Schlüsselerlebnis - Joachim Kuhrig - E-Book

Schlüsselerlebnis E-Book

Joachim Kuhrig

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Beschreibung

Sebastian ist Deutschlehrer an einem Gymnasium, der schlechte Schülerleistungen mit schlechten Noten bewertet. Das gefällt dem Schulleiter nicht. Durch menschenverachtendes Mobbing wird Sebastian in die Enge getrieben und erleidet unsägliche psychische Qualen. Dabei will er eine Doktorarbeit über Carl Zuckmayer schreiben. - Die Fahrradtour eines Kilometerfressers in Norwegen endet unfreiwillig nach eins Komma sechs Kilometern. Es bleiben Röntgenbilder anstelle von Urlaubsfotos. - Hasenbach will Mathematiklehrer am Gymnasium werden. Die Ausbildungslehrer bringt er mit seinem eigenwilligen Auftreten als Meister der unfreiwilligen Komik zur Verzweiflung. - Der Verlierer zweier Schlüssel auf einer langen Fahrradtour in Schweden erleidet ein Schlüsselerlebnis mit seinen Freunden.

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Seitenzahl: 258

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Das werden Sie noch bereuen

Sykkelfantom

Hasenbachs Scheitern

Schlüsselerlebnis

Das werden Sie noch bereuen

Mir war heiß. Ich hatte das Gefühl, dass mein Schädel jeden Moment platzen müsste. Wo war ich? Ich versuchte nachzudenken, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Langsam dämmerte es mir. Hatte ich nicht eben noch gefroren?

Wieder mal hatte es mich erwischt. Erst Schüttelfrost, dann hohes Fieber. Venenentzündung? Ob mein linkes Bein schon knallrot war? Ich wollte, konnte aber nicht nachsehen. Zu schlapp. Ich lag mit offenen Augen im Bett. Es musste Abend oder Nacht sein, denn so sehr ich mich auch anstrengte, es war nichts zu sehen. Ich döste vor mich hin, versuchte Geräusche wahrzunehmen. Das Rauschen einer Straßenkehrmaschine meinte ich durch das Fenster meines Zimmers zu hören, sonst nichts. Dann kann es noch nicht Nacht sein, ging es mir durch den Kopf.

Auf einmal meinte ich einen schwachen Lichtstrahl zu erkennen, auch Stimmen. Ein Mann und eine Frau. Sie flüsterten. Oder bildete ich mir das im Fieberwahn nur ein?

„Sebastian ist tot. Wir müssen es ihm sagen“, hörte ich die männliche Stimme wie aus weiter Ferne.

„Bloß nicht! Der ist doch krank. Siehst du das nicht? Guck ihn dir an!“

Wie hatte sie sehen können, dass ich krank war? Waren die beiden schon an meinem Bett? Ich schloss die Augen und überlegte angestrengt. Was hatte ich gehört? Wer war gestorben?

„Wach auf! Wir sind’s, Kathrin und Reiner.“

Eine Weile war es still.

„Sebastian ist tot.“

„Welcher Sebastian?“

„Heute Morgen haben wir im Lehrerzimmer eine Todesanzeige am schwarzen Brett gefunden. – Sebastian Neufeld ist gestorben.“

Auf einmal war ich hellwach.

„Das glaube ich nicht!“

„Wir haben für dich eine Kopie gemacht. – Was ist eigentlich los mit dir? Warst nicht zur Arbeit. Liegst im Bett. Bist du krank?“

„Venenentzündung glaube ich. – Schon wieder.“

Kathrin schluckte und sah Reiner an. „Oh! – Hätten wir doch besser nichts gesagt. War der Arzt schon da?“

„Ja.“

Stille.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als Reiner schließlich das Schweigen brach: „Das Original hat nicht mal eine Stunde an der Wand gehangen, dann war es verschwunden. Irgendein Idiot hat es abgerissen.“

Wieder Stille.

Ich versuchte zu verstehen. Meine Freunde aus dem Lehrerkollegium, Kathrin und Reiner, waren gekommen, um mich zu besuchen. Sie erzählten mir, dass unser Kollege Sebastian gestorben war. In einer Todesanzeige hätten sie es gelesen und mir eine Kopie dieser Anzeige mitgebracht. Das Original wäre verschwunden.

Das konnte nur Gattermann gewesen sein. War Sebastian wirklich tot? – Mir schwanden die Sinne.

Als ich aufwachte, schien die Sonne ins Zimmer. Ich hörte Vogelzwitschern und vernahm den Duft frisch zubereiteten Kaffees, der von der Küche aus durch den Flur in meine Nase gedrungen war. Diesen Geruch mochte ich. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es möglich war, dass Kaffeeduft sich so schnell über weite Entfernung selbst durch verschlossene Türen verbreiten konnte. Es musste Morgen sein. Ich wusste nicht, wie spät es war, und konnte die Zeit ohne Brille nicht von der Nachttischuhr ablesen. Ich fasste an meinen Kopf und stellte fest, dass ich immer noch Fieber haben musste. Wo war bloß das verflixte Thermometer? Beim Versuch, die Brille zu angeln, wurde mir schwindelig.

Dann hatte ich auf einmal etwas in der Hand, ein Stück Papier. Es war bedruckt. Der Text war schwarz umrahmt. – Eine Todesanzeige. – Da war doch eben noch etwas. Nur was? Ich konnte mich an nichts erinnern.

