohne Verletzungen überlebt.

Unser Geschichtslehrer zum Beispiel erzählte uns häufig seine Kriegserlebnisse. Einmal erwischte ich ihn dabei, wie er mogelte. Er schilderte in aller Ausführlichkeit, wie er in einer Grube auf dem Boden gefesselt gelegen und eine riesige Metallsichel sich von oben schwingend auf ihn zubewegt hätte. Dabei zeigte er uns Narben an seinen Fingern, die von den Schnittwunden herrühren sollten. Als ich meinem Lehrer entgegnete, dass ich seine Geschichte kannte, sie in Die Grube und das Pendel von Edgar Allen Poe gelesen hatte, wurde sein Gesicht rot und er wechselte beleidigt das Thema.

Zurück zum Englischunterricht.

Während ich in Mathematik Klassenbester war, gab es nur einen, der in Englisch schlechter war als ich. Krawitzki. Er hatte bereits die Klassen fünf und sechs wiederholt und stand kurz vor seiner Entlassung, weil er auch im zweiten Anlauf das siebte Schuljahr, die Quarta, nicht erfolgreich überstehen sollte. Der Junge, der drei Jahre älter war als ich, tat mir leid. Ich half ihm gelegentlich beim Rechnen.

Nachdem es zu Beginn des achten Schuljahres zur ersten Englischstunde geläutet hatte, wurde es ernst. Mein Leben und das fast aller Mitschüler sollte sich entscheidend ändern. So sehr, dass wir uns nach mehr als fünfzig Jahren beim jährlichen Klassentreffen mit Wut im Bauch an den danach neuen Lehrer erinnerten, der uns sechs lange Jahre schikaniert hatte. „Mula, diese Drecksau!“, hieß es jedes Mal.

Schon sein erstes Auftreten schockierte uns. Dabei unterhielten wir uns friedlich, nicht besonders laut, als er zur Tür hereinkam. Statt freundlich Guten Morgen zu sagen, schmiss er seine vergammelte, beigefarbene Aktentasche aufs Lehrerpult und brüllte uns an, dass uns Hören und Sehen verging: „Mein Name ist Mula und ich will, dass hier Ruhe ist!“

Es war sofort mucksmäuschenstill. Selbst ich, der fast immer in der ersten Reihe saß und selten um einen dummen Spruch verlegen war, blieb stumm.

Wenn ich heute an diesen Mann denke, erinnert er mich an einen Fernsehmoderator mit dem Künstlernamen Dieter Thomas Heck. Der sollte ein paar Jahre später durch seine Moderation der ZDF-Hitparade als Schnellsprecher Karriere machen. Redakteur der Sendung war ein Herr, der durch Schutzgelderpressungen, wie es die Sängerin Manuela Jahre später versicherte, bekannt wurde.

Aber das ist eine andere Geschichte, mit der Heck und erst recht Mula nichts zu tun hatten.

Mula ähnelte im Aussehen Heck sehr, war nur etwas kleiner, gedrungener und trug auch keine modische Kleidung wie er, sondern einen grau gemusterten Anzug mit weißem Hemd, Hosenträgern und beiger Krawatte. Ihre Stimmen klangen allerdings verblüffend ähnlich.

Im Unterricht ließ Mula uns reihenweise in die Falle laufen, wollte uns zeigen, dass wir nichts konnten. Wir mussten Sätze bilden mit to sit und to set, to lay und to lie, to rememberund to remind und so weiter. Immer wenn wir etwas falsch machten, schlug er mit seinem Ehering aufs Pult als Signal, dass wir den Fehler korrigieren sollten.

Als ich an die Reihe kam, versuchte ich, die angespannte Atmosphäre aufzulockern, indem ich scherzhafterweise fragte, ob to lock und to castle oder to church und to cherry nicht auch schöne Beispiele wären. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, schüttelte den Kopf und brüllte: „Kuhrig, setzen! Fünf! Du hast nichts verstanden.“ Er schrieb eine Fünf ins Notizbuch. Es sollte nicht die letzte sein.

In einer der nächsten Stunden fiel Alfred ein Bleistift auf den Boden. Mula sah das und forderte ihn auf: “Leg dich daneben!“

Alfred reagierte nicht, blieb sitzen und sah den Lehrer verdutzt an.

„Zur Strafe schreibst du zu Hause zwölf Sätze mit to sit und to set …“, zischte Mula, „und liest die in der nächsten Unterrichtsstunde vor.“

Beim Vortragen am nächsten Tag verhaspelte Alfred sich beim elften Satz und musste zur Strafe für das nächste Mal 24 Sätze bilden.

Als er in der darauffolgenden Englischstunde begann, die Sätze vorzulesen, war gleich nach dem zweiten Satz Schluss.

„Der ist zu kurz. Fünf! Setzen! 48 Sätze für übermorgen!“, brüllte Mula. „Sit down!“, hatte Alfred geschrieben; das ließ er nicht gelten.

Dieses Spiel trieb unser Englischlehrer bis zur Oberprima. Einer musste mal 96 Sätze schreiben.

Einige Tage später wurde auf dem Schulhof ein Handel mit derartigen Sätzen getrieben, gegen Geld versteht sich. Wie durch ein Wunder blieb ich mit solchen Sonderaufgaben verschont. Ich machte andere Fehler, benutzte bei einer Übersetzung vom Deutschen, in dem das Wort örtlich vorkam, ins Englische das Wort local. Sofort schlug Mula mit seinem Ring aufs Pult und fragte die Klasse: „Was ist hier falsch?“

„Hier ist nichts falsch“, rief ich dazwischen. „Local kommt aus dem Lateinischen, von locus, der Ort.“ Dabei betonte ich das o als langen Vokal. Auf Lateinisch wird es kurz gesprochen.

Ich sah mich um. Alle Klassenkameraden grinsten. Mula blieb ernst. „Kuhrig, setzen. Fünf! – Da müssen wir wohl schließlich alle mal hin. Aber nicht jetzt.“

Bis heute hat mir niemand erklären können, wieso man örtlich nicht mit local übersetzen darf.

Mulas Ungerechtigkeit in diesem Fall wollte ich nicht durchgehen lassen, und ich überlegte, wie ich ihn bestrafen könnte. Aber es fiel mir erst drei Jahre später, als ich mich an den Vorfall erinnerte, etwas Passendes ein.