„Sebastian Neufeld“ stand da in großen Buchstaben. Plötzlich fiel es mir ein. Reiner und Kathrin waren hier gewesen und hatten mir etwas erzählt.

Ich las weiter: „Wir trauern um meinen Bruder, Schwager und Onkel, der uns unerwartet verlassen hat ...“ Dann folgte noch ein Zitat von Carl Zuckmayer, an das ich mich heute nicht mehr erinnere. Es konnte keinen Zweifel geben. Unser Freund war tot.

Oder doch nicht? Hatte er nicht vor kurzem noch gesagt, er wollte sich unsichtbar machen? Was mochte er damit gemeint haben? Ich grübelte und grübelte, kam aber zu keinem Ergebnis.

Beim Gedanken, dass er tot sein könnte, fühlte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich verspürte eine ohnmächtige Beklemmung. – Tot oder nicht tot? – Dieser verfluchte Gattermann, dachte ich. Ich legte das Blatt beiseite, wischte mir mit den Händen das feuchte Gesicht ab und dachte nach. Wie konnte das nur passiert sein? „unerwartet verlassen“ Merkwürdige Formulierung. Was bedeutete das?

War er krank gewesen? Hatte er einen Unfall gehabt? Hatte er sich das Leben genommen? War er ermordet worden? – Oder lebte er noch und hatte seinen Tod nur inszeniert? Hatte er das etwa mit unsichtbar machen gemeint?

„Das werden Sie noch bereuen, Herr Neufeld.“

Hatte ihm sein Chef Gattermann nicht vor Jahren so oder ähnlich gedroht? Wieso fiel mir dieser Satz jetzt ein?

Ich fasste mir wieder an die schweißnasse Stirn. Wegen des Fiebers konnte ich meine Gedanken nicht ordnen, so sehr ich mich auch bemühte. Ich war handlungsunfähig.

Könnte ich zur Beerdigung fahren? Nein, so schnell wäre ich nicht wieder gesund. So eine Venenentzündung dauerte mindestens vierzehn Tage. Ich war mutlos und unendlich traurig. Nach einer Weile schlief ich wieder ein.

Als ich erwachte, stand das Mittagessen neben dem Bett. Ich hatte es nicht angerührt. Ich hatte die ganze Zeit über tief geschlafen und erinnere mich noch heute, dass ich von einem Mord geträumt hatte. Sebastian stand mit einem Heft in der Hand in einem Klassenzimmer. Ein Mann redete unentwegt auf ihn ein. Sebastian schüttelte immer nur den Kopf und zeigte auf das Heft. Er sagte keinen Ton. Der andere Mann rief unentwegt: „Das werden sie noch bereuen!“ Dann stieß er mit einem Messer zu. Sebastian fiel zu Boden. Ich wachte auf.

Trotz des Albtraums ging es mir besser. Das Fieber und die Kopfschmerzen hatten ein wenig nachgelassen und ich konnte klarer denken als zuvor. Die Todesanzeige fiel mir wieder ein. Es ließ mir keine Ruhe. War Sebastian wirklich gestorben? Er war gerade mal über fünfzig. Ich musste wieder an meinen furchtbaren Traum denken. Angestrengt überlegte ich und ließ alles, was ich über ihn wusste, im Geiste Revue passieren.

Ein paar Tage später ging es mir schon bedeutend besser. Wegen der Entzündung war aber immer noch Bettruhe angesagt.

Ich hatte mir überlegt, alles aufzuschreiben, was ich über Sebastian wusste. Vielleicht würde ich dann eine Erklärung für seinen Tod finden. So begann ich, mir Notizen zu machen.

Sebastian war seit dreißig Jahren Lehrer an einem Gymnasium. Dort lernte ich ihn als Kollegen kennen. Während der ersten Jahre verband uns wenig miteinander, weil die Schule mit zweitausend Schülerinnen und Schülern groß und dementsprechend das Kollegium zunächst unüberschaubar war. Außerdem trennten uns die Fachbereiche. Er unterrichtete Deutsch und Geschichte, ich Mathematik und Physik.

Anfangs hatte er hauptsächlich Kontakt zu seinen Fachkollegen, so zum Beispiel zu Gattermann, damals noch Studienrat und ohne Doktortitel. Er unterrichtete die gleichen Fächer wie Sebastian, zusätzlich aber noch evangelische Religionslehre. Gattermann traf er außerhalb der Unterrichtszeit gelegentlich in der Bibliothek der nahegelegenen Universität. Beide arbeiteten dort an ihren Doktorarbeiten.

„Ich werde in ein paar Jahren dein Schulleiter“, hatte Gattermann ihm mal bei einem solchen Treffen zu verstehen gegeben und ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Na, dann kann es ja nicht schaden, sich mit ihm gut zu verstehen, dachte sich Sebastian und erzählte mir schmunzelnd diese Geschichte während eines Abendessens im Restaurant Sechseck.

Das gute kollegiale Verhältnis zwischen diesen beiden ging jedoch eines Tages jäh zu Ende. Sebastian war von unserem damaligen Schulleiter, Dr. Geiselhart, als Zweitkorrektor im Abitur eingesetzt worden. Er musste die schriftlichen Arbeiten eines Deutsch-Leistungskurses von Gattermann begutachten. Da es damals noch kein Zentralabitur gab, stammten die Aufgaben von Gattermann.

Die Ergebnisse nach Sebastians Zweitkorrektur stimmten weitgehend mit denen von Gattermann überein, bis auf eine gravierende Ausnahme. In dem Kurs befand sich nämlich eine Schülerin, deren Vater, ein Pfarrer, mit Gattermann befreundet war. Die Arbeit dieser Schülerin war von Gattermann mit gut bewertet worden. Dieses Urteil hätte nicht weiter für Aufregung gesorgt, wenn Sebastian nicht anderer Meinung gewesen wäre und ausreichend unter diese Arbeit geschrieben hätte. Sebastian erklärte mir auch warum. Ich verstand es so, dass die Schülerin mit ihren Ausführungen das Thema verfehlt hatte und froh sein konnte, dass sie nicht die Note mangelhaft erhielt.

Nachdem Gattermann Sebastians Ergebnis erfahren hatte, war er fuchsteufelswild geworden und hatte ihn zur Rede gestellt. Das könnte er nicht machen, meinte er vor Wut schäumend, die Arbeit sei gut. Das werden Sie noch bereuen, Herr Neufeld, hatte er ihm mit drohendem Zeigefinger zugerufen, als Sebastian sich nicht bekehren ließ. Dann hatte er mit hochrotem Kopf das Lehrerzimmer verlassen.

Aus dem ‚Du‘ war ein ‚Sie‘ geworden. Ein historischer Augenblick, der Beginn einer mit Bitterkeit ausgetragenen einseitigen Feindschaft, kann ich aus heutiger Sicht sagen.

Bei einer solchen Notendiskrepanz musste nach den Abiturregeln ein dritter Deutschlehrer entscheiden. Dieser Kollege wird von mir heute noch ironisch ‚Herr Drittkorrektor‘ genannt, denn er hatte sich damals Erstaunliches geleistet. Er bewertete die strittige Abiturarbeit mit befriedigend. Von Sebastian daraufhin angesprochen, gab er unter vorgehaltener Hand zu verstehen, Sebastian hätte ja Recht gehabt mit seinem Urteil. Er könnte es sich als Drittkorrektor jedoch nicht leisten eine schlechtere Note unter die Arbeit zu schreiben, auch wenn sie gerechter wäre, weil er noch befördert werden wollte. Man müsste ja damit rechnen, dass Gattermann mal Schulleiter werden und ihm dann schaden könnte.

Diese feige Verhaltensweise von Lehrern war damals noch eine Seltenheit, muss ich aus heutiger Sicht sagen. In der letzten Zeit jedoch habe ich mehrfach erlebt, dass Kolleginnen und Kollegen absichtlich bessere Noten unter schlechte Klassenarbeiten und Klausuren schreiben, um nicht ihre Beförderungschancen zu schmälern. Diese hängen nämlich maßgeblich vom Wohlwollen der Schulleitung ab. Und der Schulleiter verlangt heute wegen des Konkurrenzkampfes gegen die Nachbarschulen auf Teufel komm raus gute Ergebnisse.

Kathrin und Reiner waren schon zwei oder drei Jahre mit Sebastian befreundet, ehe ich zu diesem Kreis gehörte. Es waren gemeinsame Interessen, wie Fahrradtouren, Kabarett, Hallensport und Schwimmen, die uns zusammenbrachten. Nach solchen Aktivitäten gab es immer noch in einem Restaurant ein gemütliches Zusammensein mit Abendessen und Gesprächen über alles Mögliche. Oftmals trafen wir uns zweimal die Woche, abwechselnd in verschiedenen Lokalen, meistens im Sechseck.

Reiner war der Sportlichste in unserem Quartett, ein Meister im Bergsteigen und Radfahren. Kathrin war mit ihm verheiratet und machte alles mit.

Auf sportlichem Gebiet hatte ich bei weitem nicht so viel zu bieten wie Reiner, wenn man von extrem langen Fahrradtouren absieht, die ich noch heute liebe und mit viel Ausdauer durchhalte. Es ist allerdings schon lange her, dass ich morgens mit schwer beladenem Rad abgefahren und nach dreihundert Kilometern noch am gleichen Tag spät abends in der Nähe von Saarbrücken mein Zelt aufschlug.

Sebastian zeigte sich auf sportlichem Gebiet zwar ebenfalls ausdauernd, andererseits oft auch sehr ungeschickt. Keine Absperrung oder Unebenheit, wie zum Beispiel eine Baumwurzel neben dem Radweg, war vor ihm sicher. Er streifte sie mit seinem Rad und man hatte ständig Angst, dass ihm ein Unglück zustoßen könnte. Wie durch ein Wunder blieb er immer unverletzt, nur das geliehene Fahrrad war anschließend nicht mehr zu gebrauchen. Einmal war er sonntags auf einer Tagestour mit dem linken Pedal an einem Hindernis hängengeblieben. Ich glaube, es war eine auf den Radweg gewachsene Baumwurzel. Wir mussten uns bei wildfremden Leuten Werkzeug ausleihen, um das Rad in stundenlanger Arbeit wieder einigermaßen fahrtüchtig zu machen.

Von der Figur her erinnerte er an Heinz Erhard in dem Film ‚Immer die Radfahrer‘. Er besaß auch zuweilen dessen schelmischen Gesichtsausdruck. Meist war er altmodisch gekleidet. Er trug einen leicht abgewetzten erdfarbenen Anzug mit hellblauem Hemd und dazu eine dunkle Baskenmütze, selbst beim Radfahren. Sportkleidung, wie wir sie hatten, besaß er nicht.

Seine große Leidenschaft galt der Dissertation über Carl Zuckmayer, an der er jahrelang Tag und Nacht geschrieben hatte. Mit seinen Gedanken war er stets bei dieser unvollendeten Arbeit. Das erklärt auch die Unkonzentriertheit beim Radfahren. Er philosophierte unentwegt und nahm seine Umwelt kaum wahr.

Weil Reiner, Kathrin und ich naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik unterrichteten, konnten wir Sebastian bei seiner Doktorarbeit kaum unterstützen. Deshalb sprachen wir auch selten über inhaltliche Einzelheiten seines Projektes.

Doch eines war uns seit Langem aufgefallen. Dass er schon mehr als ein duzend Jahre an seinem Thema gearbeitet hatte, ohne einen entscheidenden Schritt vorwärtsgekommen zu sein. War das normal? Sprach man ihn darauf an, meinte er immer nur, wir hätten eben keine Ahnung.

Von den geisteswissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen hielt sich Sebastian nach dem Vorfall mit Gattermanns Abiturarbeit, so gut es ging, fern. Während der Pausen und den unterrichtsfreien Stunden arbeitete er meist in irgendeinem leeren Klassenraum und war nicht zu finden.

Eine Ausnahme war unser Kollege Adrian, ein Tausendsassa im Bereich Unterrichten. Er gab Englisch, Pädagogik, Musik und Sport und war seinerzeit auch als Dozent für Pädagogik an der Uni tätig. Adrian war über zehn Jahre älter als wir. Da wir seine Erfahrung schätzten, war er eine Respektperson für uns. Ihm vertraute Sebastian gern seine Papiere an und bat ihn öfter um Rat, wenn es um seine Doktorarbeit ging.

Es beeindruckte uns auch, dass Adrian den Ruf hatte, ein von Aufmüpfigkeit gegenüber Vorgesetzten nicht freier Kollege zu sein. Unseren ersten Schulleiter, Erwin Ditschke, hatte er mal im Beisein von Schülern regelrecht vorgeführt. Ditschke, dem es im höchsten Maße daran gelegen war, Vorschriften genau einzuhalten, eilte der Ruf voraus, die Pingeligkeit in Person zu sein.

Als er mal Adrian dringend sprechen wollte, weil dieser auf einem Formblatt vergessen hatte, das Wort ‚entfällt‘ in eine Leerzeile einzutragen, suchte er ihn deswegen während der Unterrichtszeit auf. Das allein war schon ein Unding. Aber es kam schlimmer für Ditschke. Adrian unterrichtete gerade Oberstufenschüler in der Sporthalle, als Ditschke, wie immer, wenn es nicht gerade Hochsommer war, mit dickem Wintermantel, Schal und Russenmütze bekleidet, mit Wanderschuhen den Hallenboden betrat. Er wollte Adrian zur Rede stellen. Dieser kam ihm jedoch zuvor und zeigte Zivilcourage, machte seinen Vorgesetzten vor den grinsenden Schülern darauf aufmerksam, dass das Betreten der Halle nur mit Sportschuhen erlaubt sei. Eine Anordnung der Schulleitung, wie er mit erhobenem Zeigefinger und ernster Miene hinzufügte.

„Ja, aber Sie müssen hier noch mit Ihrer Schrift ‚entfällt‘ eintragen. Es muss Ihre Schrift sein“, fuhr Ditschke dazwischen und hielt Adrian das Blatt mit einem Schreibstift vor die Nase.

Er habe jetzt keine Zeit, mit ihm zu diskutieren, erwiderte Adrian, da er im Dienst sei und seinen Aufsichtspflichten nachkommen müsse. Vor feixender Meute machte sich Ditschke, ohne ein Wort zu erwidern, wie ein Dieb in gebückter Haltung davon.

Auf meine Frage, was er und Sebastian denn damals bei ihren Treffen besprochen hätten, antwortete mir Adrian vor ein paar Tagen, als ich wieder gesund war und aufstehen konnte, zwischen zwei Lesungen beim Vereinstreffen im Westdeutschen Autorenverband: „Ich hatte seinerzeit gerade meine Promotion abgeschlossen. Sebastian wollte hauptsächlich wissen, wie man eine Doktorarbeit strukturiert. Dazu gab ich ihm Tipps.“

„Wurden denn deine Ratschläge angenommen?“

„Er hat zwar immer aufmerksam zugehört, wenn ich ihm etwas erklärte. Ein höflicher Mensch war er ja. Aber Ratschläge angenommen? Kaum. Sebastian ließ sich zum Beispiel nicht von mir überzeugen, dass es dringend notwendig war, vor Beginn der Arbeit einen Doktorvater zu suchen, der das Thema akzeptierte und ihn bei der Durchführung betreute. Stell dir vor, er arbeitete einfach ins Blaue hinein.“

Wie gesagt trafen sich die beiden ab und an zum Studium der Entwürfe zu Sebastians Arbeit, und zwar meistens in Sebastians Auto. Es war kein gewöhnliches Fahrzeug. Er wohnte gelegentlich in diesem Wagen, einem alten, angerosteten, grünen VW-Bully. Hier bewahrte er auch eine Kopie seiner bisherigen Arbeit auf. Das Innere des Wagens glich einer unaufgeräumten Minibibliothek. Dutzende von Büchern stapelten sich in Regalen und Kisten. Eine Campingliege mit Decken zum Übernachten, ein Tisch mit Klappstuhl zum Arbeiten und Essen befanden sich ebenfalls im hinteren Teil des Busses. Auch Kleidung zum Wechseln lag in einer Ecke.

Sebastian liebte die Unabhängigkeit von seiner Hochhauswohnung. Das Appartement war klein. Zu allem Überfluss hatte er es mit unzähligen Regalen zugestellt. Dort verwahrte er Tausende von Büchern. Er hatte längst die Übersicht verloren. Daher kaufte er zuweilen Bücher, ohne zu wissen, dass er sie bereits besaß. Diese Exemplare nannte er Dubletten und verschenkte sie, wenn Freunde Geburtstag hatten. In meinem Bücherregal stehen inzwischen ein Duzend solcher Dubletten. Wegen des Platzmangels konnte man sich in der Wohnung, abgesehen von einem Bett, nur im Stehen aufhalten. Er mochte sein Zuhause nicht. Außer Reiner und mir hatte es keiner seiner Bekannten je von innen gesehen, wie er uns mehrfach versicherte. Bei einem meiner wenigen Besuche hatte ich ein Chaos angerichtet, denn ein frei stehendes Bücherregal mit ein paar Hundert Büchern, gegen das ich mich gelehnt hatte, war umgefallen.

Sebastian hatte alle seine Texte mit der Hand geschrieben und anschließend zweimal fotokopiert. Ein Manuskript trug er bei jeder Gelegenheit in zwei dicken Taschen bei sich. Er sah dabei aus wie der Referendar Hasenbach, der auch stets zwei solche Taschen mit sich führte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Als ich ihm bei Gelegenheit erzählte, dass er und seine Taschen mich an die komische Figur Sondermann aus der satirischen Zeitschrift Titanic erinnerten, schmunzelte er nur. Sondermann stand mal in gebückter Haltung mit der Aktentasche in einem Schwimmbad sprungbereit auf einem Zehnmeterbrett und sah mit gequältem Blick in Richtung Bademeister. Dieser wollte ihm den Sprung mit der Tasche nicht erlauben.

Die übrigen Kopien seiner Arbeit hatte er im Bully und der Wohnung versteckt. Zu jeder Zeit rechnete er damit, dass diese beiden Exemplare gestohlen werden könnten. Er fürchtete sich, solange ich ihn kannte, vor Diebstahl.

„Du glaubst nicht, wie oft schon bei mir eingebrochen worden ist“, gab er mir als Grund für seine Vorsichtigkeit im Umgang mit seiner Arbeit an. „Ich habe zig Anzeigen bei der Polizei laufen. Mein Briefkasten wird fast täglich aufgebrochen.“

Einmal allerdings hatte er ein Exemplar seiner Arbeit aufs Autodach gelegt, vergessen es herunterzunehmen und war davongefahren. Noch am gleichen Tag hatte er die Blätter gesucht und nicht wiedergefunden. Er war sich nicht sicher gewesen, ob die Papiere gestohlen oder durch den Fahrtwind davongeflattert waren. Diesmal war er nicht zur Polizei, sondern mit einem Sack voll Kleingeld ins nächste Kopiergeschäft gegangen, wo er eigenhändig eine neue Sicherheitskopie am Automaten angefertigt hatte.

Da Sebastian immer mit Bleistift und dazu noch in sehr großen, fast unleserlichen Buchstaben schrieb, hatte die Arbeit inzwischen ein beträchtliches Volumen angenommen. Er entschied sich schließlich, die Texte fachmännisch mit Schreibmaschine tippen zu lassen.

Er selbst besaß keine solche Maschine, auch keinen Computer. Nicht einmal einen Fernsehapparat wollte er haben, was ich höchst merkwürdig fand. Filme interessierten ihn nicht. Er ging auch nie ins Kino. Hörspiele liebte er. Er hatte sogar eine kleine Hörspielsammlung, lauter Schallplatten und Musikkassetten, keine CD. Es war eines seiner Hobbys, Hörspiele aus dem Radio auf Kassetten zu überspielen. Gern lauschte er diesen Hörspielen während langer Autofahrten. Nachrichten hörte er in seinem alten Kofferradio oder las sie in Zeitungen, die im Lesesaal der Universität aus lagen. Die Welt und Frankfurter Allgemeine hauptsächlich. Um lokale Nachrichten lesen zu können, hatte er mal die Rheinische Post bestellt. Da sie aber zu oft aus seinem Briefkasten gestohlen wurde, hatte er das Abonnement gekündigt.

„Die Mädchen in den Schreibbüros können meine Schrift nicht richtig lesen“, hörte ich ihn wiederholt klagen. „Ich muss die Texte diktieren.“

Frauen unter dreißig nannte Sebastian grundsätzlich Mädchen, eine Eigenart von ihm. Das weibliche Geschlecht interessierte ihn nicht besonders. Er war nicht verheiratet, hatte auch noch nie eine Freundin gehabt.

In den abgeschriebenen Texten fand er dann immer wieder Fehler und falsche Absätze.

„Die können kein richtiges Deutsch. Die Mädchen verstehen meine Arbeit nicht. Was soll ich nur machen?“

„Korrigiere die Maschinentexte und gib sie zum Abschreiben in ein anderes Schreibbüro!“

„Das kostet ein Vermögen. Aber ich kann es nicht selbst tippen. Das ist vertane Zeit. Dir möchte ich das auch nicht zumuten.“

So wurden die Texte im Laufe der Zeit immer mal wieder abgeschrieben. Dann gingen sie verloren, und alles begann von vorne.

Einmal wurde Sebastian vom Schulleiter Ditschke schriftlich aufgefordert, ihn aufzusuchen. Er wollte ihn dringend sprechen. Nicht ahnend, was ihn erwarten würde, betrat er das Amtszimmer des Schulleiters. Ditschke hielt ihm sofort, ohne etwas zu sagen, ein Päckchen vor die Nase. Sebastian wusste auf der Stelle, was es war. Eine Kopie seiner Arbeit. Dann machte ihn Ditschke freundlich darauf aufmerksam, dass er mit seinen Dokumenten sorgfältiger umgehen müsste, damit sie nicht in die falschen Hände kämen. Sebastian war dieser Vorfall äußerst peinlich.

Wegen seiner bereits erwähnten Pingeligkeit hatte Ditschke kaum Freunde im Lehrerkollegium. Von einigen wurde er regelrecht gehasst. Nicht aber von Sebastian, Reiner, Kathrin, Adrian und mir. Wir nahmen ihn wegen seiner Marotten einfach nicht für voll.

Es war an einem Novembermorgen, als ich im Lehrerzimmer im Unterschied zu heute meinen Platz noch am ‚Trinkertisch‘ hatte. Der Tisch verdankte seinen Namen der Tatsache, dass dort mehrere Kollegen saßen, die gern Jägermeister tranken. Immer wenn jemand Geburtstag hatte oder es einen anderen Grund zum Feiern gab, spendierte der jeweilige Lehrer eine Flasche Jägermeister. An diesem Morgen war ich an der Reihe. Meine Flasche war schnell leer getrunken, denn es war nur eine mittelgroße gewesen. Als die Pause zu Ende war und sich alle aufmachten, in ihre Klassenräume zu gehen, sah ich noch einmal routinemäßig in mein Postfach und fand einen Zettel mit der Unterschrift des Schulleiters. Ich wollte ihn schon beiseitelegen, um ihn später zu lesen, als mir ein Wort ins Auge sprang: Alkoholgenuss. Ich blieb wie angewurzelt stehen und las weiter: „Sie werden wegen Alkoholgenusses während der Dienstzeit gebeten, mich in meinem Amtszimmer aufzusuchen. Hochachtungsvoll: Ditschke.“

Ein Kollege vom Trinkertisch hatte mich die ganze Zeit über, ohne dass ich es bemerkt hatte, beobachtet und lief nun hinter mir her. Als er sah, dass ich mich mit wütendem Blick im Eilschritt in Richtung Amtszimmer bewegte, fing er mich noch rechtzeitig ab.

„Das ist doch nur ein Scherz. Der Zettel stammt von uns.“

„Ich finde das gar nicht witzig. Was soll das?“

„Das ist doch nur deshalb, weil wir fanden, dass die Flasche zu klein war. Es gibt doch auch eine große Flasche Jägermeister zu kaufen.“

Ich war auf den Schabernack hereingefallen, hatte Ditschke zugetraut, den Zettel geschrieben zu haben. Weil ich mich immer von ihm beobachtet fühlte, hatte ich geglaubt, dass er zu jeder Schandtat bereit wäre.

Sebastian war trotz der Rückgabe seiner verlorenen Kopien in der Folgezeit öfter nicht gut auf Ditschke zu sprechen. Er beklagte sich immer mal wieder bei uns über ihn.

Einmal, es war an einem Freitagabend im Hallenbad, wir hatten ein paar Bahnen geschwommen, erzählte er mir während einer Verschnaufpause am Beckenrand sein jüngstes Erlebnis mit unserem Chef. Ein Schüler aus dem zehnten Schuljahr, der wegen einer Sechs in Latein bereits zweimal sitzengeblieben wäre, hätte seinen Geschichtsunterricht trotz mehrfacher Ermahnungen auf unverschämte Weise gestört. Statt ihn in den Flur zu schicken, was er nicht gedurft hätte, wäre er mit ihm zum Schulleiter gegangen, wo sich Folgendes abgespielt hätte.

„Herr Ditschke, ich habe den Timo mitgebracht. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Er stört häufig meinen Unterricht durch laute Zwischenrufe.“

„Ist das wahr, Timo? Warum tust du das?“

„Ich habe doch gar nichts gemacht. Der Herr Neufeld hat was gegen mich.“

Erwin Ditschke hätte erst Timo, dann Sebastian angesehen und schließlich gesagt: „Dann steht ja Aussage gegen Aussage. Da kann ich auch nichts machen. Tut mir leid.“ Er hätte sich umgedreht, wäre an seinen Schreibtisch gegangen, hätte sich auf seinen Stuhl gesetzt und einen Bericht geschrieben.

„Darüber habe ich mich sehr geärgert. Seitdem grüße ich den Herrn nicht mehr.“

Ich war erschüttert. Wie konnte sich ein Schulleiter einem Lehrer gegenüber in Anwesenheit eines Schülers nur so verhalten? Unverschämtheit!

Reiner war nach fünfzig sportlich geschwommenen Runden prustend zu uns gestoßen.

„Was höre ich da? Verflixte Hacke! So eine Sauerei!“ Er wischte sich das Wasser aus den Augen, streckte eine Faust nach oben und sah mit finsterem Blick zu Sebastian hinüber, der wie ein Schluck Wasser am Beckenrand hing. Dann aber von einem Moment zum anderen strahlte Reiner uns an. „So ein Hund. Aber ihr werdet es nicht glauben. Den habe ich letzte Woche zum Narren gehalten.“

Ich sah ihn erwartungsvoll an. „Nun red schon! Ich kann’s kaum erwarten.“ Nichts hätte ich jetzt lieber gehört als eine peinliche Geschichte über Ditschke.

„Das werd’ ich euch nachher erzählen. Macht euch auf was gefasst! Ihr kommt aus dem Staunen nicht heraus.“

Reiner hatte uns neugierig gemacht. Sebastians Miene hellte sich auf. Er schien die unangenehme Sache für einen Augenblick vergessen zu haben. „Na, dann lasst uns noch eine Tour schwimmen.“ Er war als Erster auf und davon.

Noch am gleichen Abend trafen wir vier uns in der Tenne. Reiner erzählte süffisant von seinem kürzlichen Abenteuer mit Ditschke während seiner Lehrprobe anlässlich seiner Bewerbung um eine Oberstudienratstelle.

„Weil ich wusste, dass unser Chef es hasste, wenn Schüler Mäntel und Regenkleidung mit in den Unterrichtsraum nehmen, vereinbarte ich am Vortag mit den Schülern, dass sie ebendas tun sollten, wenn der Schulleiter mich im Unterricht besuchen käme. Ich erklärte ihnen, dass ich sie in Anwesenheit des Chefs auffordern würde, die Kleidung in den Flur zu bringen. Dann bekäme ich Pluspunkte bei der Bewertung meiner Lehrprobe.“

„Und ist er auf das Theater hereingefallen?“

„Ja, dieser Depp hat nichts gemerkt. Bei der Besprechung der Unterrichtsstunde hat Ditschke den Vorgang lobend erwähnt.“

Reiner benutzte manchmal gern Kraftausdrücke, die in seiner Heimat üblich waren. Er stammte aus dem Allgäu.

Kathrin, Sebastian und ich konnten uns vor Lachen kaum auf den Stühlen halten. Das Bier schmeckte danach umso besser. Auf jeden Fall war es Reiner gelungen, Sebastian über sein missliches Erlebnis hinwegzutrösten.

Kathrin setzte noch einen drauf: „Wisst ihr eigentlich, was ich bei einer Abituraufsicht erlebt habe? Das glaubt ihr mir nie.“

Sebastian, sonst ganz die Ruhe selbst, war ganz aus dem Häuschen. „Erzähl doch mal!“

Wir waren alle verdutzt, weil wir es bisher nicht von Sebastian gewohnt waren, dass er jemanden bat, aus der Schule zu plaudern.

„Ich hatte Aufsicht bei einer Mathematik-Abiturarbeit, als plötzlich ein Abiturient mit seinem Aufgabenzettel an mein Pult kam und mich um Rat fragte.“

„Können Sie mir sagen, ob der Text an dieser Stelle unvollständig ist? Die Aufgabe lässt sich so nämlich nicht lösen.“

Kathrin schilderte uns nun in aller Ausführlichkeit, was dann folgte. Sie hatte sich den Aufgabentext angesehen und es war ihr dabei aufgefallen, dass der kopierte Text schräg verlief. Es war also möglich, dass ein Teil des Originals beim Kopieren nicht auf dem Aufgabenblatt gelandet war. Ditschke hatte in seiner Sparsamkeit die Aufgaben nicht mit einem Fotokopiergerät vervielfältigt, sondern mit einem altmodischen Umdrucker. Die dabei benötigte Wachsmatrize war schief eingespannt worden, wie sich später herausgestellt hatte. Auf dem Aufgabenblatt hatte x2 – 3 gefehlt, sodass die Funktion nicht richtig bearbeitet werden konnte.

Kathrin triumphierte.

„Eine Blamage für Ditschke! Er musste gerufen werden, um die Aufgabenstellung zu korrigieren. Die Arbeitszeit der Schüler hat er dann um eine halbe Stunde verlängert.“

Sebastian war ganz außer sich.

„Mein Gott, wie peinlich! Er ist also nicht unfehlbar, wie er sich immer gibt.“

Während der ersten Jahre unserer Bekanntschaft war uns außer den bisher geschilderten Eigenarten nichts Besonderes an Sebastian aufgefallen. Jeder hatte so seine Macken. Gelegentliche Schwierigkeiten im Beruf wären nichts Ungewöhnliches, dachten wir.

Ditschke war inzwischen aus Altersgründen von Dr. Geiselhart als Schulleiter abgelöst worden. Beide waren Mathematiker, ansonsten aber sehr verschieden. Sie waren auch Anhänger verschiedener politischer Parteien. Noch während seiner Probezeit als Oberstudiendirektor gab Geiselhart zu verstehen, dass er eigentlich Bürgermeister werden wollte. Die Aussichten dafür waren zu jener Zeit nicht schlecht, da seine Partei immer über vierzig Prozent der Stimmen bei den Kommunalwahlen erhalten hatte.

Ditschke war leidenschaftlicher Segelflieger, was man ihm nicht zugetraut hätte, wenn man ihn vor sich hatte. Er wirkte mit seinen sechzig Jahren, dem unmodernen dunkelbraunen Anzug mit beiger Krawatte und seinem zerknirschten Gesicht wie ein alter Opa.

Ganz anders Geiselhart, der fünfzehn Jahre jünger war und noch mitten im Berufsleben stand. Die meisten Kollegen fanden es jedoch peinlich, dass er ein leidenschaftlicher Karl-May-Fan war. Er sammelte alles, was er über diesen Autor finden konnte. Ich erinnere mich deshalb noch ganz genau daran, weil ich ihm öfter Artikel über seinen Lieblingsschriftsteller aus meinem Spiegel-Archiv kopiert hatte. Er wusste, dass ich der einzige Lehrer an der Schule war, der alle bis dahin erschienenen Spiegel-Hefte besaß. Internet gab es noch nicht.

Ditschkes Zeit war an Sebastian bis auf den erwähnten Vorfall fast spurlos vorübergegangen, nicht so die seines Vorgesetzten Geiselhart.

Es passierte an einem stürmischen Herbstabend. Wir liefen durch die Dunkelheit und hatten das Sechseck fast erreicht, als Sebastian plötzlich stehen blieb, seine Mütze trotz der Kälte auszog und sie schräg vor die linke Seite seines Gesichtes hielt. Das hatte ich zuvor noch nicht beobachtet. Mit der rechten Hand zeigte er zitternd auf die Leuchtreklame über der Eingangstür des Restaurants. Seine Haare flatterten ohne Kopfbedeckung. Er murmelte etwas. Wegen des Windes konnte ich jedoch nichts verstehen.

„Was ist los, Sebastian? Warum gehst du nicht weiter? Wir sind doch gleich da. – Sauwetter!“

„Da können wir nicht mehr hingehen. Da nicht.“ Er zeigte immer noch auf die Leuchttafel.

„Wieso?“

„Da steht ‚Bierschwemme‘. Das ist kein Lokal für uns. Das ist nicht unser Niveau.“ Immer noch zeigte er auf das beleuchtete Schild.

„Das steht da schon seit Jahren. Du kennst doch das Lokal. Es ist das Sechseck. Da verkehren nur ordentliche Leute.“

Sebastian schüttelte unaufhörlich den Kopf. „Nein, nein, nein! Die haben das umfunktioniert. Da können wir nicht mehr hineingehen.“ Anschließend verdeckte er mit seiner Baskenmütze sein Gesicht so, als wollte er es vor ungebetenen Gaffern schützen.

Kathrin und Reiner sahen sich verwundert an und waren sprachlos. Nach längerem Überlegen entschied Reiner: „Gehen wir woanders hin! Zum Griechen ins Neptun, hinter dem Bahnhof. Da steht bestimmt nicht Bierschwemme.“ Dabei hatte er Sebastian unbemerkt einen Vogel gezeigt.

Ins Neptun gingen wir ab und zu auch mal zum Abendessen. Jedoch nicht so gern, weil dort damals noch viel geraucht wurde, mehr als in anderen Lokalen. Um des lieben Friedens willen kehrten wir heute beim Griechen ein.

Vom Wirt wurden wir wie immer freundlich begrüßt und bekamen sofort die Speisekarten überreicht. Zuerst bestellten wir drei große Alt, Kathrin einen süßen Weißwein. Bevor ich mich mit der Karte beschäftigte, wollte ich eine Frage an Sebastian loswerden.

„Warum hältst du in der letzten Zeit deine Mütze manchmal so komisch?“

Während Sebastian sonst immer mit einer humorvollen Antwort auf eine solche Frage reagiert hätte, gefiel mir seine heutige Reaktion überhaupt nicht.

„Es muss nicht jederzeit jeder wissen, wo ich mich aufhalte.“

Warum wollte er nicht erkannt werden?

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, dachte ich und grübelte, was der Grund sein könnte, kam aber nicht dahinter. An den Mienen der beiden anderen konnte ich ablesen, dass sie das Gleiche dachten.

„Wirst du verfolgt?“, fragte Reiner und hob den Kopf.

Sebastian antwortete nicht.

Da wir bisher immer mit Sebastian über alle Probleme sprechen konnten, versuchte ich auf der Stelle herauszufinden, was mit ihm los war.

„Hattest du heute einen schlechten Tag? War was Besonderes in der Schule?“

„Ja, der Dr. Geiselhart hat mich im Visier.“

„Ich verstehe nicht“, mischte sich Kathrin ein. „Erzähl doch mal!“

„Er will mich am Montag in meiner Deutschstunde besuchen.“